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<!DOCTYPE HTML PUBLIC "-//W3C//DTD HTML 3.2//EN">
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<!-- #BeginTemplate "/Templates/Mehring - Karl Marx.dwt" -->
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<HEAD>
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<TITLE>Franz Mehring: Karl Marx - Engels-Marx</TITLE>
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<!--Hier war ein falsch terminierter Kommentar -->
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<TR>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../../index.shtml.html"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link1a" --><A HREF="fm03_198.htm"><SMALL>7.
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="fm03_000.htm"><SMALL>Inhalt</SMALL></A></TD>
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../default.htm"><SMALL>Franz
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Mehring</SMALL></A></TD>
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</TR>
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<HR size="1">
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<P><SMALL>Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR,
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1960, S. <!-- #BeginEditable "Seitenzahlen" -->232-244<!-- #EndEditable -->.<BR>
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1. Korrektur<BR>
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Erstellt am 30.10.1999</SMALL></P>
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<H2>Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens</H2>
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<H1><!-- #BeginEditable "Titel" -->Achtes Kapitel: Engels - Marx<!-- #EndEditable --></H1>
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<!-- #BeginEditable "Text" -->
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<H3 ALIGN="CENTER">1. Genie und Gesellschaft<A name="Kap_1"></A></H3>
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<P><B>|232|</B> Hatte Marx in England eine zweite Heimat gefunden, so darf man
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den Begriff der Heimat freilich nicht zu weit ausdehnen. Er ist niemals wegen
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seiner revolutionären Agitation, die sich nicht zuletzt gegen den englischen
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Staat richtete, auf englischem Boden behelligt worden. Die Regierung des »habgierigen,
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neidischen Krämervolks« besaß ein größeres Maß
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von Selbstachtung und Selbstbewußtsein, als diejenigen festländischen
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Regierungen besitzen, die in der Angst des bösen Gewissens mit Spießen
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und Stangen der Polizei hinter ihren Gegnern herjagen, auch wenn diese sich nur
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auf dem Gebiete der Diskussion und der Propaganda bewegen.</P>
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<P>Allein in anderem und tieferem Sinne hat Marx keine Heimat mehr gefunden, seitdem
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er mit genialem Blick der bürgerlichen Gesellschaft in Herz und Nieren geschaut
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hatte. Das Schicksal des Genies in dieser Gesellschaft ist ein weitläufiges
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Kapitel, über das die verschiedensten Meinungen laut geworden sind; von dem
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harmlosen Gottvertrauen des Philisters, das jedem Genie den endgültigen Sieg
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prophezeit, bis zu Fausts melancholischem Worte:</P>
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<DL>
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<DD>Die Wenigen, die was davon erkannt, <BR>
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Die töricht gnug ihr volles Herz nicht wahrten,<BR>
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Dem Pöbel ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten, <BR>
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Hat man von je gekreuzigt und verbrannt.</DD>
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</DL>
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<P>Die historische Methode, die Marx entwickelt hat, gestattet auch in dieser
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Frage tiefere Einblicke in den Zusammenhang der Dinge. Der Philister prophezeit
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jedem Genie den endgültigen Sieg, eben weil er ein Philister ist; wenn aber
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ein Genie einmal nicht gekreuzigt oder verbrannt wird, so nur, weil es sich am
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letzten Ende bescheidet, ein Philister zu werden. Ohne den Zopf, der ihnen hinten
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hing, wären die Goethe und die Hegel nie anerkannte Größen der
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bürgerlichen Gesellschaft geworden.</P>
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<P>Die bürgerliche Gesellschaft, die in dieser Hinsicht nur die ausgeprägteste
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Form aller Klassengesellschaft ist, mag sonst Verdienste haben, <A NAME="S233"></A><B>|233|</B>
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so viele sie will, aber eine gastliche Heimat für das Genie ist sie nie gewesen.
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Sie kann es auch nicht sein, denn gerade darin besteht das innerste Wesen des
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Genies, den schöpferischen Drang einer ursprünglichen Menschenkraft
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ins Spiel zu setzen gegen das überlieferte Herkommen und an den Schranken
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zu rütteln, innerhalb deren die Klassengesellschaft nur bestehen kann. Der
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einsame Friedhof auf der Insel Sylt, der die unbekannten Toten beherbergt, die
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das Meer an den Strand spült, trägt die fromme Inschrift: Es ist das
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Kreuz auf Golgatha Heimat für Heimatlose. Darin ist unbewußt, aber
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deshalb nicht weniger treffend das Los des Genies in der Klassengesellschaft gezeichnet:
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heimatlos wie es in ihr ist, findet es seine Heimat nur am Kreuze auf Golgatha.</P>
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<P>Es sei denn, daß sich das Genie so oder so mit der Klassengesellschaft
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abfindet. Wenn es sich in den Dienst der bürgerlichen Gesellschaft stellte,
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um die feudale Gesellschaft zu stürzen, so gewann es scheinbar eine unermeßliche
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Macht, doch zerrann diese Macht in dem Augenblick, wo es sich selbstherrlich gebärden
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wollte: immerhin durfte es auf dem Felsen von St. Helena enden. Oder das Genie
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hüllte sich in den Bratenrock des Spießbürgers und mochte es dann
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zum großherzoglich sächsischen Staatsminister in Weimar oder zum königlich
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preußischen Professor in Berlin bringen. Aber wehe dem Genie, das sich in
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stolzer Unabhängigkeit und Unnahbarkeit der bürgerlichen Gesellschaft
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gegenüberstellt, das aus ihrem innersten Gefüge ihren nahenden Untergang
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zu deuten weiß, das die Waffen schmiedet, die ihr den Todesstoß versetzen
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werden. Für solch Genie hat die bürgerliche Gesellschaft nur Foltern
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und Qualen, die äußerlich weniger roh erscheinen mögen, aber innerlich
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grausamer sind, als das Marterholz der antiken und der Scheiterhaufen der mittelalterlichen
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Gesellschaft war.</P>
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<P>Von den genialen Menschen des neunzehnten Jahrhunderts hat niemand schwerer
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unter diesem Lose gelitten als der genialste von allen, als Karl Marx. Schon im
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ersten Jahrzehnte seiner öffentlichen Wirksamkeit mußte er mit der
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alltäglichen Misere ringen, und bei seiner Übersiedelung nach London
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hatte ihn das Exil mit allen Schrecken empfangen, aber was man sein wahrhaft prometheisches
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Los nennen darf, begann doch erst, als er nun, nach mühseligem Aufstieg zur
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Höhe, in der Fülle seiner männlichen Kraft, jahre- und jahrzehntelang
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an jedem neuen Tage von der gemeinen Not des Lebens, von der niederziehenden Sorge
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um das tägliche Brot gepackt wurde. Bis zum Tage seines Todes ist es ihm
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nicht gelungen, sich eine noch so bescheidene Existenz auf dem Boden der bürgerlichen
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Gesellschaft zu sichern.</P>
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<P>Dabei war er weit entfernt von dem, was der Philister in dem landläufig-liederlichen
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<A NAME="S234"></A><B>|234|*</B> Sinn eine »geniale« Lebensführung
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zu nennen pflegt. Seiner Riesenkraft entsprach sein Riesenfleiß; die Überarbeit
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seiner Tage und Nächte begann schon früh, seine ursprünglich eisenfeste
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Gesundheit zu zerrütten. Er nannte die Arbeitsunfähigkeit das Todesurteil
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jedes Menschen, der kein Vieh sei, und es war ihm bitterer Ernst mit diesem Worte;
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als er einst mehrere Wochen schwer erkrankt war, schrieb er an Engels: »In
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dieser Zeit, wo ich ganz arbeitsunfähig, gelesen: <I>Carpenters</I>, Physiology,
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Lord dito, <I>Kölliker</I>, Gewebelehre, <I>Spurzheim</I>, Anatomie des Hirns-
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und Nervensystems, <I>Schwann</I> und <I>Schleiden</I> über die Zellenschmiere.«
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Und bei aller Unersättlichkeit des Dranges zu forschen blieb Marx sich immer
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dessen bewußt, was er schon als Jüngling gesagt hatte, daß der
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Schriftsteller nicht arbeiten dürfe, um zu erwerben, aber daß er erwerben
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müsse, um zu arbeiten; »die gebieterische Notwendigkeit einer Erwerbsarbeit«
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hat Marx niemals verkannt.</P>
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<P>Aber alle seine Anstrengungen scheiterten an dem Argwohn oder dem Hasse oder
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im günstigsten Falle der Angst einer feindlichen Welt. Auch solche deutschen
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Verleger, die sich sonst etwas auf ihre Unabhängigkeit zugute zu tun pflegten,
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scheuten vor dem Namen des verrufenen Demagogen zurück. Alle deutschen Parteien
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verleumdeten ihn gleichmäßig, und wo immer die reinen Umrisse seiner
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Gestalt unter den künstlichen Nebeln hervorschimmerten, tat die boshafte
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Heimtücke des systematischen Totschweigens ihr infames Werk. So lange und
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so völlig ist sonst nie der größte Denker einer Nation ihrem Gesichtskreise
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entschwunden wie in diesem Falle.</P>
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<P>Die einzige Verbindung, durch die Marx sich in London halbwegs sicheren Boden
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unter den Füßen hätte schaffen können, war seine Tätigkeit
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für die »New-York Daily Tribune«, die von 1851 ab ein reichliches
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Jahrzehnt währte. Die »Tribune« war mit ihren 200.000 Abonnenten
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damals das gelesenste und reichste Blatt der Vereinigten Staaten, und durch ihre
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Agitation für den amerikanischen Fourierismus hatte sie sich immerhin über
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die platte Geldmacherei eines rein kapitalistischen Unternehmens erhoben. An und
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für sich waren die Bedingungen, unter denen Marx für sie arbeiten sollte,
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auch nicht gerade ungünstig; er sollte wöchentlich je zwei Artikel schreiben
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und jeder Artikel sollte mit je 2 Pfund Sterling (40 Mark) honoriert werden. Das
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wäre ein Jahreseinkommen von 4.000 Mark gewesen, wodurch sich Marx auch in
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London notdürftig hätte über Wasser halten können. Freiligrath,
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der sich immer doch noch rühmte, das »Beefsteak des Exils« zu
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essen, bezog für seine kaufmännische Tätigkeit anfangs auch nicht
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mehr.</P>
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<P>Selbstverständlich handelte es sich in keiner Weise um die Frage, ob <A NAME="S235"></A><B>|235|</B>
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das Honorar, das Marx von dem amerikanischen Blatte bezog, dem literarischen und
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wissenschaftlichen Wert seiner Beiträge irgend entsprochen hätte. Ein
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kapitalistisches Zeitungsunternehmen rechnet nur mit Marktpreisen, und das ist
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in der bürgerlichen Gesellschaft sein gutes Recht. Mehr hat auch Marx nicht
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beansprucht, aber was er selbst in der bürgerlichen Gesellschaft hätte
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beanspruchen können, war die Innehaltung des einmal abgeschlossenen Arbeitsvertrags
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und vielleicht auch einige Achtung vor seiner Arbeit. Daran ließ es die
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»New-York Daily Tribune« und ihr Herausgeber aber ganz und gar fehlen.
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Dana war zwar theoretisch ein Fourierist, aber praktisch ein hartgesottener Yankee;
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sein Sozialismus laufe auf die lausigste Kleinbürgerprellsucht hinaus, meinte
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Engels in einem zornigen Augenblick. Obgleich Dana sehr gut wußte, was er
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an einem Mitarbeiter wie Marx besaß und damit nicht wenig vor seinen Abonnenten
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renommierte, wenn er nicht gar die Briefe, die Marx ihm schrieb, als eigene redaktionelle
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Arbeit eskamotierte, was zum berechtigten Ärger ihres Verfassers nur allzuoft
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geschah, so ließ er es doch an keiner Rücksichtslosigkeit fehlen, deren
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sich ein kapitalistischer Ausbeuter gegen eine von ihm ausgebeutete Arbeitskraft
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erdreisten zu dürfen glaubt.</P>
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<P>Nicht nur, daß er bei schlechterem Geschäftsgang Marx sofort auf
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Halbsold setzte, so zahlte er überhaupt nur die Artikel, die er wirklich
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druckte, und er war nicht blöde, alles unter den Tisch zu werfen, was ihm
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gerade nicht in seinen Kram paßte. Es kam vor, daß drei, daß
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sechs Wochen lang die Aufsätze, die Marx sandte, in den Papierkorb wanderten.
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Freilich machten es die paar deutschen Blätter, in denen Marx ein vorübergehendes
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Unterkommen fand, wie die Wiener Presse, nicht besser. So konnte er mit Recht
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sagen, bei seiner Arbeit für Zeitungen käme er schlechter fort als der
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erste beste Zeilenreißer.</P>
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<P>Schon im Jahre 1853 sehnte er sich nach ein paar Monaten Einsamkeit, um wissenschaftlich,
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zu arbeiten: »Es scheint, ich soll nicht dazu kommen. Das beständige
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Zeitungsschmieren ennuyiert [Mehring übersetzt: langweilt] mich. Es nimmt
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mir viel Zeit weg, zersplittert und ist doch nichts. Unabhängig soviel man
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will - man ist an das Blatt und dessen Publikum gebunden, speziell wenn man Barzahlung
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erhält wie ich. Rein wissenschaftliche Arbeiten sind etwas total anderes.«
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Aus einer ganz anderen Tonart noch klang es, als Marx einige Jahre länger
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unter Danas mildem Szepter gearbeitet hatte: »Es ist in der Tat ekelhaft,
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daß man verdammt ist, es als ein Glück zu betrachten, wenn ein solches
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Löschpapier einen mit in sein Boot aufnimmt. Knochen stampfen, mahlen und
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Suppe draus kochen wie die Paupers im Workhaus, darauf <A NAME="S236"></A><B>|236|</B>
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reduziert sich die politische Arbeit, zu der man reichlich in solchem concern
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[Mehring übersetzt: Unternehmen] verdammt ist.« In der Kärglichkeit
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des Lebensunterhalts nicht nur, sondern namentlich auch in der völligen Unsicherheit
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der ganzen Existenz hat Marx das Los des modernen Proletariers geteilt.</P>
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<P>Was man früher doch nur ganz im allgemeinen wußte, zeigen seine
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Briefe an Engels in der ergreifendsten Form; wie er einmal das Haus hüten
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mußte, weil er keinen Rock oder keinen Schuh für die Straße besaß,
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wie er ein andermal der Pfennige entbehrte, um sich Schreibpapier zu kaufen oder
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Zeitungen zu lesen, wie er ein drittes Mal nach ein paar Briefmarken jagte, um
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ein Manuskript an den Verleger senden zu können. Dazu der ewige Zank mit
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den Hökern und Krämern, denen er die notwendigsten Lebensmittel nicht
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zu zahlen vermochte, des Landlords zu geschweigen, der ihm alle Augenblicke den
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Pfänder ins Haus zu setzen drohte, und als ständige Zuflucht das Pfandhaus,
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dessen Wucherzinsen dann noch das letzte verschlangen, was die Schattengestalt
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der Sorge von der Schwelle seines Hauses hätte scheuchen können.</P>
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<P>Und sie hockte nicht nur an der Schwelle, sondern saß mit an seinem Tische.
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Von früh auf an ein sorgloses Leben gewöhnt, wankte seine hochsinnige
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Frau wohl unter den Pfeilen und Schleudern eines wütenden Geschicks und wünschte
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sich mit ihren Kindern ins Grab. Es fehlt in seinen Briefen nicht an Spuren häuslicher
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Szenen, und er meinte gelegentlich, es gebe keine größere Eselei für
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Leute mit allgemeinen Strebungen als zu heiraten, und sich so an die kleinen Nöte
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des privaten Lebens zu verraten. Immer aber, wenn ihre Klagen ihn ungeduldig machten,
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entschuldigte und rechtfertigte er sie; sie habe ungleich schwerer als er an den
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unbeschreiblichen Demütigungen, Qualen und Schrecken zu tragen, die in ihrer
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Lage durchzumachen seien, zumal da ihr die Flucht in die Hallen der Wissenschaft
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verschlossen sei, die ihn doch immer wieder rettete. Ihren Kindern die unschuldigen
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Freuden der Jugend verkürzt zu sehen, traf beide Eltern gleich schwer.</P>
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<P>So traurig dies Schicksal eines großen Geistes war, so erhob es sich
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doch zur tragischen Höhe erst dadurch, daß Marx die quälende Marter
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von Jahrzehnten freiwillig auf sich nahm und jede Versuchung abwies, sich in den
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Hafen eines bürgerlichen Berufs zu retten, den er mit allen Ehren hätte
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aufsuchen können. Was darüber zu sagen ist, sagte er einfach und schlicht,
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ohne alle hochtrabenden Worte: »Ich muß meinen Zweck durch dick und
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dünn verfolgen und darf der bürgerlichen Gesellschaft nicht erlauben,
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mich in eine money-making machine [Mehring übersetzt: geldmachende Maschine]
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zu verwandeln.« Diesen Prometheus <A NAME="S237"></A><B>|237|*</B> schmiedeten
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nicht die Keile des Hephästos an den Felsen, sondern ein eherner Wille, der
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mit der Sicherheit einer Magnetnadel auf die höchsten Ziele der Menschheit
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wies. Sein ganzes Wesen ist biegsamer Stahl. Nichts bewundernswerter, als wenn
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er, in einem und demselben Briefe oft, scheinbar erdrückt von der kläglichsten
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Misere, mit wunderbarer Elastizität emporschnellt, um die schwierigsten Probleme
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mit der Seelenruhe eines Weisen zu erörtern, dem nicht die leiseste Sorge
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die sinnende Stirn furcht.</P>
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<P>Aber freilich - empfunden hat Marx die Streiche, womit die bürgerliche
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Gesellschaft ihn verfolgte. Es wäre ein törichter Stoizismus, zu fragen:
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|
Was bedeuten solche Qualen, wie Marx sie erduldet hat, gerade für den Genius,
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der sein Recht doch nur von der Nachwelt empfängt? So geckenhaft jenes eitle
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Literatentum ist, das seinen Namen womöglich jeden Tag in der Zeitung gedruckt
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sehen will, so notwendig ist es für jede produktive Kraft, den nötigen
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Spielraum für ihre Entfaltung zu finden, und aus dem Echo, das sie erweckt,
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neue Kraft für neue Schöpfungen zu gewinnen. Marx war kein tugendstelziger
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|
Schwätzer, wie sie in schlechten Dramen und Romanen umgehen, sondern ein
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|
weltfreudiger Mensch, wie Lessing einer war, und so ist ihm die Stimmung nicht
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|
fremd geblieben, worin der sterbende Lessing an seinen ältesten Jugendfreund
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schrieb: »Ich glaube nicht, daß Sie mich als einen Menschen kennen,
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der nach Lobe heißhungrig ist. Aber die Kälte, mit der die Welt gewissen
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Leuten zu bezeugen pflegt, daß sie ihr auch gar nichts recht machen, ist,
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wenn nicht tötend, so doch erstarrend.« Es ist dieselbe Bitterkeit,
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womit Marx am Vorabend seines fünfzigsten Geburtstags schrieb: Ein halbes
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Jahrhundert auf dem Rücken und immer noch Pauper! So wünschte er sich
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einmal lieber hundert Klafter tief unter die Erde, als so fortzuvegetieren, oder
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|
der Schrei der Verzweiflung rang sich aus seinem Herzen, seinem ärgsten Feinde
|
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|
gönne er nicht durch den Morast zu waten, worin er seit acht Wochen sitze,
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||
|
mit der größten Wut dabei, daß sein Intellekt durch die Lumpereien
|
||
|
kaputt gemacht und seine Arbeitskraft gebrochen werde.</P>
|
||
|
<P>Gewiß ist Marx deshalb kein »verdammt trübseliger Hund«
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||
|
geworden, wie er gelegentlich spottete, und insoweit mochte Engels mit Recht sagen,
|
||
|
daß sein Freund niemals Trübsal geblasen habe. Aber wie sich Marx mit
|
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|
Vorliebe eine harte Natur nannte, so ist er doch in des Unglücks Esse härter
|
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|
und härter gehämmert worden. Der heitere Himmel, der sich über
|
||
|
seinen Jugendarbeiten wölbte, bedeckte sich mehr und mehr mit schweren Gewitterwolken,
|
||
|
aus denen seine Gedanken wie zündende Blitze fuhren, und seine Urteile über
|
||
|
Feinde, und oft genug <A NAME="S238"></A><B>|238|</B> auch Freunde, gewannen eine
|
||
|
schneidende Schärfe, die nicht bloß schwache Seelen verletzen konnte.</P>
|
||
|
<P>Die ihn deshalb einen eisig kalten Demagogen schelten, sind nicht weniger -
|
||
|
wenn auch freilich nicht mehr - auf dem Holzwege als die wackeren Unteroffiziersseelen,
|
||
|
die in diesem großen Kämpfer nur eine blanke Puppe des Paradeplatzes
|
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erblicken.</P>
|
||
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<H3 ALIGN="CENTER">2. Ein Bund ohnegleichen<A name="Kap_2"></A></H3>
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||
|
<P>Jedoch hatte Marx den Sieg seines Lebens nicht allein seiner gewaltigen Kraft
|
||
|
zu danken. Nach allem menschlichen Ermessen wäre er endlich doch unterlegen,
|
||
|
auf die eine oder die andere Weise, wenn ihm nicht in Engels ein Freund beschieden
|
||
|
gewesen wäre, von dessen aufopfernder Treue man sich erst seit der Veröffentlichung
|
||
|
ihres Briefwechsels ein zutreffendes Bild machen kann.</P>
|
||
|
<P>Ein Bild, das seinesgleichen nicht hat in aller überlieferten Geschichte.
|
||
|
Es hat niemals an historischen Freundespaaren gefehlt, auch in der deutschen Geschichte
|
||
|
nicht, deren Lebenswerk so eng verschmolzen ist, daß es sich nicht in ein
|
||
|
Mein und Dein scheiden läßt, aber immer blieb ein spröder Rest
|
||
|
des Eigenwillens oder des Eigensinns oder selbst nur ein geheimes Widerstreben,
|
||
|
die eigene Persönlichkeit aufzugeben, die nach dem Worte des Dichters »das
|
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|
höchste Glück der Erdenkinder« ist. Luther sah in Melanchthon
|
||
|
schließlich nur den schwachherzigen Gelehrten und Melanchthon in Luther
|
||
|
schließlich nur den rohen Bauer, und man muß schon an stumpfen Sinnen
|
||
|
leiden, um in dem Briefwechsel Goethes und Schillers nicht den geheimen Mißton
|
||
|
zwischen dem großen Geheimderat und dem kleinen Hofrat zu hören. Der
|
||
|
Freundschaft, die Marx und Engels verband, fehlte diese letzte Spur menschlicher
|
||
|
Bedürftigkeit; je mehr sich ihr Denken und Schaffen verwob, um so mehr blieb
|
||
|
doch jeder von ihnen ein ganzer Mann.</P>
|
||
|
<P>Schon im Äußern unterschieden sie sich. Engels, der blonde Germane,
|
||
|
hoch aufgeschossen, mit englischen Manieren, wie ein Beobachter von ihm sagte:
|
||
|
immer sorgsam gekleidet, straff zusammengenommen in der Disziplin nicht nur der
|
||
|
Kaserne, sondern auch des Kontors; er wollte mit sechs Kommis einen Verwaltungszweig
|
||
|
tausendmal einfacher und übersichtlicher einrichten als mit sechzig Regierungsräten,
|
||
|
die nicht einmal leserlich schreiben könnten und einem alle Bücher versauten,
|
||
|
so daß kein Teufel daraus klug werde: bei aller Respektabilität des
|
||
|
Börsenmitgliedes <A NAME="S239"></A><B>|239|*</B> von Manchester aber, in
|
||
|
den Geschäften und Vergnügungen der englischen Bourgeoisie, ihren Fuchsjagden
|
||
|
und ihren Weihnachtsschmäusen, der geistige Arbeiter und Kämpfer, der
|
||
|
im Häuschen fern am Ende der Stadt seinen Schatz barg, ein irisches Volkskind,
|
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in dessen Armen er sich erholte, wenn er des Menschenpacks allzu müde wurde.</P>
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<P>Dagegen Marx, stämmig, untersetzt, mit den funkelnden Augen und der ebenholzschwarzen
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Löwenmähne, die den semitischen Ursprung nicht verleugneten: lässig
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in seiner äußeren Haltung: ein geplagter Familienvater, der allem gesellschaftlichen
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Treiben der Weltstadt fern lebte: hingegeben aufreibender Geistesarbeit, die ihm
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kaum gestattete, ein schnelles Mittagsmahl einzunehmen, und bis tief in die Nacht
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auch seine Körperkraft verzehrte: ein rastloser Denker, dem das Denken der
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höchste Genuß war: darin der rechte Erbe eines Kant, eines Fichte und
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namentlich eines Hegel, dessen Wort er gern wiederholte: »Selbst der verbrecherische
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Gedanke eines Bösewichts ist erhabener und großartiger als die Wunder
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des Himmels«, nur daß sein Gedanke unablässig zur Tat drängte:
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unpraktisch in kleinen, aber praktisch in großen Dingen: viel zu unbeholfen,
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einen kleinen Haushalt zu ordnen, aber unvergleichlich in der Fähigkeit,
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ein Heer zu werben und zu führen, das eine Welt umwälzen soll.</P>
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<P>Wenn anders der Stil der Mensch ist, so unterschieden sich beide auch als Schriftsteller.
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Jeder war in seiner Weise ein Meister der Sprache und jeder auch ein Sprachgenie,
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das viele Gebiete fremder Sprachen und selbst Dialekte beherrschte. Engels leistete
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darin noch mehr als Marx, aber wenn er in seiner Muttersprache schrieb, nahm er
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sich, selbst in seinen Briefen, geschweige denn in seinen Schriften, straff zusammen
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und hielt ihr Kleid von allen Fasern und Fäserchen des Auslandes frei, ohne
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deshalb den Schrullen der teutschtümelnden Sprachreiniger zu verfallen. Er
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schrieb leicht und licht, so durchsichtig und klar, daß man dem Strom seiner
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bewegten Rede stets bis auf den Grund blicken kann.</P>
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<P>Marx schrieb lässiger zugleich und schwerer. In seinen jugendlichen Briefen
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ist, wie in den Jugendbriefen Heines, noch ein Ringen mit der Sprache deutlich
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zu spüren, und in den Briefen seiner reiferen Jahre, namentlich seit seinem
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Aufenthalt in England, kauderwelschte er deutsch, englisch und französisch
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arg durcheinander. Auch in seinen Schriften gibt es mehr Fremdwörter als
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gerade unvermeidlich sind, und es fehlt weder an Anglizismen noch an Gallizismen,
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aber er ist so sehr Meister der deutschen Sprache, daß er nicht ohne schwere
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Einbußen übersetzt werden kann. Als Engels ein Kapitel des Freundes
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in einer französischen Übersetzung las, an der Marx selbst mühsam
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gefeilt hatte, meinte er <A NAME="S240"></A><B>|240|</B> gleichwohl, Kraft und
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Saft und Leben seien zum Teufel. Wenn Goethe einmal an Frau von Stein schrieb:
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»In Gleichnissen laufe ich mit Sancho Pansas Sprüchwörtern um
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die Wette«, so konnte Marx in der schlagenden Bildlichkeit der Sprache mit
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den größten »Gleichnismachern«, einem Lessing, einem Goethe,
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einem Hegel um die Wette laufen. Er hatte Lessings Wort begriffen, daß in
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einer vollkommenen Darstellung Begriff und Bild zusammengehören wie Mann
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und Weib, wofür ihn denn die Universitätsgelehrsamkeit, von dem Altmeister
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Wilhelm Roscher bis zum jüngsten Privatdozenten, gebührend abgestraft
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hat durch den niederschmetternden Vorwurf, er habe sich nur in ganz unbestimmter,
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»mit Bildern zusammengeflickter Weise« verständlich machen können.
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Marx erschöpfte die Fragen, die er behandelte, immer nur soweit, daß
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dem Leser das fruchtbarste Nachdenken übrigblieb; seine Rede ist ein Wellenspiel
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auf der purpurnen Tiefe des Meeres.</P>
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<P>Engels hat in Marx stets den überlegenen Genius anerkannt; neben ihm wollte
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er immer nur die zweite Violine gespielt haben. Doch ist er niemals nur sein Ausleger
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und Helfer gewesen, sondern sein selbständiger Mitarbeiter, ein ihm nicht
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gleicher, aber ihm ebenbürtiger Geist. Wie Engels in den Anfängen ihrer
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Freundschaft auf einem entscheidenden Gebiete mehr gegeben als empfangen hat,
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so schrieb ihm Marx zwanzig Jahre später: »Du weißt, daß
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alles 1. bei mir spät kommt, und 2. ich immer in Deinen Fußstapfen
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nachfolge.« In seiner leichteren Rüstung bewegte Engels sich leichter,
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und wenn sein Blick scharf genug war, den entscheidenden Punkt einer Frage oder
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Lage zu erkennen, so drang er nicht tief genug, um sofort all die Wenn und Aber
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zu überblicken, mit denen auch die notwendigste Entscheidung bepackt ist.
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Dieser Mangel ist für den handelnden Menschen freilich ein großer Vorzug,
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und Marx faßte keinen politischen Entschluß, ohne sich vorher Rat
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bei Engels zu holen, der gleich den Nagel auf den Kopf zu treffen pflegte.</P>
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<P>Es entsprach diesem Verhältnis, daß sich der Rat, den Marx auch
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in theoretischen Fragen von Engels erbat, nicht ebenso ausgiebig erwies, wie in
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politischen. Hier war Marx gewöhnlich schon im Vorsprunge. Und ganz harthörig
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war er gegen einen Rat, den ihm Engels oft erteilte, um ihn zur schnellen Beendigung
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seines wissenschaftlichen Hauptwerkes anzutreiben. »Sei endlich einmal etwas
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weniger gewissenhaft Deinen eignen Sachen gegenüber; es ist immer noch viel
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zu gut für das Lausepublikum. Daß das Ding geschrieben wird und erscheint,
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ist die Hauptsache; die Schwächen, die Dir auffallen, finden die Esel doch
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nicht heraus.« Dieser Rat war echter Engels, wie seine Mißachtung
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echter Marx war.</P>
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<P><B><A NAME="S241">|241|</A></B> Aus alledem erhellt, daß Engels für
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die publizistische Tagesarbeit besser gerüstet war als Marx; »ein wahres
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Universallexikon«, wie dieser ihn einem gemeinsamen Freunde schildert, »arbeitsfähig
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zu jeder Stunde des Tages und der Nacht, voll oder nüchtern, quick im Schreiben
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und begriffen wie der Teufel.« Es scheint auch, daß beide nach dem
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Eingehen der »Neuen Rheinischen Revue« im Herbst 1850 zunächst
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noch ein gemeinsames Unternehmen in London ins Auge gefaßt hatten; wenigstens
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schrieb Marx im Dezember 1853 an Engels: »Hätten wir - Du und ich -
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zur rechten Zeit in London das englische Korrespondenzgeschäft angefangen,
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so säßest Du nicht in Manchester, Kontorgequält, und ich nicht
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Schuldengequält.« Wenn Engels den Aussichten dieses »Geschäfts«
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die Kommisstelle in der väterlichen Firma vorzog, so ist es wohl aus Rücksicht
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auf die trostlose Lage geschehen, in der sich Marx befand, und im Hinblick auf
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bessere Zeiten, nicht aber schon in der Absicht, sich dauernd dem »verfluchten
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Kommerz« zu ergeben. Noch im Frühjahr 1854 hat Engels den Gedanken
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erwogen, zur schriftstellerischen Tätigkeit nach London zurückzukehren,
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aber allerdings zum letzten Male; um diese Zeit muß er den Entschluß
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gefaßt haben, dauernd das verhaßte Joch auf sich zu nehmen, nicht
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nur um dem Freunde zu helfen, sondern auch um der Partei ihre erste geistige Kraft
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zu erhalten. Nur unter dieser Begründung konnte Engels das Opfer bringen
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und Marx es annehmen; zum Anbieten wie zum Annehmen gehörte ein gleich großer
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Sinn.</P>
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<P>Ehe Engels im Laufe der Jahre zum Teilhaber der Firma aufrückte, war er
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als einfacher Kommis auch nicht gerade auf Rosen gebettet, aber vom ersten Tage
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seiner Übersiedelung nach Manchester an hat er geholfen und ist niemals müde
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geworden zu helfen. Unaufhörlich wanderten die Ein-, die Fünf-, die
|
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Zehn-, später dann auch die Hundertpfundnoten nach London. Engels verlor
|
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niemals die Geduld, auch wenn sie von Marx und seiner Frau, deren haushälterischer
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Sinn nicht übermäßig beschieden gewesen zu sein scheint, gelegentlich
|
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auf eine härtere Probe gesetzt wurde, als notwendig gewesen wäre. Er
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schüttelte kaum den Kopf, als Marx einmal den Betrag eines Wechsels vergessen
|
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hatte, der auf ihn lief, und nun am Verfalltage unangenehm überrascht wurde.
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Oder wenn Frau Marx bei einer abermaligen Sanierung des Haushalts einen dicken
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Posten aus falscher Rücksicht verschwieg, um ihn von ihrem Wirtschaftsgeld
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allmählich abzusparen und so bei aller guten Absicht das alte Elend von neuem
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zu beginnen, so überließ Engels dem Freunde den etwas pharisäischen
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Genuß, über die »Narrheit der Weiber« zu schelten, die
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»offenbar stets der Vormundschaft bedürften«, und begnügte
|
||
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<A NAME="S242"></A><B>|242|*</B> sich mit der gutmütigen Mahnung: Sorge nur
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|
dafür, daß so etwas in Zukunft nicht wieder vorkommt.</P>
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<P>Jedoch nicht nur am Tage schanzte Engels für den Freund im Kontor und
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auf der Börse, sondern er opferte ihm auch zum großen Teil die Mußestunden
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des Abends bis tief in die Nacht hinein. Wenn es zunächst geschah, um für
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Marx, solange dieser die englische Sprache noch nicht für schriftstellerische
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Zwecke handhaben konnte, die Briefe für die »New-York Daily Tribune«
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zu verfassen oder zu übersetzen, so blieb es doch bei dieser stillen Mitarbeit,
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auch als ihr ursprünglicher Grund fortgefallen war.</P>
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<P>Alles das erscheint aber doch nur geringfügig gegenüber dem größten
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|
Opfer, das Engels gebracht hat: dem Verzicht auf das Maß wissenschaftlicher
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Leistung, das ihm nach seiner unvergleichlichen Arbeitskraft und seinen reichen
|
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Fähigkeiten beschieden gewesen wäre. Auch hiervon bekommt man einen
|
||
|
rechten Begriff doch erst aus dem Briefwechsel zwischen beiden Männern, selbst
|
||
|
wenn man sich nur auf die sprach- und militärwissenschaftlichen Studien beschränkt,
|
||
|
die Engels mit besonderer Vorliebe trieb, aus »alter Inklination«
|
||
|
sowohl als auch aus den praktischen Bedürfnissen des proletarischen Emanzipationskampfes
|
||
|
heraus. Denn so sehr ihm alles »Autodidaktentum« verhaßt - »es
|
||
|
ist überall Unsinn«, meinte er verächtlich - und so gründlich
|
||
|
seine Methode der wissenschaftlichen Arbeit war, so war er doch ebensowenig wie
|
||
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Marx ein bloßer Stubengelehrter, und jede neue Erkenntnis war ihm doppelt
|
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wertvoll, wenn sie sofort helfen konnte, die Ketten des Proletariats zu lüften.</P>
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|
<P>So begann er mit dem Studium der slawischen Sprachen, aus der »Konsideration«
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|
heraus, daß »wenigstens einer von uns« bei der nächsten
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|
Haupt- und Staatsaktion die Sprache, die Geschichte, die Literatur, die sozialen
|
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|
Einrichtungen gerade derjenigen Nationen kenne, mit denen man sofort in Konflikt
|
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|
kommen werde. Die orientalischen Wirren führten ihn auf die orientalischen
|
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|
Sprachen; vor dem Arabischen schreckte er zurück mit seinen viertausend Wurzeln,
|
||
|
aber »das Persische ist ein wahres Kinderspiel von einer Sprache«;
|
||
|
in drei Wochen wollte er damit fertig sein. Dann kamen die germanischen Sprachen
|
||
|
daran: »ich sitze jetzt tief im Ulfilas, ich mußte doch endlich einmal
|
||
|
mit dem verdammten Gotischen fertig werden, das ich immer bloß so desultorisch
|
||
|
trieb. Zu meiner Verwunderung finde ich, daß ich viel mehr weiß, als
|
||
|
ich dachte; wenn ich noch ein Hilfsmittel bekomme, so denk' ich in vierzehn Tagen
|
||
|
komplett fertig damit zu sein. Dann geht's ans Altnordische und Angelsächsische,
|
||
|
mit denen ich auch immer so auf halbem Fuße gestanden. Bis <A NAME="S243"></A><B>|243|</B>
|
||
|
jetzt arbeite ich ohne Lexikon oder andre Hilfsmittel, bloß gotischen Text
|
||
|
und den Grimm, der alte Kerl ist aber wirklich famos.« Als die schleswig-holsteinische
|
||
|
Frage in den sechziger Jahren auftauchte, trieb Engels »etwas friesisch-englisch-jütisch-skandinavische
|
||
|
Philologie und Archäologie«, beim neuen Aufflammen der irischen Frage
|
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|
»etwas Keltisch-Irisches« und so fort. Im Generalrat der Internationalen
|
||
|
sind ihm später seine umfassenden Sprachkenntnisse trefflich zustatten gekommen;
|
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»Engels stottert in zwanzig Sprachen«, hieß es wohl, da er in
|
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|
Augenblicken erregten Sprechens leicht mit der Zunge anstieß.</P>
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|
<P>So auch verdiente er sich den Spitznamen des »Generals« durch seine
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|
noch eifrigere und eindringlichere Beschäftigung mit den Kriegswissenschaften.
|
||
|
Auch hier wurde eine »alte Inklination« durch die praktischen Bedürfnisse
|
||
|
der revolutionären Politik genährt. Engels rechnete mit der »enormen
|
||
|
Wichtigkeit, die die partie militaire bei der nächsten Bewegung bekommen
|
||
|
müsse«. Mit den Offizieren, die sich in den Revolutionsjahren auf die
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||
|
Seite des Volkes geschlagen hatten, waren nicht die besten Erfahrungen gemacht
|
||
|
worden. »Dies Soldatenpack«, meinte Engels, »hat einen unbegreiflich
|
||
|
schmutzigen Korpsgeist. Sie hassen einander bis auf den Tod, beneiden sich gegenseitig
|
||
|
wie Schuljungen die kleinste Auszeichnung, aber gegen die Leute vom ›Zivil‹
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||
|
sind sie alle einig.« Engels wollte es nun so weit bringen, daß er
|
||
|
theoretisch einigermaßen mitsprechen könne, ohne sich zu sehr zu blamieren.</P>
|
||
|
<P>Er war kaum in Manchester warm geworden, als er »Militaria zu ochsen«
|
||
|
begann. Er begann mit dem »Allerplattesten und Ordinärsten, was im
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|
Fähnrichs- und Leutnantsexamen gefordert und was ebendeswegen überall
|
||
|
als bekannt vorausgesetzt wird«. Er studierte das gesamte Heerwesen bis
|
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in alle technischen Einzelheiten: Elementartaktik, Befestigungssystem von Vauban
|
||
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bis auf das moderne System der detachierten Forts, Brückenbau und Feldverschanzungen,
|
||
|
Waffenkunde bis auf die verschiedene Konstruktion der Feldlafetten, das Verpflegungswesen
|
||
|
der Lazarette und anderes mehr; endlich ging er zur allgemeinen Kriegsgeschichte
|
||
|
über, wo er den Engländer Napier, den Franzosen Jomini und den Deutschen
|
||
|
Clausewitz mit eindringendem Fleiß durcharbeitete.</P>
|
||
|
<P>Weit entfernt im Sinne einer seichten Aufklärung gegen die moralische
|
||
|
Unvernunft der Kriege zu eifern, suchte Engels vielmehr ihre historische Vernunft
|
||
|
zu erkennen, wodurch er mehr als einmal den gewaltigen Zorn der deklamierenden
|
||
|
Demokratie erregt hat. Wenn einst ein Byron die Schalen glühenden Zorns über
|
||
|
die beiden Heerführer ausgoß, die in der Schlacht bei Waterloo als
|
||
|
Fahnenträger des feudalen <A NAME="S244"></A><B>|244|</B> Europas dem Erben
|
||
|
der Französischen Revolution den Todesstoß gegeben hatten, so fügte
|
||
|
es ein bezeichnender Zufall, daß Engels in seinen Briefen an Marx von Blücher
|
||
|
sowohl wie von Wellington historische Bildnisse entwarf, die in knappem Rahmen
|
||
|
so klar und scharf umrissen sind, daß sie selbst bei dem heutigen Stande
|
||
|
der Kriegswissenschaft schwerlich nur in einem Striche geändert zu werden
|
||
|
brauchen.</P>
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||
|
<P>Auch auf einem dritten Gebiet, auf dem Engels gern und viel arbeitete, auf
|
||
|
dem Gebiete der Naturwissenschaften, ist es ihm nicht vergönnt gewesen, die
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||
|
letzte Hand an seine Forschungen in den Jahrzehnten zu legen, in denen er sich
|
||
|
in kaufmännische Fron begab, um der wissenschaftlichen Arbeit eines Größeren
|
||
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freien Raum zu schaffen.</P>
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||
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<P>Alles das war auch ein tragisches Schicksal. Aber Engels hat darüber niemals
|
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gegreint; denn alle Sentimentalität war ihm so fremd wie seinem Freunde.
|
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|
Er hat es immer als das große Glück seines Lebens betrachtet, vierzig
|
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|
Jahre neben Marx zu stehen, auch um den Preis, daß dessen mächtigere
|
||
|
Gestalt ihn überschattete. Er hat es nicht einmal als eine verspätete
|
||
|
Genugtuung empfunden, daß er nach dem Tode des Freundes noch über ein
|
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|
Jahrzehnt der erste Mann der internationalen Arbeiterbewegung sein, unbestritten
|
||
|
in ihr die erste Violine spielen durfte; er meinte im Gegenteil, ihm werde ein
|
||
|
größeres Verdienst zugeschrieben, als ihm zukomme.</P>
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|
<P>Indem jeder der beiden Männer völlig in der gemeinsamen Sache aufging
|
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|
und jeder von beiden ihr nicht dasselbe, aber ein gleich großes Opfer brachte,
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|
ohne jeden peinlichen Rest des Murrens oder des Prahlens, wurde ihre Freundschaft
|
||
|
ein Bund, der in aller Geschichte seinesgleichen nicht gehabt hat.</P>
|
||
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<!-- #EndEditable -->
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<HR size="1" align="left" width="200">
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<P><SMALL>Pfad: »../fm/fm03«<BR>
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Verknüpfte Dateien: »<A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">../../css/format.css</A>«
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</SMALL>
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<HR size="1">
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<TR>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../../index.shtml.html"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center"><B>|</B></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link2a" --><A HREF="fm03_198.htm"><SMALL>7.
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center">|</TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="fm03_000.htm"><SMALL>Inhalt</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center">|</TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link2b" --><A HREF="fm03_245.htm"><SMALL>9.
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center"><B>|</B></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../default.htm"><SMALL>Franz
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Mehring</SMALL></A></TD>
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</TABLE>
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