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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>John Reed: 10 Tage die die Welt ersch&uuml;tterten</TITLE>
</HEAD>
<BODY bgcolor="#FFFFFF">
<H2>
VORWORT DES AUTORS:
</H2>
<P>
Dieses Buch ist ein St&uuml;ck geballte Geschichte - Geschichte wie ich sie
selbst erlebt habe. Es will nichts anderes sein als ein eingehender
Tatsachenbericht der Novemberrevolution, in der die Bolschewiki an der Spitze
der Arbeiter und Soldaten die Staatsmacht in Ru&szlig;land ergriffen und
in die H&auml;nde der Sowjets legten.
<P>
Nat&uuml;rlich besch&auml;ftigt es sich zum gr&ouml;&szlig;ten Teil mit dem
&AElig;Roten Petrograd",der Hauptstadt und dem Herzen des Aufstandes. Aber
der Leser mu&szlig; verstehen, da&szlig; alles, was in Petrograd geschah,
fr&uuml;her oder sp&auml;ter, mehr oder weniger machtvoll, &uuml;berall in
Ru&szlig;land seine Wiederholung fand.
<P>
In diesem Buch, dem ersten einer Serie, an der ich arbeite, mu&szlig; ich
mich auf eine Chronik jener Ereignisse beschr&auml;nken, die ich selbst gesehen
und erlebt habe oder von denen ich zuverl&auml;ssige Berichte erhielt. An
den Anfang stelle ich zwei Kapitel, die in grossen Z&uuml;gen den Hintergrund
und die Ursachen der Novemberrevolution umrei&szlig;en. Ich bin mir dar&uuml;ber
klar, da&szlig; diese beiden Kapitel schwer zu lesen sind, aber sie sind
notwendig, um die sp&auml;teren Ereignisse zu verstehen.
<P>
Beim Leser werden eine ganze Reihe Fragen auftauchen. Was ist Bolschewismus?
Wie sah die von den Bolschewiki aufgestellte Regierung aus? Wenn die Bolschewiki
vor der Novemberevolution die Konstituierende Versammlung forderten, warum
l&ouml;sten sie sie nachher mit Waffengewalt auf? Und wenn die Bourgeoisie
gegen die Konstituierende Versammlung war, bevor die Gefahr des Bolschewismus
f&uuml;r sie offensichtlich wurde, warum setzte sie sich nachher so energisch
daf&uuml;r ein?
<P>
Diese und viele andere Fragen k&ouml;nnen in diesem Buch nicht beantwortet
werden. In einem weiteren Band, &AElig;Von Kornilow bis Brest - Litowsk"(dieses
Buch konnte J.R. nicht beenden. Es ist nie erschienen<I>. Anm. d. Red</I>.),
verfolge ich den Lauf der Revolution bis zum Friedensschlu&szlig; mit
Deutschland. Dort erkl&auml;re ich auch den Ursprung und die T&auml;tigkeit
der revolution&auml;ren Organisationen, die Entwicklung im Denken und
F&uuml;hlen der Massen, die Aufl&ouml;sung der Konstituierenden Versammlung,
die Struktur des Sowjetstaates, den Verlauf und das Ergebnis der Verhandlungen
von Brest - Litowsk...
<P>
Wenn wir den Aufstieg der Bolschewiki betrachten, m&uuml;ssen wir verstehen,
da&szlig; das Wirtschaftsleben Ru&szlig;lands und die russische Armee nicht
am 7. November1917desorganisiert wurden, sondern schon Monate fr&uuml;her,
als logisches Ergebnis eines Prozesses der schon1915 einsetzte. Die korrupten
Reaktion&auml;re, die am Zarenhof das Regiment f&uuml;hrten, untergruben
Ru&szlig;land ganz systematisch, um einen separaten Friedensvertrag mit
Deutschland herbeizuf&uuml;hren. Der Waffenmangel an der Front, der im Sommer1915
zum grossen R&uuml;ckzug f&uuml;hrte, der Lebensmittelmangel an der Front
und in den Gro&szlig;st&auml;dten, der Zusammenbruch der Industrie und des
Verkehrswesens 1916 - all das waren, wie wir heute wissen, einzelne Phasen
einer gewaltigen Sabotageaktion. Allein die M&auml;rzrevolution schob ihr
in letzter Minute einen Riegel vor. Bei einer grossen Revolution, in der
hundertsechzig Millionen der am schwersten unterdr&uuml;ckten Menschen in
der Welt pl&ouml;tzlich ihre Freiheit errangen, konnte es begreiflicherweise
nicht ohne Verwirrung abgehen. Und dennoch besserte sich in den ersten Monaten
des neuen Regimes die innere Lage und erh&ouml;hte sich auch die Kampfkraft
der Truppen.
<P>
Aber die &AElig;Flitterwochen" waren kurz. Die besitzenden Klassen wollten
eine ausschlie&szlig;lich politische Revolution, die dem Zaren die Macht
n&auml;hme und sie ihnen g&auml;be. Sie wollten aus Ru&szlig;land eine
konstitutionelle Republik machen wie Frankreich oder die Vereinigten Staaten;
oder eine konstitutionelle Monarchie wie England. Die Massen des Volkes dagegen
wollten eine wirkliche Revolution in Industrie und Landwirtschaft. William
English Walling beschreibt in seinem Buch"Ru&szlig;lands Botschaft" die Stimmung
der russischen Arbeiter, die sp&auml;ter fast ausnahmslos den Bolschewismus
unterst&uuml;tzten.
<P>
&AElig;Sie (die Arbeiter) sahen, da&szlig; sie selbst unter einer freien
Regierung, wenn sie in die Hand anderer Gesellschaftsklassen fiel, unter
Umst&auml;nden weiter Hunger leiden w&uuml;rden...
<P>
Der russische Arbeiter ist revolution&auml;r, aber er ist weder gewaltt&auml;tig
noch dogmatisch, noch unintelligent.
<P>
Er ist bereit, auf die Barrikaden zu gehen, aber er hat die Barrikaden auch
studiert, und er als einziger unter den Arbeitern der ganzen Welt hat sie
aus eigener Erfahrung kennengelernt. Er ist bereit und gewillt, seinen
Unterdr&uuml;cker, die Kapitalistenklasse, bis zum Ende zu bek&auml;mpfen.
Aber er &uuml;bersieht nicht das Bestehen anderer Klassen ,nur verlangt er,
da&szlig; die anderen Klassen sich in dem herannahenden erbitterten Kampf
klar auf die eine oder andere Seite stellen. Sie (die Arbeiter) waren sich
dar&uuml;ber einig, da&szlig; unsere (die amerikanischen) politischen
Institutionen besser sind als ihre eigenen, aber sie hatten keine Lust, einen
Despoten gegen einen anderen (d.h. die Kapitalistenklasse)auszutauschen....
<P>
Die Arbeiter Ru&szlig;lands lie&szlig;en sich nicht daf&uuml;r zu Hunderten
erschie&szlig;en und hinrichten, in Moskau, in Riga, in Odessa, lie&szlig;en
sich nicht zu Tausenden in jedes russische Gef&auml;ngnis sperren, in die
schlimmsten Ein&ouml;den und arktischen Gebiete verbannen, um daf&uuml;r
das zweifelhafte Gl&uuml;ck eines Arbeiters in Goldfields oder Cripple Creek
einzutauschen..."
<P>
Und so entwickelte sich in Ru&szlig;land, inmitten eines Weltkrieges, aus
der politischen Revolution heraus die soziale Revolution, die mit dem Sieg
der Bolschewiki ihren H&ouml;hepunkt erreichte.
<P>
Mr. A. J. Sack, der Direktor des russischen Informationsb&uuml;ros in den
Vereinigten Staaten und ein Gegner der Sowjetregierung, hat in seinem Buch
&AElig;Die Geburt der russischen Demokratie" folgendes zu sagen:
<P>
&AElig;Die Bolschewiki bildeten ihr eigenes Kabinett mit Nikolaj Lenin als
Premier und Leo Trotzki als Au&szlig;enminister: Schon bald nach der
M&auml;rzrevolution war es klar, da&szlig; es so kommen mu&szlig;te. Die
Geschichte der Bolschewiki nach der Revolution ist eine Geschichte ihres
st&auml;ndigen Wachstums..."
<P>
Ausl&auml;nder, ganz besonders die Amerikaner, sprechen gern von der
&AElig;Unwissenheit" der russischen Arbeiter. Es ist wahr, sie hatten nicht
die politischen Erfahrungen der V&ouml;lker des Westens, aber sie waren Meister
im freiwilligen Zusammenschlu&szlig;.1917 gab es mehr als zw&ouml;lf Millionen
Mitglieder der russischen Konsumgenossenschaften; und die Sowjets selbst
sind ein hervorragender Beweis f&uuml;r ihr Organisationstalent. Au&szlig;erdem
gibt es wahrscheinlich in der ganzen Welt kein anderes Volk, das so gut in
der sozialistischen Theorie und ihrer praktischen Anwendung geschult ist.
William English Walling charakterisierte es folgenderma&szlig;en: &AElig;
Die russischen Werkt&auml;tigen k&ouml;nnen meist lesen und schreiben. Seit
langem herrscht im Land eine so gro&szlig;e Unzufriedenheit, da&szlig; die
Arbeiter ihre F&uuml;hrer nicht nur unter den intelligentesten aus ihrer
eigenen Mitte suchen m&uuml;ssen ,sondern auch auf einen gro&szlig;en Teil
der nicht minder revolution&auml;ren gebildeten Klasse rechnen k&ouml;nnen,
die sich mit ihren Gedanken &uuml;ber die politische und soziale Umgestaltung
Ru&szlig;lands den Arbeitern zugewandt hat..."
<P>
Viele Schriftsteller und Journalisten behaupten, um ihre Gegnerschaft zur
Sowjetregierung zu begr&uuml;nden ,die letzte Phase der Revolution sei nichts
anderes gewesen als ein Kampf der &AElig;anst&auml;ndigen" Elemente gegen
die brutalen Angriffe der Bolschewiki. Tats&auml;chlich war es aber so, da&szlig;
die besitzenden Klassen, als sie die st&auml;ndig steigende Macht der
revolution&auml;ren Organisationen des Volkes erkannten, alles versuchten,
um sie zu vernichten und der Revolution Einhalt zu gebieten. Dazu war ihnen
jedes, auch das verzweifeltste Mittel recht. Um die Kerenskiregierung und
die Sowjets zugrunde zu richten, wurde das Verkehrswesen desorganisiert,
wurden innere Unruhen heraufbeschworen. Um die Fabrikkomitees zu vernichten,
wurden Fabriken geschlossen, Brennstoff und Rohmaterial beiseite geschafft.
Um die Armeekomitees an der Front zu sprengen, wurde die Todesstrafe wieder
eingef&uuml;hrt und alles getan, um eine milit&auml;rische Niederlage
heraufzubeschw&ouml;ren .Das alles war ein guter N&auml;hrboden f&uuml;r
die Bolschewiki. Sie riefen zum Klassenkampf auf und verk&uuml;ndeten die
&Uuml;berlegenheit der Sowjets. Zwischen diesen beiden Extremen standen die
sogenannten gem&auml;&szlig;igten Sozialisten, die Menschewiki und
Sozialrevolution&auml;re, und einige kleinere Parteien und Splittergruppen,
die sie aus ganzem oder halbem Herzen unterst&uuml;tzten. Auch diese Gruppen
wurden von den besitzenden Klassen angegriffen, aber durch ihre Theorien
hatten sie selbst ihre Widerstandskraft gel&auml;hmt.
<P>
Allgemein kann man sagen, da&szlig; die Menschewiki und Sozialrevolution&auml;re
die Meinung vertraten, Ru&szlig;land sei f&uuml;r eine soziale Revolution
wirtschaftlich noch nicht reif - Nur eine<I> politische</I> Revolution sei
m&ouml;glich. Ihrer Meinung nach waren die russischen Massen noch zu ungebildet
, um die Macht zu &uuml;bernehmen; jeder Versuch in diese Richtung m&uuml;sse
unvermeidlich eine Reaktion hervorrufen, die von skrupellosen Opportunisten
dazu ausgenutzt werden k&ouml;nnte, das alte Regime wieder herzustellen.
Als nun die &AElig;gem&auml;&szlig;igten" Sozialisten zwangsl&auml;ufig die
Macht &uuml;bernehmen mu&szlig;ten, konnte es unter diesen Umst&auml;nden
nicht ausbleiben, da&szlig; sie sich f&uuml;rchteten, sie auszu&uuml;ben.
<P>
Sie glaubte, Ru&szlig;land m&uuml;sse alle Phasen der politischen und
wirtschaftlichen Entwicklung durchlaufen, die auch Westeuropa durchgemacht
hatte, um schlie&szlig;lich zusammen mit der ganzen Welt in den fertigen
Sozialismus einzutreten. So stimmten sie nat&uuml;rlich mit den besitzenden
Klassen darin &uuml;berein, da&szlig; Ru&szlig;land zun&auml;chst einmal
ein parlamentarischer Staat werden m&uuml;sse - allerdings mit gewissen
Fortschritten gegen&uuml;ber den westlichen Demokratien. Deshalb bestanden
sie auch auf Teilnahme der besitzenden Klassen an der Regierung. Von einer
solchen Position zur eindeutigen Unterst&uuml;tzung der Besitzenden war nur
noch ein Schritt. Die &AElig;gem&auml;&szlig;igten" Sozialisten brauchten
die Bourgeoisie. Die Bourgeoisie dagegen brauchte die
&AElig;gem&auml;&szlig;igten" Sozialisten nicht. So mu&szlig;ten also die
sozialistischen Minister nach und nach ihr gesamtes Programm preisgeben,
w&auml;hrend die besitzenden Klassen immer mehr verlangten. Und
schlie&szlig;lich, als die Bolschewiki diesem ganzen faulen Kompromi&szlig;
den Todessto&szlig; versetzten, standen die Menschewiki und
Sozialrevolution&auml;re im Kampf auf der Seite der besitzenden Klassen...In
fast jedem Land der Welt erleben wir heute das gleiche. Statt, wie so oft
behauptet wird, eine zerst&ouml;rende Kraft zu sein, waren die Bolschewiki
meines Erachtens die einzigen in Ru&szlig;land, die ein konstruktives Programm
aufzuweisen hatten und auch &uuml;ber die Macht verf&uuml;gten, um es
durchzusetzen. H&auml;tten sie nicht in dem Augenblick die Regierungsgewalt
ergriffen, zweifle ich nicht im mindesten daran, da&szlig; die Truppen des
deutschen Kaiserreiches noch im Dezember in Petrograd und Moskau einmarschiert
w&auml;ren und Ru&szlig;land wieder den Zaren auf dem Nacken gehabt
h&auml;tte....
<P>
Noch heute, ein Jahr nach der Konstituierung der Sowjetregierung, geh&ouml;rt
es zum sogenannten guten Ton, den bolschewistischen Aufstand ein
&AElig;Abenteuer" zu nennen. Ein Abenteuer war es, und eines der herrlichsten,
das die Menschheit aufzuweisen hat. Die arbeitenden Massen haben die Geschichte
in die Hand genommen und alles ihren gewaltigen und doch
leichtverst&auml;ndlichen W&uuml;nschen untergeordnet. Der Apparat war vorhanden,
mit dessen Hilfe der Gro&szlig;grundbesitz unter die Bauern aufgeteilt werden
konnte. Es gab die Fabrikkomitees und Gewerkschaften, um die Kontrolle der
Arbeiter &uuml;ber die Industrie in Gang zu bringen. In jedem Dorf, in jeder
Stadt, in jedem Bezirk, in jedem Gouvernement gab es Sowjets der Arbeiter-
, Soldaten- und Bauerndeputierten, bereit, die &ouml;rtliche Verwaltung in
die Hand zu nehmen. Was man auch vom Bolschewismus denken mag, unbestreitbar
ist, da&szlig; die russische Revolution eine der gr&ouml;&szlig;ten Taten
in der Geschichte der Menschheit ist und der Aufstieg der Bolschewiki ein
Ereignis von weltweiter Bedeutung. Ebenso wie die Historiker jeder Einzelheit
aus der Pariser Kommune nachsp&uuml;ren, werden sie auch wissen wollen, was
sich im November 1917 in Petrograd zutrug, welcher Geist die Menschen beseelte,
wie ihre F&uuml;hrer aussahen, wie sie sprachen und wie sie handelten. Das
hat mich bewogen, dieses Buch zu schreiben.
<P>
Im Kampf waren meine Sympathien nicht neutral. Aber in meiner Schilderung
der Geschichte dieser gro&szlig;en Tage habe ich versucht, die Ereignisse
mit den Augen eines gewissenhaften Reporters zu sehen, der nichts anderes
will als die Wahrheit schreiben.
<P>
<P>
New York, 1. Januar 1919
<P>
J.R.
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