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<TITLE>Franz Mehring: Karl Marx - Der Schüler Hegels</TITLE>
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<!--Hier war ein falsch terminierter Kommentar -->
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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Mehring</SMALL></A></TD>
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<P><SMALL>Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR,
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1960, S. <!-- #BeginEditable "Seitenzahlen" -->15-63<!-- #EndEditable -->.<BR>
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1. Korrektur<BR>
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Erstellt am 30.10.1999</SMALL></P>
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<H2>Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens</H2>
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<H1><!-- #BeginEditable "Titel" -->Zweites Kapitel: Der Schüler Hegels<!-- #EndEditable --></H1>
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<!-- #BeginEditable "Text" -->
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<H3 ALIGN="CENTER">1. Das erste Jahr in Berlin<A name="Kap_1"></A></H3>
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<P><B>|15|</B> Schon ehe Karl Marx sich verlobte, hatte sein Vater bestimmt, daß
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er seine Studien in Berlin fortsetzen solle; vom 1. Juli 1836 ist der noch erhaltene
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Schein datiert, worin Heinrich Marx nicht nur die Erlaubnis erteilt, sondern es
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auch für seinen Willen erklärt, daß sein Sohn Karl im nächsten
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Semester die Universität Berlin beziehe, um die in Bonn angefangenen Studien
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der Rechts- und Kameralwissenschaft fortzusetzen.</P>
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<P>Die Verlobung selbst wird diesen Entschluß des Vaters eher bestärkt
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als geschwächt haben; bei ihren langen Aussichten hat sein bedächtiges
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Wesen vorläufig wohl eine weite Trennung der Liebenden als ratsam erwogen.
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Sonst mag er bei der Wahl Berlins durch seinen preußischen Patriotismus
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bestimmt worden sein und auch dadurch, daß die Berliner Universität
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die alte Burschenherrlichkeit nicht kannte, die Karl Marx nach der vorsorglichen
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Meinung des Alten genügend in Bonn ausgekostet hatte; »wahre Kneipen sind
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andere Universitäten gegen das hiesige Arbeitshaus«, meinte Ludwig Feuerbach.</P>
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<P>Keinesfalls hat der junge Student selbst sich für Berlin entschieden.
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Karl Marx liebte seine sonnige Heimat, und die preußische Hauptstadt ist
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ihm all sein Lebtag widrig gewesen. Am wenigsten konnte ihn die Philosophie Hegels
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anziehen, die nach dem Tode ihres Stifters die Berliner Universität noch
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unumschränkter beherrschte als schon bei dessen Lebzeiten, denn sie war ihm
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vollkommen fremd. Dazu kam die weite Entfernung von der Geliebten. Er hatte zwar
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versprochen, sich mit ihrem Jawort für die Zukunft zu begnügen und allen
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äußeren Liebeszeichen für die Gegenwart zu entsagen. Aber selbst
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unter ihresgleichen genießen solche Schwüre der Liebenden den besonderen
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Vorzug, ins Wasser geschrieben zu sein; seinen Kindern hat Karl Marx später
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erzählt, er sei damals in der Liebe zu ihrer Mutter ein wahrer rasender Roland
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gewesen, und so ruhte das junge glühende Herz nicht eher, bis ihm gestattet
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wurde, Briefe mit seiner Braut zu wechseln.</P>
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<P>Allein den ersten Brief von ihr erhielt er doch erst, als er bereits ein Jahr
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in Berlin geweilt hatte, und über dies Jahr sind wir in gewisser <A NAME="S16"></A><B>|16|</B>
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Beziehung genauer unterrichtet, als über irgendeines seiner früheren
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oder späteren Lebensjahre: durch einen umfangreichen Brief, den er am 10.
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November 1837 an seine Eltern richtete, um ihnen »am Schlusse eines hier verlebten
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Jahres einen Blick auf die Zustände desselben« zu gewähren. Die merkwürdige
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Urkunde zeigt uns im Jüngling schon den ganzen Mann, der bis zur völligen
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Erschöpfung seiner geistigen und körperlichen Kräfte um die Wahrheit
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ringt: seinen unersättlichen Wissensdurst, seine unerschöpfliche Arbeitskraft,
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seine unerbittliche Selbstkritik und jenen kämpfenden Geist, der das Herz,
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wo es geirrt zu haben schien, doch nur übertäubte.</P>
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<P>Am 22. Oktober 1836 war Karl Marx immatrikuliert worden. Um die akademischen
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Vorlesungen hat er sich nicht viel gekümmert; in neun Semestern hat er ihrer
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nicht mehr als zwölf belegt, hauptsächlich juristische Pflichtkollegien,
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und selbst von ihnen vermutlich wenige gehört. Von den offiziellen Universitätslehrern
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hat wohl nur Eduard Gans einigen Einfluß auf seine geistige Entwicklung
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gehabt. Er hörte bei Gans Kriminalrecht und Preußisches Landrecht,
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und Gans selbst hat den »ausgezeichneten Fleiß« bezeugt, womit Karl Marx
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die beiden Vorlesungen besucht habe. Beweiskräftiger als solche Zeugnisse,
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bei denen es sehr menschlich herzugehen pflegt, ist die schonungslose Polemik,
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die Marx in seinen ersten Schriften gegen die Historische Rechtsschule führte,
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gegen deren Enge und Dumpfheit, gegen deren schädlichen Einfluß auf
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Gesetzgebung und Rechtsentwicklung der philosophisch gebildete Jurist Gans seine
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beredte Stimme erhoben hatte.</P>
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<P>Jedoch betrieb Marx nach seiner eigenen Angabe das Fachstudium der Jurisprudenz
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nur als untergeordnete Disziplin neben Geschichte und Philosophie, und in diesen
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beiden Fächern hat sich Marx überhaupt um keine Vorlesungen gekümmert,
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sondern nur das übliche Pflichtkolleg über Logik wenigstens belegt,
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bei Gabler, dem offiziellen Nachfolger Hegels, aber dem mittelmäßigsten
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unter dessen mittelmäßigen Nachbetern. Als denkender Kopf hat Marx
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schon auf der Universität selbständig gearbeitet, und in zwei Semestern
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einen Wissensstoff bewältigt, den in der langsamen Stallfütterung der
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akademischen Vorlesungen zu verarbeiten nicht zwanzig Semester genügt haben
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würden.</P>
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<P>Nach seiner Ankunft in Berlin verlangte zunächst die »neue Welt der Liebe«
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ihr Recht. »Sehnsuchtstrunken und hoffnungsleer« entlud sie sich in drei Heften
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Gedichte, die alle »meiner teuren, ewig geliebten Jenny von Westphalen« gewidmet
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wurden. In deren Händen waren sie schon im Dezember 1836, mit »Tränen
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der Wonne und des Schmerzes begrüßt«, wie Schwester Sophie nach Berlin
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meldete. Der Dichter selbst <A NAME="S17"></A><B>|17|</B> urteilte ein Jahr später,
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in dem großen Briefe an die Eltern, sehr respektlos über diese Kinder
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seiner Muse. »Breit und formlos geschlagenes Gefühl, nichts Naturhaftes,
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alles aus dem Mond konstruiert, der völlige Gegensatz von dem, was da ist
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und dem, was sein soll, rhetorische Reflektionen statt poetischer Gedanken«: dies
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ganze Sündenregister entrollte der junge Dichter selbst, und wenn er »vielleicht
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auch eine gewisse Wärme der Empfindung und Ringen nach Schwung« als mildernden
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Umstand geltend machen möchte, so trafen diese löblicheren Eigenschaften
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doch nur etwa in dem Sinn und Umfange zu wie bei den Lauraliedern Schillers.</P>
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<P>Im allgemeinen atmen seine jugendlichen Gedichte eine triviale Romantik, durch
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die selten ein echter Ton klingt. Dabei ist die Technik des Verses so unbeholfen
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und ungelenk, wie sie eigentlich nicht mehr sein durfte, nachdem Heine und Platen
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gesungen hatten. Auf so seltsamen Irrwegen begann sich das künstlerische
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Vermögen zu entwickeln, das Marx in reichem Maße besaß und gerade
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auch in seinen wissenschaftlichen Werken bekundete. Wie er in der Bildkraft seiner
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Sprache an die ersten Meister der deutschen Literatur heranreichte, so legte er
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hohen Wert auf das ästhetische Gleichmaß seiner Schriften, ungleich
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den dürftigen Geistern, denen lederne Langeweile die erste Bürgschaft
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gelehrten Schaffens ist. Aber unter den mannigfachen Spenden, die ihm die Musen
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in seine Wiege gelegt hatten, befand sich doch nicht die Gabe der gebundenen Rede.</P>
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<P>Allein, wie er seinen Eltern in dem großen Briefe vom 10. November 1837
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schrieb: die Poesie durfte nur Begleitung sein; er mußte Jurisprudenz studieren
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und fühlte vor allem Drang, mit der Philosophie zu ringen. Er nahm Heineccius,
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Thibaut und die Quellen durch, übersetzte die beiden ersten Pandektenbücher
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ins Deutsche und suchte eine Rechtsphilosophie auf dem Gebiete des Rechts zu begründen.
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Dies »unglückliche Opus« wollte er bis auf beinahe dreihundert Bogen geführt
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haben, was vielleicht doch nur auf einem Schreibfehler beruht. Am Schlusse sah
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er die »Falschheit des Ganzen« ein und warf sich der Philosophie in die Arme,
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um ein neues metaphysisches System zu entwerfen, an dessen Schlusse er abermals
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seiner bisherigen Bestrebungen Verkehrtheit einzusehen gezwungen war. Daneben
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hatte er die Gewohnheit, sich Auszüge aus allen Büchern zu machen, die
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er las, so aus Lessings »Laokoon«, Solgers »Erwin«, Winckelmanns »Kunstgeschichte«,
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Ludens »Deutscher Geschichte«, und so nebenbei Reflektionen niederzukritzeln.
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Zugleich übersetzte er die »Germania« des Tacitus, die »Trauergesänge«
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des Ovid und fing privatim, das heißt aus Grammatiken, Englisch und Italienisch
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zu <A NAME="S18"></A><B>|18|</B> lernen an, worin er noch nichts erreichte, las
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Kleins »Kriminalrecht« und seine Annalen und alles Neueste der Literatur, doch
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dies nur nebenhin. Den Schluß des Semesters bildeten dann wieder »Musentänze
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und Satyrmusik«, wobei ihm plötzlich das Reich der wahren Poesie wie ein
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ferner Feenpalast entgegenblitzte und alle seine Schöpfungen in nichts zerfielen.</P>
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<P>Danach war das Ergebnis dieses ersten Semesters, daß »viele Nächte
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durchwacht, viele Kämpfe durchstritten, viele innere und äußere
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Anregung erduldet«, aber doch nicht viel gewonnen, Natur, Kunst, Welt vernachlässigt
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und Freunde abgestoßen worden waren. Auch litt der jugendliche Körper
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unter der Überanstrengung, und auf ärztlichen Rat siedelte Marx nach
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Stralau über, das damals noch ein ruhiges Fischerdorf war. Hier erholte er
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sich schnell, und nun begann das geistige Ringen von neuem. Auch im zweiten Semester
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wurden Massen des verschiedenartigsten Wissensstoffes durchgenommen, jedoch immer
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deutlicher zeichnete sich Hegels Philosophie als der ruhende Pol in der Flucht
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der Erscheinungen ab. Als Marx sie zuerst in Fragmenten kennenlernte, wollte ihm
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ihre »groteske Felsenmelodie« nicht behagen, aber während einer neuen Erkrankung
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studierte er sie von Anfang bis zu Ende und geriet zudem in einen »Doktorklub«
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von jungen Hegelianern, wo er sich im Streite der Meinungen immer fester »an die
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jetzige Weltphilosophie» kettete, freilich nicht ohne daß alles Klangreiche
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in ihm verstummte und ihn »eine wahre Ironiewut nach so viel Negiertem« befiel.</P>
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<P>Alles das offenbarte Karl Marx seinen Eltern und schloß mit der Bitte,
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sofort - und nicht erst zu Ostern des nächsten Jahres, wie ihm der Vater
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schon erlaubt hatte - nach Hause kommen zu dürfen. Er wollte sich mit dem
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Vater aussprechen über die »vielfach hin- und hergeworfene Gestaltung« seines
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Gemüts; nur in der »lieben Nähe« der Eltern würde er die »aufgeregten
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Gespenster« besänftigen können.</P>
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<P>So wertvoll uns heute dieser Brief ist als ein Spiegel, worin wir den jungen
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Marx leibhaftig erblicken, so schlecht wurde er in dem elterlichen Hause empfangen.
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Der schon kränkelnde Vater sah den »Dämon« vor sich, den er immer in
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dem Sohne gefürchtet hatte, den er doppelt fürchtete, seitdem er eine
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»gewisse Person« wie sein eigenes Kind liebte, seitdem eine sehr ehrwürdige
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Familie veranlaßt war, ein Verhältnis gutzuheißen, das anscheinend
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und nach dem gewöhnlichen Weltenlauf für dieses geliebte Kind voller
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Gefahren und trüber Aussichten war. Er war nie so eigensinnig gewesen, dem
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Sohne den Lebensweg vorzuschreiben,	wenn es anders nur ein Weg war, der dazu
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führen konnte, »heilige Verpflichtungen« zu erfüllen; aber was er nun
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vor sich sah, war eine stürmisch bewegte See ohne jeden sicheren Ankergrund.</P>
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<P><B><A NAME="S19">|19|</A></B> So entschloß er sich, trotz seiner »Schwäche«,
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die er selbst am besten kannte, »einmal hart« zu sein, und wurde in seiner Antwort
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vom 1. [bei Mehring: 9.] Dezember »hart« nach seiner Weise, maßlos übertreibend
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und dazwischen wehmütig seufzend. Er fragte, wie der Sohn seine Aufgabe gelöst
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habe, und antwortete selbst: »Das sei Gott geklagt!!! Ordnungslosigkeit, dumpfes
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Herumschweben in allen Teilen des Wissens, dumpfes Brüten bei der düsteren
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Öllampe; Verwilderung im gelehrten Schlafrock und ungekämmten Haaren
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statt der Verwilderung bei dem Bierglase; zurückscheuchende Ungeselligkeit
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mit Hintansetzung alles Anstandes und selbst aller Rücksicht gegen den Vater
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- die Kunst, mit der Welt zu verkehren, auf die schmutzige Stube beschränkt,
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wo vielleicht in der klassischen Unordnung die Liebesbriefe einer Jenny und 	die
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wohlgemeinten, und vielleicht mit Tränen geschriebenen Ermahnungen des Vaters
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zum Fidibus verwandt werden, was übrigens besser 	wäre, als wenn
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sie durch noch unverantwortlichere Unordnung in die Hände Dritter kämen.«
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Dann übermannt ihn die Wehmut, und er stärkt sich durch die Pillen,
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die ihm der Arzt verschrieben hat, um unbarmherzig zu bleiben. Die schlechte Wirtschaft
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Karls wird schwer getadelt. »Als wären wir Goldmännchen, verfügt
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der Herr Sohn in einem Jahre für beinahe 700 Taler, gegen alle Abrede, gegen
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alle Gebräuche, während die Reichsten keine 500 ausgeben.« Gewiß
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sei Karl kein Prasser und kein Verschwender, aber wie könne ein Mann, der
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alle acht oder vierzehn Tage neue Systeme erfinden und die alten zerreißen
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müsse, sich mit solchen Kleinigkeiten abgeben? Jeder habe die Hand in seiner
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Tasche und jeder hintergehe ihn.</P>
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<P>In dieser Art ging es noch eine gute Strecke weiter, und zuletzt lehnte der
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Vater unerbittlich den Besuch Karls ab. »In diesem Augenblick hierher zu kommen,
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wäre Unsinn. Ich weiß zwar, daß Du Dir wenig aus Vorlesungen
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machst - wahrscheinlich doch bezahlst -, aber ich will wenigstens das Dekorum
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beobachten. Ich bin gewiß kein Sklave der Meinung, aber ich liebe auch nicht,
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daß auf meine Kosten geklatscht werde.« Zu den Osterferien dürfe Karl
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kommen, oder auch zehn Tage früher, denn so pedantisch wolle der Vater nicht
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sein.</P>
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<P>Durch alle seine Klagen klang der Vorwurf, daß es dem Sohne an Herz fehle,
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und wie dieser Vorwurf wieder und wieder gegen Karl Marx erhoben worden ist, so
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mag hier, wo er zum erstenmal ertönt und noch am ehesten ertönen durfte,
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gleich das Wenige gesagt werden, was darüber gesagt werden kann. Mit dem
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modischen Schlagwort vom »Rechte des Auslebens«, das eine verzärtelte Kultur
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erfunden hat, um eine feige Eigenliebe zu beschönigen, ist natürlich
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nichts gesagt; und <A NAME="S20"></A><B>|20|</B> nicht viel mehr auch mit dem
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älteren Worte von dem »Rechte des Genius«, der sich mehr erlauben dürfe
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als gewöhnliche Menschenkinder. Bei Karl Marx entsprang das unablässige
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Ringen um die höchste Erkenntnis vielmehr der tiefsten Empfindung des Herzens;
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er war nicht, wie er sich einmal derb ausgedrückt hat, Ochse genug, um den
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»Menschheitsqualen« den Rücken zu kehren, oder wie schon Hutten den gleichen
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Gedanken ausgedrückt hat: Gott hatte ihn mit dem Gemüt beschwert, daß
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ihm gemeiner Schmerz weher tue und tiefer zu Herzen gehe als anderen. Kein einzelner
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hat je soviel geleistet, die Wurzeln der »Menschheitsqualen« zu zerstören
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als Karl Marx. Wie sein Lebensschiff auf hoher See kreuzte, im Sturm und Wetter
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und im ewigen Kugelregen der Feinde, so hat seine Fahne immer hoch am Maste geflattert,
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|
aber ein behagliches Leben an Bord ist es nicht gewesen, weder für den Kapitän,
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|
noch für die Mannschaft.</P>
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<P>Deshalb war Marx nicht gefühllos gegen die Seinen. Der kämpfende
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Geist konnte die Empfindungen des Herzens wohl übertäuben, aber niemals
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ersticken, und oft hat noch der reife Mann schmerzlich beklagt, daß die
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ihm am nächsten standen, unter den ehernen Losen seines Lebens schwerer zu
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leiden hätten als er selbst. Auch der junge Student war nicht taub gegen
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die Notschreie seines Vaters; er verzichtete nicht nur auf den sofortigen Besuch
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in Trier, sondern auch auf die Osterreise, zum Kummer der Mutter, aber zur großen
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|
Genugtuung des Vaters, dessen Groll sich nun schnell zu besänftigen begann.
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Er hielt zwar an seinen Klagen fest, aber ihre Übertreibungen gab er preis;
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|
in der Kunst, abstrakt zu räsonieren, könne er es mit Karl doch nicht
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|
aufnehmen, und um die Terminologie zu studieren, bevor er nun gar ins Heiligtum
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|
eindringen könne, dazu sei er zu alt. Nur in einem Punkte wolle alles Transzendente
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nicht helfen, und da beobachte der Sohn klugerweise ein vornehmes Schweigen, nämlich
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|
über das lumpige Geld, dessen Wert für einen Familienvater er immer
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noch nicht zu kennen scheine. Aber aus Müdigkeit wollte der Vater die Waffen
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niederlegen, und das Wort hatte einen ernsteren Sinn, als es nach dem leisen Humor
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|
zu haben schien, der schon wieder durch die Zeilen dieses Briefes spielte.</P>
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|
<P>Er ist vom 10. Februar 1838 datiert, als Heinrich Marx sich eben von einem
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||
|
fünfwöchigen Krankenlager erhoben hatte. Es war keine dauernde Besserung;
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||
|
die Krankheit, anscheinend ein Leberleiden, kehrte wieder und nahm zu, bis gerade
|
||
|
ein Vierteljahr später, am 10. Mai 1838, der Tod eintrat. Er kam zur rechten
|
||
|
Zeit, um diesem Vaterherzen die Enttäuschungen zu ersparen, an denen es Stück
|
||
|
für Stück zerbrochen wäre.</P>
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|
<P><B><A NAME="S21">|21|</A></B> Karl Marx aber hat immer dankbar empfunden, was
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||
|
ihm sein Vater gewesen war. Wie dieser ihn im Innersten des Herzens getragen hatte,
|
||
|
so trug er ein Bild des Vaters auf seinem Herzen, bis er es mit ins eigene Grab
|
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|
nahm.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER">2. Die Junghegelianer<A name="Kap_2"></A></H3>
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<P>Vom Frühjahr 1838, wo er den Vater verlor, hat Karl Marx noch drei Jahre
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|
in Berlin verlebt, in dem Kreise des Doktorklubs, dessen geistiges Leben ihm die
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||
|
Geheimnisse der Hegelschen Philosophie erschlossen hatte.</P>
|
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|
<P>Diese Philosophie galt damals noch als preußische Staatsphilosophie.
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Der Kultusminister Altenstein und sein Geheimrat Johannes Schulze hatten sie unter
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ihren besonderen Schutz genommen. Hegel verherrlichte den Staat als die Wirklichkeit
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der sittlichen Idee, als das absolut Vernünftige und den absoluten Selbstzweck,
|
||
|
daher als das höchste Recht gegen die einzelnen, deren höchste Pflicht
|
||
|
es sei, Mitglieder des Staats zu sein. Diese Lehre vom Staat schmeichelte sich
|
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|
der preußischen Bürokratie ausnehmend ein; warf sie doch einen verklärenden
|
||
|
Schein selbst auf die Sünden der Demagogenjagd!</P>
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<P>Hegel beging mit ihr auch keineswegs eine Heuchelei, denn es erklärte
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sich aus seiner politischen Entwicklung, daß ihm die Monarchie, in der die
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Staatsdiener das Beste tun müßten, als die idealste Staatsform galt;
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allenfalls eine gewisse mittelbare Mitherrschaft der herrschenden Klassen hielt
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er daneben für notwendig, doch nur in ständischer Beschränkung;
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von einer allgemeinen Volksvertretung im modern-konstitutionellen Sinne wollte
|
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er so wenig wissen wie der preußische König und dessen Orakel Metternich.</P>
|
||
|
<P>Aber das System, das sich Hegel für seine Person zurechtgemacht hatte,
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||
|
stand in unversöhnlichem Widerspruch mit der dialektischen Methode, die er
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||
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als Philosoph vertrat. Mit dem Begriffe des Seins ist auch der Begriff des Nichts
|
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gegeben, und aus dem Kampfe beider entsteht der höhere Begriff des Werdens.
|
||
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Alles ist und ist zugleich nicht, denn alles fließt, ist in steter Veränderung,
|
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in stetem Werden und Vergehen begriffen. So war die Geschichte ein in ewiger Umwälzung
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begriffener, von Niederem zu Höherem aufsteigender Entwicklungsprozeß,
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den Hegel mit seiner universalen Bildung in den verschiedensten Fächern der
|
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historischen Wissenschaft nachzuweisen unternahm, wenn auch nur in der seiner
|
||
|
idealistischen Anschauung entsprechenden Form, daß sich <A NAME="S22"></A><B>|22|</B>
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in allem geschichtlichen Geschehen die absolute Idee auswirke, die Hegel für
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|
die belebende Seele der ganzen Welt erklärte, ohne sonst etwas von ihr auszusagen.</P>
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<P>Danach konnte das Bündnis zwischen der Philosophie Hegels und dem Staat
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der Friedrich Wilhelme nur eine Vernunftehe sein, die gerade so lange währte,
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wie sich beide Teile gegenseitig ihre Vernunft bescheinigten. Das ging etwa an
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in den Tagen der Karlsbader Beschlüsse und der Demagogenverfolgungen, aber
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schon die Julirevolution von 1830 gab der europäischen Entwicklung einen
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so starken Stoß nach vorwärts, daß Hegels Methode sich ungleich
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waschechter erwies als sein System. Sobald die immerhin noch schwachen Wirkungen
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der Julirevolution auf Deutschland erstickt worden waren und die Ruhe des Kirchhofs
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wieder über dem Volke der Dichter und Denker lag, beeilte sich das preußische
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Junkertum, den alten verschlissenen Kram der mittelalterlichen Romantik nochmals
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gegen die moderne Philosophie auszuspielen. Das wurde ihm um so leichter, als
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die Bewunderung Hegels weniger seine Sache, als die Sache der halbwegs aufgeklärten
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Bürokratie gewesen war, und Hegel, bei aller Verherrlichung des Beamtenstaats,
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doch gar nichts dazu getan hatte, dem Volke die Religion zu erhalten, was nun
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einmal das A und O der feudalen Überlieferung war und im letzten Grunde aller
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ausbeutenden Klassen ist.</P>
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<P>Auf religiösem Gebiete erfolgte dann auch der erste Zusammenstoß.
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Hatte Hegel gemeint, die heiligen Geschichten der Bibel seien wie profane zu betrachten,
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den Glauben gehe das Wissen gemeiner, wirklicher Geschichten nichts an, so machte
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David Strauß, ein junger Schwabe, nun vollen Ernst mit dem Worte des Meisters.
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Er forderte, daß die evangelische Geschichte der historischen Kritik preiszugeben
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sei, und bewies die Berechtigung seiner Forderung durch sein »Leben Jesu«, das
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1835 erschien und ungeheures Aufsehen erregte. Strauß knüpfte damit
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an die bürgerliche Aufklärung an, über deren »Aufkläricht«
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sich Hegel allzu verächtlich ausgesprochen hatte. Aber die Gabe des dialektischen
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Denkens gestattete ihm die Frage ungleich tiefer zu fassen als der alte Reimarus,
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der »Ungenannte« Lessings, sie gefaßt hatte. Strauß sah nicht mehr
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in der christlichen Religion ein Produkt des Betruges oder in den Aposteln eine
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Rotte von Gaunern, sondern erklärte die mythischen Bestandteile der Evangelien
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aus dem bewußtlosen Schaffen der ersten christlichen Gemeinden. Vieles aber
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aus den Evangelien erkannte er noch als geschichtlichen Bericht über das
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Leben Jesu und Jesus selbst als geschichtliche Person an, wie er überhaupt
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in den wichtigsten Punkten immer noch einen geschichtlichen Kern voraussetzte.</P>
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<P><B><A NAME="S23">|23|</A></B> Politisch war Strauß vollkommen harmlos
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und ist es all sein Lebtag geblieben. Ein wenig schärfer klang die politische
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Note in den »Hallischen Jahrbüchern« an, die Arnold Ruge und Theodor Echtermeyer
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im Jahre 1838 als Organ der Junghegelianer gründeten. Sie gingen zwar auch
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von der Literatur und Philosophie aus und wollten zunächst nicht mehr sein
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als ein Gegengewicht gegen die Berliner Jahrbücher für wissenschaftliche
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Kritik, das eingerostete Organ der Althegelianer. Aber Arnold Ruge, hinter den
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der früh verstorbene Echtermeyer bald zurücktrat, hatte doch schon in
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der Burschenschaft mitgetan und den Wahnsinn der Demagogenjagd mit sechsjährigem
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Gefängnis in Köpenick und Kolberg gebüßt. Er hatte dies Schicksal
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freilich nicht tragisch genommen und sich als Privatdozent in Halle durch glückliche
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Heiraten eine behagliche Existenz geschaffen, die ihn das preußische Staatswesen
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trotz alledem für frei und gerecht erklären ließ. Er hätte
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nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn sich an ihm die boshafte Rede der altpreußischen
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Mandarinen erfüllt hätte, wonach im Preußischen niemand eine so
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schnelle Karriere mache wie ein bekehrter Demagoge. Jedoch eben hieran haperte
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es.</P>
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<P>Ruge war kein selbständiger Denker und am wenigsten ein revolutionärer
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Geist, aber er besaß gerade genug Bildung, Ehrgeiz, Fleiß und Kampflust,
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um eine wissenschaftliche Zeitung gut zu leiten. Er selbst hat sich einmal nicht
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unzutreffend einen Großkaufmann des Geistes genannt. Er machte aus seinen
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»Hallischen Jahrbüchern« einen Sammelplatz aller unruhigen Geister, die nun
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einmal den - im Interesse aller staatlichen Ordnung leidigen - Vorzug besitzen,
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das meiste Leben in die Bude der Presse zu bringen. David Strauß fesselte
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als Mitarbeiter ungleich mehr, als sämtliche Theologen, die mit Spießen
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und Stangen für die gottgegebene Unfehlbarkeit der Evangelien fochten, die
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Leser hätten fesseln können. Zwar versicherte Ruge, seine Jahrbücher
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blieben »Hegelsche Christen und Hegelsche Preußen«, aber der Kultusminister
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Altenstein, der ohnehin schon von der romantischen Reaktion arg an die Wand gedrückt
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wurde, traute dem Frieden nicht und ließ sich auf die flehentliche Bitte
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Ruges um eine staatliche Anstellung als Anerkennung seiner Leistungen nicht ein.
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So dämmerte den »Hallischen Jahrbüchern« die Erkenntnis auf, daß
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die Bande gelöst werden müßten, die die preußische Freiheit
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und Gerechtigkeit gefangen hielten.</P>
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<P>Zu den Mitarbeitern der »Hallischen Jahrbücher« gehörten nun auch
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die Berliner Junghegelianer, in deren Mitte Karl Marx drei Jugendjahre verlebt
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hat. Der Doktorklub bestand aus Dozenten, Lehrern, Schriftstellern in der ersten
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Blüte des Mannesalters. Rutenberg, den <A NAME="S24"></A><B>|24|</B> Karl
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Marx anfangs in einem Briefe an seinen Vater den »intimsten« seiner Berliner Freunde
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nannte, hatte am Berliner Kadettenkorps in Geographie unterrichtet, war aber entlassen
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worden, angeblich weil er eines Morgens betrunken im Rinnstein gelegen hatte,
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tatsächlich weil er in den Verdacht geraten war, »böswillige« Artikel
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in Hamburger oder Leipziger Zeitungen veröffentlicht zu haben. Eduard Meyen
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war an einer kurzlebigen Zeitschrift beteiligt, in der Marx zwei seiner Gedichte
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veröffentlicht hat, die einzigen glücklicherweise, die je das Licht
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der Welt erblickt haben. Ob Max Stirner, der an einer Mädchenschule unterrichtete,
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schon zur Zeit, wo Marx in Berlin studierte, diesem Verein angehört hat,
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läßt sich nicht sicher feststellen; ein Beweis dafür, daß
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beide sich persönlich gekannt haben, liegt nicht vor. Auch entbehrt die Frage
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eines tieferen Interesses, da irgendwelche geistigen Zusammenhänge zwischen
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Marx und Stirner nicht bestanden haben. Um so stärker ist der Einfluß
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gewesen, den die geistig hervorragendsten Mitglieder des Doktorklubs auf Marx
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gehabt haben: Bruno Bauer, der Privatdozent an der Berliner Universität,
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und Karl Friedrich Köppen, der Lehrer an der Dorotheenstädtischen Realschule
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war.</P>
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<P>Karl Marx zählte kaum zwanzig Jahre, als er sich dem Doktorklub anschloß,
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aber wie so oft in seinem späteren Leben, wenn er in einen neuen Kreis eintrat,
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wurde er der belebende Mittelpunkt. Auch Bauer und Köppen, die ihm um etwa
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zehn Lebensjahre voraus waren, haben in ihm früh die geistig überlegene
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Kraft erkannt und sich keinen lieberen Kampfgefährten ersehnt als diesen
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Jüngling, der doch noch viel von ihnen lernen konnte und auch gelernt hat.
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»Seinem Freunde Karl Heinrich Marx aus Trier« widmete Köppen die ungestüme
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Kampfschrift, die er im Jahre 1840 zum hundertsten Geburtstage des Königs
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Friedrich von Preußen veröffentlichte.</P>
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<P>Köppen besaß historisches Talent in ungewöhnlich hohem Maße,
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wovon heute noch seine Beiträge in den »Hallischen Jahrbüchern« zeugen;
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ihm verdanken wir die erste wirklich geschichtliche Würdigung der roten Schreckenszeit
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|
in der großen französischen Revolution. Er wußte die Träger
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der zeitgenössischen Geschichtsschreibung, die Leo, Ranke, Raumer, Schlosser,
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der glücklichsten und treffendsten Kritik zu unterziehen. Er selbst hat sich
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auf den mannigfachsten Gebieten geschichtlicher Forschung versucht, von einer
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Literarischen Einleitung in die nordische Mythologie, die sich neben die Forschungen
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Jacob Grimms und Ludwig Uhlands stellen durfte, bis zu einem großen Werk
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über Buddha, das selbst die Anerkennung Schopenhauers fand, der dem alten
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||
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Hegelianer sonst nicht grün war. Wenn nun ein Kopf wie Köppen, den ärgsten
|
||
|
<A NAME="S25"></A><B>|25|</B> Despoten der preußischen Geschichte als »wiedergeborenen
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Geist« herbeiwünschte, um »alle Widersacher, die uns den Eintritt ins Land
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||
|
der Verheißung verwehren, mit flammendem Schwerte zu vertilgen«, so wird
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man dadurch am schnellsten in die eigentümliche Umwelt versetzt, in der diese
|
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Berliner Junghegelianer lebten.</P>
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|
<P>Man darf dabei gewiß zweierlei nicht übersehen. Die romantische
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Reaktion und alles was ihr anhing, arbeitete mit aller Kraft daran, das Andenken
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des alten Fritz anzuschwärzen. Es war, wie Köppen meinte, eine »greuliche
|
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Katzenmusik: alt- und neutestamentliche Trompeten, moralische Maultrommeln, erbauliche
|
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Dudelsäcke, historische Sackpfeifen und andere Schnurrpfeifereien, dazwischen
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Freiheitshymnen, gebrüllt in urteutonischem Bierbaß«. Ferner aber gab
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||
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es noch keine kritisch-wissenschaftliche Untersuchung, die dem Leben und den Taten
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des preußischen Königs einigermaßen gerecht geworden wäre,
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und konnte es noch nicht geben, da die entscheidend wichtigen Quellen zu seiner
|
||
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Geschichte noch nicht eröffnet waren. Er stand in dem Rufe einer »Aufklärung«,
|
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um derentwillen ihn die einen haßten und die andern bewunderten.</P>
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|
<P>In der Tat wollte Köppen mit seiner Schrift wieder der Aufklärung
|
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|
des achtzehnten Jahrhunderts aufhelfen; Ruge sagte von Bauer, Köppen und
|
||
|
Marx, ihr Kennzeichen sei die Anknüpfung an die bürgerliche Aufklärung;
|
||
|
sie schrieben, eine philosophische Bergpartei, das Mene Mene Tekel Upharsin an
|
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den deutschen Gewitterhimmel. Köppen wies die »schalen Deklamationen« gegen
|
||
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die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts zurück; trotz ihrer Langweiligkeit
|
||
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verdankten wir den deutschen Aufklärern sehr viel; ihr Mangel sei nur gewesen,
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||
|
daß sie nicht aufgeklärt genug gewesen seien. Das gab Köppen vornehmlich
|
||
|
den gedankenlosen Nachbetern Hegels zu bedenken, »den einsamen Büßern
|
||
|
des Begriffs«, den »alten Brahmanen der Logik«, die, mit untergeschlagenen Beinen
|
||
|
in ewiger Ruhe dasitzend, mit eintönigem Geschnarr die heiligen drei Vedas
|
||
|
wieder und wieder läsen und nur dann und wann einen lüsternen Blick
|
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|
hinüberwürfen in die tanzende Bajaderenwelt. In dem Organ der Althegelianer
|
||
|
wies denn auch Varnhagen die Schrift Köppens als »ekelhaft« und »widerwärtig«
|
||
|
zurück; er mochte sich noch besonders getroffen fühlen durch die derben
|
||
|
Worte Köppens über die »Kröten des Sumpfs«, jenes Gewürm ohne
|
||
|
Religion, ohne Vaterland, ohne Überzeugung, ohne Gewissen, ohne Herz, ohne
|
||
|
Wärme und Kälte, ohne Freude und Schmerz, ohne Liebe und Haß,
|
||
|
ohne Gott und Teufel, jene Elenden, die vor den Toren der Hölle umherirrten
|
||
|
und selbst für diese zu schlecht seien.</P>
|
||
|
<P><B><A NAME="S26">|26|</A></B> Köppen feierte den »großen König«
|
||
|
nur als »großen Philosophen«. Allein dabei geriet er doch tiefer in die
|
||
|
Brüche, als selbst nach dem Stande der damaligen Erkenntnis erlaubt war.
|
||
|
Er meinte: »Friedrich hatte nicht wie Kant, eine doppelte Vernunft, eine theoretische,
|
||
|
die ziemlich aufrichtig und keck mit ihren Bedenklichkeiten und Zweifeln und Negationen
|
||
|
hervortritt, und eine praktische, vormundschaftliche, öffentlich angestellte,
|
||
|
die wieder gut macht, was jene gesündigt hat und deren Studentenstreiche
|
||
|
vertuscht. Nur die schülerhafteste Unreife kann behaupten, daß seine
|
||
|
philosophisch-theoretische Vernunft der königlich-praktischen gegenüber
|
||
|
als sehr transzendent erscheine, und daß der alte Fritz sich oft des Einsiedlers
|
||
|
von Sanssouci wenig erinnert habe. Nie ist vielmehr in ihm der König hinter
|
||
|
dem Philosophen zurückgeblieben.« Heute würde jeder, der diese Behauptung
|
||
|
Köppens zu wiederholen wagte, sich selbst bei der preußischen Geschichtsschreibung
|
||
|
den Vorwurf der schülerhaftesten Unreife zuziehen, aber auch für das
|
||
|
Jahr 1840 war es doch schon ein starkes Stück, das aufklärende Lebenswerk
|
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|
eines Mannes wie Kant, unter die aufklärerischen Scherze zu stellen, die
|
||
|
der borussische Despot mit den französischen Schöngeistern getrieben
|
||
|
hatte, die sich zu seinen Hofnarren hergaben.</P>
|
||
|
<P>Was sich darin kundgab, war die absonderliche Dürftigkeit und Leere des
|
||
|
Berliner Lebens, die den dortigen Junghegelianern überhaupt verhängnisvoll
|
||
|
geworden ist. Gerade an Köppen, der sich ihrer schließlich noch am
|
||
|
ehesten erwehren sollte, trat sie am auffallendsten hervor, zumal in einer Kampfschrift,
|
||
|
die mit dem ganzen Herzen geschrieben war. In Berlin fehlte noch der kräftige
|
||
|
Rückhalt, den die schon reich entwickelte Industrie der Rheinlande dem bürgerlichen
|
||
|
Selbstbewußtsein bot, aber nicht nur hinter Köln, sondern auch hinter
|
||
|
Leipzig und selbst Königsberg trat die preußische Hauptstadt zurück,
|
||
|
sobald der Kampf der Zeit praktisch zu werden begann. »Sie glauben ungeheuer frei
|
||
|
zu sein«, schrieb der Ostpreuße Walesrode von den damaligen Berlinern, »wenn
|
||
|
sie Cerf, die Hagen, den König, die Tagesereignisse usw. usw., in den Kaffeehäusern
|
||
|
bewitzeln, auf Eckenstehermanier, in der bekannten Tonart.« Berlin war erst eine
|
||
|
Militär- und Residenzstadt, deren kleinbürgerliche Bevölkerung
|
||
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sich durch ein boshaft-kleinliches Mundwerk für die feige Unterwürfigkeit
|
||
|
entschädigte, die sie öffentlich vor jeder Hofequipage bekundete. Eine
|
||
|
rechte Stätte dieser Opposition war der Klatschsalon desselben Varnhagen,
|
||
|
der sich schon vor der friderizianischen Aufklärung bekreuzigte, so wie Köppen
|
||
|
sie verstand.</P>
|
||
|
<P>Es liegt kein Grund vor, daran zu zweifeln, daß der junge Marx die Auffassungen
|
||
|
der Schrift geteilt hat, die seinen Namen der Öffentlichkeit <A NAME="S27"></A><B>|27|*</B>
|
||
|
zuerst in ehrenvoller Weise nannte. Er stand mit Köppen im nächsten
|
||
|
Verkehr und hat viel von der schriftstellerischen Art des älteren Kameraden
|
||
|
übernommen. Auch sind sie gute Freunde geblieben, obgleich sich ihre Lebenswege
|
||
|
schnell trennten; als Marx zwanzig Jahre später einen Besuch in Berlin abstattete,
|
||
|
fand er in Köppen »ganz den alten«, und sie feierten frohe Stunden eines
|
||
|
ungetrübten Wiedersehens. Nicht lange darauf, im Jahre 1863, ist Köppen
|
||
|
gestorben.</P>
|
||
|
<H3 ALIGN="CENTER">3. Die Philosophie des Selbstbewußtseins<A name="Kap_3"></A></H3>
|
||
|
<P>Das eigentliche Haupt der Berliner Junghegelianer war jedoch nicht Köppen,
|
||
|
sondern Bruno Bauer. Als berufener Schüler des Meisters wurde er auch anerkannt,
|
||
|
zumal als er sich mit spekulativem Hochmut gegen das schwäbische »Leben Jesu«
|
||
|
erklärt und sich von Strauß eine derbe Abfuhr geholt hatte. Der Kultusminister
|
||
|
Altenstein hielt seine schützende Hand über dieser hoffnungsvollen Kraft.
|
||
|
Bei alledem war Bruno Bauer kein Streber, und Strauß hatte schlecht prophezeit,
|
||
|
als er ihn bei der »verknöcherten Scholastik« des orthodoxen Häuptlings
|
||
|
Hengstenberg landen sah. Vielmehr geriet Bauer im Sommer 1839 mit Hengstenberg,
|
||
|
der den alttestamentarischen Gott der Rache und des Zornes zum Gotte des Christentums
|
||
|
erheben wollte, in eine literarische Fehde, die sich zwar noch in den Grenzen
|
||
|
einer akademischen Streitfrage hielt, aber doch den altersschwachen und schwer
|
||
|
geängstigten Altenstein veranlaßte, seinen Schützling den argwöhnischen
|
||
|
Blicken der so rachsüchtigen wie rechtgläubigen Orthodoxie zu entziehen.
|
||
|
Er sandte Bruno Bauer im Herbst 1839 an die Universität Bonn, zunächst
|
||
|
als Privatdozenten, aber mit der Absicht, ihn binnen Jahresfrist als Professor
|
||
|
anzustellen.</P>
|
||
|
<P>Um diese Zeit war Bruno Bauer aber schon, wie namentlich aus seinen Briefen
|
||
|
an Marx hervorgeht, mitten in einer geistigen Entwicklung, die ihn weit über
|
||
|
Strauß hinausführen sollte. Er begann eine »Evangelienkritik«, die
|
||
|
ihn dazu führte, mit den letzten Trümmern aufzuräumen, die Strauß
|
||
|
noch erhalten hatte. Bruno Bauer wies nach, daß auch nicht ein einziges
|
||
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geschichtliches Atom in den Evangelien enthalten, daß alles in ihnen freie
|
||
|
schriftstellerische Tätigkeit der Evangelisten sei; er wies nach, daß
|
||
|
die christliche Religion als Weltreligion der antiken, der griechisch-römischen
|
||
|
Welt nicht aufgedrängt worden, sondern das eigenste Produkt dieser Welt sei.
|
||
|
Er schlug damit den einzigen Weg ein, <A NAME="S28"></A><B>|28|</B> auf dem die
|
||
|
Entstehung des Christentums wissenschaftlich erforscht werden konnte. Es hat schon
|
||
|
seinen guten Sinn, wenn der Hof-, Mode- und Salontheologe Harnack, der gegenwärtig
|
||
|
im Interesse der herrschenden Klassen die Evangelien zurechtmacht, kürzlich
|
||
|
das Fortschreiten auf dem Wege, den Bruno Bauer eröffnet hat, als »miserabel«
|
||
|
zu beschimpfen suchte.</P>
|
||
|
<P>Während diese Gedanken in Bruno Bauer zu reifen begannen, war Karl Marx
|
||
|
sein unzertrennlicher Gefährte, und Bauer selbst sah in dem um neun Jahre
|
||
|
jüngeren Freunde den fähigsten Kampfgenossen. Er war kaum in Bonn warm
|
||
|
geworden, als er Marx durch sehnsüchtige Briefe nachzulocken suchte. Ein
|
||
|
Professorenklub in Bonn sei die »reine Philisterei« gegenüber dem Berliner
|
||
|
Doktorklub, durch den doch immer ein geistiges Interesse gegangen sei; er lache
|
||
|
auch viel in Bonn, was man so lachen nenne, aber so habe er noch nie wieder gelacht
|
||
|
wie in Berlin, wenn er mit Marx nur über die Straße gegangen sei. Marx
|
||
|
möge doch nur mit dem »lumpigen Examen« fertig werden, für das nur Aristoteles,
|
||
|
Spinoza, Leibniz und weiter nichts erforderlich sei; er solle doch aufhören,
|
||
|
einen solchen Unsinn, eine bloße Farce saumselig zu behandeln. Mit den Bonner
|
||
|
Philosophen werde er leichtes Spiel haben; unaufschiebbar sei aber vor allem eine
|
||
|
radikale Zeitschrift, die sie gemeinsam herausgeben müßten. Das Berliner
|
||
|
Gewäsch und die Mattigkeit der »Hallischen Jahrbücher« seien nicht mehr
|
||
|
zu ertragen; Ruge tue ihm leid, aber weshalb jage er das Gewürm nicht aus
|
||
|
seinem Blatt heraus?</P>
|
||
|
<P>Es klingt manchmal revolutionär genug aus diesen Briefen, doch war immer
|
||
|
nur eine philosophische Revolution gemeint, bei der Bauer weit eher auf die Hilfe
|
||
|
als auf den Widerstand der Staatsgewalt zählte. Kaum hatte er an Marx im
|
||
|
Dezember 1839 geschrieben, daß Preußen dazu bestimmt scheine, nur
|
||
|
durch eine Jenaer Schlacht vorwärtszukommen, die ja freilich nicht gerade
|
||
|
auf einem Leichenfelde ausgefochten werden müsse, als er wenige Monate später
|
||
|
- zur Zeit, wo sein Beschützer Altenstein und der alte König ziemlich
|
||
|
gleichzeitig gestorben waren - die höchste Idee unseres Staatslebens beschwor,
|
||
|
den Familiengeist des fürstlichen Hauses Hohenzollern, der seit vier Jahrhunderten
|
||
|
seine besten Kräfte daran gesetzt habe, das Verhältnis von Kirche und
|
||
|
Staat zu ordnen. Zugleich verhieß Bauer, daß die Wissenschaft nicht
|
||
|
ermüden werde, die Idee des Staates gegen die Anmaßungen der Kirche
|
||
|
zu verteidigen; der Staat könne sich wohl einmal irren, gegen die Wissenschaft
|
||
|
argwöhnisch werden und zu Zwangsmaßregeln greifen, aber die Vernunft
|
||
|
gehöre ihm zu innig an, als daß er lange irren könne. Auf <A NAME="S29"></A><B>|29|</B>
|
||
|
diese Huldigung antwortete der neue König damit, als Nachfolger Altensteins
|
||
|
den orthodoxen Reaktionär Eichhorn zu ernennen, der sich bemühte, die
|
||
|
Freiheit der Wissenschaft, soweit sie mit der Idee des Staates verknüpft
|
||
|
war, das heißt die akademische Lehrfreiheit, den Anmaßungen der Kirche
|
||
|
zu opfern.</P>
|
||
|
<P>Die politische Haltlosigkeit war bei Bauer viel größer als bei Köppen,
|
||
|
der sich wohl an einem einzelnen Hohenzollern irren konnte, der das Familienmaß
|
||
|
übertraf, aber nicht an dem »Familiengeist« dieses fürstlichen Hauses.
|
||
|
Köppen war lange nicht so tief in der Hegelschen Ideologie untergetaucht
|
||
|
wie Bauer. Aber man darf nicht übersehen, daß dessen politische Kurzsichtigkeit
|
||
|
doch eben nur die Kehrseite seines philosophischen Scharfblickes war. Er hatte
|
||
|
in den Evangelien den geistigen Niederschlag der Zeit entdeckt, worin sie entstanden
|
||
|
waren, und so meinte er vom rein ideologischen Standpunkt aus nicht so uneben,
|
||
|
wenn es schon der christlichen Religion mit ihrer trüben Gärung griechisch-römischer
|
||
|
Philosophie möglich gewesen sei, die antike Bildung zu überwinden, so
|
||
|
werde es der freien und klaren Kritik der modernen Dialektik um so leichter gelingen,
|
||
|
den Alp der christlich-germanischen Bildung abzuschütteln.</P>
|
||
|
<P>Was ihm diese imponierende Sicherheit gab, war die Philosophie des Selbstbewußtseins.
|
||
|
Unter ihrem Namen hatten sich einst die griechischen Philosophenschulen zusammengefaßt,
|
||
|
die aus dem nationalen Verfall des griechischen Lebens entstanden waren und am
|
||
|
meisten dazu beigetragen hatten, die christliche Religion zu befruchten, die Skeptiker,
|
||
|
die Epikureer und die Stoiker. Sie konnten sich an spekulativer Tiefe weder mit
|
||
|
Plato noch an universalem Wissen mit Aristoteles messen, und waren von Hegel ziemlich
|
||
|
verächtlich behandelt worden. Ihr gemeinsames Ziel war, den einzelnen Menschen,
|
||
|
der durch einen furchtbaren Zusammenbruch von allem getrennt war, was ihn bis
|
||
|
dahin gebunden und getragen hatte, nun auch von allem Äußeren unabhängig
|
||
|
zu machen und auf sein inneres Leben zurückzuführen, sein Glück
|
||
|
zu suchen in der Ruhe des Geistes und Gemüts, die unerschütterlich widerstehe,
|
||
|
auch wenn eine Welt über ihr zusammenstürze.</P>
|
||
|
<P>Aber auf den Trümmern einer untergegangenen Welt habe, so führte
|
||
|
Bauer aus, dem ausgemergelten Ich als einzige Macht vor sich selber gegraut; es
|
||
|
habe sein Selbstbewußtsein entfremdet und veräußert, indem es
|
||
|
seine allgemeine Macht als eine fremde sich gegenübergestellt, dem Weltherrn
|
||
|
in Rom, der alle Rechte in sich verschlossen halte, der Leben und Tod auf seinen
|
||
|
Lippen trage, in dem Herrn der evangelischen Geschichte, der mit einem Hauche
|
||
|
seines Mundes den Widerstand <A NAME="S30"></A><B>|30|*</B> der Natur bezwinge
|
||
|
oder seine Feinde niederschlage, der sich schon auf Erden als den Weltherrn und
|
||
|
Weltrichter ankündige, einen feindlichen Bruder zwar, aber doch einen Bruder
|
||
|
geschaffen habe. Unter der Knechtschaft der christlichen Religion sei jedoch die
|
||
|
Menschheit erzogen worden, damit sie um so gründlicher die Freiheit vorbereite
|
||
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und sie um so inniger umfasse, wenn sie endlich gewonnen sei; das zu sich selbst
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gekommene, das sich selbst verstehende, das sein Wesen erfassende unendliche Selbstbewußtsein
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habe die Macht über die Geschöpfe seiner Selbstentäußerung.</P>
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<DL>
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<DT>Verzichtet man auf die Einkleidung der damaligen Philosophensprache, so läßt
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sich einfacher und verständlicher sagen, was Bauer, Köppen und Marx
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an die griechische Philosophie des Selbstbewußtseins fesselte. Im Grunde
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knüpften sie auch damit an die bürgerliche Aufklärung an. Die altgriechischen
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Schulen des Selbstbewußtseins hatten nicht entfernt so geniale Träger
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aufzuweisen wie die älteren Naturphilosophen in Demokrit und Heraklit oder
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die späteren Begriffsphilosophen in Plato und Aristoteles, aber sie hatten
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doch eine große geschichtliche Existenz gehabt. Sie hatten dem menschlichen
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Geiste neue Fernsichten eröffnet, die nationale Schranke des Hellenentums
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und die soziale Schranke der Sklaverei zerbrochen, worin Plato und Aristoteles
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noch ganz befangen gewesen waren; sie hatten das Urchristentum entscheidend befruchtet,
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die Religion der Leidenden und Unterdrückten, die erst als ausbeutende und
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unterdrückende Herrscherkirche zu Plato und Aristoteles überging. Wie
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unwirsch Hegel sonst über die Philosophie des Selbstbewußtseins abgesprochen
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hatte, so hatte doch auch er nachdrücklich darauf hingewiesen, was die innere
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Freiheit des Subjekts bedeutet habe in dem vollkommenen Unglück des römischen
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Weltreichs, wo alles Edle und Schöne der geistigen Individualität mit
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rauher Hand verwischt worden sei. So hatte denn auch schon die bürgerliche
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Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts die griechischen Philosophen des
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Selbstbewußtseins mobil gemacht, den Zweifel der Skeptiker, den Religionshaß
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der Epikureer, die republikanische Gesinnung der Stoiker.</DT>
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</DL>
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<P>Köppen schlug dieselbe Note an, wenn er in seiner Schrift über seinen
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Helden der Aufklärung, über König Friedrich sagte: »Epikureismus,
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Stoizismus und Skepsis sind die Nervenmuskeln und Eingeweidesysteme des antiken
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Organismus, deren unmittelbare, natürliche Einheit die Schönheit und
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Sittlichkeit des Altertums bedingte und die beim Absterben desselben auseinanderfielen.
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Alle drei hat Friedrich mit wunderbarer Kraft in sich aufgenommen und durchgeführt.
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Sie sind Hauptmomente seiner Weltanschauung, seines Charakters, seines Lebens
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geworden <A NAME="S31"></A><B> |31|*</B>.« Wenigstens was Köppen in diesen
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Sätzen über den Zusammenhang der drei Systeme mit dem griechischen Leben
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sagt, hat Marx als eine tiefere Bedeutung« anerkannt.</P>
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<P>Er selbst freilich griff das Problem, das ihn nicht minder beschäftigte
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als die älteren Freunde, anders an als sie. Er suchte das menschliche Selbstbewußtsein
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als »oberste Gottheit«, neben der keiner sein solle, weder in dem verzerrenden
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Hohlspiegel der Religion zu erkennen, noch indem philosophischen Müßiggange
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eines Despoten, sondern er ging auf die geschichtlichen Quellen dieser Philosophie
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zurück, deren Systeme auch für ihn die Schlüssel zur wahren Geschichte
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des griechischen Geistes waren.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER">4. Die Doktordissertation<A name="Kap_4"></A></H3>
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<P>Als Bruno Bauer im Herbst 1839 auf Marx einsprach, dieser möge doch endlich
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das »lumpige Examen« abmachen, hatte er insofern einigen Grund zur Ungeduld, als
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Marx bereits acht Semester hinter sich hatte. Aber eine Examenangst im leidigen
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Sinne des Wortes hat er bei Marx gleichwohl nicht vorausgesetzt, sonst hätte
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er ihm nicht zugetraut, die Bonner Philosophieprofessoren gleich beim ersten Anlauf
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über den Haufen zu rennen.</P>
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<P>Es war einmal die Art von Marx, und sie ist es bis an sein Lebensende geblieben,
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daß sein unersättlicher Wissensdrang ihn ebenso zwang, die schwierigsten
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Probleme schnell aufzugreifen, wie seine unerbittliche Selbstkritik ihn hinderte,
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gleich schnell mit ihnen abzuschließen. Nach der Art seines Arbeitens wird
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er sich in die grauesten Tiefen der griechischen Philosophie eingelassen haben,
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und die Darstellung auch nur jener drei Systeme des Selbstbewußtseins war
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keine Sache, die sich in ein paar Semestern erledigen ließ. Dafür hatte
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Bauer, der ungemein schnell produzierte, viel zu schnell für die Dauer seiner
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Werke, nur ein geringes Verständnis, ein viel geringeres als später
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Friedrich Engels, der doch auch manches Mal ungeduldig wurde, wenn Marx kein Maß
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und Ziel seiner Selbstkritik finden konnte.</P>
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<P>Das »lumpige Examen« hatte aber auch sonst seine Haken, wenn nicht für
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Bauer, so doch für Marx. Er hatte sich schon bei Lebzeiten seines Vaters
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für die akademische Laufbahn entschieden, ohne daß jedoch die Wahl
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eines praktischen Berufs deshalb völlig im Hintergrunde verschwunden wäre.
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Nun aber begann mit dem Tode Altensteins die lockendste Seite des »Professorierens«
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zu verschwinden, die am ehesten <A NAME="S32"></A><B>|32|</B> über seine
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mannigfachen Schattenseiten hinweghelfen konnte: die verhältnismäßige
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Freiheit, die dem Philosophieren auf den Kathedern der Universitäten gestattet
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war. Wie wenig sich sonst mit den akademischen Perücken anfangen ließ,
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wußte ja Bauer aus Bonn nicht beweglich genug zu schildern.</P>
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<P>Alsbald hatte Bauer selbst die erste Erfahrung zu machen, daß es mit
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der wissenschaftlichen Forschung des preußischen Professors sein besonderes
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Bewenden habe. Nach Altensteins Tode im Mai 1840 verwaltete der Ministerialdirektor
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Ladenberg einige Monate das Kultusministerium, und er besaß Pietät
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genug für das Andenken seines alten Vorgesetzten, um dessen Versprechen einzulösen
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und Bauers »Fixierung« in Bonn zu versuchen. Aber sobald Eichhorn zum Kultusminister
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ernannt worden war, lehnte die theologische Fakultät in Bonn die Ernennung
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Bauers zum Professor ab, angeblich, weil er ihre Einigkeit stören würde,
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tatsächlich mit jenem Heldenmut, den der deutsche Professor stets bewährt,
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wenn er der heimlichen Zustimmung seiner hohen Oberen sicher sein darf.</P>
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<P>Bauer erhielt die Entscheidung, als er eben aus den Herbstferien, die er in
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Berlin verlebt hatte, nach Bonn zurückkehren wollte. Im Kreise seiner Freunde
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wurde nun überlegt, ob nicht schon ein unheilbarer Bruch zwischen der religiösen
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und der wissenschaftlichen Richtung bestehe, ob ein Anhänger dieser Richtung
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es noch mit seinem Gewissen vereinbaren könne, der theologischen Fakultät
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anzugehören. Aber Bauer selbst beharrte bei seiner optimistischen Auffassung
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des preußischen Staatswesens und lehnte auch den offiziösen Vorschlag
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ab, sich mit schriftstellerischen Arbeiten zu beschäftigen, wobei er aus
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staatlichen Mitteln unterstützt werden sollte. Er kehrte voll Kampfeslust
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nach Bonn zurück, wo er gemeinsam mit Marx, der ihm bald nachfolgen sollte,
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die Krisis in ihren wichtigsten Momenten herbeizuführen hoffte.</P>
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<P>An dem Plane einer radikalen Zeitschrift, die beide herausgeben wollten, hielten
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sie fest, aber mit der akademischen Laufbahn an der rheinischen Universität
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sah es für Marx nunmehr sehr übel aus. Als Freund und Helfer Bauers
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hatte er auf den feindseligsten Empfang durch den Bonner Professorenklüngel
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zu rechnen, und nichts lag ihm ferner, als sich bei Eichhorn oder Ladenberg einzuschmeicheln,
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wie Bauer ihm riet, in der an sich durchaus wahrscheinlichen Erwartung, daß
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|
dann in Bonn »alles kaduk« sein werde. In solchen Dingen hat Marx stets mit äußerster
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Strenge gedacht. Aber selbst wenn er geneigt gewesen wäre, sich auf diesen
|
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|
schlüpfrigen Pfad zu begeben, so war mit Sicherheit vorauszusehen, daß
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||
|
er darauf ausgleiten würde. Denn Eichhorn fackelte <A NAME="S33"></A><B>|33|</B>
|
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nicht lange, um zu zeigen, wes Geistes Kind er war. Er berief den alten Schelling,
|
||
|
der offenbarungsgläubig geworden war, an die Berliner Universität, um
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die altersschwache Schar der verknöcherten Hegelianer noch extra totzuschlagen
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und ließ die Halleschen Studenten maßregeln, die in einer ehrerbietigen
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|
Eingabe an den König als ihren Rektor um Berufung Straußens nach Halle
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gebeten hatten.</P>
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||
|
<P>Unter solchen Aussichten hat Marx mit seinen junghegelianischen Anschauungen
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überhaupt darauf verzichtet, ein preußisches Examen zu machen. Wenn
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es ihn aber nicht gelüstete, sich von den willigen Helfern eines Eichhorn
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hudeln zu lassen, so wich er deshalb nicht dem Kampfe aus. Im Gegenteil! Er entschloß
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|
sich, an einer kleinen Universität den Doktorhut zu erwerben, gleichzeitig
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seine Dissertation als einen Beweis seiner Fähigkeiten und seines Fleißes
|
||
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mit einem herausfordernd kühnen Vorwort zu veröffentlichen, dann aber
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sich in Bonn niederzulassen, um mit Bauer die geplante Zeitschrift herauszugeben.
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||
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Auch die Universität war ihm dann nicht völlig verschlossen; nach ihren
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|
Statuten wenigstens brauchte er als Doctor promotus einer »ausländischen«
|
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Universität nur noch einige Formalitäten zu erfüllen, um als Privatdozent
|
||
|
zugelassen zu werden.</P>
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|
<P>Diesen Plan hat Marx ausgeführt; am 15. April 1841 ist er in Jena abwesend
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zum Doktor ernannt worden, auf Grund einer Abhandlung, die sich mit der Differenz
|
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der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie beschäftigte. Es war
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ein vorweggenommener Teil der größeren Schrift, in der Marx den gesamten
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Zyklus der epikureischen, stoischen und skeptischen Philosophie in deren Zusammenhange
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mit der ganzen griechischen Spekulation darstellen wollte. Zunächst sollte
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||
|
nur an einem Beispiel dies Verhältnis entwickelt werden, und auch nur in
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Beziehung auf die ältere Spekulation.</P>
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<P>Unter den älteren Naturphilosophen Griechenlands hatte Demokrit den Materialismus
|
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am strengsten durchgeführt. Aus Nichts wird Nichts; Nichts, was ist, kann
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vernichtet werden. Alle Veränderung ist nur Verbindung und Trennung von Teilen.
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||
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Nichts geschieht zufällig, sondern alles aus einem Grunde und mit Notwendigkeit.
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Nichts existiert als die Atome und der leere Raum, alles andere ist Meinung. Die
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||
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Atome sind unendlich an Zahl und von unendlicher Verschiedenheit der Form. In
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ewiger Fallbewegung durch den unendlichen Raum prallen die größeren,
|
||
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die schneller fallen, auf die kleineren; die dadurch entstehenden Seitenbewegungen
|
||
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und Wirbel sind der Anfang der Weltbildung. Unzählige Welten bilden sich
|
||
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und vergehen wieder, nebeneinander und nacheinander.</P>
|
||
|
<P><B><A NAME="S34">|34|</A></B> Epikur hatte nun diese Naturauffassung Demokrits
|
||
|
übernommen, aber mit gewissen Änderungen. Die berufenste dieser Änderungen
|
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|
bestand in der sogenannten »Deklination der Atome«; Epikur behauptete, daß
|
||
|
die Atome im Fall »deklinierten«, das heißt, nicht senkrecht fielen, sondern
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|
ein wenig von der geraden Linie abwichen. Er ist wegen dieser physikalischen Unmöglichkeit
|
||
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weidlich verspottet worden, von Cicero und Plutarch bis auf Leibniz und Kant:
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als ein Nachbeter Demokrits, der sein Vorbild nur zu verschlechtern verstanden
|
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habe. Daneben ging aber eine andere Strömung, die in Epikurs Philosophie
|
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das vollendetste materialistische System des Altertums erblickte, dank dem Umstande,
|
||
|
daß sie in dem Lehrgedichte des Lukrez erhalten geblieben ist, während
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|
sich von der Philosophie Demokrits nur geringe Trümmer aus dem Strom und
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||
|
Sturm der Jahrhunderte gerettet haben. Derselbe Kant, der die Deklination der
|
||
|
Atome als eine »unverschämte« Erfindung abfertigte, sah in Epikur gleichwohl
|
||
|
den vornehmsten Philosophen der Sinnlichkeit, im Gegensatze zu Plato, dem vornehmsten
|
||
|
Philosophen des Intellektuellen.</P>
|
||
|
<P>Marx bestritt nun keineswegs die physikalische Unvernunft Epikurs; er gab dessen
|
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|
»grenzenlose Fahrlässigkeit in der Erklärung physischer Phänomene«
|
||
|
zu; er führte aus, daß für Epikur die sinnliche Wahrnehmung der
|
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einzige Prüfstein der Wahrheit gewesen sei; die Sonne habe er für zwei
|
||
|
Fuß groß gehalten, weil sie zwei Fuß groß zu sein scheine.
|
||
|
Aber Marx ließ sich nicht daran genügen, diese handgreiflichen Torheiten
|
||
|
mit irgendeinem Ehrentitel zu erledigen; er spürte vielmehr der philosophischen
|
||
|
Vernunft in der physikalischen Unvernunft nach. Er verfuhr dem schönen Worte
|
||
|
gemäß, das er in einer Anmerkung seiner Abhandlung zu Ehren seines
|
||
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Meisters Hegel äußerte, daß nämlich die Schule eines Philosophen,
|
||
|
der eine Akkommodation begangen habe, nicht den Lehrer verdächtigen, sondern
|
||
|
seine Akkommodation aus der Unzulänglichkeit des Prinzips, worin sie wurzeln
|
||
|
müsse, erklären und somit zu einem Fortschritt des Wissens machen solle,
|
||
|
was als Fortschritt des Gewissens erscheine.</P>
|
||
|
<P>Was für Demokrit der Zweck war, das war für Epikur nur das Mittel
|
||
|
zum Zweck. Ihm war es nicht um die Erkenntnis der Natur zu tun, sondern um eine
|
||
|
Ansicht der Natur, die sein philosophisches System stützen konnte. Wenn die
|
||
|
Philosophie des Selbstbewußtseins, so wie sie das Altertum gekannt hatte,
|
||
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in drei Schulen zerfallen war, so vertraten nach Hegel die Epikureer das abstrakt-einzelne
|
||
|
und die Stoiker das abstrakt-allgemeine Selbstbewußtsein, beide als einseitige
|
||
|
Dogmatismen, denen um dieser Einseitigkeit willen sogleich der Skeptizismus entgegengetreten
|
||
|
<A NAME="S35"></A><B>|35|*</B> sei. Oder wie ein neuerer Historiker der griechischen
|
||
|
Philosophie denselben Zusammenhang ausgedrückt hat: im Stoizismus und Epikureismus
|
||
|
traten sich die individuelle und die allgemeine Seite des subjektiven Geistes,
|
||
|
die atomistische Isolierung des Individuums und seine pantheistische Hingebung
|
||
|
an das Ganze, mit gleichen Ansprüchen unversöhnt gegenüber, während
|
||
|
sich dieser Gegensatz im Skeptizismus zur Neutralität aufgehoben habe.</P>
|
||
|
<P>Trotz ihres gemeinsamen Zieles wurden Epikureer und Stoiker durch die Verschiedenheit
|
||
|
ihrer Ausgangspunkte weit auseinandergeführt. Ihre Hingebung an das Ganze
|
||
|
machte die Stoiker philosophisch zu Deterministen, denen die Notwendigkeit alles
|
||
|
Geschehens sich von selbst verstand, und politisch zu entschiedenen Republikanern,
|
||
|
während sie auf religiösem Gebiete sich nicht von einer abergläubischen
|
||
|
und unfreien Mystik befreien konnten. Sie lehnten sich an Heraklit, für den
|
||
|
die Hingebung an das Ganze die Form des schroffsten Selbstbewußtseins angenommen
|
||
|
hatte, und mit dem sie übrigens ebenso ungeniert umsprangen wie die Epikureer
|
||
|
mit Demokrit. Dagegen die Epikureer machte ihr Prinzip des isolierten Individuums
|
||
|
philosophisch zu Indeterministen, zu Bekennern der Willensfreiheit für jeden
|
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Einzelnen, und politisch zu leidsamen Duldern - der Bibelspruch: Seid untertan
|
||
|
der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat, ist ein Erbe Epikurs -, während
|
||
|
es sie von allen Banden der Religion befreite.</P>
|
||
|
<P>In einer Reihe feiner Untersuchungen legte nun Marx dar, wie sich die »Differenz
|
||
|
zwischen der demokritischen und der epikureischen Naturphilosophie« erkläre.
|
||
|
Für Demokrit handle es sich nur um die materielle Existenz des Atoms, dagegen
|
||
|
habe Epikur daneben den Begriff des Atoms geltend gemacht, neben seiner Materie
|
||
|
auch seine Form, neben seiner Existenz auch sein Wesen; er habe in dem Atom nicht
|
||
|
nur die materielle Grundlage der Erscheinungswelt, sondern auch das Sinnbild des
|
||
|
isolierten Individuums, das formale Prinzip des abstrakt-einzelnen Selbstbewußtseins
|
||
|
erblickt. Folgerte Demokrit aus dem senkrechten Fall der Atome die Notwendigkeit
|
||
|
alles Geschehens, so ließ Epikur sie ein wenig von der geraden Linie abweichen,
|
||
|
denn wo bliebe sonst - wie Lukrez, der berufenste Ausleger der epikureischen Philosophie,
|
||
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in seinem Lehrgedicht sagt - der freie Wille, der dem Schicksal entrissene Wille
|
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der lebenden Wesen? Dieser Widerspruch zwischen dem Atom als Erscheinung und als
|
||
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Wesen zieht sich durch die ganze Philosophie Epikurs und treibt sie zu jener grenzenlos-willkürlichen
|
||
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Erklärung der physischen Phänomene, die schon in den Tagen des Altertums
|
||
|
verspottet wurde. Erst in den Himmelskörpern lösen sich alle Widersprüche
|
||
|
der <A NAME="S36"></A><B>|36|</B> epikureischen Naturphilosophie, aber an ihrer
|
||
|
allgemeinen und ewigen Existenz scheitert auch das Prinzip des abstrakt-einzelnen
|
||
|
Selbstbewußtseins. So wirft es alle materielle Vermummung von sich und als
|
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|
»größter griechischer Aufklärer«, wie Marx ihn nennt, kämpft
|
||
|
Epikur gegen die Religion, die mit dräuendem Blick aus den Höhen des
|
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|
Himmels die sterblichen Menschen schrecke.</P>
|
||
|
<P>In seiner ersten Schrift offenbarte sich Marx schon als schöpferischer
|
||
|
Geist, auch dann und gerade dann, wenn man seine Auslegung Epikurs im einzelnen
|
||
|
bestreiten sollte. Denn dieser Einspruch könnte sich nur dagegen richten,
|
||
|
daß Marx das Grundprinzip Epikurs schärfer durchdacht und klarere Schlüsse
|
||
|
aus ihm gezogen habe als Epikur selbst. Hegel hatte die epikureische Philosophie
|
||
|
die Gedankenlosigkeit im Prinzip genannt, und sicherlich hat ihr Urheber, der
|
||
|
als Autodidakt immer großes Gewicht auf die gewöhnliche Sprache des
|
||
|
Lebens legte, sie nicht in den spekulativen Wendungen der Hegelschen Philosophie
|
||
|
begründet, mit denen Marx sie erläuterte. Es ist das Zeugnis der Reife,
|
||
|
das sich der Schüler Hegels in dieser Abhandlung selbst ausgestellt hat;
|
||
|
mit sicherer Hand beherrscht er die dialektische Methode, und die Sprache bekundet
|
||
|
jene markige Kraft, die dem Meister Hegel trotz alledem eigen, aber dem Troß
|
||
|
seiner Jünger längst abhanden gekommen war.</P>
|
||
|
<P>Jedoch steht Marx in dieser Schrift auch noch ganz auf dem idealistischen Boden
|
||
|
der Hegelschen Philosophie. Was den heutigen Leser auf den ersten Blick am meisten
|
||
|
befremdet, ist ihr ungünstiges Urteil über Demokrit. Von ihm wird gesagt,
|
||
|
daß er nur eine Hypothese aufgestellt habe, die das Ergebnis der Erfahrung,
|
||
|
nicht ihr energisches Prinzip sei, die daher ebensowohl ohne Verwirklichung bleibe,
|
||
|
wie die reale Naturforschung nicht weiter von ihr bestimmt werde. Im Gegensatz
|
||
|
zu Demokrit wird von Epikur gerühmt, daß er die Wissenschaft der Atomistik
|
||
|
geschaffen habe, trotz seiner Willkür in der Erklärung der Naturerscheinungen
|
||
|
und trotz seines abstrakt-einzelnen Selbstbewußtseins, das, wie Marx selbst
|
||
|
einräumt, alle wahre und wirkliche Wissenschaft insoweit aufhebe, als nicht
|
||
|
die Einzelheit in der Natur der Dinge selbst herrsche.</P>
|
||
|
<P>Heute braucht nicht noch erst bewiesen zu werden, daß, soweit es eine
|
||
|
Wissenschaft der Atomistik gibt, soweit die Lehre von den Elementarkörperchen
|
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|
und der Entstehung aller Erscheinungen durch ihre Bewegung zur Grundlage der modernen
|
||
|
Naturforschung geworden ist, aus ihr die Gesetze des Schalles, des Lichtes, der
|
||
|
Wärme, der chemischen und physikalischen Veränderungen in den Dingen
|
||
|
erklärt worden sind, Demokrit ihr erster Bahnbrecher gewesen ist, nicht aber
|
||
|
Epikur. Allein für den damaligen Marx war die Philosophie oder genauer die
|
||
|
Begriffsphilosophie <A NAME="S37"></A><B>|37|*</B> noch dermaßen die Wissenschaft,
|
||
|
daß er zu einer Auffassung kommen konnte, die wir heute kaum noch verstehen
|
||
|
würden, wenn sich in ihr nicht auch seines Wesens Wesenheit offenbart hätte.</P>
|
||
|
<P>Leben hieß ihm immer Arbeiten, und Arbeiten hieß ihm immer Kämpfen.
|
||
|
Was ihn von Demokrit entfernte, war der Mangel eines »energischen Prinzips«, war,
|
||
|
wie er es später ausdrückte, der »Hauptmangel alles bisherigen Materialismus«<A name="ZT1"></A><A href="fm03_015.htm#Z1"><SPAN class="top">[1]</SPAN></A>,
|
||
|
daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, die Sinnlichkeit nur unter der Form
|
||
|
des Objekts oder der Anschauung gefaßt werde, nicht subjektiv, nicht als
|
||
|
Praxis, nicht als menschlich-sinnliche Tätigkeit. Was ihn an Epikur anzog,
|
||
|
war das »energische Prinzip«, womit sich dieser Philosoph gegen die lastende Wucht
|
||
|
der Religion erhob und ihr zu trotzen wagte,</P>
|
||
|
<DL>
|
||
|
<DD>Weder von Blitzen geschreckt, noch durch das Geraune von Göttern,<BR>
|
||
|
Oder des Himmels murrenden Groll ...</DD>
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||
|
</DL>
|
||
|
<P>Prachtvoll lodert eine unbändige Kampflust in der Vorrede auf, mit der
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||
|
Marx seine Abhandlung zu veröffentlichen und seinem Schwiegervater zu widmen
|
||
|
gedachte. »Die Philosophie, solange noch ein Blutstropfen in ihrem weltbezwingenden,
|
||
|
absolut freien Herzen pulsiert, wird stets den Gegnern mit Epikur zurufen: Gottlos
|
||
|
ist nicht, wer die Götter der Menge verachtet, sondern wer den Meinungen
|
||
|
der Menge von den Göttern anhängt.«<A name="ZT2"></A><A href="fm03_015.htm#Z2"><SPAN class="top">[2]</SPAN></A> Die Philosophie verheimlicht nicht
|
||
|
das Bekenntnis des Prometheus:</P>
|
||
|
<DL>
|
||
|
<DD>Mit schlichtem Wort, den Göttern allen heg' ich Haß.</DD>
|
||
|
</DL>
|
||
|
<P>Denen aber, die über ihre anscheinend verschlechterte bürgerliche
|
||
|
Stellung klagen, erwidert sie, was Prometheus dem Götterbedienten Hermes
|
||
|
erwiderte:</P>
|
||
|
<DL>
|
||
|
<DD>Für deinen Frondienst gäb' ich mein unselig Los, <BR>
|
||
|
Das sei versichert, nimmermehr zum Tausche dar.</DD>
|
||
|
</DL>
|
||
|
<P>Prometheus ist der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen
|
||
|
Kalender: so schloß Marx dies trotzige Vorwort, das selbst seinen Freund
|
||
|
Bauer erschreckte. Was diesen »ein überflüssiger Mutwille« dünkte,
|
||
|
war jedoch nur ein schlichtes Bekenntnis des Mannes, der ein anderer Prometheus
|
||
|
werden sollte, im Kämpfen wie im Leiden.</P>
|
||
|
<H3 ALIGN="CENTER">5. »Anekdota« und »Rheinische Zeitung«<A name="Kap_5"></A></H3>
|
||
|
<DL>
|
||
|
<DT><A NAME="S38"><B>|38|</B></A> Kaum hatte Marx das Diplom seiner neuen Würde
|
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|
in der Tasche, als die Lebenspläne, die er daran geknüpft hatte, durch
|
||
|
neue Gewaltakte der romantischen Reaktion zusammenfielen.</DT>
|
||
|
</DL>
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||
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<P>Zunächst bot Eichhorn im Sommer 1841 die theologischen Fakultäten
|
||
|
zu einem schmählichen Kesseltreiben gegen Bruno Bauer auf, wegen dessen Evangelienkritik;
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mit Ausnahme von Halle und Königsberg verrieten alle das Prinzip der protestantischen
|
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Lehrfreiheit, und Bauer mußte weichen. Damit war aber auch für Marx
|
||
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jede Aussicht genommen, an der Bonner Universität festen Fuß zu fassen.</P>
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<P>Zugleich fiel der Plan einer radikalen Zeitschrift ins Wasser. Der neue König
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war ein Freund der Preßfreiheit, und er ließ eine gemilderte Zensurinstruktion
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ausarbeiten, die am Ende des Jahres 1841 auch wirklich das Licht der Welt erblickte.
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Aber er stellte dabei die Bedingung, daß die Preßfreiheit sich begnüge,
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im Rahmen einer romantischen Laune zu bleiben. Wie er die Sache verstand, zeigte
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er, ebenfalls im Sommer 1841, in einer Kabinettsorder, durch die Ruge angewiesen
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wurde, seine bei Wigand in Leipzig verlegten und gedruckten Jahrbücher unter
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preußischer Zensur zu redigieren oder sich ihres Verbots in den preußischen
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Staaten gewärtig zu halten. Dadurch wurde Ruge über sein »freies und
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gerechtes Preußen« genügend aufgeklärt, um nach Dresden überzusiedeln,
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wo er vom 1. Juli 1841 ab seine Zeitschrift als »Deutsche Jahrbücher« herausgab.
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Er schlug nun von selbst jene schärferen Töne an, die Bauer und Marx
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bisher an ihm vermißt hatten, und beide entschlossen sich, seine Mitarbeiter
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zu werden, statt eine eigene Zeitschrift zu gründen.</P>
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<P>Seine Doktorschrift hat Marx nicht veröffentlicht. Ihr unmittelbarer Zweck
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war hinfällig geworden und nach einer späteren Andeutung ihres Verfassers
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sollte sie nun erst ihren eigentlichen Platz abwarten in der Gesamtdarstellung
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der epikureischen, stoischen und skeptischen Philosophie, an deren Ausführung
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ihn »politische und philosophische Beschäftigungen ganz anderer Art« nicht
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denken ließen.</P>
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<P>Zu diesen Beschäftigungen gehörte in erster Reihe der Nachweis, daß
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nicht nur der alte Epikur, sondern auch der alte Hegel ein ausbündiger Atheist
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gewesen sei. Im November 1841 erschien bei Wigand ein »Ultimatum« unter dem Titel:
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Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen.
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Unter der Maske eines rechtgläubigen Verfassers jammerte dies anonyme Pamphlet
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in biblischen Prophetenton über Hegels Atheismus, wies diesen Atheismus aber
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aus Hegels Werken in überzeugendster Weise nach. Das Ding machte großes
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Aufsehen <A NAME="S39"></A><B>|39|*</B>, zumal da die orthodoxe Maske anfangs
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nicht durchschaut wurde, selbst von Ruge nicht. Tatsächlich war die »Posaune«
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von Bruno Bauer verfaßt, der sie nun, gemeinsam mit Marx, fortzusetzen gedachte,
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um auch an Hegels Ästhetik, Rechtsphilosophie usw. den Nachweis zu führen,
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daß nicht die Alt-, sondern die Junghegelianer den wahren Geist des Meisters
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geerbt hätten.</P>
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<P>Inzwischen war die »Posaune« verboten worden, und Wigand machte Schwierigkeiten
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wegen der Fortsetzung; dazu erkrankte Marx, und sein Schwiegervater lag drei Monate
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auf dem Krankenbette, bis er am 3. März 1842 starb. So war es für Marx
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»unmöglich, was Rechtes zu tun«. Einen »kleinen Beitrag« sandte er aber doch
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am 10. Februar 1842 an Ruge und stellte sich, soviel er nach seinen Kräften
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vermöge, zur Verfügung der »Deutschen Jahrbücher«. Der Beitrag
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beschäftigte sich mit der neuesten Zensurinstruktion, worin der König
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eine mildere Handhabung der Zensur angeordnet hatte. Mit diesem Artikel begann
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Marx seine politische Laufbahn; mit einschneidender Kritik deckte er Punkt für
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Punkt den logischen Widersinn auf, den die Instruktion unter romantisch verschwommener
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Hülle barg, im schroffsten Gegensatz zu dem Jubel der »scheinliberalen« Philister
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und selbst mancher Junghegelianer, die schon »die Sonne hoch am Himmel stehen
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sahen«, wegen der »königlichen Gesinnung«, die sich in der Instruktion ausspräche.</P>
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<P>In seinem Begleitschreiben bat Marx um Beschleunigung des Druckes, »wenn nicht
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die Zensur meine Zensur zensiert«, und die bange Ahnung trog ihn nicht. Ruge antwortete
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am 25. Februar, die schwerste Zensurnot sei über die »Deutschen Jahrbücher«
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hereingebrochen; »Ihr Aufsatz ist eine Unmöglichkeit geworden«. An zurückgewiesenen
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Aufsätzen habe er »so eine Elite hübscher und pikanter Sachen« zusammen,
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die er als »Anecdota philosophica« in der Schweiz veröffentlichen möchte.
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Auf diesen Plan ging Marx am 5. März mit großem Eifer ein. »Bei der
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plötzlichen Wiedergeburt« der sächsischen Zensur werde von vornherein
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der Druck seiner Abhandlung über christliche Kunst, die als zweiter Teil
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der »Posaune« erscheinen sollte, ganz unmöglich sein. Er bot sie in geänderter
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Redaktion für die »Anekdota« an, ebenso eine Kritik des Hegelschen Naturrechts,
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soweit es innere Verfassung betreffe, mit der Tendenz, die konstitutionelle Monarchie
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als ein durch und durch sich widersprechendes und aufhebendes Zwitterding zu bekämpfen.
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Ruge ging auf alles ein, aber außer dem Aufsatze über die Zensurinstruktion
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hat er nichts erhalten.</P>
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<P>Am 20. März wollte Marx den Aufsatz über christliche Kunst aus dem
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Posaunenton und der lästigen Gefangenschaft in Hegels Darstellung befreien
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<A NAME="S40"></A><B>|40|*</B> und mit einer freieren, daher gründlicheren
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Darstellung vertauschen und versprach nun bis Mitte April fertig zu sein. Am 27.
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April war er »beinahe fertig«; Ruge solle »nur wenige Tage noch verzeihen«; den
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Aufsatz über christliche Kunst werde er nur in einem Auszuge erhalten, da
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die Sache unter der Hand beinahe zu einem Buche herangewachsen sei. Dann wollte
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Marx am 9. Juli den Versuch einer Entschuldigung aufgeben, wenn ihn die Ereignisse,
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»unangenehme Äußerlichkeiten«, nicht entschuldigten, indessen wollte
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er nichts anrühren, bis er die Beiträge für die »Anekdota« beendigt
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habe. Endlich meldete Ruge am 21. Oktober, die »Anekdota« seien nun durch und
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würden vom Literarischen Kontor in Zürich verlegt werden; er halte noch
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immer einen Platz für Marx offen, wenngleich ihn dieser bisher mehr mit Hoffnungen
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als mit Erfüllungen beglückt habe; er sehe sehr wohl, wieviel Marx erfüllen
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könne, wenn er einmal daran komme.</P>
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<P>Wie Bruno Bauer und Köppen, hatte der selbst um sechzehn Jahre ältere
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Ruge die größte Achtung vor dieser jungen Kraft, die seine Geduld als
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Redakteur auf eine so harte Probe gestellt hatte. Ein bequemer Autor ist Marx
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nie gewesen, weder für seine Mitarbeiter noch für seine Verleger, aber
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keiner von ihnen hat je daran gedacht, auf Nachlässigkeit oder Saumseligkeit
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zurückzuführen, was doch nur die überströmende Fülle
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der Gedanken und eine Selbstkritik verschuldete, die sich nie genug tun konnte.</P>
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<P>In diesem besonderen Falle kam noch ein Umstand hinzu, Marx zu rechtfertigen,
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auch in den Augen Ruges; ein ungleich mächtigeres Interesse begann ihn jetzt
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zu fesseln als das philosophische. Mit seinem Aufsatz über die Zensurinstruktion
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hatte er den politischen Kampf begonnen, den er nun in der »Rheinischen Zeitung«
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fortsetzte, statt in den »Anekdotis« den philosophischen Faden fortzuspinnen.</P>
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<P>Die »Rheinische Zeitung« erschien seit dem 1. Januar 1842 in Köln. In
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ihrem Ursprunge war sie kein Oppositions-, eher ein Regierungsblatt. Seit den
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Kölner Bischofswirren der dreißiger Jahre vertrat die »Kölnische
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Zeitung« mit achttausend Abonnenten die Ansprüche der ultramontanen Partei,
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die am Rhein übermächtig war und der Gendarmenpolitik der Regierung
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viel zu schaffen machte. Es geschah nicht aus heiliger Begeisterung für die
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katholische Sache, sondern aus geschäftlicher Rücksicht auf die Leser,
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die nun einmal von den Segnungen der Berliner Vorsehung nichts wissen wollten.
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Das Monopol der »Kölnischen Zeitung« war so stark, daß es ihrem Besitzer
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regelmäßig gelang, alle auftauchenden Konkurrenzblätter durch
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Ankauf zu beseitigen, auch wenn sie von Berlin her gefördert wurden. Dasselbe
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Schicksal drohte der <A NAME="S41"></A><B>|41|</B> »Rheinischen Allgemeinen Zeitung«,
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die im Dezember 1839 von den Zensurministern die damals notwendige Konzession
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|
erhalten hatte, eben um die Alleinherrschaft der Kölnischen Zeitung« zu brechen.
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|
Jedoch im letzten Augenblick tat sich eine Gesellschaft wohlhabender Bürger
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zusammen, um ein Kapital auf Aktien zur gründlichen Umgestaltung des Blattes
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aufzubringen. Die Regierung begünstigte das Vorhaben und ließ provisorisch
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für die nunmehrige »Rheinische Zeitung« die Konzession gelten, die sie ihrer
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Vorläuferin erteilt hatte.</P>
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<P>In der Tat war die Kölner Bourgeoisie weit davon entfernt, der preußischen
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Herrschaft, die in den Massen der rheinischen Bevölkerung immer noch als
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Fremdherrschaft betrachtet wurde, irgendwelche Unbequemlichkeiten zu bereiten.
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Da die Geschäfte gut gingen, hatte sie ihre französischen Sympathien
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aufgegeben, und nach Gründung des Zollvereins verlangte sie geradezu die
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preußische Vorherrschaft über Deutschland. Ihre politischen Ansprüche
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waren äußerst gemäßigt und standen hinter ihren wirtschaftlichen
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|
Forderungen zurück, die auf eine Erleichterung der am Rhein schon hoch entwickelten,
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|
kapitalistischen Produktionsweise abzielten: sparsame Verwaltung der Staatsfinanzen,
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|
Ausbau des Eisenbahnnetzes, Ermäßigung der Gerichtssporteln und Postgebühren,
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|
eine gemeinsame Flagge und gemeinsame Konsuln für den Zollverein und was
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|
sonst auf solchen Wunschzetteln der Bourgeoisie zu stehen pflegt.</P>
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|
<P>Es zeigte sich nun aber, daß zwei ihrer jungen Leute, denen sie die Einrichtung
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|
der Redaktion überlassen hatte, der Referendar Georg Jung und der Assessor
|
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|
Dagobert Oppenheim, begeisterte Junghegelianer waren und namentlich unter dem
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|
Einfluß von Moses Heß standen, ebenfalls eines rheinischen Kaufmannssohnes,
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|
der sich neben der Hegelschen Philosophie bereits mit dem französischen Sozialismus
|
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vertraut gemacht hatte. Sie warben unter ihren Gesinnungsgenossen die Mitarbeiter
|
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des Blattes, und namentlich auch unter den Berliner Junghegelianern, von denen
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||
|
Rutenberg sogar die Redaktion des deutschen Artikels übernahm: auf Empfehlung
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||
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von Marx, der damit keine besondere Ehre einlegen sollte.</P>
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|
<P>Marx selbst muß dem Unternehmen von früh an nahegestanden haben.
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|
Er wollte Ende März von Trier nach Köln übersiedeln, aber das Leben
|
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|
war ihm dort zu geräuschvoll; er schlug seine Stätte einstweilen in
|
||
|
Bonn auf, von wo Bruno Bauer inzwischen verschwunden war; »es wäre auch schade,
|
||
|
wenn niemand hier bliebe, an dem die Heiligen ein Ärgernis nehmen«. Von hier
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||
|
aus begann er seine Beiträge für die »Rheinische Zeitung« zu schreiben,
|
||
|
durch die er bald alle anderen Mitarbeiter überflügeln sollte.</P>
|
||
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<P><B><A NAME="S42">|42|</A></B> Wenngleich die persönlichen Beziehungen
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Jungs und Oppenheims den ersten Anstoß dazu gegeben haben mögen, das
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|
Blatt zum Tummelplatz der Junghegelianer zu machen, so ist doch schwer anzunehmen,
|
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daß diese Wendung sich ohne Billigung oder gar wider Wissen der eigentlichen
|
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Aktionäre vollzogen haben sollte. Sie werden pfiffig genug gewesen sein,
|
||
|
zu erkennen, daß sie fähigere Geistesarbeiter in dem damaligen Deutschland
|
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|
nicht finden konnten. Preußenfreundlich waren die Junghegelianer selbst
|
||
|
bis zum Überschwange, und was der Kölner Bourgeoisie sonst an deren
|
||
|
Treiben unverständlich oder verdächtig sein mochte, wird sie als unschädliche
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Schrullen betrachtet haben. Jedenfalls schritt sie nicht ein, als schon in den
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|
ersten Wochen aus Berlin Klagen über die »subversive Tendenz« des Blattes
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einliefen und sein Verbot für das Ende des ersten Quartals drohte. Namentlich
|
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|
durch die Berufung Rutenbergs war die Berliner Vorsehung erschreckt worden; er
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||
|
galt als fürchterlicher Revolutionär und stand unter strenger politischer
|
||
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Aufsicht; noch in den Märztagen von 1848 hat Friedrich Wilhelm IV. vor ihm
|
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|
als dem eigentlichen Anstifter der Revolution gezittert. Wenn der tötende
|
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Blitzstrahl einstweilen von dem Blatte abgelenkt wurde, so war es in erster Reihe
|
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|
dem Kultusminister geschuldet; bei aller reaktionären Gesinnung vertrat Eichhorn
|
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|
die Notwendigkeit, der ultramontanen Tendenz der »Kölnischen Zeitung« entgegenzuwirken;
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||
|
möge die Richtung der »Rheinischen Zeitung« »fast noch bedenklicher« sein,
|
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|
so spiele sie doch nur mit Ideen, die für keinen, der irgend festen Fuß
|
||
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im Leben habe, verlockend sein könnten.</P>
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<P>Dies war nun freilich am wenigsten der Fehler der Beiträge, die Marx für
|
||
|
die »Rheinische Zeitung« lieferte, und die praktische Art, womit er die Dinge
|
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|
angriff, wird die Aktionäre des Blattes gründlicher mit dem Junghegelianismus
|
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|
versöhnt haben als etwa die Beiträge Bruno Bauers oder Max Stirners.
|
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|
Sonst wäre es nicht zu begreifen, daß sie ihn wenige Monate, nachdem
|
||
|
er seinen ersten Beitrag eingesandt hatte, im Oktober 1842 bereits an die Spitze
|
||
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des Blattes stellten.</P>
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|
<P>Marx bewährte hier zum ersten Male sein unvergleichliches Geschick, an
|
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|
die Dinge anzuknüpfen, wie sie nun einmal lagen, und versteinerte Zustände
|
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zum Tanzen zubringen, indem er ihnen ihre eigene Melodie vorsang.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER">6. Der rheinische Landtag<A name="Kap_6"></A></H3>
|
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<P><B><A NAME="S43">|43|</A></B> In einer Reihe von fünf großen Abhandlungen
|
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unternahm Marx, die Verhandlungen des rheinischen Provinziallandtags zu beleuchten,
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der gerade ein Jahr früher neun Wochen lang in Düsseldorf getagt hatte.
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Die Provinziallandtage waren ohnmächtige Scheinvertretungen, durch deren
|
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Einrichtung die preußische Krone den Bruch ihres Verfassungsversprechens
|
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|
von 1815 zu verdecken gesucht hatte; sie tagten bei verschlossenen Türen
|
||
|
und hatten höchstens in kleinlichen kommunalen Angelegenheiten ein wenig
|
||
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mitzureden. Seitdem im Jahre 1837 die Wirren mit der katholischen Kirche in Köln
|
||
|
und Posen ausgebrochen waren, wurden sie überhaupt nicht mehr einberufen;
|
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|
vom rheinischen und vom posenschen Landtage war noch am ehesten eine Opposition
|
||
|
zu erwarten, wenn auch nur eine Opposition in ultramontanem Sinne.</P>
|
||
|
<P>Vor allen liberalen Abwandlungen waren diese würdigen Körperschaften
|
||
|
hinlänglich dadurch geschützt, daß Grundbesitz die unerläßliche
|
||
|
Bedingung ihrer Mitgliedschaft war, und zwar sollte der ritterschaftliche Grundbesitz
|
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|
die Hälfte, der städtische ein Drittel und der bäuerliche ein Sechstel
|
||
|
aller Mitglieder stellen. In seiner ganzen Schönheit ließ sich dies
|
||
|
erbauliche Prinzip nicht in allen Provinzen durchführen, und namentlich in
|
||
|
den neuerworbenen Rheinlanden mußten dem modernen Geiste einige Zugeständnisse
|
||
|
gemacht werden; immer aber blieb es dabei, daß die Ritterschaft mehr als
|
||
|
ein Drittel aller Stimmen besaß, so daß, da die Beschlüsse mit
|
||
|
Zweidrittelmehrheit gefaßt werden mußten, nichts gegen ihren Willen
|
||
|
geschehen konnte. Dem städtischen Grundbesitz war noch die Beschränkung
|
||
|
auferlegt, daß er zehn Jahre in derselben Hand gewesen sein mußte,
|
||
|
ehe er wählbar machte, und zudem durfte die Regierung die Wahl jedes städtischen
|
||
|
Beamten ablehnen.</P>
|
||
|
<P>Diese Landtage genossen die allgemeinste Verachtung, doch hatte sie Friedrich
|
||
|
Wilhelm IV. nach Antritt seiner Regierung wieder für das Jahr 1841 einberufen.
|
||
|
Er hatte sogar ihre Rechte ein wenig erweitert, freilich nur zu dem Zweck, den
|
||
|
Staatsgläubigern, denen sich die Krone im Jahre 1820 verpflichtet hatte,
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||
|
neue Darlehen nur mit Zustimmung und Garantie der künftigen reichsständischen
|
||
|
Versammlung aufzunehmen, ein X für ein U zu machen. In einer berühmten
|
||
|
Flugschrift forderte Johann Jacoby die Provinziallandtage auf, die Einlösung
|
||
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des königlichen Verfassungsversprechens als ihr Recht zu beanspruchen, aber
|
||
|
er predigte damit tauben Ohren.</P>
|
||
|
<P>Selbst der rheinische Landtag versagte, und gerade auch in der kirchenpolitischen
|
||
|
Frage, wegen deren die Regierung ihn am meisten <A NAME="S44"></A><B>|44|</B>
|
||
|
gefürchtet hatte. Mit Zweidrittelmehrheit lehnte er den vom liberalen wie
|
||
|
vom ultramontanen Standpunkt gleich selbstverständlichen Antrag ab, den widerrechtlich
|
||
|
verhafteten Erzbischof von Köln entweder vor die Gerichte zu stellen oder
|
||
|
wieder in sein Amt einzusetzen. An die Verfassungsfrage rührte der Landtag
|
||
|
überhaupt nicht, und eine mit mehr als tausend Unterschriften bedeckte Petition,
|
||
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die ihm aus Köln zuging und freien Zutritt zu den Sitzungen des Landtages,
|
||
|
die tägliche und unverkürzte Wiedergabe seiner Verhandlungen, ihre sowie
|
||
|
aller inneren Landesangelegenheiten freie Besprechung in den öffentlichen
|
||
|
Blättern und endlich ein Preßgesetz an Stelle der Zensur verlangte,
|
||
|
war von ihm in der kümmerlichsten Weise erledigt worden. Er bat den König
|
||
|
nur darum, die Namen der Redner in den Landtagsprotokollen veröffentlichen
|
||
|
zu dürfen und beanspruchte daneben nicht ein Preßgesetz mit Abschaffung
|
||
|
der Zensur, sondern nur ein den Willkürlichkeiten der Zensoren vorbeugendes
|
||
|
Zensurgesetz. Gemäß dem verdienten Schicksal aller Feigheit blitzte
|
||
|
er auch damit bei der Krone ab.</P>
|
||
|
<P>Lebendig wurde dieser Landtag nur, wenn es die Interessen des Grundbesitzes
|
||
|
zu vertreten galt. Freilich konnte er nicht daran denken, die feudale Herrlichkeit
|
||
|
wiederherzustellen. Alle Versuche dazu waren den Rheinländern so in den Tod
|
||
|
verhaßt, daß sie darin schlechterdings keinen Spaß verstanden,
|
||
|
wie auch die aus den östlichen Provinzen herübergeschickten Beamten
|
||
|
nach Berlin berichteten. Insbesondere an der freien Teilbarkeit des Grund und
|
||
|
Bodens ließ die rheinische Bevölkerung nicht rütteln, weder zugunsten
|
||
|
des »Ritterstandes«, noch zugunsten des »Bauernstandes«, mochte die Parzellierung
|
||
|
des Grundbesitzes ins Unendliche auch schon zu seiner förmlichen Zerstäubung
|
||
|
geführt haben, wie die Regierung nicht mit Unrecht sagte. Aber ihr Vorschlag,
|
||
|
der Parzellierung »zur Erhaltung eines kräftigen Bauernstandes« gewisse Schranken
|
||
|
zu setzen, wurde vom Landtage, der darin einig mit der Provinz war, mit 49 gegen
|
||
|
8 Stimmen abgelehnt. Umsomehr erfrischte er sich an einigen Gesetzen über
|
||
|
Holzdiebstahl, Jagd-, Forst- und Feldfrevel, die ihm die Regierung vorgelegt hatte;
|
||
|
hier machte das Privatinteresse des Grundbesitzes die gesetzgeberische Gewalt
|
||
|
zu seiner feilen Dirne, ohne Gram wie ohne Scham.</P>
|
||
|
<P>Nach einem umfassenden Plane ging Marx mit dem Landtag ins Gericht. In der
|
||
|
ersten Abhandlung, die sechs lange Artikel umfaßte, behandelte er die Debatten
|
||
|
über Preßfreiheit und Veröffentlichung der landständischen
|
||
|
Verhandlungen. Die Erlaubnis zu dieser Veröffentlichung, ohne daß die
|
||
|
Namen der Redner genannt werden durften, war eine der kleinen Reformen gewesen,
|
||
|
durch die der König die Landtage <A NAME="S45"></A><B>|45|</B> aufzumuntern
|
||
|
versucht hatte, jedoch in den Landtagen selbst stieß er damit auf heftigen
|
||
|
Widerstand. Soweit wie der brandenburgische und der pommersche Landtag, die sich
|
||
|
einfach weigerten, ihre Protokolle zu veröffentlichen, ging der rheinische
|
||
|
zwar nicht, aber auch in ihm spielte sich jene alberne Anmaßung auf, die
|
||
|
aus dem Gewählten eine Art höheren Wesens macht, das vor allem vor der
|
||
|
Kritik der eigenen Wähler geschützt werden müsse. »Der Landtag
|
||
|
verträgt den Tag nicht. In der Nacht des Privatlebens ist uns heimlicher
|
||
|
zumute. Wenn die ganze Provinz das Vertrauen hat, ihre Rechte einzelnen Individuen
|
||
|
anzuvertrauen, so versteht es sich von selbst, daß diese einzelnen Individuen
|
||
|
so herablassend sind, das Vertrauen der Provinz zu akzeptieren, aber es wäre
|
||
|
wirkliche Überspanntheit, zu verlangen, sie sollten nun Gleiches mit Gleichem
|
||
|
vergelten und vertrauensvoll sich selbst, ihre Leistungen, ihre Persönlichkeiten,
|
||
|
dem Urteil der Provinz hingeben, die ihnen erst ein Urteil von Konsequenz gegeben
|
||
|
hat.«<A name="ZT3"></A><A href="fm03_015.htm#Z3"><SPAN class="top">[3]</SPAN></A> Mit köstlichem Humor verspottete Marx beim ersten Auftauchen schon
|
||
|
das, was er später als »parlamentarischen Kretinismus« taufen sollte und
|
||
|
all sein Lebtag nicht ausstehen konnte.</P>
|
||
|
<P>Für die Preßfreiheit aber schlug er eine Klinge, wie sie gleich
|
||
|
glänzend und scharf weder früher noch später geschlagen worden
|
||
|
ist. Neidlos gestand Ruge: »Es ist noch nichts Tieferes und es läßt
|
||
|
sich auch nichts Gründlicheres über und für Preßfreiheit
|
||
|
sagen. Wir dürfen uns Glück wünschen zu der Durchbildung, der Genialität
|
||
|
und der souveränen Beherrschung ordinärer Gedankenverwirrung, welche
|
||
|
hiermit in unserer Publizistik auftritt.« Marx sprach in diesen Artikeln einmal
|
||
|
von dem freien heiteren Klima seiner Heimat, und heute noch liegt auf ihnen ein
|
||
|
leichter Glanz wie der Sonnenschein auf den Rebenhügeln des Rheins. Hatte
|
||
|
Hegel von der »elenden, alles auflösenwollenden Subjektivität der schlechten
|
||
|
Presse« gesprochen, so ging Marx auf die bürgerliche Aufklärung zurück,
|
||
|
wie er denn in der »Rheinischen Zeitung« die Kantische Philosophie als die deutsche
|
||
|
Theorie der Französischen Revolution anerkannte <A name="ZT4"></A><A href="fm03_015.htm#Z4"><SPAN class="top">[4]</SPAN></A>, aber er ging darauf zurück,
|
||
|
bereichert mit allen politischen und sozialen Fernsichten, die ihm Hegels historische
|
||
|
Dialektik erschloß. Man braucht seine Artikel in der »Rheinischen Zeitung«
|
||
|
nur mit Jacobys »Vier Fragen« zu vergleichen, um zu erkennen, was damit erreicht
|
||
|
war; das königliche Verfassungsversprechen von 1815, auf das Jacoby immer
|
||
|
wieder als auf das A und O der ganzen Verfassungsfrage zurückkam, hat Marx
|
||
|
nicht einmal einer beiläufigen Erwähnung für wert gehalten.</P>
|
||
|
<P>Allein so sehr er die freie Presse als das offene Auge des Volksgeistes <A NAME="S46"></A><B>|46|</B>
|
||
|
feierte, gegenüber der zensierten Presse mit ihrem Grundlaster der Heuchelei,
|
||
|
aus dem alle ihre anderen Gebrechen, ihre, selbst ästhetisch betrachtet,
|
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|
ekelhaften Laster der Passivität flössen, so verkannte er doch nicht
|
||
|
die Gefahren, die auch der freien Presse drohten. Ein Redner aus dem Städtestande
|
||
|
hatte die Preßfreiheit als einen Teil der Gewerbefreiheit gefordert, worauf
|
||
|
Marx antwortete: »<I>Ist die Presse frei, </I>die sich zum <I>Gewerbe </I>herabwürdigt?
|
||
|
Der Schriftsteller muß allerdings erwerben, um existieren und schreiben
|
||
|
zu können, aber er muß keineswegs existieren und schreiben, um zu erwerben
|
||
|
... <I>Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein. </I>Dem
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||
|
Schriftsteller, der sie zum materiellen Mittel herabsetzt, gebührt als Strafe
|
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dieser inneren Unfreiheit die äußere, die Zensur, oder vielmehr ist
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schon seine Existenz seine Strafe.«<A name="ZT5"></A><A href="fm03_015.htm#Z5"><SPAN class="top">[5]</SPAN></A> Und Marx hat durch sein ganzes Leben bekräftigt,
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was er von dem Schriftsteller fordert, seine Arbeiten müßten immer
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Selbstzweck sein; sie seien so wenig Mittel für ihn selbst und für andere,
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daß er ihrer Existenz seine Existenz opfere, wenns not tue.</P>
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<P>Die zweite Abhandlung über den rheinischen Landtag beschäftigte sich
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mit der »erzbischöflichen Geschichte«, wie Marx an Jung schrieb. Sie ist
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von der Zensur gestrichen und auch später nicht veröffentlicht worden,
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obgleich Ruge sich erbot, sie in die »Anekdota« aufzunehmen. An Ruge schrieb Marx
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am 9. Juli 1842: »Glauben Sie übrigens nicht, daß wir am Rhein in einem
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politischen Eldorado leben. Es gehört die konsequenteste Zähigkeit dazu,
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um eine Zeitung wie die ›Rheinische‹ durchzuschlagen. Mein zweiter Artikel über
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den Landtag, betreffend die kirchlichen Wirren, ist gestrichen. Ich habe darin
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nachgewiesen, wie die Verteidiger des Staats sich auf kirchlichen und die Verteidiger
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der Kirche sich auf staatlichen Standpunkt gestellt. Dieser Inzident ist der ›Rheinischen‹
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um so unlieber, als die dummen kölnischen Katholiken in die Falle gelaufen
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und die Verteidigung des Erzbischofs Abonnenten gelockt hätte. Sie haben
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übrigens schwerlich eine Vorstellung, wie niederträchtig die Gewaltleute
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und wie dumm zugleich sie mit dem orthodoxen Dickkopf umgesprungen sind. Aber
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der Erfolg hat das Werk gekrönt; Preußen hat dem Papst vor aller Welt
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den Pantoffel geküßt, und unsre Regierungsmaschinen gehn über
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die Straße, ohne zu erröten.« Der Schlußsatz bezieht sich darauf,
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daß Friedrich Wilhelm IV., gemäß seinen romantischen Neigungen,
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sich in Friedensverhandlungen mit der Kurie eingelassen hatte, die ihn zum Dank
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dafür nach allen Regeln vatikanischer Kunst übers Ohr hieb.</P>
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<P>Was Marx an Ruge über diesen Artikel schrieb, wird man nicht dahin mißverstehen
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dürfen, daß er ernsthaft die Verteidigung des Erzbischofs <A NAME="S47"></A><B>|47|*</B>
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geführt habe, um die Kölner Katholiken in eine Falle zu locken. Er blieb
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sich vielmehr durchaus konsequent, wenn er die vollkommen ungesetzliche Verhaftung
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des Erzbischofs wegen kirchlicher Handlungen und die Forderung der Katholiken
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nach einem gerichtlichen Verfahren gegen den widerrechtlich Verhafteten dahin
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erläuterte, daß sich die Verteidiger des Staats auf kirchlichen und
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die Verteidiger der Kirche auf staatlichen Boden gestellt hätten. In dieser
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verkehrten Welt die richtige Stellung zu nehmen, war allerdings eine entscheidende
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Frage für die »Rheinische Zeitung«, gerade auch aus den Gründen, die
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Marx weiterhin in seinem Brief an Ruge angab, weil die ultramontane Partei, die
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von der Zeitung lebhaft bekämpft wurde, am Rhein die gefährlichste war
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und die Opposition sich zu sehr daran gewöhnt hatte, innerhalb der Kirche
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zu opponieren.</P>
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<P>Die dritte Abhandlung, die fünf lange Aufsätze umfaßte, beleuchtete
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die Verhandlungen, die der Landtag über ein Holzdiebstahlsgesetz geführt
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hatte. Mit ihr kam Marx auf die »ebene Erde« oder wie er ein andermal den gleichen
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Gedanken ausgedrückt hat: er kam in die Verlegenheit, über materielle
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Interessen sprechen zu müssen, die in Hegels ideologischem System nicht vorgesehen
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waren. In der Tat hat er das Problem, das mit diesem Gesetze gestellt war, noch
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nicht so scharf gefaßt, wie er in späteren Jahren getan haben würde.
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Es handelte sich um den Kampf der aufkommenden kapitalistischen Ära gegen
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die letzten Reste des Gemeineigentums am Grund und Boden, um einen grausamen Enteignungskrieg
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gegen die Volksmassen; von 207.478 strafgerichtlichen Untersuchungen, die 1836
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im preußischen Staat geführt wurden, bezogen sich gegen 150.000, also
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nahe an drei Viertel, auf Holzdiebstähle, Forst-, Jagd- und Hutungsvergehen.</P>
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<P>Bei der Beratung des Holzdiebstahlsgesetzes hatte sich im rheinischen Landtage
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das ausbeuterische Interesse des privaten Grundbesitzes in der unbeschämtesten
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Weise durchgesetzt, noch über den Entwurf der Regierung hinaus. Hiergegen
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trat nun Marx mit schneidender Kritik »für die arme politisch und sozial
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besitzlose Menge« ein, aber noch nicht mit ökonomischen, sondern mit rechtlichen
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Gründen. Er forderte für die bedrohten Armen die Wahrung ihrer Gewohnheitsrechte,
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deren Grundlage er in dem schwankenden Charakter eines gewissen Eigentums fand,
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der es nicht entschieden zum Privat-, aber auch nicht entschieden zum Gemeineigentum
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stempele, in einer Mischung von Privatrecht und öffentlichem Rechte, die
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uns in allen Einrichtungen des Mittelalters entgegentrete. Der Verstand habe diese
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zwitterhaften, schwankenden Bildungen des Eigentums aufgehoben, indem er die dem
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römischen <A NAME="S48"></A><B>|48|*</B> Recht entnommenen Kategorien des
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abstrakten Privatrechts auf sie anwandte, aber in den Gewohnheitsrechten der armen
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Klasse lebe ein instinktmäßiger Rechtssinn; ihre Wurzel sei positiv
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und legitim.</P>
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<P>Wenn die historische Erkenntnis dieser Abhandlung noch einen »gewissen schwankenden
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Charakter« trägt, so zeigt sie nichtsdestoweniger oder vielmehr eben dadurch,
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was im letzten Grunde diesen großen Vorkämpfer der »armen Klassen«
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erweckt hat, überall aus der Schilderung der Bübereien, durch die das
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Privatinteresse der Waldeigentümer Logik und Vernunft, Gesetz und Recht und
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nicht zuletzt die Interessen des Staates zerstampfte, um sich an den Armen und
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Elenden zu befriedigen, tönt das Knirschen des ganzen inneren Menschen hervor.
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»Um sich der Forstfrevler zu versichern, hat der Landtag dem Rechte nicht nur
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Arme und Beine gebrochen, sondern sogar das Herz durchbohrt.«<A name="ZT6"></A><A href="fm03_015.htm#Z6"><SPAN class="top">[6]</SPAN></A> An diesem Beispiele
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wollte Marx erweisen, was von einer Ständeversammlung der Sonderinteressen
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zu erwarten sei, wenn sie einmal ernstlich zur Gesetzgebung berufen würde.</P>
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<P>Dabei hielt Marx noch an der Hegelschen Rechts- und Staatsphilosophie fest.
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Nicht zwar, indem er wie die wortgläubigen Nachbeter Hegels den preußischen
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Staat als den idealen Staat feierte, sondern indem er den preußischen Staat
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an dem idealen Staat maß, der sich aus den philosophischen Voraussetzungen
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Hegels ergab. Marx betrachtete den Staat als den großen Organismus, worin
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||
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die rechtliche, sittliche und politische Freiheit ihre Verwirklichung zu erhalten
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habe und der einzelne Staatsbürger in den Staatsgesetzen nur den Naturgesetzen
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seiner eigenen Vernunft, der menschlichen Vernunft gehorche. Von diesem Standpunkt
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aus wurde Marx noch mit den Debatten des Landtags über das Holzdiebstahlgesetz
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|
fertig, und wäre auch wohl noch mit der vierten Abhandlung fertig geworden,
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|
die ein Gesetz über Jagd-, Forst- und Feldfrevel behandeln, nicht aber mehr
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mit der fünften, die den ganzen Bau krönen und die »irdische Frage in
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|
Lebensgröße«, die Parzellierungsfrage erörtern sollte.</P>
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<P>Wie das bürgerliche Rheinland vertrat Marx die freie Teilbarkeit des Grund
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und Bodens; dem Bauern die Parzellierungsfreiheit beschränken, hieße
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seiner physischen Armut die rechtliche Armut hinzufügen. Aber mit diesem
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rechtlichen Gesichtspunkt war die Frage nicht erledigt; der französische
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Sozialismus hatte längst darauf hingewiesen, daß die freie Teilbarkeit
|
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des Grund und Bodens ein hilfloses Proletariat schaffe, und sie mit der atomistischen
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|
Isolierung des Handwerks auf eine Stufe gestellt. Wollte Marx sie behandeln, so
|
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|
mußte er sich mit dem Sozialismus auseinandersetzen.</P>
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<P><B><A NAME="S49">|49|</A></B> Sicherlich hatte er diese Notwendigkeit erkannt,
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und er am wenigsten wäre ihr ausgewichen, wenn er die geplante Reihe seiner
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||
|
Abhandlungen vollendet hätte. Jedoch dazu ist es nicht gekommen. Als die
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|
dritte Abhandlung in der »Rheinischen Zeitung« veröffentlicht wurde, war
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|
Marx schon ihr Redakteur, und nun trat das sozialistische Rätsel an ihn heran,
|
||
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noch ehe er es lösen konnte.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER">7. Fünf Kampfmonate<A name="Kap_7"></A></H3>
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<P>Im Laufe des Sommers hatte sich die »Rheinische Zeitung« ein paar kleine Streifzüge
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ins soziale Gebiet gestattet; vermutlich ist Moses Heß ihr Urheber gewesen.
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Einmal hatte sie einen Artikel aus einer Zeitschrift Weitlings über die Berliner
|
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Familienhäuser als einen Beitrag zu einer »wichtigen Zeitfrage« nachgedruckt
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und ihrem Bericht über einen Straßburger Gelehrtenkongreß, auf
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||
|
dem auch sozialistische Fragen verhandelt worden waren, die ganz nichtssagende
|
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|
Bemerkung hinzugefügt, wenn der nichtsbesitzende Stand nach den Reichtümern
|
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der Mittelklasse trachte, so lasse sich das mit dem Kampfe der Mittelklassen gegen
|
||
|
den Adel im Jahre 1789 vergleichen, aber diesmal werde sich eine friedliche Lösung
|
||
|
finden.</P>
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<P>Die harmlosen Anlässe genügten der »Allgemeinen Zeitung« in Augsburg,
|
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die »Rheinische Zeitung» auf Liebäugeln mit dem Kommunismus anzuklagen. Sie
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|
selbst besaß in diesem Punkte kein reines Gewissen und hatte aus der Feder
|
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Heines viel brenzlichere Sachen über den französischen Sozialismus und
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||
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Kommunismus veröffentlicht, aber sie war das einzige deutsche Blatt von nationaler
|
||
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und selbst internationaler Bedeutung, und diese Stellung begann durch die »Rheinische
|
||
|
Zeitung« gefährdet zu werden. So wenig erhebende Ursachen also ihr heftiger
|
||
|
Angriff hatte, so war er doch nicht ohne boshaftes Geschick angelegt; neben allerlei
|
||
|
Anspielungen auf die reichen Kaufmannssöhne, die in unschuldiger Einfalt
|
||
|
mit sozialistischen Ideen spielten, ohne jeden Gedanken daran, mit den Kölner
|
||
|
Domwerkleuten und Hafenträgern ihre Habe zu teilen, trumpfte er namentlich
|
||
|
darauf, daß es doch nur eine kindliche Verirrung sei, in einem ökonomisch
|
||
|
noch so weit zurückgebliebenen Lande, wie Deutschland sei, der Mittelklasse,
|
||
|
die kaum schon frei zu atmen wage, mit dem Lose des französischen Adels von
|
||
|
1789 zu drohen.</P>
|
||
|
<P>Die Abwehr des bissigen Ergusses war die erste redaktionelle Aufgabe, die Marx
|
||
|
zu lösen hatte, und sie war für ihn unbequem genug. <A NAME="S50"></A><B>|50|</B>
|
||
|
Er wollte nicht Dinge decken, die er selbst als » Stümpereien« empfand, aber
|
||
|
er konnte auch nicht sagen, wie es ihn um den Kommunismus dünke. So spielte
|
||
|
er zwar nach Möglichkeit den Krieg ins Lager der Gegnerin, indem er ihr selbst
|
||
|
kommunistische Gelüste unterschob, gestand aber ehrlich ein, daß es
|
||
|
der »Rheinischen Zeitung« nicht gegeben sei, mit <I>einer </I>Phrase Probleme
|
||
|
zu bändigen, an deren Bezwingung <I>zwei</I> Völker arbeiteten. Sie
|
||
|
werde die kommunistischen Ideen, denen sie in ihrer jetzigen Gestalt nicht einmal
|
||
|
theoretische Wirklichkeit zugestehen, also noch weniger ihre praktische Verwirklichung
|
||
|
wünschen oder auch nur für möglich halten könne, einer gründlichen
|
||
|
Kritik unterwerfen, »nach langanhaltenden und tiefgehenden Studien«, denn Schriften,
|
||
|
wie die von Leroux, Considérant und vor allem das scharfsinnige Werk Proudhons
|
||
|
könnten nicht durch oberflächliche Einfälle des Augenblicks abgetan
|
||
|
werden.</P>
|
||
|
<P>Später hat Marx wohl gemeint, dieser Streit habe ihm die Tätigkeit
|
||
|
an der »Rheinischen Zeitung« verleidet, und er habe »begierig« die Gelegenheit
|
||
|
ergriffen, sich in die Studierstube zurückzuziehen. Dabei hat sich ihm aber,
|
||
|
wie es in der Erinnerung zu geschehen pflegt, Ursache und Wirkung zu unmittelbar
|
||
|
aneinandergerückt. Einstweilen war Marx noch mit Leib und Leben bei der Sache,
|
||
|
die ihm viel zu wichtig erschien, als daß er um ihretwillen nicht mit den
|
||
|
alten Berliner Genossen gebrochen hätte. Mit denen war gar kein Staat mehr
|
||
|
zu machen, seitdem die gemilderte Zensurinstruktion den Doktorklub, durch den
|
||
|
doch immer »ein geistiges Interesse ging«, in eine Gesellschaft der sogenannten
|
||
|
Freien gewandelt hatte, in der sich so ziemlich alle vormärzlichen Literaten
|
||
|
der preußischen Hauptstadt zusammenfanden, um die politischen und sozialen
|
||
|
Revolutionäre in der Gestalt wild gewordener Philister zu spielen. Marx wurde
|
||
|
schon im Sommer durch dies Treiben beunruhigt; er sagte, ein anderes sei es, seine
|
||
|
Emanzipation erklären, was Gewissenhaftigkeit sei, ein anderes, sich im voraus
|
||
|
als renommistische Propaganda auszuschreien. Aber er meinte, zum Glück sei
|
||
|
Bruno Bauer in Berlin; dieser werde dafür sorgen, daß wenigstens keine
|
||
|
»Dummheiten« begangen würden.</P>
|
||
|
<P>Darin irrte Marx leider. Nach einer glaubwürdigen Mitteilung hat sich
|
||
|
zwar Köppen von dem Treiben der Freien ferngehalten, nicht aber Bruno Bauer,
|
||
|
der sich nicht einmal genierte, den Fähnchenführer bei ihren Eulenspiegeleien
|
||
|
zu spielen. Ihre Bettelaufzüge in den Straßen, ihre Skandalszenen in
|
||
|
Bordellen und Kneipen, ihr abgeschmacktes Hänseln eines wehrlosen Geistlichen,
|
||
|
dem Bruno Bauer bei Stirners Trauung die messingenen Ringe seiner gehäkelten
|
||
|
Geldbörse mit dem Bemerken <A NAME="S51"></A><B>|51|</B> überreichte,
|
||
|
als Trauringe seien sie gut genug - alles das machte die Freien zum Gegenstande
|
||
|
halb der Bewunderung und halb des Grauens für alle zahmen Philister, stellte
|
||
|
aber unheilbar die Sache bloß, die sie angeblich vertraten.</P>
|
||
|
<P>Natürlich wirkte dies gassenjungenhafte Treiben auch verheerend auf die
|
||
|
geistige Produktion der Freien, und Marx hatte mit ihren Beiträgen für
|
||
|
die »Rheinische Zeitung« seine liebe Not. Viele davon verfielen dem Rotstifte
|
||
|
des Zensors, aber - so schrieb Marx an Ruge - »ebensoviel wie der Zensor erlaubte
|
||
|
ich mir selbst zu annullieren, indem Meyen und Konsorten weltumwälzungsschwangre
|
||
|
und gedankenleere Sudeleien in saloppem Stil, mit etwas Atheismus und Kommunismus
|
||
|
(den die Herrn nie studiert haben) versetzt, haufenweise uns zusandten, bei Rutenbergs
|
||
|
gänzlichem Mangel an Kritik, Selbständigkeit und Fähigkeit sich
|
||
|
gewöhnt hatten, die ›Rh[einische] Z[eitung]‹ als <I>ihr</I> willenloses Organ
|
||
|
zu betrachten, ich aber nicht weiter dies Wasserabschlagen in alter Weise gestatten
|
||
|
zu dürfen glaubte«. Dies war der erste Grund zur »Verfinsterung des Berliner
|
||
|
Himmels«, wie Marx sagte.</P>
|
||
|
<DL>
|
||
|
<DT>Zum Bruche kam es, als im November 1842 Herwegh und Ruge einen Besuch in Berlin
|
||
|
machten. Herwegh befand sich damals auf seiner berühmten Triumphfahrt durch
|
||
|
Deutschland, auf der er auch mit Marx in Köln schnelle Freundschaft geschlossen
|
||
|
hatte; in Dresden war er mit Ruge zusammengetroffen und mit ihm zusammen nach
|
||
|
Berlin gereist. Hier vermochten sie begreiflicherweise dem Unfug der Freien keinen
|
||
|
Geschmack abzugewinnen; Ruge kam hart mit seinem Mitarbeiter Bruno Bauer aneinander,
|
||
|
weil ihm dieser »die lächerlichsten Dinge auf die Nase binden« wollte, so
|
||
|
die Behauptung, daß Staat, Eigentum und Familie im Begriff aufgelöst
|
||
|
werden müßten, ohne daß man sich um die positive Seite der Sache
|
||
|
weiter zu bekümmern habe. Ebenso geringes Wohlgefallen fand Herwegh an den
|
||
|
Freien, die sich für diese Mißachtung dafür rächten, daß
|
||
|
sie die bekannte Audienz des Dichters beim König und seine Verlobung mit
|
||
|
einem reichen Mädchen in ihrer Weise durchhechelten.</DT>
|
||
|
</DL>
|
||
|
<P>Die streitenden Teile wandten sich beide an die »Rheinische Zeitung«. Herwegh,
|
||
|
im Einverständnis mit Ruge, bat um die Aufnahme einer Notiz, worin den Freien
|
||
|
zwar zugestanden war, daß sie einzeln meistens treffliche Leute seien, aber
|
||
|
hinzugefügt wurde, daß sie, wie Herwegh und Ruge ihnen offen erklärt
|
||
|
hätten, durch ihre politische Romantik, Geniesucht und Renommage die Sache
|
||
|
und die Partei der Freiheit kompromittierten. Marx veröffentlichte diese
|
||
|
Notiz, wurde nun aber mit <A NAME="S52"></A><B>|52|</B> groben Briefen von Meyen
|
||
|
überfallen, der sich zum Sprachrohr der Freien machte.</P>
|
||
|
<P>Marx antwortete zunächst ganz sachlich, indem er die Mitarbeit der Freien
|
||
|
auf den richtigen Weg zu leiten suchte. »Ich forderte auf, weniger vages Räsonnement,
|
||
|
großklingende Phrasen, selbstgefällige Bespiegelungen und mehr Bestimmtheit,
|
||
|
mehr Eingehn in die konkreten Zustände, mehr Sachkenntnis an den Tag zu fördern.
|
||
|
Ich erklärte, daß ich das Einschmuggeln kommunistischer und sozialistischer
|
||
|
Dogmen, also einer neuen Weltanschauung, in beiläufigen Theaterkritiken etc.
|
||
|
für unpassend, ja für unsittlich halte und eine ganz andere und gründlichere
|
||
|
Besprechung des Kommunismus, wenn er einmal besprochen werden solle, verlange.
|
||
|
Ich begehrte dann, die Religion mehr in der Kritik der politischen Zustände,
|
||
|
als die politischen Zustände in der Religion zu kritisieren, da diese Wendung
|
||
|
mehr dem Wesen einer Zeitung und der Bildung des Publikums entspricht, da die
|
||
|
Religion, an sich inhaltlos, nicht vom Himmel, sondern von der Erde lebt, und
|
||
|
mit der Auflösung der verkehrten Realität, deren <I>Theorie </I>sie
|
||
|
ist, von selbst stürzt. Endlich wollte ich, daß, wenn einmal von Philosophie
|
||
|
gesprochen, weniger mit der <I>Firma</I>: ›Atheismus‹ getändelt (was den
|
||
|
Kindern ähnlich sieht, die jedem, der's hören will, versichern, sie
|
||
|
fürchteten sich nicht vor dem Bautzenmann) als vielmehr ihr Inhalt unters
|
||
|
Volk gebracht würde.« Diese Ausführungen gewähren zugleich einen
|
||
|
lehrreichen Blick in die Grundsätze, nach denen Marx die »Rheinische Zeitung«
|
||
|
leitete.</P>
|
||
|
<P>Ehe indessen seine Ratschläge an ihr Ziel gelangt waren, erhielt er einen
|
||
|
»insolenten Brief« von Meyen, worin dieser nicht mehr und nicht weniger forderte,
|
||
|
als die Zeitung solle nicht »temperieren«, sondern das »Äußerste tun«,
|
||
|
das heißt, um der Freien willen sich unterdrücken lassen. Nun wurde
|
||
|
auch Marx ungeduldig und schrieb an Ruge: »Aus alledem leuchtet eine schreckliche
|
||
|
Dosis Eitelkeit heraus, die nicht begreift, wie man, um ein politisches Organ
|
||
|
zu retten, einige Berliner Windbeuteleien preisgeben kann, die an überhaupt
|
||
|
nichts denkt, als an ihre Cliquengeschichten ... Da wir nun von morgens bis abends
|
||
|
die schrecklichsten Zensurquälereien, Ministerialschreibereien, Oberpräsidialbeschwerden,
|
||
|
Landtagsklagen, Schreien der Aktionäre etc. etc. zu tragen haben und ich
|
||
|
bloß auf dem Posten bleibe, weil ich es für Pflicht halte, der Gewalt
|
||
|
die Verwirklichung ihrer Absichten, so viel an mir liegt, zu vereiteln, so können
|
||
|
Sie denken, daß ich etwas gereizt bin und dem M[eyen] ziemlich derb geantwortet
|
||
|
habe.« In der Tat war es der Bruch mit den Freien, die politisch alle ein mehr
|
||
|
oder minder trauriges <A NAME="S53"></A><B>|53|*</B> Ende genommen haben; von
|
||
|
Bruno Bauer, dem späteren Mitarbeiter der »Kreuzzeitung« und der »Post«,
|
||
|
bis zu Eduard Meyen, der als Redakteur der »Danziger Zeitung« starb und über
|
||
|
sein verlorenes Leben mit dem kläglichen Witze quittierte, er dürfe
|
||
|
nur die protestantischen Orthod-oxen verhöhnen, denn den päpstlichen
|
||
|
Syllabus zu kritisieren, habe ihm der liberale Besitzer des Blattes aus Rücksicht
|
||
|
auf die katholischen Abonnenten verboten. Andere der Freien sind bei der offiziösen
|
||
|
oder gar offiziellen Presse untergekrochen wie Rutenberg, der einige Jahrzehnte
|
||
|
später als Redakteur des »Preußischen Staats-Anzeigers« gestorben ist.</P>
|
||
|
<DL>
|
||
|
<DT>Damals aber, im Herbst 1842, war er noch der gefürchtete Mann, und die
|
||
|
Regierung verlangte seine Entfernung. Sie hatte den Sommer über das Blatt
|
||
|
zwar durch die Zensur aufs äußerste gequält, aber noch sein Leben
|
||
|
geschont, in der Hoffnung, daß es von selbst eingehen werde; am 8. August
|
||
|
berichtete der rheinische Oberpräsident von Schaper nach Berlin, die Zahl
|
||
|
der Abonnenten beliefe sich nur auf 885. Aber am 15. Oktober hatte Marx die Redaktion
|
||
|
übernommen, und am 10. November meldete Schaper, die Abonnentenzahl nehme
|
||
|
unaufhaltsam zu; sie habe sich von 885 auf 1.820 gehoben, und die Tendenz des
|
||
|
Blattes werde immer feindseliger und frecher. Dazu kam, daß der »Rheinischen
|
||
|
Zeitung« ein äußerst reaktionärer Ehegesetzentwurf auf den Tisch
|
||
|
geflogen war, dessen vorzeitige Veröffentlichung den König um so mehr
|
||
|
erbitterte, als die beabsichtigte Erschwerung der Ehescheidung einen heftigen
|
||
|
Widerstand in der Bevölkerung fand. Er verlangte, die Zeitung mit sofortiger
|
||
|
Unterdrückung zu bedrohen, falls sie den Einsender des Entwurfs nicht nenne,
|
||
|
doch wollten die Minister dem verhaßten Blatte, von dem sie wußten,
|
||
|
daß es ein so entwürdigendes Ansinnen zurückweisen würde,
|
||
|
keine Märtyrerkrone flechten. Sie begnügten sich, Rutenberg aus Köln
|
||
|
zu entfernen, und bei Strafe des Verbots die Ernennung eines verantwortlichen
|
||
|
Redakteurs zu verlangen, der an Stelle des Verlegers Renard das Blatt zu zeichnen
|
||
|
habe. Zugleich wurde statt des bisherigen, wegen seiner Beschränktheit verrufenen
|
||
|
Zensors Dolleschall ein Assessor Wiethaus ernannt.</DT>
|
||
|
</DL>
|
||
|
<P>Marx meldete am 30. November an Ruge: »Rutenberg, dem schon der deutsche Artikel
|
||
|
(an dem seine Tätigkeit hauptsächlich im Interpunktieren bestand) gekündigt,
|
||
|
dem nur <I>auf mein Verwenden </I>der französische provisorisch übertragen
|
||
|
worden, Rutenberg hatte bei der ungeheuern Dummheit unserer Staatsvorsehung das
|
||
|
Glück, für gefährlich zu gelten, obgleich er niemandem gefährlich
|
||
|
war als der ›Rheinischen Zeitung‹ und sich selbst. Rut[enbergs] Entfernung wurde
|
||
|
gewaltsam <A NAME="S54"></A><B>|54|</B> verlangt. Die preußische Vorstehung,
|
||
|
dieser despotisme prussien, le plus hypocrite, le plus fourbe, ersparte dem Geranten
|
||
|
[Renard] einen unangenehmen Auftritt, und der neue Märtyrer, der schon in
|
||
|
Physiognomie, Haltung und Sprache das Märtyrerbewußtsein mit einiger
|
||
|
Virtuosität darzustellen weiß, Rutenberg beutet diese Gelegenheit aus,
|
||
|
schreibt in alle Welt, schreibt nach Berlin, er sei das <I>exilierte Prinzip </I>der
|
||
|
›Rh[einischen] Z[eitung]‹, die eine <I>andere Stellung </I>zur Regierung entriert.«
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Marx erwähnt den Zwischenfall unter dem Gesichtspunkt, daß sein Zerwürfnis
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mit den Berliner Freien dadurch geschärft worden sei, aber es scheint fast,
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als ob er mit dem Spott über den »Märtyrer« Rutenberg dem armen Teufel
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doch ein wenig zu viel getan habe.</P>
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<P>Seine Bemerkung, daß die Entfernung Rutenbergs »gewaltsam verlangt« und
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dem Verleger Renard dadurch ein »unangenehmer Auftritt« erspart worden sei, läßt
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sich nicht wohl anders auslegen, als daß man sich der »Gewalt« gefügt
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und auf jeden Versuch verzichtet hat, Rutenberg zu halten. Ein solcher Versuch
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wäre ohne allen Zweifel aussichtslos gewesen und man hatte auch wohl Grund,
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dem Verleger jeden unangenehmen Auftritt« zu ersparen, das will sagen, jede protokollarische
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Vernehmung, für die der gänzlich unpolitische Buchhändler nicht
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taugte. Ein schriftlicher Protest gegen das angedrohte Verbot der Zeitung ist
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von ihm auch nur unterzeichnet, aber wie der handschriftliche Entwurf bezeugt,
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der sich im Kölner Stadtarchiv befindet, von Marx verfaßt worden.</P>
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<P>Hierin wird, »der Gewalt nachgebend«, die einstweilige Entfernung Rutenbergs
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zugestanden und die Anstellung eines verantwortlichen Redakteurs verheißen.
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Auch will die »Rheinische Zeitung« gern alles tun, um sich vor dem Untergange
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zu bewahren, soweit es mit dem Beruf eines unabhängigen Blattes vereinbar
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sei. Sie will sich in der Form eine größere Mäßigung auferlegen
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als bisher, nämlich soweit es der Inhalt gestatte. Das Schreiben ist mit
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einer diplomatischen Vorsicht abgefaßt, von der sich aus dem Leben seines
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Verfassers kein zweites Beispiel beibringen läßt, aber wenn es unbillig
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sein würde, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, so würde es nicht
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minder unbillig sein, zu sagen, daß der junge Marx darin seinen damaligen
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Überzeugungen merkliche Gewalt angetan habe. Auch nicht in dem, was er über
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die preußenfreundlichen Gesinnungen der Zeitung sagt. Neben ihren polemischen
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Artikeln gegen die preußenfeindlichen Bestrebungen der Augsburger »Allgemeinen
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Zeitung« und neben ihrer Agitation für die Ausdehnung des Zollvereins auf
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das nordwestliche Deutschland hätten sich ihre preußischen Sympathien
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vor allem in ihrem steten Hinweisen auf <A NAME="S55"></A><B>|55|</B> norddeutsche
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Wissenschaft im Gegensatze zu der Oberflächlichkeit der französischen
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und auch der süddeutschen Theorien gezeigt. Die »Rheinische Zeitung« sei
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das erste »rheinische und überhaupt süddeutsche Blatt«, das hier den
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norddeutschen Geist einführe und damit zu der geistigen Einigung der getrennten
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Stämme beitrage.</P>
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<P>Auf diese Eingabe antwortete der Oberpräsident von Schaper ziemlich ungnädig;
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selbst wenn Rutenberg sofort entlassen und ein durchaus geeigneter Redakteur namhaft
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gemacht würde, hinge es von der weiteren Haltung des Blattes ab, ob es eine
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endgültige Konzession erhielte. Nur für die Bestellung des neuen Redakteurs
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wurde ein Spielraum bis zum 12. Dezember eingeräumt. Es ist nicht dazu gekommen,
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denn in der Mitte Dezember war schon ein neuer Krieg im Gange. Zwei Korrespondenzen
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der Zeitung aus Bernkastel über die elende Lage der Moselbauern veranlaßten
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Schaper zu zwei Berichtigungen, die inhaltlich ebenso nichtig, wie formell ungezogen
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waren. Die »Rheinische Zeitung« machte zunächst noch einmal gute Miene zum
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bösen Spiel und lobte die »ruhige Würde« dieser Berichtigungen, die
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die Männer des geheimen Polizeistaats beschäme und die geeignet sei,
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»das Mißtrauen ebenso zu vernichten, als das Vertrauen zu befestigen«. Aber
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nachdem sie das nötige Material gesammelt hatte, brachte sie von Mitte Januar
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ab in fünf Artikeln <A name="ZT7"></A><A href="fm03_015.htm#Z7"><SPAN class="top">[7]</SPAN></A> eine Fülle urkundlicher Beweise dafür bei,
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daß die Regierung die Notschreie der Moselbauern mit grausamer Härte
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unterdrückt hatte. Der oberste Beamte der Rheinprovinz war dadurch bis auf
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die Knochen blamiert. Jedoch wurde ihm der süße Trost, daß die
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Unterdrückung der Zeitung bereits am 21. Januar 1843 durch den Ministerrat
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im Beisein des Königs beschlossen worden war. Um die Jahreswende hatte eine
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Reihe von Vorkommnissen den Zorn des Königs gereizt: ein sentimental-trotziger
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Brief, den Herwegh aus Königsberg an ihn gerichtet und den die »Leipziger
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Allgemeine Zeitung« ohne Wissen und wider Willen des Verfassers veröffentlicht
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hatte, die Freisprechung Johann Jacobys von der Anklage des Hochverrats und der
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Majestätsbeleidigung durch den obersten Gerichtshof, endlich auch das Neujahrsbekenntnis
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der »Deutschen Jahrbücher« »zur Demokratie mit ihren praktischen Problemen«.
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Sie wurden daraufhin sofort verboten, und so auch - für Preußen - die
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»Leipziger Allgemeine Zeitung«; nun sollte in einem Aufwaschen auch die Hurenschwester
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vom Rhein« daran, zumal da sie die Unterdrückung der beiden Blätter
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scharf gegeißelt hatte.</P>
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<P>Zur formellen Handhabe des Verbots diente der angebliche Mangel einer Konzession
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- »als wenn in Preußen, wo kein Hund leben darf ohne seine Polizeimarke,
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die ›Rh[einische Zeitung]‹ auch nur einen Tag <A NAME="S56"></A><B>|56|</B> ohne
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die offiziellen Lebensbedingungen hätte erscheinen können«, wie Marx
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meinte - und als »sachlicher Grund« wurde der alt- wie neupreußische Schwatz
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von der ruchlosen Tendenz angegeben - »der alte Larifari von schlechter Gesinnung,
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hohler Theorie, Dideldumdey usw.«, wie Marx spottete. Aus Rücksicht auf die
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Aktionäre wurde das Erscheinen der Zeitung bis zum Ablauf des Vierteljahrs
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gestattet. »Während dieser Galgenfrist hat sie Doppelzensur. Unser Zensor,
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ein ehrenwerter Mann, ist unter die Zensur des hiesigen Regierungspräsidenten
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von Gerlach, eines passiv gehorsamen Dummkopfs, gestellt, und zwar muß unser
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fertiges Blatt der Polizeinase zum Riechen präsentiert werden, und wenn sie
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was Unchristliches, Unpreußisches riecht, darf die Zeitung nicht erscheinen.«
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So Marx an Ruge. In der Tat war der Assessor Wiethäus ehrenwert genug, auf
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die Zensur zu verzichten, wofür ihn die Kölner Liedertafel durch ein
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Ständchen ehrte. An seine Stelle wurde aus Berlin der Ministerialsekretär
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Saint-Paul gesandt, der den Henkersdienst so eifrig versah, daß die Doppelzensur
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bereits am 18. Februar aufgehoben werden konnte.</P>
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<P>Das Verbot der Zeitung wurde von der ganzen Rheinprovinz als eine ihr zugefügte
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Schmach empfunden. Die Zahl der Abonnenten schnellte auf 3.200 empor, und Petitionen,
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die sich mit Tausenden von Unterschriften bedeckten, gingen nach Berlin, um den
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drohenden Schlag noch abzuwenden. Auch eine Deputation von Aktionären machte
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sich auf den Weg, wurde beim Könige aber nicht erst vorgelassen, wie denn
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die Petitionen aus der Bevölkerung spurlos in den Papierkörben des Ministeriums
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verschwunden wären, wenn sie nicht energische Rüffel an die Beamten
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veranlaßt hätten, die sie unterschrieben hatten. Bedenklicher war,
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daß die Aktionäre durch eine schwächere Haltung des Blattes zu
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erreichen suchten, was ihren beweglichen Vorstellungen nicht gelungen war; wesentlich
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dieser Umstand veranlaßte Marx, schon am 17. März die Redaktion niederzulegen,
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was ihn natürlich nicht hinderte, der Zensur bis zum letzten Augenblick das
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Leben so sauer wie möglich zu machen.</P>
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<P>Saint-Paul war ein jugendlicher Bohemien, der in Berlin mit den Freien kneipte,
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wie er sich vor den Kölner Bordellen mit den Nachtwächtern prügelte.
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Aber er war ein verschmitzter Bursche, der bald entdeckte, wo der »doktrinäre
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Mittelpunkt« der »Rheinischen Zeitung« und der »lebendige Quell« ihrer Theorien
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war. In seinen Berichten nach Berlin sprach er mit unwillkürlicher Achtung
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von Marx, dessen Charakter wie Geist ihm offenbar mächtig imponiert hatten,
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trotz des »tiefen, spekulativen Irrtums«, den er an ihm entdeckt haben wollte.
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Am <A NAME="S57"></A><B>|57|</B> 2. März konnte Saint-Paul nach Berlin melden,
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daß Marx sich entschlossen habe, »unter den jetzigen Umständen« jede
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Verbindung mit der »Rheinischen Zeitung« aufzugeben und Preußen zu verlassen,
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was die Berliner Neunmalweisen veranlaßte, in ihren Akten zu vermerken,
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es sei kein Verlust, wenn Marx auswandere, da seine »ultrademokratischen Gesinnungen
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mit dem Prinzip des preußischen Staats in völligem Widerspruch ständen«,
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was sich gewiß nicht bestreiten ließ. Am 18. jubelte dann der würdige
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Zensor: »Der spiritus rector des ganzen Unternehmens, Dr. Marx, ist gestern definitiv
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ausgetreten, und Oppenheim, ein wirklich im ganzen gemäßigter, übrigens
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unbedeutender Mann, hat die Redaktion übernommen ... Ich befinde mich dabei
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sehr wohl und habe heute kaum ein Viertel der sonstigen Zeit auf die Zensur verwandt.«
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Er machte dem scheidenden Marx das schmeichelhafte Kompliment, in Berlin vorzuschlagen,
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daß man nunmehr die »Rheinische Zeitung« ruhig weiter bestehen lassen solle.
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Indessen übertrafen ihn seine Auftraggeber an feiger Gesinnung; er wurde
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angewiesen, den Redakteur der »Kölnischen Zeitung«, einen gewissen Hermes,
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heimlich zu kaufen und den Verleger dieses Blattes einzuschüchtern, dem die
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»Rheinische Zeitung« die Möglichkeit einer gefährlichen Konkurrenz bewiesen
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hatte, und dies Schelmenstück gelang.</P>
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<P>Marx selbst aber schrieb schon am 25. Januar an Ruge, demselben Tage, an dem
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das Verbot der »Rheinischen Zeitung« nach Köln gelangt war: »Mich hat nichts
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überrascht. Sie wissen, was ich gleich von der Zensurinstruktion hielt. Ich
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sehe hier nur eine Konsequenz, ich sehe in der Unterdrückung der ›Rh[einischen]
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Z[eitung]‹ einen Fortschritt des politischen Bewußtseins und resigniere
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daher. Außerdem war mir die Atmosphäre so schwül geworden. Es
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ist schlimm, Knechtsdienste, selbst für die Freiheit zu verrichten und mit
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Nadeln statt mit Kolben zu fechten. Ich bin der Heuchelei, der Dummheit, der rohen
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Autorität und unseres Schmiegens, Biegens, Rückendrehens und Wortklauberei
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müde gewesen. Also die Regierung hat mich wieder in Freiheit gesetzt ...
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In Deutschland kann ich nichts mehr beginnen. Man verfälscht sich hier selbst.«</P>
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<H3 ALIGN="CENTER">8. Ludwig Feuerbach<A name="Kap_8"></A></H3>
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<P>In eben diesem Briefe bestätigte Marx den Empfang der Sammlung, in die
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er seinen politischen Erstling gestiftet hatte. Sie war in zwei Bänden unter
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dem Titel »Anekdota zur neuesten deutschen Philosophie <A NAME="S58"></A><B>|58|</B>
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und Publizistik« von dem Literarischen Kontor in Zürich, das Julius Fröbel
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als Heimstätte für deutsche Zensurflüchtlinge gegründet hatte,
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im Anfang März 1843 herausgegeben worden.</P>
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<P>In ihnen marschierte noch einmal die alte Garde der Junghegelianer auf, doch
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schon in wankenden Reihen, und in ihrer Mitte der kühne Denker, der die ganze
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Philosophie Hegels zu den Toten warf, der den »absoluten Geist« für den abgeschiedenen
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Geist der Theologie und somit für den reinen Gespensterglauben erklärte,
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der alle Geheimnisse der Philosophie gelöst sah im Anschauen der Menschen
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und der Natur. Die »Vorläufigen Thesen zur Reform der Philosophie«, die Ludwig
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Feuerbach in den »Anekdotis« veröffentlichte, sind auch für Marx eine
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Offenbarung gewesen.</P>
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<P>In späteren Jahren hat Engels den großen Einfluß Feuerbachs
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auf die geistige Entwicklung des jungen Marx vom »Wesen des Christentums« datiert,
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der berühmtesten Schrift Feuerbachs, die bereits im Jahre 1841 erschienen
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war. Von der »befreienden Wirkung« dieses Buchs, die man selbst erlebt haben müsse,
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um sich eine Vorstellung davon zu machen, sagte Engels: »Die Begeisterung war
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allgemein; Wir waren alle momentan Feuerbachianer.«<A name="ZT8"></A><A href="fm03_015.htm#Z8"><SPAN class="top">[8]</SPAN></A> Allein in dem, was Marx in
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der »Rheinischen Zeitung« veröffentlicht hat, läßt sich der Einfluß
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Feuerbachs noch nicht spüren; »enthusiastisch begrüßt« hat Marx
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die neue Auffassung, trotz aller kritischen Vorbehalte, erst in den »Deutsch-Französischen
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Jahrbüchern«, die im Februar 1844 erschienen und schon im Titel einen gewissen
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Anklang an die Gedankengänge Feuerbachs verrieten.</P>
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<P>Nun sind die »Vorläufigen Thesen« gewiß schon im »Wesen des Christentums«
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enthalten, und insofern scheint der Irrtum, dem Engels in der Erinnerung unterlegen
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ist, recht gleichgültig zu sein. Er ist es jedoch insofern nicht, als er
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die geistigen Zusammenhänge zwischen Feuerbach und Marx verschleiert. Feuerbach
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war deshalb nicht weniger ein Kämpfer, weil ihm immer nur in ländlicher
|
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Einsamkeit wohl war. Er dachte mit Galilei, die Stadt sei gleichsam ein Gefängnis
|
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spekulativischer Gemüter, hingegen das freie Landleben sei ein Buch der Natur,
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das einem jeden unmittelbar vor Augen liege, der mit seinem Verstande darin zu
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lesen beliebe. Mit solchen Worten hat Feuerbach sein einsames Leben in Bruckberg
|
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stets gegen alle Anfechtungen verteidigt; er liebte die ländliche Einsamkeit,
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nicht im Sinne des alten friedseligen Wortes: wohl dem, der im Verborgenen gelebt
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hat, sondern weil er aus ihr die Kraft zum Kampfe schöpfte, in dem Bedürfnis
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des Denkers, sich zu sammeln und durch das lärmende Geräusch des Tages
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sich nicht dem <A NAME="S59"></A><B>|59|</B> Anschauen der Natur entreißen
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zu lassen, die ihm der große Urquell alles Lebens und seiner Geheimnisse
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war.</P>
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<P>Trotz seiner ländlichen Verborgenheit kämpfte Feuerbach den großen
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Krieg der Zeit in vorderster Reihe mit. Seine Aufsätze gaben den Zeitschriften
|
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Ruges die schärfste Schneide und Spitze. Im »Wesen des Christentums« wies
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er nach, daß der Mensch die Religion mache, nicht aber die Religion den
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Menschen, daß die höheren Wesen, die unsere Phantasie erschaffe, nur
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die phantastische Rückspiegelung unseres eigenen Wesens seien. Gerade aber
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zur Zeit, wo dies Buch erschien, wandte sich Marx dem politischen Kampfe zu, der
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||
|
ihn mitten in das Getümmel des öffentlichen Marktes führte, soweit
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|
davon überhaupt schon gesprochen werden konnte; für diesen taugten die
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||
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Waffen nicht, die Feuerbach in seiner Schrift gerüstet hatte. Nun aber, da
|
||
|
die Hegelsche Philosophie sich unfähig erwiesen hatte, die materiellen Fragen
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zu lösen, die ihm in der »Rheinischen Zeitung« entgegengetreten waren, erschienen
|
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just die »Vorläufigen Thesen« Feuerbachs zur Reform der Philosophie, die
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||
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der Hegelschen Philosophie als dem letzten Zufluchtsort, der letzten rationellen
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Stütze der Theologie den Todesstoß gaben. So machten sie einen tiefen
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|
Eindruck auf Marx, wenngleich er sich sofort seine Kritik vorbehielt.</P>
|
||
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<P>In seinem Briefe vom 13. März schrieb er an Ruge: »Feuerbachs Aphorismen
|
||
|
sind mir nur in dem Punkte nicht recht, daß er zu sehr auf die Natur und
|
||
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zu wenig auf die Politik hinweist. Das ist aber das einzige Bündnis, wodurch
|
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|
die jetzige Philosophie eine Wahrheit werden kann. Doch wird's wohl gehen wie
|
||
|
im sechzehnten Jahrhundert, wo den Naturenthusiasten eine andere Reihe von Staatsenthusiasten
|
||
|
entsprach.« In der Tat hatte Feuerbach in seinen »Thesen« die Politik nur mit
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|
einer sehr dürftigen Bemerkung gestreift, die eher hinter Hegel zurück-,
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|
als über ihn hinausging. In diesem Punkte setzte Marx ein, um Hegels Rechts-
|
||
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und Staatsphilosophie so gründlich zu untersuchen, wie Feuerbach die Natur-
|
||
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und Religionsphilosophie des Meisters untersucht hatte.</P>
|
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|
<P>Noch an einer Stelle verriet der Brief an Ruge vom 13. März, wie stark
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Marx damals durch Feuerbach beeinflußt wurde. Sobald er sich darüber
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||
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klar geworden war, daß er nicht unter preußischer Zensur schreiben
|
||
|
oder in preußischer Luft leben könne, war auch sein Entschluß
|
||
|
gefaßt, Deutschland nicht ohne seine Braut zu verlassen. Er fragte schon
|
||
|
am 25. Januar bei Ruge an, ob er am »Deutschen Boten«, den Herwegh damals in Zürich.
|
||
|
erscheinen lassen wollte, eine Tätigkeit finden würde, doch wurde die
|
||
|
Absicht Herweghs, noch ehe sie ausgeführt werden konnte, durch seine Ausweisung
|
||
|
aus Zürich zerstört. Ruge machte nun <A NAME="S60"></A><B>|60|</B> andere
|
||
|
Vorschläge eines gemeinsamen Wirkens, unter anderem die gemeinsame Redaktion
|
||
|
der umgestalteten und umgetauften Jahrbücher; Marx möge nach Schluß
|
||
|
seiner Kölner »Redaktionsqual« zur mündlichen Verhandlung über
|
||
|
den »Ort unserer Wiedergeburt« nach Leipzig kommen.</P>
|
||
|
<P>Darauf ging Marx am 13. März ein, äußerte aber doch »vorläufig«
|
||
|
seine Überzeugung über »unseren Plan« wie folgt: »Als Paris erobert
|
||
|
war, schlugen einige den Sohn Napoleons mit Regentschaft, andre den Bernadotte,
|
||
|
andre endlich den Louis-Philippe zur Herrschaft vor. Talleyrand aber antwortete:
|
||
|
Louis XVIII. oder Napoleon. Das ist ein Prinzip, alles andere ist Intrige. Und
|
||
|
so möchte ich auch fast alles andere außer Straßburg (oder höchstens
|
||
|
der Schweiz) kein Prinzip, sondern eine Intrige nennen. Bücher über
|
||
|
zwanzig Bogen sind keine Schriften fürs Volk. Das Höchste, was man da
|
||
|
wagen kann, sind Monatshefte. Würden nun gar die ›Deutschen Jahrbücher‹
|
||
|
wieder gestattet, so brächten wir es zum Allerhöchsten auf einen schwachen
|
||
|
Abklatsch der selig Entschlafenen, und das genügt heutzutage nicht mehr.
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||
|
Dagegen ›Deutsch-Französische Jahrbücher‹, das wäre ein Prinzip,
|
||
|
ein Ereignis von Konsequenzen, ein Unternehmen, für das man sich enthusiasmieren
|
||
|
kann.« Man spürt hier den Nachhall von Feuerbachs »Thesen«, in denen es heißt,
|
||
|
der wahre, der mit dem Leben, dem Menschen identische Philosoph müsse gallo-germanischen
|
||
|
Geblüts sein. Das Herz müsse französisch, der Kopf deutsch sein.
|
||
|
Der Kopf reformiere, aber das Herz revolutioniere. Nur wo Bewegung, Wallung, Leidenschaft,
|
||
|
Blut, Sinnlichkeit, da sei auch Geist. Nur der Esprit Leibnizens, sein sanguinisches,
|
||
|
materialistisch-idealistisches Prinzip habe zuerst die Deutschen aus ihrem Pedantismus
|
||
|
und Scholastizismus herausgerissen.</P>
|
||
|
<P>Mit diesem »gallo-germanischen Prinzip« erklärte sich Ruge in seiner Antwort
|
||
|
vom 19. März vollkommen einverstanden, doch zog sich die geschäftliche
|
||
|
Regelung der Dinge noch eine Reihe von Monaten hin.</P>
|
||
|
<H3 ALIGN="CENTER">9. Hochzeit und Verbannung<A name="Kap_9"></A></H3>
|
||
|
<P>In dem bewegten Jahre seiner ersten öffentlichen Kämpfe hat Marx
|
||
|
auch mit manchen häuslichen Schwierigkeiten zu ringen gehabt. Er sprach darüber
|
||
|
nicht gern und immer nur, wenn ihn eine herbe Notwendigkeit dazu zwang, im schroffsten
|
||
|
Gegensatze zu dem kläglichen Lose des Philisters, der über seinem kleinen
|
||
|
Kram Gott und die Welt vergißt, <A NAME="S61"></A><B>|61|</B> war ihm gegeben,
|
||
|
sich an der »Menschheit großen Gegenständen« auch über die bitterste
|
||
|
Not zu erheben. Sich in dieser Fähigkeit zu üben, hat ihm sein Leben
|
||
|
nur allzu reichliche Gelegenheit geboten.</P>
|
||
|
<P>Gleich in der ersten Äußerung, die sich von ihm über seine
|
||
|
»Privatlumpereien« erhalten hat, spricht sich seine Auffassung solcher Dinge in
|
||
|
sehr bezeichnender Weise aus. Um sich bei Ruge wegen des Ausbleibens von Beiträgen
|
||
|
zu entschuldigen, die er für die »Anekdota« versprochen hatte, schrieb er
|
||
|
am 9. Juli 1842 nach Aufzählung anderer Hindernisse: »Die übrige Zeit
|
||
|
war zerstückelt und verstimmt durch die allerwidrigste Familienkontroverse.
|
||
|
Meine Familie legte mir Schwierigkeiten in den Weg, die mich, trotz ihres Wohlstandes,
|
||
|
momentan den drückendsten Verhältnissen aussetzten. Ich kann Sie unmöglich
|
||
|
mit der Erzählung dieser Privatlumpereien belästigen; es ist ein wahres
|
||
|
Glück, daß die öffentlichen Lumpereien jede mögliche Irritabilität
|
||
|
für das Private einem Menschen von Charakter unmöglich machen.« Es ist
|
||
|
eben auch dieser Beweis einer ungewöhnlichen Charakterstärke, der die
|
||
|
Philister bei ihrer »Irritabilität für das Private« von jeher gegen
|
||
|
den »herzlosen« Marx aufgebracht hat.</P>
|
||
|
<P>Näheres über die »allerwidrigsten Familienkontroversen« ist sonst
|
||
|
nicht bekannt geworden; ganz im allgemeinen kam Marx nur noch einmal darauf zurück,
|
||
|
als es sich um die Gründung der »Deutsch-Französischen Jahrbücher«
|
||
|
handelte. Er schrieb an Ruge, sobald der Plan feste Gestalt angenommen habe, wolle
|
||
|
er nach Kreuznach reisen, wo die Mutter seiner Braut seit dem Tode ihres Gatten
|
||
|
lebte, und dort heiraten, dann aber einige Zeit bei seiner Schwiegermutter bleiben,
|
||
|
»da wir doch jedenfalls, ehe wir ans Werk gehn, einige Arbeiten fertig haben müßten
|
||
|
... Ich kann Ihnen ohne alle Romantik versichern, daß ich von Kopf bis zu
|
||
|
Fuß und zwar allen Ernstes liebe. Ich bin schon über sieben Jahre verlobt,
|
||
|
und meine Braut hat die härtesten, ihre Gesundheit fast untergrabenden Kämpfe
|
||
|
für mich gekämpft, teils mit ihren pietistisch-aristokratischen Verwandten,
|
||
|
denen der ›Herr im Himmel‹ und der ›Herr in Berlin‹ gleiche Kultusobjekte sind,
|
||
|
teils mit meiner eigenen Familie, in der einige Pfaffen und andre Feinde von mir
|
||
|
sich eingenistet haben. Ich und meine Braut haben daher mehr unnötige und
|
||
|
angreifende Konflikte jahrelang durchgekämpft, als manche andre, die dreimal
|
||
|
älter sind und beständig von ihrer ›Lebenserfahrung‹ sprechen.« Außer
|
||
|
dieser kargen Andeutung ist auch über die Kämpfe der Brautzeit nichts
|
||
|
überliefert worden.</P>
|
||
|
<P>Nicht ohne Mühe, aber doch verhältnismäßig schnell, und
|
||
|
auch ohne daß Marx sich nach Leipzig begab, ist das Erscheinen der neuen
|
||
|
Zeitschrift <A NAME="S62"></A><B>|62|*</B> gesichert worden. Fröbel entschloß
|
||
|
sich, den Verlag zu übernehmen, nachdem der wohlhabende Ruge sich bereit
|
||
|
erklärt hatte, als Kommanditär mit 6.000 Talern in das Literarische
|
||
|
Kontor einzutreten. Als Redaktionsgehalt für Marx wurden 500 Taler ausgeworfen.
|
||
|
Auf diese Aussicht hin heiratete er seine Jenny am 19. Juni 1843.</P>
|
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<P>Noch blieb der Ort zu bestimmen, wo die »Deutsch-Französischen Jahrbücher«
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erscheinen sollten. Die Wahl schwankte zwischen Brüssel, Paris und Straßburg.
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Die elsässische Stadt hätte den Wünschen des jungen Paares Marx
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am meisten entsprochen, doch fiel die Entscheidung schließlich für
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Paris, nachdem Fröbel und Ruge sich dort und in Brüssel persönlich
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umgetan hatten. In Brüssel hatte die Presse zwar freieren Spielraum als in
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Paris mit seinen Kautionen und Septembergesetzen, aber dem deutschen Leben war
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man in der französischen Hauptstadt viel näher als in der belgischen.
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Mit 3.000 Franken oder etwas mehr könne Marx in Paris leben, schrieb Ruge
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ermunternd.</P>
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<P>Seinem Plane gemäß hatte Marx die ersten Monate seiner Ehe im Hause
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seiner Schwiegermutter verlebt; im November hat er seinen jungen Hausstand nach
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Paris verlegt. Als letztes Lebenszeichen in der Heimat hat sich ein Brief erhalten,
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den er am 23. Oktober 1843 aus Kreuznach an Feuerbach richtete, um von ihm einen
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Beitrag für das erste Heft der neuen Jahrbücher zu erbitten, und zwar
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eine Kritik Schellings: »Ich glaube fast aus Ihrer Vorrede zur 2. Auflage des
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›Wesens des Christentums‹ schließen zu können, daß Sie manches
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über diesen Windbeutel in petto hätten. Sehen Sie, das wäre ein
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herrliches Debüt. Wie geschickt hat Herr Schelling die Franzosen zu ködern
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gewußt, vorerst den schwachen, eklektischen Cousin, später sogar den
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genialen Leroux. Dem Pierre Leroux und seinesgleichen gilt Schelling immer noch
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als der Mann, der an die Stelle des transzendenten Idealismus den vernünftigen
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Realismus, der an die Stelle des abstrakten Gedankens den Gedanken mit Fleisch
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und Blut, der an die Stelle der Fachphilosophie die Weltphilosophie gesetzt hat
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... Sie würden unserem Unternehmen, aber noch mehr der Wahrheit, daher einen
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großen Dienst leisten, wenn Sie gleich zu dem ersten Hefte eine Charakteristik
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Schellings lieferten. Sie sind gerade dazu der Mann, weil Sie der <I>umgekehrte
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Schelling </I>sind. Der - wir dürfen das Gute von unserem Gegner glauben
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- der aufrichtige Jugendgedanke Schellings, zu dessen Verwirklichung er indessen
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kein Zeug hatte als die Imagination, keine Energie als die Eitelkeit, keinen Treiber
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als das Opium, kein Organ als die Irritabilität eines weiblichen Rezeptionsvermögens,
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dieser aufrichtige Jugendgedanke Schellings, der bei ihm ein phantastischer Jugendtraum
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<A NAME="S63"></A><B>|63|</B> geblieben ist, er ist Ihnen zur Wahrheit, zur Wirklichkeit,
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zu männlichem Ernst geworden ... Ich halte Sie daher für den notwendigen,
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natürlichen, also durch Ihre Majestäten, die Natur und die Geschichte,
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berufenen Gegner Schellings.« Wie liebenswürdig ist dieser Brief geschrieben
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und wie hell leuchtet aus ihm die frohe Hoffnung eines großen Kampfes hervor!</P>
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<P>Feuerbach aber zauderte. Er hatte schon gegenüber Ruge das neue Unternehmen
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erst gelobt, dann aber abgelehnt; auch die Berufung auf sein »gallo-germanisches
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Prinzip« hatte ihn nicht bekehrt. In erster Reihe seine Schriften hatten den Zorn
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der Machthaber gereizt, so daß sie mit dem Polizeistock niederschlugen,
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was es in Deutschland noch an Freiheit des Philosophierens gab und die philosophische
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Opposition ins Ausland flüchten mußte, wenn sie sich nicht feige ergeben
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wollte.</P>
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<P>Das Ergeben war nicht die Sache Feuerbachs, aber so war es auch nicht der kecke
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Sprung in die Wogen, die um das deutsche Totenland brandeten. Der Tag, an dem
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Feuerbach die feurigen Worte, womit Marx um ihn warb, voll freundlichen Interesses
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zwar, aber doch ablehnend beantwortete, ist der schwarze Tag seines Lebens gewesen.
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Er vereinsamte nun auch geistig.</P>
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<P><A name="Z1"></A><SPAN class="top">[1]</SPAN> Karl Marx: Thesen über Feuerbach, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me03/me03_005.htm">Bd. 3, S. 5 ff.</A> <A href="fm03_015.htm#ZT1"><=</A></P>
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<P><A name="Z2"></A><SPAN class="top">[2]</SPAN> Karl Marx: Doktordissertation, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me40/me40_261.htm#S262">Ergänzungsband, 1. Teil (Band 40), S. 262.</A> <A href="fm03_015.htm#ZT2"><=</A></P>
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<P><A name="Z3"></A><SPAN class="top">[3]</SPAN> Karl Marx: Debatten über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me01/me01_028.htm#S45">Bd. 1, S. 45.</A> <A href="fm03_015.htm#ZT3"><=</A></P>
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<P><A name="Z4"></A><SPAN class="top">[4]</SPAN> Karl Marx: Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me01/me01_078.htm#S80">Bd. 1, S. 80/81.</A> <A href="fm03_015.htm#ZT4"><=</A></P>
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<P><A name="Z5"></A><SPAN class="top">[5]</SPAN> Karl Marx: Debatten über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me01/me01_028.htm#S70">Bd. 1, S. 70/71.</A> <A href="fm03_015.htm#ZT5"><=</A></P>
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<P><A name="Z6"></A><SPAN class="top">[6]</SPAN> Karl Marx: Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me01/me01_109.htm#S145">Bd. 1, S. 145.</A> <A href="fm03_015.htm#ZT6"><=</A></P>
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<P><A name="Z7"></A><SPAN class="top">[7]</SPAN> Karl Marx: Rechtfertigung des ++-Korrespondenten von der Mosel, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me01/me01_172.htm">Bd. 1, S. 172.</A> <A href="fm03_015.htm#ZT7"><=</A></P>
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<P><A name="Z8"></A><SPAN class="top">[8]</SPAN> Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me21/me21_265.htm#S272">Bd. 21, S. 272.</A> <A href="fm03_015.htm#ZT8"><=</A></P>
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<HR size="1" align="left" width="200">
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<P><SMALL>Pfad: »../fm/fm03«<BR>
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Verknüpfte Dateien: »<A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">../../css/format.css</A>«
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</SMALL>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><!-- #BeginEditable "link2a" --><A HREF="fm03_007.htm"><SMALL>1.
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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Mehring</SMALL></A></TD>
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