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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Rosa Luxemburg - Die Akkumulation des Kapitals, 20. Kapitel</TITLE>
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<P ALIGN="CENTER"><A HREF="lu05_231.htm"><FONT SIZE=2>19. Kapitel</FONT></A><FONT SIZE=1> | </FONT><A HREF="lu05_005.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="lu05_246.htm"><FONT SIZE=2>21. Kapitel</FONT></A></P>
<FONT SIZE=2><P>Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut f&uuml;r Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. "Die Akkumulation des Kapitals", S. 238-245.</P>
<P>1. Korrektur.<BR>
Erstellt am 20.10.1998</P>
<HR>
</FONT><FONT SIZE=5><P ALIGN="CENTER">Zwanzigstes Kapitel</P>
<I><P ALIGN="CENTER">Nikolai-on</P>
</I></FONT><B><P><A NAME="S238">&lt;238&gt;</A></B> Mit anderer &ouml;konomischer Vorbildung und Sachkenntnis geht der zweite Theoretiker der "volkst&uuml;mlerischen" Kritik, Nikolai-on, ans Werk. Einer der gr&uuml;ndlichsten Kenner der russischen Wirtschaftsverh&auml;ltnisse, hatte er schon 1880 durch seine Abhandlung &uuml;ber die Kapitalisierung der landwirtschaftlichen Einkommen (in der Revue "Slowo") Aufsehen erregt. Dreizehn Jahre sp&auml;ter gab er, angeregt durch die gro&szlig;e russische Hungersnot des Jahres 1891, ein Buch unter dem Titel "Abhandlungen &uuml;ber unsere Volkswirtschaft nach der Reform" heraus, in dem er jene erste Unter- <A NAME="S239"><B>&lt;239&gt;</A></B> suchung weiterf&uuml;hrt und auf Grund eines gro&szlig;angelegten und mit reichem Tatsachen- und Zahlenmaterial fundierten Bildes der Entwicklung des Kapitalismus in Ru&szlig;land nachzuweisen sucht, da&szlig; diese Entwicklung f&uuml;r das russische Volk zur Quelle aller &Uuml;bel und auch der Hungersnot geworden sei. Nikolai-on legt seinen Ansichten &uuml;ber die Schicksale des Kapitalismus in Ru&szlig;land eine bestimmte Theorie der Entwicklungsbedingungen der kapitalistischen Produktion &uuml;berhaupt zugrunde, und diese Theorie ist es eben, die f&uuml;r uns von Interesse ist.</P>
<P>F&uuml;r die kapitalistische Wirtschaftsweise ist der Absatzmarkt von entscheidender Bedeutung. Jede kapitalistische Nation sucht sich deshalb einen m&ouml;glichst gro&szlig;en Absatzmarkt zu sichern. Sie greift dabei naturgem&auml;&szlig; vor allem zu ihrem eigenen inneren Markt. Auf einer gewissen H&ouml;he der Entwicklung kann sich jedoch eine kapitalistische Nation mit dem inneren Markte nicht mehr begn&uuml;gen, und zwar aus folgenden Gr&uuml;nden: Das ganze neue Jahresprodukt der gesellschaftlichen Arbeit kann man in zwei Teile sondern: in einen Teil, den die Arbeitet in Gestalt ihrer L&ouml;hne bekommen, und einen anderen Teil, den die Kapitalisten sich aneignen. Der erste Teil vermag aus der Zirkulation nur ein Quantum Lebensmittel zu entziehen, das seinem Werte nach der Summe der im Lande gezahlten L&ouml;hne entspricht. Die kapitalistische Wirtschaft hat aber die ausgesprochene Tendenz, diesen Teil immer mehr herabzudr&uuml;cken. Die Methoden, deren sie sich dabei bedient, sind: Verl&auml;ngerung der Arbeitszeit, Steigerung der Intensit&auml;t der Arbeit, Steigerung ihrer Produktivit&auml;t vermittelst technischer Vervollkommnungen, die es erm&ouml;glichen, an Stelle m&auml;nnlicher Arbeitskr&auml;fte weibliche und jugendliche zu setzen und erwachsene Arbeiter zum Teil ganz aus der Arbeit zu verdr&auml;ngen. M&ouml;gen auch die L&ouml;hne der &uuml;brigen besch&auml;ftigten Arbeiter steigen, doch kann die Steigerung niemals den Ersparnissen des Kapitalisten gleichkommen, die durch jene Verschiebungen bedingt werden. Aus alledem ergibt sich, da&szlig; die Rolle der Arbeiterklasse als K&auml;ufer auf dem inneren Markte immer mehr verringert wird. Daneben vollzieht sich noch ein anderer Proze&szlig;: Die kapitalistische Produktion bem&auml;chtigt sich Schritt f&uuml;r Schritt der Gewerbe, die bei der landwirtschaftlichen Bev&ouml;lkerung eine Nebenbesch&auml;ftigung waren, sie entzieht dem Bauerntum auf diese Weise eine Erwerbsquelle nach der anderen, wodurch auch die Kaufkraft der l&auml;ndlichen Bev&ouml;lkerung gegen&uuml;ber den Erzeugnissen der Industrie immer mehr zur&uuml;ckgeht, so da&szlig; der innere Markt auch von dieser Seite immer mehr zusammenschrumpft. Wenden wir uns aber an den Anteil der Kapitalistenklasse, so vermag auch dieser nicht das ganze neuerzeugte Produkt zu realisieren, <A NAME="S240"><B>&lt;240&gt;</A></B> dies freilich aus umgekehrten Gr&uuml;nden. Wie gro&szlig; auch die Konsumtionsbed&uuml;rfnisse dieser Klasse sein m&ouml;gen, sie kann doch nicht das ganze j&auml;hrliche Mehrprodukt pers&ouml;nlich verzehren, erstens, weil ein Teil davon zur Erweiterung der Produktion, f&uuml;r technische Verbesserung aufgewendet werden mu&szlig;, die jedem Einzelunternehmer durch den Konkurrenzkampf als Existenzbedingung aufgezwungen wird; zweitens, weil mit dem Wachstum der kapitalistischen Produktion auch jener Zweig w&auml;chst, der die Produktion von Produktionsmitteln besorgt, wie Bergbau, Maschinenindustrie usw., und dessen Produkt durch seine Gebrauchsgestalt von vornherein die pers&ouml;nliche Konsumtion ausschlie&szlig;t und die Funktion als Kapital bedingt; drittens endlich, weil die gr&ouml;&szlig;ere Produktivit&auml;t der Arbeit und Kapitalersparnis, die bei der Massenproduktion billiger Waren erreicht werden kann, immer mehr die gesellschaftliche Produktion gerade auf solche Massenprodukte richtet, die nicht durch die Handvoll Kapitalisten verbraucht werden k&ouml;nnen.</P>
<P>Obwohl nun der Mehrwert des einen Kapitalisten im Mehrprodukt anderer Kapitalisten realisiert werden kann und umgekehrt, so bezieht sich das doch nur auf Produkte eines bestimmten Zweiges, n&auml;mlich der Lebensmittelbranche. Aber das Hauptmotiv der kapitalistischen Produktion ist nicht Befriedigung der pers&ouml;nlichen Konsumtionsbed&uuml;rfnisse. Das &auml;u&szlig;ert sich auch darin, da&szlig; die Produktion von Lebensmitteln im ganzen immer mehr zur&uuml;cktritt gegen die Produktion von Produktionsmitteln. "Auf diese Weise sehen wir, da&szlig;, wie das Produkt jeder Fabrik die Bed&uuml;rfnisse der darin besch&auml;ftigten Arbeiter und des Unternehmers nach diesem Produkt weitaus &uuml;bertrifft, ebenso das Gesamtprodukt einer kapitalistischen Nation weitaus die Bed&uuml;rfnisse der gesamten besch&auml;ftigten Industriebev&ouml;lkerung &uuml;bertrifft, und zwar &uuml;bertrifft sie sie gerade deshalb, weil die Nation eine kapitalistische ist, weil ihre gesellschaftliche Kr&auml;fteverteilung nicht auf die Befriedigung der wirklichen Bed&uuml;rfnisse der Bev&ouml;lkerung gerichtet ist, sondern blo&szlig; auf die Befriedigung zahlungsf&auml;higer Bed&uuml;rfnisse. Genauso wie ein Einzelfabrikant also auch nicht einen Tag existieren kann als Kapitalist, wenn sein Absatzmarkt nur durch die Bed&uuml;rfnisse seiner Arbeiter und seine pers&ouml;nlichen Bed&uuml;rfnisse beschr&auml;nkt w&auml;re, ebenso vermag sich auch eine entwickelte kapitalistische Nation nicht mit ihrem eigenen inneren Markt zu begn&uuml;gen."</P>
<P>So hat die kapitalistische Entwicklung die Tendenz, auf einer gewissen H&ouml;he sich selbst Hindernisse zu bereiten. Diese Hindernisse kommen in letzter Linie daher, da&szlig; die fortschreitende Produktivit&auml;t der Arbeit angesichts der Trennung der unmittelbaren Produzenten von den Produk- <A NAME="S241"><B>&lt;241&gt;</A></B> tionsmitteln nicht der ganzen Gesellschaft, sondern blo&szlig; einzelnen Unternehmern zugute kommt, w&auml;hrend eine Masse Arbeitskr&auml;fte und Arbeitszeit durch diesen Proze&szlig; "befreit", &uuml;berfl&uuml;ssig werden und nicht blo&szlig; f&uuml;r die Gesellschaft verlorengehen, sondern ihr sogar zur Last fallen. Wirkliche Bed&uuml;rfnisse der Volksmasse k&ouml;nnen nur in dem Ma&szlig;e besser befriedigt werden, als die "volkst&uuml;mliche", auf der Vereinigung des Produzenten mit den Produktionsmitteln basierende Produktionsweise das &Uuml;bergewicht bekommt. Der Kapitalismus hat aber das Bestreben, sich just dieser Produktionssph&auml;ren zu bem&auml;chtigen und so den Hauptfaktor seiner eigenen Bl&uuml;te zu vernichten. Waren doch z.B. die periodischen Hungersn&ouml;te in Indien, die alle zehn oder elf Jahre auftraten, eine der Ursachen der Periodizit&auml;t der industriellen Krisen in England. In diesen Widerspruch ger&auml;t fr&uuml;her oder sp&auml;ter jede Nation, die die Bahn der kapitalistischen Entwicklung betreten hat, denn er steckt in dieser Produktionsweise selbst. Je sp&auml;ter aber eine Nation die Bahn des Kapitalismus betritt, um so sch&auml;rfer macht sich der Widerspruch geltend, denn sie kann nach der S&auml;ttigung des inneren Marktes keinen Ersatz auf dem ausw&auml;rtigen finden, da dieser schon von &auml;lteren konkurrierenden L&auml;ndern mit Beschlag belegt ist.</P>
<P>Aus alledem folgt, da&szlig; die Schranken des Kapitalismus durch die steigende Armut gegeben sind, die seine eigene Entwicklung bedingt, durch die wachsende Zahl &uuml;berz&auml;hliger Arbeiter, die gar keine Kaufkraft besitzen. Der zunehmenden Produktivit&auml;t der Arbeit, die jedes zahlungsf&auml;hige Bed&uuml;rfnis der Gesellschaft au&szlig;erordentlich rasch befriedigt, entspricht eine zunehmende Unf&auml;higkeit wachsender Volksmassen, ihre dringendsten Bed&uuml;rfnisse zu befriedigen, dem &Uuml;berflu&szlig; unabsetzbarer Waren - der Mangel breiter Massen an dem Notwendigsten.</P>
<P>Das sind die allgemeinen Ansichten Nikolai-ons.<A NAME="ZF1"><A HREF="lu05_238.htm#F1">(1)</A></A> Man sieht: Nikolai-on kennt seinen Marx und hat sich die beiden ersten B&auml;nde des "Kapitals" sehr wohl zunutze kommen lassen. Und doch ist seine ganze Argumentation echt sismondisch: Der Kapitalismus f&uuml;hrt selbst zur Verk&uuml;rzung des inneren Marktes durch die Verelendung der Massen, alles Unheil in der modernen Gesellschaft kommt von der Zerst&ouml;rung der "volkst&uuml;mlichen" Produktionsweise, d.h. des Kleinbetriebes - das sind seine Leitmotive. Das Lob des alleinseligmachenden Kleinbetriebes kommt sogar bei Nikolai-on als der Grundton seiner ganzen Kritik viel deutlicher und offener bei Sismondi zum Ausdruck.<A NAME="ZF2"><A HREF="lu05_238.htm#F2">(2)</A></A> Im Schlu&szlig;resultat ist die Realisi- <A NAME="S242"><B>&lt;242&gt;</A></B> rung des kapitalistischen Gesamtprodukts im Innern der Gesellschaft unm&ouml;glich, sie kann nur dank den ausw&auml;rtigen M&auml;rkten gelingen. Hier m&uuml;ndet Nikolai-on, trotz ganz verschiedener theoretischer Ausgangspunkte, mit Woronzow in den gleichen Schlu&szlig;, dessen Moral, auf Ru&szlig;land angewendet, die &ouml;konomische Begr&uuml;ndung der Skepsis im Verh&auml;ltnis zum Kapitalismus bildet. In Ru&szlig;land hat die kapitalistische Entwicklung, der ausw&auml;rtige M&auml;rkte von vornherein abgeschnitten sind, nur Schattenseiten, nur Verelendung der Volksmassen ergeben, und deshalb war die F&ouml;rderung des Kapitalismus in Ru&szlig;land ein verh&auml;ngnisvoller "Fehler".</P>
<P>Hier angelangt, donnert Nikolai-on wie ein alttestamentarischer Prophet: "Anstatt uns an die jahrhundertealten &Uuml;berlieferungen zu halten, anstatt das von uns ererbte Prinzip der festen Verbindung des unmittelbaren Produzenten mit den Produktionsmitteln zu entwickeln, anstatt die Errungenschaften der westeurop&auml;ischen Wissenschaft zu benutzen, um sie auf Produktionsformen anzuwenden, die auf dem Besitz der Produktionsmittel durch die Bauern beruhen, anstatt die Produktivit&auml;t ihrer Arbeit durch die Konzentrierung der Produktionsmittel in ihren H&auml;nden zu erh&ouml;hen, anstatt uns nicht die westeurop&auml;ische Form der Produktion, wohl aber ihre Organisation zunutze kommen zu lassen, ihre starke Kooperation, ihre Arbeitsteilung, ihre Maschinen usw. usw., anstatt das Prinzip zu entwickeln, das dem b&auml;uerlichen Grundbesitz zugrunde liegt, und es auf die b&auml;uerliche Bodenbearbeitung anzuwenden, anstatt dem Bauerntum zu diesem Zwecke den Zutritt zur Wissenschaft und deren Anwendung weit zu &ouml;ffnen: anstatt alles dessen haben wir den direkt entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Wir haben nicht blo&szlig; die Entwicklung kapitalistischer Produktionsformen nicht verhindert, trotzdem sie auf der Expropriation des Bauerntums basieren, sondern wir haben umgekehrt mit allen Kr&auml;ften die Umkrempelung unseres ganzen wirtschaftlichen Lebens gef&ouml;rdert, die zu der Hungersnot des Jahres 1891 gef&uuml;hrt hat." Das &Uuml;bel sei bereits weit gediehen, doch sei es noch nicht zu sp&auml;t zur Umkehr. Im Gegenteil, eine v&ouml;llige Reform der &ouml;konomischen Politik sei f&uuml;r Ru&szlig;land eine ebenso dringende Notwendigkeit angesichts der drohenden Proletarisierung und des drohenden Untergangs wie seinerzeit die alexandrinischen Reformen nach dem Krimkriege. Die soziale Reform, die Nikolai-on empfiehlt, ist <A NAME="S243"><B>&lt;243&gt;</A></B> nun v&ouml;llig utopisch und kehrt um soviel krasser als bei Sismondi die kleinb&uuml;rgerliche und reaktion&auml;re Seite der Auffassung heraus, als der russische "Volkst&uuml;mler" um 70 Jahre sp&auml;ter schreibt. Nach seiner Meinung ist n&auml;mlich die einzige Rettungsplanke Ru&szlig;lands aus der kapitalistischen &Uuml;berschwemmung die alte "Obschtschina", die auf Gemeinbesitz an Grund und Boden beruhende Landgemeinde. Auf diese sollen - durch Ma&szlig;nahmen freilich, die das Geheimnis Nikolai-ons geblieben sind - die Resultate der modernen Gro&szlig;industrie und der modernen wissenschaftlichen Technik aufgepfropft werden, damit sie als Grundlage einer "vergesellschafteten" h&ouml;heren Produktionsform dienen k&ouml;nne. Ru&szlig;land habe keine Wahl mehr als diese Alternative: entweder Umkehr von der kapitalistischen Entwicklung oder Untergang und Tod.<A NAME="ZF3"><A HREF="lu05_238.htm#F3">(3)</A></A></P>
<B><P><A NAME="S244">&lt;244&gt;</A></B> Nikolai-on langt also nach einer vernichtenden Kritik des Kapitalismus bei demselben alten Allheilmittel der "Volkst&uuml;melei" an, das schon in den f&uuml;nfziger Jahren, damals freilich mit viel mehr Recht, als ein "spezifisch russisches" Pfand der h&ouml;heren sozialen Entwicklung glorifiziert worden ist, das aber schon 1875 von Engels im "Volksstaat" im Aufsatz "Fl&uuml;chtlingsliteratur" als ein lebensunf&auml;higes &Uuml;berbleibsel uralter Einrichtungen in ihrem reaktion&auml;ren Charakter aufgezeigt wurde. "Die Fortentwicklung Ru&szlig;lands in b&uuml;rgerlicher Richtung", schrieb Engels damals, "w&uuml;rde das Gemeinde-Eigentum auch hier nach und nach vernichten, ohne da&szlig; die russische Regierung mit 'Bajonetten und Knute' einzuschreiten braucht (wie sich die revolution&auml;ren Volkst&uuml;mler einbildeten - <I>R. L.</I>) ... unter dem Druck von Steuern und Wucher ist das Gemeinde-Eigentum an Grund und Boden keine Wohltat mehr, es wird eine Fessel. Die Bauern entlaufen ihm h&auml;ufig, mit oder ohne Familie, um sich als wandernde Arbeiter zu ern&auml;hren, und lassen ihr Land daheim.</P>
<B><P><A NAME="S245">&lt;245&gt;</A></B> Man sieht, das Gemeinde-Eigentum in Ru&szlig;land hat seine Bl&uuml;tezeit l&auml;ngst passiert und geht allem Anscheine nach seiner Aufl&ouml;sung entgegen." Damit hatte Engels bereits 18 Jahre vor Nikolai-ons Hauptschrift in der Frage der Obschtschina den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn Nikolai-on darauf nochmals frischen Mutes dasselbe Gespenst der Obschtschina heraufbeschwor, so war das insofern ein arger historischer Anachronismus, als ungef&auml;hr ein Jahrzehnt sp&auml;ter bereits das offizielle Begr&auml;bnis der Obschtschina von Staats wegen erfolgte. Die absolutistische Regierung, die ein halbes Jahrhundert lang mit aller Gewalt den Apparat der b&auml;uerlichen Landgemeinde zu fiskalischen Zwecken k&uuml;nstlich zusammenzuhalten gesucht hatte, sah sich gezwungen, diese Sisyphusarbeit selbst aufzugeben. Bald zeigte es sich an der Agrarfrage als denn m&auml;chtigsten Faktor der russischen Revolution ganz offenkundig, wie sehr der alte Wahn der "Volkst&uuml;mler" bei dem tats&auml;chlichen &ouml;konomischen Gang der Dinge ins Hintertreffen geraten war und wie kr&auml;ftig umgekehrt die kapitalistische Entwicklung in Ru&szlig;land, die sie als eine totgeborene betrauerten und verw&uuml;nschten, ihre Lebensf&auml;higkeit und ihre fruchtbare Arbeit unter Blitz und Donner zu offenbaren verstand. Diese Wendung der Dinge sollte wieder und zum letztenmal in ganz ver&auml;ndertem historischem Milieu feststellen, da&szlig; eine soziale Kritik des Kapitalismus, die theoretisch von dem Zweifel an seiner Entwicklungsm&ouml;glichkeit ausgeht, mit fataler Logik auf eine reaktion&auml;re Utopie hinausl&auml;uft - so gut 1819 in Frankreich wie 1842 in Deutschland und 1893 in Ru&szlig;land.<A NAME="ZF4"><A HREF="lu05_238.htm#F4">(4)</A></A></P>
<P><HR></P>
<P>Fu&szlig;noten von Rosa Luxemburg</P>
<P><A NAME="F1">(1)</A> Vgl. Abhandlungen &uuml;ber unsere Volkswirtschaft, namentlich S. 202-205 u. 338-341. <A HREF="lu05_238.htm#ZF1">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F2">(2)</A> Die frappante &Auml;hnlichkeit in der Position der russischen "Volkst&uuml;mler" mit der Auffassung Sismondis hat namentlich Wlad. Iljin 1897 in einem Aufsatz "Zur Charakteristik des &ouml;konomischen Romantizismus" im einzelnen nachgewiesen. [W. I. Lenin: Zur Charakteristik der &ouml;konomischen Romantik. In: Werke, Bd. 2, S. 121-251.] <A HREF="lu05_238.htm#ZF2">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F3">(3)</A> Siehe l.c., S. 322 ff. Anders beurteilte Fr. Engels die Lage in Ru&szlig;land und suchte Nikolai-on wiederholt klarzumachen, da&szlig; f&uuml;r Ru&szlig;land die gro&szlig;industrielle Entwicklung unvermeidlich und da&szlig; die Leiden Ru&szlig;lands nur die typischen Widerspr&uuml;che des Kapitalismus seien. So schreibt er am 22. September 1892: "Ich behaupte nun, da&szlig; die industrielle Produktion heutzutage grande industrie bedeutet, Dampf, Elektrizit&auml;t, mechanische Spindeln und Webst&uuml;hle und schlie&szlig;lich maschinelle Herstellung der Maschinen selbst. Von dem Tage an, da Ru&szlig;land Eisenbahnen einf&uuml;hrte, war die Einf&uuml;hrung dieser modernen Produktionsmittel beschlossene Sache. Ihr <B>m&uuml;&szlig;t</B> imstande sein, Eure eigenen Lokomotiven, Waggons, Schienenwege zu reparieren und das kann nur auf billige Weise geschehen, wenn Ihr bei Euch auch die Dinge <I>herstellen</I> k&ouml;nnt, die Ihr reparieren wollt. Von dem Augenblick an, da die Kriegf&uuml;hrung ein Zweig der grande industrie wurde (Panzerschiffe, gezogene Gesch&uuml;tze, schnellfeuernde Repetierkanonen, Repetiergewehre, Stahlmantelkugel, rauchloses Pulver usw.), ist die grande industrie, ohne die alle diese Dinge nicht produziert werden k&ouml;nnen, eine politische Notwendigkeit geworden. All das kann man nicht ohne eine hochentwickelte Metallindustrie haben, und diese wieder ist unm&ouml;glich ohne eine entsprechende Entwicklung aller anderen Industriezweige, namentlich der Textilindustrie."</P>
<P>Und weiter in demselben Briefe: "Solange sich die russische Manufaktur auf den inneren Markt beschr&auml;nken mu&szlig;, k&ouml;nnen ihre Produkte auch nur den Inlandsbedarf decken. Dieser aber kann nur langsam wachsen und sollte sogar, wir mir scheint, unter den gegenw&auml;rtigen Bedingungen in Ru&szlig;land abnehmen.</P>
<P>Denn es ist eine der notwendigen Folgeerscheinungen der grande industrie, da&szlig; sie ihren eigenen innern Markt durch denselben Proze&szlig; <I>zerst&ouml;rt</I>, durch den sie ihn <I>schafft</I>. Sie schafft ihn, indem sie die Basis der b&auml;uerlichen Hausindustrie vernichtet. Aber ohne Hausindustrie kann die Bauernschaft nicht leben. Die Bauern werden <I>als Bauern</I> ruiniert; ihre Kaufkraft wird auf ein Minimum reduziert; und bis sie sich als <I>Proletarier</I> in die neuen Existenzbedingungen hineingefunden haben, geben sie f&uuml;r die neuentstandenen Fabriken einen sehr schlechten Markt ab.</P>
<P>Die kapitalistische Produktion als eine vor&uuml;bergehende &ouml;konomische Phase ist voll innerer Widerspr&uuml;che, die sich in dem Ma&szlig;e entfalten und sichtbar werden, in dem sie sich selbst entfaltet. Die Tendenz, ihren eigenen Markt zu schaffen und zugleich zu zerst&ouml;ren, ist einer dieser Widerspr&uuml;che. Ein anderer liegt in der , zu der sie f&uuml;hrt und die in einem Land <I>ohne</I> ausw&auml;rtigen Markt, wie Ru&szlig;land, eher eintritt als in L&auml;ndern, die auf dem freien Weltmarkt mehr oder weniger konkurrenzf&auml;hig sind. Diese letztgenannten L&auml;nder finden in einer solchen scheinbar ausweglosen Lage eine L&ouml;sung in der Ausdehnung des Handels durch gewaltsame Erschlie&szlig;ung neuer M&auml;rkte. Aber auch da steht man vor einem cul-de-sac. Nehmen Sie England! Der letzte neue Markt, dessen Erschlie&szlig;ung dem englischen Handel eine zeitweilige Wiederbelebung bringen k&ouml;nnte, ist China. Daher besteht das englische Kapital darauf, die chinesischen Eisenbahnen zu bauen. Aber chinesische Eisenbahnen bedeuten die Zerst&ouml;rung der ganzen Basis der chinesischen kleinen Landwirtschaft und Hausindustrie, und da es nicht einmal eine chinesische grande industrie als Gegengewicht gibt, wird es Hunderten von Millionen Menschen unm&ouml;glich gemacht, ihr Dasein zu fristen. Die Folge wird eine Massenauswanderung sein, wir sie die Welt noch nicht gesehen hat, eine &Uuml;berflutung Amerikas, Asiens und Europas durch den verha&szlig;ten Chinesen, der dem amerikanischen, australischen und europ&auml;ischen Arbeiter auf der Grundlage des chinesischen Lebensstandards, des niedrigsten der Welt, Konkurrenz machen wird - und wenn die Produktionsweise in Europa bis dahin noch nicht umgew&auml;lzt ist, so wird ihre Umw&auml;lzung dann notwendig werden." (Briefe von Karl Marx und Friedrich Engels an Nikolai-on. &Uuml;bersetzt ins Russische von G. Lopatin, Petersburg 1908, S. 79.) [Engels an Nikolai Franzewitsch Danielson, 22. September 1892. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 38, S. 467 u. 469/470.] - Trotzdem Engels an die Entwicklung der Dinge in Ru&szlig;land aufmerksam verfolgte und daf&uuml;r das gr&ouml;&szlig;te Interesse zeigte, lehnte er seinerseits geflissentlich jede Einmischung in den russischen Streit ab. Er &auml;u&szlig;erte sich dar&uuml;ber selbst in seinem Briefe vom 24. November 1894, also kurz vor seinem Tode, wie folgt:</P>
<P>"Meine russischen Freunde best&uuml;rmen mich ununterbrochen mit der Bitte, auf russische Zeitschriften und B&uuml;cher zu antworten, in denen die Worte unseres Autors (so wurde in dem Briefwechsel Marx bezeichnet - <I>R. L.</I>) nicht nur falsch interpretiert, sondern auch falsch zitiert werden; sie behaupten, mein Eingreifen w&uuml;rde gen&uuml;gen, um alles in Ordnung zu bringen. Ich habe das st&auml;ndig abgelehnt, weil ich mich nicht, ohne dringende und wichtige Arbeiten aufzugeben, in Kontroversen hineinzerren lassen kann, die in einem weit entfernten Land in einer Sprache gef&uuml;hrt werden, die ich noch nicht so leicht wie die bekannteren westeurop&auml;ischen Sprachen zu lesen vermag, und in Druckschriften, von denen ich im besten Falle nur gelegentliche Bruchst&uuml;cke zu Gesicht bekomme, und daher die Debatte ganz unm&ouml;glich gr&uuml;ndlich und in allen ihrer Phasen und Einzelheiten verfolgen kann. &Uuml;berall trifft man ja Leute, die, um eine einmal eingenommene Position zu verteidigen, vor keiner Verzerrung und keinem unfairen Man&ouml;ver zur&uuml;ckschrecken; und wenn man das mit den Schriften unseres Autors gemacht hat, so bef&uuml;rchte ich, da&szlig; man auch mit mir nicht glimpflicher verfahren und mich so schlie&szlig;lich zwingen w&uuml;rde, in die Debatte einzugreifen, um andere und mich selbst zu verteidigen." (l.c., S. 90.) [Engels an Nikolai Franzewitseh Danielson, 24. November 1894. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 39, S. 328.] <A HREF="lu05_238.htm#ZF3">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F4">(4)</A> &Uuml;brigens sind die &uuml;berlebenden Wortf&uuml;hrer des volkst&uuml;mlerischen Pessimismus, namentlich Herr W. Woronzow, ihrer Auffassung bis zuletzt treu geblieben, trotz allem, was inzwischen in Ru&szlig;land passiert ist - eine Tatsache, die ihrem Charakter mehr Ehre macht als ihrem Kopfe. Im Jahre 1902 schrieb Herr W. W. mit Hinweis auf die Krise der Jahre 1900-1902 "Die dogmatische Lehre des Neomarxismus verliert rasch ihre Macht &uuml;ber die Geister, und die Wurzellosigkeit des neuesten Erfolge des Individualismus ist offenbar selbst f&uuml;r seine offiziellen Apologeten klargeworden ... Im ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts kehren wir somit zu derselben Auffassung der &ouml;konomischen Entwicklung Ru&szlig;lands zur&uuml;ck, die von der Generation der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ihren Nachfolgern vermacht worden war." (Siehe die Revue "Die Volkswirtschaft" , Oktober 1902. Zit. bei A. Finn-Jenotajewskij: Die gegenw&auml;rtige Wirtschaft Ru&szlig;lands (1890 bis 1910), Petersburg 1911, S. 2.) Statt auf die "Wurzellosigkeit" der eigenen Theorien, schlie&szlig;en die letzten Mohikaner der Volkst&uuml;melei also heute noch auf die "Wurzellosigkeit" der &ouml;konomischen Wirklichkeit - eine lebendige Widerlegung des Bar&egrave;reschen Wortes: "il n'y a que les morts qui ne reviennent pas." <A HREF="lu05_238.htm#ZF4">&lt;=</A></P></BODY>
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