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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Franz Mehring: Karl Marx - Krimkrieg und Krise</TITLE>
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../default.htm"><SMALL>Franz
Mehring</SMALL></A></TD>
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<HR size="1">
<P><SMALL>Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR,
1960, S. <!-- #BeginEditable "Seitenzahlen" -->245-271<!-- #EndEditable -->.<BR>
1. Korrektur<BR>
Erstellt am 30.10.1999</SMALL></P>
<H2>Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens</H2>
<H1><!-- #BeginEditable "Titel" -->Neuntes Kapitel: Krimkrieg und Krise<!-- #EndEditable --></H1>
<hr size="1">
<!-- #BeginEditable "Text" -->
<H3 ALIGN="CENTER">1. Europ&auml;ische Politik<A name="Kap_1"></A></H3>
<P><B>|245|</B> Etwa zur selben Zeit, Ende 1853, als Marx durch das kleine Pamphlet
gegen Willich seinen Kampf mit der &raquo;demokratischen Emigrationsschwindelei und
Revolutionsmacherei&laquo; abschlo&szlig;, begann mit dem Krimkriege eine neue Periode
der europ&auml;ischen Politik, die f&uuml;r die n&auml;chsten Jahre in erster
Reihe seine Aufmerksamkeit fesselte.</P>
<P>Was er dar&uuml;ber zu sagen hatte, ist vornehmlich in seinen Aufs&auml;tzen
f&uuml;r die &raquo;New-York Daily Tribune&laquo; niedergelegt. So sehr ihn dies Blatt auf
die Stufe eines gew&ouml;hnlichen Zeitungskorrespondenten herabzudr&uuml;cken
suchte, so durfte Marx mit Recht sagen, da&szlig; er sich mit &raquo;eigentlicher Zeitungskorrespondenz
nur ausnahmsweise befa&szlig;t&laquo; habe. Er blieb nur sich selber treu, wenn er auch
die literarische Erwerbsarbeit zu adeln wu&szlig;te, indem er sie auf m&uuml;hsamen
Studien aufbaute und ihr dadurch einen dauernden Wert verlieh.</P>
<P>Diese Sch&auml;tze sind zum gro&szlig;en Teil noch ungehoben, und es wird einige
M&uuml;he kosten, sie ans Tageslicht zu f&ouml;rdern. Indem die &raquo;New-York Daily
Tribune&laquo; die Beitr&auml;ge, die Marx ihr lieferte, sozusagen als Rohmaterial behandelte,
sie nach ihrem Belieben dem Papierkorb &uuml;berantwortete oder auch unter ihrer
eigenen Flagge ver&ouml;ffentlichte und oft nur, wie Marx zornig sagte, den &raquo;Schund&laquo;
unter seinem Namen wiedergab, wird sich Marxens ganze Arbeit f&uuml;r das amerikanische
Blatt nicht mehr herstellen lassen, und soweit es noch m&ouml;glich ist, wird
es einer sorgsamen Pr&uuml;fung bed&uuml;rfen, um ihre Grenzen genau festzustellen.</P>
<P>Eine unentbehrliche Handhabe daf&uuml;r ist erst seit verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig
kurzer Zeit durch die Ver&ouml;ffentlichung des Briefwechsels zwischen Engels
und Marx gegeben. Aus ihm geht zum Beispiel hervor, da&szlig; die Artikelreihe
&uuml;ber die deutsche Revolution und Gegenrevolution, als deren Verfasser Marx
seit langem gegolten hat, &uuml;berwiegend von Engels verfa&szlig;t worden ist,
sowie da&szlig; dieser nicht nur die milit&auml;rischen Aufs&auml;tze f&uuml;r
die &raquo;New-York Daily Tribune&laquo; verfa&szlig;t hat, was l&auml;ngst bekannt war, sondern
auch sonst in umfassender Weise f&uuml;r das Blatt mitgearbeitet <A NAME="S246"></A><B>|246|*</B>
hat. Au&szlig;er der erw&auml;hnten Artikelreihe sind bisher die Aufs&auml;tze
&uuml;ber die orientalische Frage aus den Spalten der &raquo;New-York Daily Tribune&laquo;
gesammelt worden, aber diese Sammlung ist sowohl in dem, was sie enth&auml;lt
als auch in dem, was sie nicht enth&auml;lt, noch viel anfechtbarer als die andere,
bei der doch nur ein unrichtiger Verfasser vorausgesetzt worden ist.</P>
<P>Mit dieser kritischen Pr&uuml;fung w&auml;re aber nur der leichtere Teil der
Arbeit getan. So hoch Marx die publizistische Tagesarbeit zu heben wu&szlig;te,
so konnte er sie doch nicht &uuml;ber sich selbst herausheben. Auch das gr&ouml;&szlig;te
Genie kann nicht zweimal in der Woche, just mit dem f&auml;lligen Dampfer am Dienstag
oder Freitag, neue Entdeckungen machen oder neue Gedanken geb&auml;ren. Dabei
l&auml;uft immer, wie Engels einmal sagte, &raquo;reine &Auml;rmelsch&uuml;ttelei und
Aushelferei mit dem blo&szlig;en Ged&auml;chtnis&laquo; mitunter. Zudem ist die Tagesarbeit
immer von Tagesnachrichten und Tagesstimmungen abh&auml;ngig, von denen sie sich
nicht einmal befreien darf, ohne langweilig und ledern zu werden. Was w&auml;ren
die vier starken B&auml;nde des Briefwechsels zwischen Engels und Marx ohne die
hundert Widerspr&uuml;che, in denen sich die gro&szlig;en Richtlinien ihres Denkens
und K&auml;mpfens entwickeln!</P>
<P>Die gro&szlig;en Richtlinien ihrer europ&auml;ischen Politik, wie sie mit dem
Krimkriege einsetzten, sind aber heute schon vollkommen klar, auch ohne das massenhafte
Material, das noch in den Spalten der &raquo;New-York Daily Tribune&laquo; seiner Auferstehung
harrt. Man kann sie im gewissen Sinne eine Umkehr nennen. Die Verfasser des &raquo;Kommunistischen
Manifestes&laquo; richteten ihr Hauptaugenmerk auf Deutschland und so auch die &raquo;Neue
Rheinische Zeitung&laquo;. Dann trat diese Zeitung begeistert f&uuml;r die Unabh&auml;ngigkeitsk&auml;mpfe
der Polen, der Italiener, der Ungarn ein, und endlich verlangte sie den Krieg
gegen Ru&szlig;land als die starke Reserve der europ&auml;ischen Gegenrevolution,
was sie dann mehr und mehr zuspitzte in den Weltkrieg gegen England, mit dem erst
die soziale Revolution aus dem Reiche der Utopie in das Reich der Wirklichkeit
trete.</P>
<P>Die &raquo;englisch-russische Sklaverei&laquo;, die auf Europa laste, war nun der Punkt,
an den Marx seine europ&auml;ische Politik zur Zeit des Krimkrieges ankn&uuml;pfte.
Er begr&uuml;&szlig;te diesen Krieg, insoweit er das europ&auml;ische &Uuml;bergewicht
einzud&auml;mmen versprach, das der Zarismus durch die siegreiche Gegenrevolution
gewonnen hatte, aber er war nichts weniger als einverstanden mit der Art und Weise,
wie die Westm&auml;chte gegen Ru&szlig;land k&auml;mpften. Ebenso dachte Engels,
der den Krimkrieg eine einzige kolossale Kom&ouml;die der Irrungen nannte, bei
der man sich jeden Augenblick frage: Wer ist hier der Geprellte? Beide sahen in
dem Kriege, soweit <A NAME="S247"></A><B>|247|</B> ihn Frankreich und namentlich
England f&uuml;hrten, nur einen Scheinkrieg, trotz der Million Menschenleben und
der ungez&auml;hlten Millionen, die er an Geld kostete.</P>
<P>Er war es sicherlich insofern, als weder der falsche Bonaparte noch Lord Palmerston,
der englische Minister des Ausw&auml;rtigen, den russischen Kolo&szlig; in seinem
Lebensnerv zu treffen gedachten. Sobald sie sicher waren, da&szlig; &Ouml;sterreich
die russische Hauptmacht an der Westgrenze in Schach hielt, verlegten sie den
Krieg nach der Krim, um sich in die Festung Sewastopol zu verbei&szlig;en, deren
eine H&auml;lfte sie nach Jahr und Tag gl&uuml;cklich erobert hatten. An diesem
d&uuml;rftigen Lorbeer mu&szlig;ten sie sich gen&uuml;gen lassen und schlie&szlig;lich
von dem &raquo;besiegten&laquo; Ru&szlig;land die Erlaubnis &raquo;erbitten&laquo;, ihre Truppen ungest&ouml;rt
nach Hause zu verschiffen.</P>
<P>An dem falschen Bonaparte war es erkl&auml;rlich genug, weshalb er den Zaren
nicht zu einem Kampf auf Leben und Tod herauszufordern wagte, weniger an Palmerston,
den die festl&auml;ndischen Regierungen als revolution&auml;ren &raquo;Feuerbrand&laquo; f&uuml;rchteten
und die festl&auml;ndischen Liberalen als das Muster eines konstitutionell-liberalen
Ministers bewunderten. Marx l&ouml;ste das R&auml;tsel, indem er die Blaub&uuml;cher
und Parlamentsverhandlungen aus der ersten H&auml;lfte des Jahrhunderts, dar&uuml;ber
hinaus dann aber auch eine Reihe diplomatischer, im Britischen Museum niedergelegter
Berichte einer m&uuml;hsamen Pr&uuml;fung unterzog, um aus ihnen nachzuweisen,
da&szlig; seit der Zeit Peters des Gro&szlig;en bis auf die Tage des Krimkrieges
ein geheimes Zusammenwirken zwischen den Kabinetten von London und Petersburg
stattgefunden habe und da&szlig; namentlich Palmerston ein feiles Werkzeug der
zarischen Politik sei. Die Ergebnisse dieser Studien sind nicht unbestritten geblieben
und werden auch heute noch bestritten, namentlich was Palmerston anbetrifft, dessen
skrupellose Gesch&auml;ftspolitik mit ihren Halbheiten und Widerspr&uuml;chen
Marx unzweifelhaft viel treffender beurteilt hat als die festl&auml;ndischen Regierungen
und Liberalen, ohne da&szlig; sich daraus mit zwingender Notwendigkeit ergibt,
da&szlig; Palmerston von Ru&szlig;land gekauft gewesen sei. Aber wichtiger als
die Frage, ob Marx diesen Bogen gelegentlich &uuml;berspannt hat, ist die Tatsache,
da&szlig; er ihn fortan stets gespannt hielt und als eine unerl&auml;&szlig;liche
Aufgabe der Arbeiterklasse betrachtete, die Mysterien der internationalen Staatskunst
zu durchdringen und die diplomatischen Streiche der Regierungen zu verhindern
oder, wenn ihr das noch nicht m&ouml;glich sein sollte, zu denunzieren.<A name="ZT1"></A><A href="fm03_245.htm#Z1"><SPAN class="top">[1]</SPAN></A></P>
<P>Vor allem kam es ihm auf den unvers&ouml;hnlichen Kampf gegen die barbarische
Macht an, deren Haupt er in Petersburg sitzen und deren H&auml;nde er in allen
europ&auml;ischen Kabinetten w&uuml;hlen sah. Er sah in dem <A NAME="S248"></A><B>|248|</B>
Zarentum nicht nur die gro&szlig;e Hauptfestung der europ&auml;ischen Reaktion,
deren blo&szlig;e passive Existenz eine best&auml;ndige Drohung und Gefahr sei,
sondern auch den Hauptfeind, der durch seine unaufh&ouml;rlichen Einmischungen
in die Angelegenheiten des Westens die normale Entwicklung hemme und st&ouml;re,
zu dem Zwecke, sich geographische Stellungen zu erobern, die ihm die Herrschaft
&uuml;ber Europa sichern sollten und damit die Befreiung des europ&auml;ischen
Proletariats unm&ouml;glich machen w&uuml;rden. Das entscheidende Gewicht, das
Marx auf diesen Gesichtspunkt legte, hat von nun an in bedeutsamer Weise seine
Arbeiterpolitik beeinflu&szlig;t, viel st&auml;rker als schon in den Jahren der
Revolution.</P>
<P>Spann Marx damit nur einen Faden weiter, den er schon in der &raquo;Neuen Rheinischen
Zeitung&laquo; angekn&uuml;pft hatte, so traten f&uuml;r ihn und ebenso f&uuml;r Engels
die Nationen, f&uuml;r deren Unabh&auml;ngigkeitsk&auml;mpfe sich dieses Blatt
begeistert hatte, sehr in den Hintergrund. Nicht als ob beide je aufgeh&ouml;rt
h&auml;tten, die Unabh&auml;ngigkeit Polens, Ungarns und Italiens sowohl als ein
Recht dieser L&auml;nder, wie auch als das Interesse Deutschlands und Europas
zu vertreten. Aber schon im Jahre 1851 gab Engels den alten Lieblingen den trockenen
Laufpa&szlig;: &raquo;Den Italienern, Polen und Ungarn werde ich deutlich genug sagen,
da&szlig; sie in allen modernen Fragen das Maul zu halten haben.&laquo; Einige Monate
darauf sagte er den Polen, da&szlig; sie eine aufgel&ouml;ste Nation seien, nur
so lange noch brauchbar als Mittel, bis Ru&szlig;land selbst in die Revolution
hineingerissen sei. Die Polen h&auml;tten in der Geschichte nie etwas anderes
getan, als tapfere krakeels&uuml;chtige Dummheit gespielt. Selbst gegen Ru&szlig;land
h&auml;tten sie nie etwas von historischer Bedeutung getan, w&auml;hrend Ru&szlig;land
wirklich progressiv gegen den Osten sei. Die russische Herrschaft mit all ihrer
Gemeinheit, all ihrem slawischen Schmutz, sei zivilisierend f&uuml;r das Schwarze
und Kaspische Meer und Zentralasien, f&uuml;r Baschkiren und Tataren, und Ru&szlig;land
habe viel mehr Bildungselemente und besonders industrielle Elemente in sich aufgenommen
als das seiner ganzen Natur nach chevaleresk-b&auml;renh&auml;uternde Polen. S&auml;tze,
die freilich stark von der Leidenschaft der Emigrantenk&auml;mpfe gef&auml;rbt
sind. Sp&auml;ter hat Engels wieder viel milder &uuml;ber Polen geurteilt und
noch in seinen letzten Lebensjahren anerkannt, da&szlig; es wenigstens zweimal
die europ&auml;ische Zivilisation gerettet habe: durch seine Erhebung in den Jahren
1792 bis 1793 und durch seine Revolution von 1830 bis 1831.</P>
<P>Marx selbst aber schrieb dem gefeierten Helden der italienischen Revolution
ins Stammbuch: &raquo;Mazzini kennt nur die St&auml;dte mit ihrem liberalen Adel und
ihren aufgekl&auml;rten B&uuml;rgern. Die materiellen Bed&uuml;rfnisse des italienischen
Landvolkes - so ausgesogen und systematisch <A NAME="S249"></A><B>|249|</B> entnervt
und verdummt wie das irische - liegen nat&uuml;rlich unter dem Phrasenhimmel seiner
kosmopolitisch-neokatholisch-ideologischen Manifeste. Aber allerdings geh&ouml;rt
Mut dazu, den B&uuml;rgern und dem Adel zu erkl&auml;ren, da&szlig; der erste
Schritt zur Unabh&auml;ngigkeit Italiens die v&ouml;llige Emanzipation der Bauern
und die Verwandlung ihres Halbpachtsystems in freies b&uuml;rgerliches Eigentum
ist.&laquo; Und dem prahlerisch in London sich aufspielenden Kossuth lie&szlig; Marx
in einem Offenen Briefe seines Freundes Ernest Jones erkl&auml;ren, da&szlig;
die europ&auml;ischen Revolutionen den Kreuzzug der Arbeit gegen das Kapital bedeuteten.
Sie k&ouml;nnten nicht auf das geistige und soziale Niveau eines obskuren, halb
barbarischen Volkes wie die Magyaren herabgedr&uuml;ckt werden, die noch in der
Halbzivilisation des sechzehnten Jahrhunderts steckten und sich tats&auml;chlich
einbildeten, sie d&uuml;rften die gro&szlig;e Erleuchtung Deutschlands und Frankreichs
kommandieren und der Leichtgl&auml;ubigkeit Englands ein erschwindeltes Hoch ablocken.</P>
<P>Am weitesten jedoch entfernte sich Marx von den &Uuml;berlieferungen der &raquo;Neuen
Rheinischen Zeitung&laquo;, indem er auf Deutschland nicht nur nicht mehr sein Hauptaugenmerk
richtete, sondern es so ziemlich aus seinem politischen Gesichtskreise verbannte.
Deutschland spielte damals freilich eine ungemein tr&uuml;bselige Rolle in der
europ&auml;ischen Politik und konnte als russisches Paschalik gelten, aber wenn
es sich dadurch einigerma&szlig;en erkl&auml;rt, so war es doch in mancher Beziehung
verh&auml;ngnisvoll, da&szlig; Marx - und dasselbe gilt von Engels - eine Reihe
von Jahren jede engere F&uuml;hlung mit der deutschen Entwicklung verlor. Vor
allem die Mi&szlig;achtung, die beide als annektierte Rheinl&auml;nder von jeher
gegen den preu&szlig;ischen Staat empfunden hatten, steigerte sich in den Tagen
Manteuffel-Westphalens auf einen Grad, der in starkem Mi&szlig;verh&auml;ltnis
zu ihrem Scharfblick f&uuml;r die reale Lage der Dinge stand.</P>
<P>Ein beredtes Zeugnis daf&uuml;r legt besonders auch der eine Ausnahmefall ab,
wo Marx die preu&szlig;ischen Zust&auml;nde der Zeit seiner Beachtung w&uuml;rdigte.
Es geschah gegen Ende des Jahres 1856, als Preu&szlig;en sich wegen des Neuenburger
Handels mit der Schweiz in die Haare geriet. Der Zwischenfall veranla&szlig;te
Marx, wie er am 2. Dezember 1856 an Engels schrieb, seinen &raquo;h&ouml;chst mangelhaften
Kenntnissen von der preu&szlig;ischen Geschichte&laquo; nachzuhelfen, wobei er das Ergebnis
seiner Studien dahin zusammenfa&szlig;te, etwas Lausigeres habe die Weltgeschichte
nie produziert. Was er im Anschlu&szlig; daran in dem Briefe selbst ausf&uuml;hrte
und einige Tage darauf im &raquo;Peoples Paper&laquo;, einem chartistischen Organ, ausf&uuml;hrlicher
wiederholte, zeigt ihn nicht entfernt auf der H&ouml;he seiner sonstigen Geschichtsauffassung,
streift vielmehr bedenklich an <A NAME="S250"></A><B>|250|</B> jene historischen
Niederungen biederm&auml;nnisch scheltender Demokratie, die &uuml;berwunden zu
haben sonst gerade sein Verdienst ist.</P>
<P>Harter Bissen, wie der preu&szlig;ische Staat ohne Zweifel f&uuml;r jeden Kulturmenschen
war, lie&szlig; er sich ebendeshalb doch nicht aufl&ouml;sen durch das Scheidewasser
des Spotts &uuml;ber das &raquo;g&ouml;ttliche Recht der Hohenzollern&laquo;, &uuml;ber ihre
drei immer wiederkehrenden &raquo;Charaktermasken&laquo;: Pietist, Unteroffizier, Hanswurst,
&uuml;ber die preu&szlig;ische Geschichte als eine &raquo;unsaubere Familienchronik&laquo;
verglichen mit dem &raquo;diabolischen Epos&laquo; der &ouml;sterreichischen Geschichte und
&auml;hnliches mehr, was h&ouml;chstens doch nur das Warum erkl&auml;rte, aber
das Warum des Warum noch ganz im ungewissen lie&szlig;.</P>
<H3 ALIGN="CENTER">2. David Urquhart. Harney und Jones<A name="Kap_2"></A></H3>
<P>Zu gleicher Zeit und in gleichem Sinne wie an der &raquo;New-York Daily Tribune&laquo;
arbeitete Marx an den urquhartistischen und den chartistischen Organen mit.</P>
<P>David Urquhart war ein englischer Diplomat, der sich durch die genaue Kenntnis
und unabl&auml;ssige Bek&auml;mpfung der russischen Weltherrschaftspl&auml;ne
gro&szlig;e Verdienste erworben, aber diese Verdienste durch einen fanatischen
Russenha&szlig; und eine fanatische T&uuml;rkenschw&auml;rmerei wieder geschm&auml;lert
hat. Marx ist oft ein Urquhartit genannt worden, aber sehr mit Unrecht; man kann
eher sagen, da&szlig; er wie Engels sich mehr an den n&auml;rrischen &Uuml;bertreibungen
des Mannes gesto&szlig;en als seine wirklichen Leistungen gesch&auml;tzt habe.
Gleich wo er zum ersten Male erw&auml;hnt wird, schrieb Engels im M&auml;rz 1853:
&raquo;Ich habe jetzt den Urquhart zu Hause ... der den Palmerston f&uuml;r von Ru&szlig;land
bezahlt angibt. Die Sache erkl&auml;rt sich einfach: der Kerl ist ein keltischer
Schotte mit s&auml;chsisch-schottischer Bildung, der Tendenz nach Romantiker,
der Bildung nach freetrader [Mehring &uuml;bersetzt: Freih&auml;ndler]. Dieser
Kerl ging als Philhellene nach Griechenland, und nachdem er sich drei Jahre mit
den T&uuml;rken herumgeschlagen, ging er in die T&uuml;rkei und begeisterte sich
f&uuml;r ebendieselben T&uuml;rken. Er schw&auml;rmt f&uuml;r den Islam und sein
Prinzip ist: wenn ich nicht Kalvinist w&auml;re, so k&ouml;nnte ich nur Mohammedaner
sein.&laquo; Im ganzen fand Engels das Buch Urquharts freilich h&ouml;chst am&uuml;sant.</P>
<P>Der Ber&uuml;hrungspunkt zwischen Marx und Urquhart war der Kampf gegen Palmerston.
Ein Artikel gegen diesen Minister, den Marx in der &raquo;New-York Daily Tribune&laquo; ver&ouml;ffentlicht
und ein Glasgower Blatt nachgedruckt <A NAME="S251"></A><B>|251|*</B> hatte, erregte
die Aufmerksamkeit Urquharts, und er hatte im Februar 1854 eine Zusammenkunft
mit Marx, wobei er diesen mit dem Kompliment empfing, seine Artikel seien so,
als ob ein T&uuml;rke sie geschrieben h&auml;tte. Als Marx darauf erkl&auml;rte,
da&szlig; er &raquo;Revolutionist&laquo; sei, fand sich Urquhart sehr entt&auml;uscht, denn
es geh&ouml;rte zu seinen Schrullen, da&szlig; die europ&auml;ischen Revolution&auml;re
bewu&szlig;te oder unbewu&szlig;te Werkzeuge des Zarismus seien, um den europ&auml;ischen
Regierungen Schwierigkeiten zu bereiten. &raquo;Er ist ein kompletter Monoman&laquo;, schrieb
Marx nach dieser Unterredung an Engels. Er stimme in nichts mit ihm &uuml;berein,
wie er ihm erkl&auml;rt habe, au&szlig;er Palmerston, und zu diesem Punkt habe
Urquhart ihm nicht verholfen.</P>
<P>Man wird nun freilich diese vertraulichen &Auml;u&szlig;erungen nicht allzusehr
pressen d&uuml;rfen. &Ouml;ffentlich hat Marx bei allen kritischen Vorbehalten
die Verdienste Urquharts wiederholt anerkannt und auch kein Hehl daraus gemacht,
da&szlig; er von Urquhart, wenn auch nicht &uuml;berzeugt, so doch angeregt worden
sei. Er nahm deshalb auch keinen Anstand, f&uuml;r die Organe Urquharts, namentlich
die &raquo;Free Press&laquo; in London, gelegentliche Beitr&auml;ge zu liefern und die Verbreitung
mehrerer seiner Aufs&auml;tze aus der &raquo;New-York Daily Tribune&laquo; in Form von Flugschriften
zu gestatten. Diese Palmerston-Pamphlets wurden in verschiedenen Auflagen zu 15.000
bis 30.000 Exemplaren vertrieben und erregten gro&szlig;es Aufsehen. Aber sonst
hat Marx bei dem Schotten Urquhart so wenig Seide gesponnen wie bei dem Yankee
Dana.</P>
<P>Eine dauernde Verbindung zwischen Marx und Urquhart war schon dadurch ausgeschlossen,
da&szlig; Marx zum Chartismus hielt, den Urquhart doppelt ha&szlig;te, als Freih&auml;ndler
und als Russenfeind, der in jeder revolution&auml;ren Bewegung den Rubel rollen
h&ouml;rte. Von der schweren Niederlage, die er am 10. April 1848 erlitten hatte,
hat sich der Chartismus nicht mehr erholt, aber solange seine Reste noch um neues
Leben rangen, haben Engels und Marx sie tapfer und treu unterst&uuml;tzt, namentlich
uneigenn&uuml;tzige Mitarbeit an den Organen geleistet, die George Julian Harney
und Ernest Jones in den f&uuml;nfziger Jahren herausgaben, Harney in rascher Folge
hintereinander den &raquo;Red Republican&laquo;, den &raquo;Friend of the People&laquo; und die &raquo;Democratic
Review&laquo;, Jones die &raquo;Notes to the People&laquo; und &raquo;The Peoples Paper&laquo;, das am l&auml;ngsten
dauerte, bis zum Jahre 1858.</P>
<P>Harney und Jones geh&ouml;rten zur revolution&auml;ren Fraktion der Chartisten
und waren unter ihnen auch wohl am freiesten von aller insularen Beschr&auml;nktheit;
in der internationalen Verbindung der Fraternal Democrats galten sie als die leitenden
Geister. Harney war ein Seemannskind <A NAME="S252"></A><B>|252|*</B> und in proletarischen
Verh&auml;ltnissen aufgewachsen; er hatte sich selbst an der revolution&auml;ren
Literatur Frankreichs geschult und sah namentlich in Marat sein Muster. Ein Jahr
&auml;lter als Marx, sa&szlig; er schon zur Zeit, wo dieser die &raquo;Rheinische Zeitung&laquo;
leitete, in der Redaktion des &raquo;Northern Star&laquo;, des chartistischen Hauptorgans.
Hier suchte ihn im Jahre 1843 Engels auf, &raquo;ein schlanker, junger Mann von fast
knabenhafter Jugendlichkeit, der schon damals ein merkw&uuml;rdig korrektes Englisch
sprach&laquo;. 1847 lernte Harney auch Marx kennen und schlo&szlig; sich ihm begeistert
an.</P>
<P>In seinem &raquo;Red Republican&laquo; brachte er eine englische &Uuml;bersetzung des &raquo;Kommunistischen
Manifestes&laquo; mit der Randnote, es sei das revolution&auml;rste Dokument, das der
Welt je gegeben worden sei, und in seiner &raquo;Democratic Review&laquo; &uuml;bersetzte
er die Aufs&auml;tze der &raquo;Neuen Rheinischen Revue&laquo; &uuml;ber die franz&ouml;sische
Revolution als die &raquo;wahre Kritik&laquo; der franz&ouml;sischen Aff&auml;ren. In den
Emigrantenk&auml;mpfen kam er dann doch zu seiner alten Liebe zur&uuml;ck und
geriet in heftigen Zwist mit Jones nicht minder als mit Marx und Engels. Bald
darauf siedelte er nach der Insel Jersey und dann nach den Vereinigten Staaten
&uuml;ber, wo ihn Engels noch im Jahre 1888 besucht hat. Gleich darauf kehrte
Harney nach England zur&uuml;ck, und hier ist er in hohem Alter als letzter Zeuge
einer gro&szlig;en Zeit gestorben.</P>
<P>Ernest Jones stammte aus einem alten normannischen Geschlecht, war aber in
Deutschland geboren und erzogen, wo sein Vater als milit&auml;rischer Begleiter
des Herzogs von Cumberland lebte, des sp&auml;teren K&ouml;nigs Ernst August von
Hannover. Dieser erzreaktion&auml;re W&uuml;stling, dem die englische Presse jedes
Verbrechen mit Ausnahme des Selbstmordes nachsagte, hat den kleinen Ernest aus
der Taufe gehoben, ohne da&szlig; diese Patenschaft und die h&ouml;fischen Beziehungen
seiner Familie auf ihn abgef&auml;rbt h&auml;tten. Schon als Knabe bekundete er
einen unb&auml;ndigen Freiheitssinn, und als Mann hat er allen Versuchungen widerstanden,
ihn in goldenen Ketten einzufangen. Er z&auml;hlte etwa zwanzig Jahre, als seine
Familie nach England zur&uuml;ckkehrte, wo er sich dem Rechtsstudium widmete und
zur Advokatur zugelassen wurde. Er opferte aber alle Aussichten, die ihm seine
gl&auml;nzenden F&auml;higkeiten und die aristokratischen Verbindungen seiner
Familie er&ouml;ffneten, um sich der chartistischen Sache zu widmen, die er mit
so gl&uuml;hendem Eifer vertrat, da&szlig; er im Jahre 1848 zu einer zweij&auml;hrigen
Gef&auml;ngnisstrafe verurteilt wurde. Zur Strafe f&uuml;r den Verrat an seiner
Klasse wurde er in der Haft als gemeiner Str&auml;fling behandelt, verlie&szlig;
den Kerker aber im Jahre 1850 g&auml;nzlich ungebessert und hat vom Sommer 1850
ab, ziemlich zwei Jahrzehnte <A NAME="S253"></A><B>|253|*</B> lang, nahe mit Marx
und Engels verkehrt, zwischen denen er im Alter stand.</P>
<P>Ganz ohne Tr&uuml;bungen ist freilich auch diese Freundschaft nicht geblieben:
Tr&uuml;bungen &auml;hnlicher Art, wie sie in der Freundschaft mit Freiligrath,
mit dem Jones die dichterische Begabung teilte, oder auch mit Lassalle eintraten,
&uuml;ber den Marx &auml;hnlich, nur noch ungleich sch&auml;rfer urteilte, wie
wenn er von Jones 1855 schrieb: &raquo;Bei aller Energie, Ausdauer und T&auml;tigkeit,
die man an Jones anerkennen mu&szlig;, verdirbt er alles durch Marktschreierei,
taktloses Haschen nach Agitationspr&auml;texten [Mehring &uuml;bersetzt: -vorw&auml;nden]
und Unruhe, die Zeit zu &uuml;berspringen.&laquo; Auch sp&auml;ter hat es an harten
Zusammenst&ouml;&szlig;en nicht gefehlt, als die chartistische Agitation unaufhaltsam
versandete und Jones sich dem b&uuml;rgerlichen Radikalismus n&auml;herte.</P>
<P>Aber im Grunde blieb es eine aufrichtige und echte Freundschaft. Jones lebte
zuletzt als Advokat in Manchester und starb 1869 unerwartet, noch in der vollen
Kraft des Mannesalters; auf einem eiligen Zettel sandte Engels die Trauerkunde
nach London: &raquo;Das ist wieder einer von den Alten!&laquo; Marx antwortete: &raquo;Die Nachricht
mit E. Jones hat bei uns im Haus nat&uuml;rlich tiefe Best&uuml;rzung erregt,
da er einer der wenigen alten Freunde.&laquo; Engels meldete dann noch, Jones sei unter
einer enormen Prozession auf demselben Kirchhof begraben worden, wo schon einer
ihrer Getreuen, Wilhelm Wolff, ruhte. Es sei wirklich schade um ihn; seine b&uuml;rgerlichen
Phrasen seien doch nur Heuchelei, und unter den Politikern sei er der einzige
gebildete Engl&auml;nder gewesen, der im Grunde ganz auf ihrer Seite gestanden
habe.</P>
<H3 ALIGN="CENTER">3. Familie und Freunde<A name="Kap_3"></A></H3>
<P>Von allen politischen Verbindungen hielt sich Marx in diesen Jahren fern, ja
fast von aller Gesellschaft. Er hatte sich v&ouml;llig in die Studierstube zur&uuml;ckgezogen,
die er nur verlie&szlig;, um seiner Familie zu leben, die sich im Januar 1855
um ein T&ouml;chterchen Eleanor vermehrte.</P>
<P>Er war ein gro&szlig;er Kinderfreund wie Engels auch, und wenn er je seiner
rastlosen Arbeit eine Stunde abzwackte, so war es, um mit seinen Kindern zu spielen.
Sie hingen mit abg&ouml;ttischer Liebe an ihm, obgleich oder auch weil er auf
alle v&auml;terliche Autorit&auml;t verzichtete; sie gingen mit ihm wie mit einem
Kameraden um und nannten ihn &raquo;Mohr&laquo;, mit einem Spitznamen, den ihm seine dunkle
Haar- und Hautfarbe eingetragen <A NAME="S254"></A><B>|254|*</B> hatte. &raquo;Die Kinder
m&uuml;ssen die Eltern erziehen&laquo;, pflegte er zu sagen. Vor allem verboten sie
ihm alle Sonntagsarbeit; am Sonntag mu&szlig;te er ihnen ganz geh&ouml;ren, und
die sonnt&auml;glichen Ausfl&uuml;ge aufs Land, wo in einfachen Schenken gerastet
wurde, um Ingwerbier zu trinken und Brot mit K&auml;se zu verspeisen, waren die
sp&auml;rlichen Sonnenblicke zwischen den schweren Wolken, die immer &uuml;ber
dem Hause hingen.</P>
<P>Mit besonderer Vorliebe richteten sich diese Ausfl&uuml;ge nach Hampstead Heath,
der Heide von Hampstead, einem unbebauten, mit Baumgruppen und Stachelginster
bewachsenen H&uuml;gelstrich im Norden Londons. Liebknecht hat diese Sonntagsfahrten
sehr anmutig beschrieben. Die Heide ist heute nicht mehr das, was sie vor sechzig
Jahren war, aber von dem alten Wirtshaus, Jack Straws Castle, an dessen Tische
Marx oft gesessen hat, hat man noch immer einen pr&auml;chtigen Blick &uuml;ber
sie, mit ihrem malerischen Wechsel von Berg und Tal, namentlich wenn sie an Sonntagen
von fr&ouml;hlichen Menschen belebt ist. Im S&uuml;den die Riesenstadt mit ihren
H&auml;usermassen, &uuml;berragt von der Kuppel der St. Paulskathedrale und den
Westminstert&uuml;rmen, in der d&auml;mmernden Ferne die H&uuml;gel von Surrey,
im Norden ein dichtbev&ouml;lkerter fruchtbarer Landstrich, mit zahlreichen D&ouml;rfern
&uuml;bers&auml;et, im Westen der Schwesterh&uuml;gel von Highgate, wo Marx den
ewigen Schlaf schl&auml;ft.</P>
<P>In sein bescheidenes Familiengl&uuml;ck fuhr ihm nun aber ein z&uuml;ndender
Blitz; am Karfreitag des Jahres 1855 wurde ihm sein einziger Sohn durch den Tod
entrissen, der etwa neunj&auml;hrige Edgar oder &raquo;Musch&laquo;, wie er mit einem Kosenamen
in der Familie genannt wurde. Der Knabe, der schon eine reiche Begabung verriet,
war der allgemeine Liebling. &raquo;Ein so trauriger, entsetzlicher Verlust, da&szlig;
ich gar nicht sagen kann, wie mir der Fall ans Herz gegriffen hat&laquo;, schrieb Freiligrath
in die Heimat.</P>
<P>Herzzerrei&szlig;end klang es aus den Briefen, in denen Marx &uuml;ber Krankheit
und Tod an Engels berichtete. Am 30. M&auml;rz schrieb er: &raquo;Meine Frau war seit
einer Woche so krank wie nie vorher vor geistiger Erregung. Mir selbst blutet
das Herz und brennt der Kopf, obgleich ich nat&uuml;rlich Haltung behaupten mu&szlig;.
Das Kind verleugnet w&auml;hrend der Krankheit keinen Augenblick seinen originellen,
gutm&uuml;tigen und zugleich selbst&auml;ndigen Charakter.&laquo; Und am 6. April: &raquo;Der
arme Musch ist nicht mehr. Er entschlief (im w&ouml;rtlichen Sinne) in meinen
Armen heute zwischen 5 und 6 Uhr. Ich werde nie vergessen, wie Deine Freundschaft
diese schreckliche Zeit uns erleichtert hat. Meinen Schmerz um das Kind begreifst
Du.&laquo; Und am 12. April: &raquo;Das Haus ist nat&uuml;rlich ganz ver&ouml;det und verwaist
seit dem Tode des teuren Kindes, das seine belebende <A NAME="S255"></A><B>|255|*</B>
Seele war. Es ist unbeschreiblich, wie das Kind uns &uuml;berall fehlt. Ich habe
schon allerlei Pech durchgemacht, aber erst jetzt wei&szlig; ich, was ein wirkliches
Ungl&uuml;ck ist ... Unter all den furchtbaren Qualen, die ich in diesen Tagen
durchgemacht habe, hat mich immer der Gedanke an Dich und Deine Freundschaft aufrechtgehalten
und die Hoffnung, da&szlig; wir noch etwas Vern&uuml;nftiges in der Welt zusammen
zu tun haben.&laquo;</P>
<P>Es dauerte lange, ehe die Wunde auch nur zu vernarben begann. Auf einen Trostbrief
Lassalles antwortete Marx am 28. Juli: &raquo;Baco sagt, da&szlig; wirklich bedeutende
Menschen so viel Relationen [Mehring &uuml;bersetzt: Beziehungen] zur Natur und
der Welt haben, so viele Gegenst&auml;nde des Interesses, da&szlig; sie jeden
Verlust leicht verschmerzen. Ich geh&ouml;re nicht zu diesen bedeutenden Menschen.
Der Tod meines Kindes hat mir Herz und Hirn tief ersch&uuml;ttert, und ich f&uuml;hle
den Verlust noch so frisch wie am ersten Tag. Meine arme Frau ist auch v&ouml;llig
niedergebrochen.&laquo; Und Freiligrath schrieb am 6. Oktober an Marx: &raquo;Da&szlig; Dein
Verlust Dich noch immer nicht losl&auml;&szlig;t, geht mir unendlich nahe. Da
l&auml;&szlig;t sich nichts tun und nichts raten. Ich begreife und ich ehre Deinen
Schmerz - aber suche ihn zu bemeistern, damit er Deiner nicht Meister wird. Du
begehst damit keinen Verrat am Ged&auml;chtnis Deines lieben Kindes.&laquo;</P>
<P>Der Tod des kleinen Edgar war der Gipfel fortw&auml;hrender Krankheiten, die
seit ein paar Jahren in der Familie eingerissen waren, und seit dem Fr&uuml;hjahr
auch Marx selbst ergriffen hatten, um ihn v&ouml;llig nie wieder loszulassen.
Haupts&auml;chlich qu&auml;lte ihn ein Leberleiden, das er von seinem Vater ererbt
zu haben glaubte. Aber viel trug zu den immer schlechteren Gesundheitszust&auml;nden
auch die elende Wohnung und das ungesunde Viertel bei, worin sie lag. Im Sommer
1854 w&uuml;tete hier die Cholera besonders arg, angeblich weil die gleichzeitig
gegrabenen Abfuhrkan&auml;le durch die Sch&auml;chte getrieben wurden, in denen
die an der Pest von 1665 Gestorbenen begraben worden waren. Der Arzt dr&auml;ngte,
&raquo;den Bannkreis von Soho Square&laquo; zu verlassen, dessen Luft Marx seit Jahren ununterbrochen
eingeatmet hatte. Ein neuer Trauerfall in der Familie schuf die M&ouml;glichkeit
dazu. Im Sommer 1856 war Frau Marx mit den drei T&ouml;chtern nach Trier gereist,
um ihre alte Mutter noch einmal zu sehen. Sie kam aber gerade nur noch zur rechten
Zeit, um ihr nach elft&auml;gigen Leiden die m&uuml;den Augen zuzudr&uuml;cken.</P>
<P>Ihre Hinterlassenschaft war gering, jedoch ein paar hundert Taler fielen auf
den Anteil der Frau Marx, und dazu kam, wie es scheint, noch eine kleine Erbschaft
von der schottischen Verwandtschaft her. So konnte die Familie im Herbst 1856
in ein H&auml;uschen &uuml;bersiedeln, nicht weit von <A NAME="S256"></A><B>|256|</B>
ihrem geliebten Hampstead Heath: 9 Graftonterrace, Maitlandpark, Haverstockhill.
Die Jahresmiete betrug 36 Pfund. &raquo;Es ist eine wahrhaft prinzliche Wohnung, verglichen
mit unseren fr&uuml;heren L&ouml;chern&laquo;, schrieb Frau Marx einer Freundin, &raquo;und
obgleich die s&auml;mtlichen Einrichtungen vom Kopf bis zum Fu&szlig; nicht viel
&uuml;ber 40 Pfund kamen (second hand rubbish spielte eine gro&szlig;e Rolle dabei),
so kam ich mir im Anfang in unserem jungen Parlour ganz gro&szlig;artig vor. S&auml;mtliche
W&auml;sche und sonstige &Uuml;berreste fr&uuml;herer Gr&ouml;&szlig;e wurden
aus des &#155;Onkels&#139; H&auml;nden befreit, und ich z&auml;hlte mit Lust einmal wieder
die Damastservietten, die noch alten schottischen Ursprungs waren. Obgleich die
Herrlichkeit nicht lange dauerte, denn bald mu&szlig;te ein St&uuml;ck nach dem
andern wieder ins &#155;Pop-Haus&#139; wandern (so nennen die Kinder den geheimnisvollen
Drei-Kugel-Shop), so freuten wir uns doch einmal recht in unserer b&uuml;rgerlichen
Beh&auml;bigkeit.&laquo; Es war ein nur allzu kurzes Aufatmen.</P>
<P>Auch unter den Freunden hielt der Tod seine Ernte. Daniels starb im Herbst
1855, Weerth im Januar 1856 in Haiti, Konrad Schramm Anfang 1858 auf der Insel
Jersey. Ihnen allen wenigstens kurze Nachrufe in der Presse zu schaffen, bem&uuml;hten
sich Marx und Engels eifrig, aber ohne Erfolg. Sie klagten oft, da&szlig; die
alte Garde zusammenschmelze und kein neuer Zuflu&szlig; k&auml;me. So sehr ihnen
ihre &raquo;&ouml;ffentliche Isolation&laquo; anfangs gefallen hatte, und so felsenfest die
Siegeszuversicht war, womit die beiden Einsamen an der europ&auml;ischen Politik
teilnahmen, als w&auml;ren sie selbst eine europ&auml;ische Macht, so waren sie
doch viel zu leidenschaftliche Politiker, um nicht auf die Dauer den Mangel einer
Partei zu empfinden, denn ihre wenigen Anh&auml;nger waren, wie Marx einmal selbst
sagte, keine Partei. Und unter ihnen war keiner, der an den Hochwuchs ihrer Gedanken
heranreichte, bis auf den einen, gegen den sie ihr Mi&szlig;trauen niemals ganz
&uuml;berwinden konnten.</P>
<P>In London war Liebknecht t&auml;glicher Gast bei Marx, namentlich solange dieser
in der Deanstreet hauste, aber er hatte in seinem Dachk&auml;mmerchen hart mit
der Not des Lebens zu k&auml;mpfen, und das gleiche galt von den alten Gef&auml;hrten
des Kommunistenbundes, von Le&szlig;ner und dem Tischler Lochner, von Eccarius
und dem &raquo;reuigen S&uuml;nder&laquo; Schapper. Andere waren zerstreut: Dronke als Kaufmann
in Liverpool und dann in Glasgow, Imandt als Professor in Dundee, Schily als Advokat
in Paris, wo auch Reinhardt, der Sekret&auml;r Heines in dessen letzten Lebensjahren,
zum engeren Kreise der Getreuen z&auml;hlte.</P>
<P>Aber auch unter den Allgetreuesten erlahmte der politische Kampf. Wilhelm Wolff,
der sich in Manchester durch Stundengeben ertr&auml;glich ern&auml;hrte, blieb
ganz der alte, wie Frau Marx einmal von ihm schrieb: <A NAME="S257"></A><B>|257|</B>
&raquo;die kreuzbrave, t&uuml;chtige, plebejische Natur&laquo;, nur da&szlig; mit den Jahren
die Grillen des Junggesellen wuchsen und seine &raquo;Hauptk&auml;mpfe&laquo; seiner Wirtin
um Tee und Zucker und Kohlen galten. Geistig ist er den alten Freunden im Exil
nicht mehr viel gewesen. So auch blieb Freiligrath der alte zuverl&auml;ssige
Freund; ja seitdem er im Sommer 1856 die Londoner Agentur einer Schweizer Bank
&uuml;bertragen erhalten hatte, hat er die gr&ouml;&szlig;ere M&ouml;glichkeit
finanzieller Hilfe f&uuml;r Marx um so reichlicher ausgen&uuml;tzt, ihm namentlich
die Honorare der &raquo;New-York Daily Tribune&laquo;, die sich oft genug zum &Uuml;berflu&szlig;
noch als saumselige Zahlerin erwies, so rasch wie m&ouml;glich fl&uuml;ssig gemacht.
Auch in seinen revolution&auml;ren &Uuml;berzeugungen blieb Freiligrath unersch&uuml;ttert,
aber dem Parteikampf entfremdete er sich mehr und mehr. Mochte er auch aus ehrlicher
&Uuml;berzeugung sagen, da&szlig; sich der Revolution&auml;r nirgends mit Anstand
begraben lassen k&ouml;nne als im Exil, so konnte der deutsche Dichter doch des
Exils nicht froh werden. Da er des geliebten Weibes Heimweh sah und der Kinderschar
den Weihnachtsbaum auf fremder Erde anz&uuml;nden mu&szlig;te, rann ihm der Quell
der Dichtung selten und sp&auml;rlich. Er litt darunter und empfand es wohlt&auml;tig,
da&szlig; die Heimat sich allm&auml;hlich ihres ber&uuml;hmten Dichters wieder
erinnerte.</P>
<P>Und nun die lange Reihe der &raquo;lebendig Verstorbenen&laquo;! Es traf sich, da&szlig;
Marx in London mit manchen Genossen seiner philosophischen Fr&uuml;hzeit zusammentraf:
mit Eduard Meyen, der immer noch die alte Giftkr&ouml;te war, mit Faucher, der
als Sekret&auml;r Cobdens freih&auml;ndlerische &raquo;Geschichte zu machen&laquo; beanspruchte,
mit Edgar Bauer, der umgekehrt den kommunistischen Agitator spielte, von Marx
aber immer nur der &raquo;Clown&laquo; genannt wurde. Als Bruno Bauer zum Besuche des Bruders
auf l&auml;ngere Zeit nach London kam, ist auch Marx wiederholt mit dem alten
Jugendfreunde zusammengetroffen. Da Bruno Bauer f&uuml;r die russische Urkraft
schw&auml;rmte, dagegen im Proletariat nur &raquo;P&ouml;bel&laquo; sah, der mit Gewalt und
List zu leiten sei und im &auml;u&szlig;ersten Fall sich mit einem Silbergroschen
Zulage abspeisen lasse, so war nat&uuml;rlich jede Verst&auml;ndigung ausgeschlossen.
Marx fand ihn sichtbar gealtert, mit gewachsener Stirn und den Manieren eines
pedantischen Professors, aber &uuml;ber seine Unterhaltungen mit dem &raquo;vergn&uuml;glichen
alten Herrn&laquo; berichtete er doch ausf&uuml;hrlich an Engels.</P>
<P>Allein auch aus einer j&uuml;ngeren Vergangenheit waren der &raquo;lebendig Verstorbenen&laquo;
gerade genug, und sie mehrten sich mit jedem Jahre. So die alten Freunde am Rheine:
Georg Jung, Heinrich B&uuml;rgers, Hermann Becker und andere. Mancher von ihnen,
wie Becker und nach ihm der brave Miquel, machten sich die Sache &raquo;wissenschaftlich&laquo;
zurecht; erst <A NAME="S258"></A><B>|258|</B> m&uuml;sse die Bourgeoisie vollst&auml;ndig
&uuml;ber das Junkertum siegen, ehe das Proletariat an seinen Sieg denken k&ouml;nne.
Becker lehrte: &raquo;Soweit der Bohrwurm der Kanaille der materiellen Interessen dringt,
soweit verwandelt sich das morsche Ger&uuml;st des Junkertums in Staub, und die
Geschichte geht beim ersten Hauche des Weltgeistes &uuml;ber den ganzen &auml;u&szlig;eren
Verputz zur h&ouml;chst einfachen Tagesordnung &uuml;ber.&laquo; Eine sehr h&uuml;bsche
Theorie soweit, die auch heute noch manchen Schlaumeier bezaubern mag. Aber als
Becker Oberb&uuml;rgermeister von K&ouml;ln und Miquel preu&szlig;ischer Finanzminister
geworden war, hatten sie sich in die &raquo;Kanaille der materiellen Interessen&laquo; derma&szlig;en
verliebt, da&szlig; sie sich gegen &raquo;den ersten Hauch des Weltgeistes&laquo; zusamt seiner
&raquo;h&ouml;chst einfachen Tagesordnung&laquo; mit H&auml;nden und F&uuml;&szlig;en str&auml;ubten.</P>
<P>F&uuml;r M&auml;nner wie Becker und Miquel, war es immerhin ein fragw&uuml;rdiger
Ersatz, als im Fr&uuml;hling 1856 ein Kaufmann Gustav Levy aus D&uuml;sseldorf
bei Marx erschien, um ihm eine Fabrikinsurrektion in Iserlohn, Solingen usw. auf
dem Pr&auml;sentierteller anzubieten. Marx sprach sich derb gegen die gef&auml;hrliche
und nutzlose Narrheit aus; er lie&szlig; den Arbeitern, in deren angeblichem oder
wirklichem Auftrage Levy gekommen war, durch diesen sagen, sie m&ouml;chten in
einiger Zeit wieder nach London senden, aber nichts tun ohne vorherige Verst&auml;ndigung.</P>
<P>Nicht ebenso ablehnend stellte sich Marx zu dem andern angeblichen Auftrage,
den Levy von den D&uuml;sseldorfer Arbeitern haben wollte: n&auml;mlich vor Lassalle
zu warnen als einem unsicheren Kantonisten, der nach dem siegreichen Ausgange
der Hatzfeldtschen Prozesse unter dem schm&auml;hlichen Joche der Gr&auml;fin
lebe, sich von ihr unterhalten lasse, mit ihr nach Berlin gehen wolle, um ihr
einen Hof von Literaten zu schaffen, die Arbeiter aber als verbrauchte Werkzeuge
beiseite werfe, um zur Bourgeoisie &uuml;berzugehen und was des Klatsches mehr
war. Diesmal darf man mit allem Fug daran zweifeln, da&szlig; rheinische Arbeiter
eine solche Botschaft an Marx gesandt haben, denn dieselben Arbeiter haben wenige
Jahre sp&auml;ter durch feierliche Adressen und jubelnde Zurufe bekundet, da&szlig;
Lassalles Haus in D&uuml;sseldorf in der wei&szlig;en Schreckenszeit der f&uuml;nfziger
Jahre &raquo;das treue Asyl der furchtlosesten und entschlossensten Parteihilfe&laquo; gewesen
war. Es ist mehr als wahrscheinlich, da&szlig; der Bote auf eigene Faust die Botschaft
ersonnen hat: der Biedermann war aufs &auml;u&szlig;erste ergrimmt &uuml;ber Lassalle,
weil dieser ihm ein Darlehen von 2.000 Talern nur in der H&ouml;he von 500 Talern
hatte bewilligen wollen.</P>
<P>W&auml;re Marx davon unterrichtet gewesen, so h&auml;tte er sicherlich gegen&uuml;ber
diesem Levy die gr&ouml;&szlig;te Zur&uuml;ckhaltung beobachtet. Aber der Bericht
selbst war schon geeignet, starkes Mi&szlig;trauen zu erwecken. Marx <A NAME="S259"></A><B>|259|</B>
war mit Lassalle nicht gerade in h&auml;ufigem, aber doch fortlaufendem Briefwechsel
geblieben, er hatte ihn immer, pers&ouml;nlich wie politisch, als zuverl&auml;ssigen
Freund und Parteigenossen befunden; ja, er hatte selbst das Mi&szlig;trauen bek&auml;mpft,
das in den Tagen des Kommunistenbundes allerdings noch in den Kreisen der rheinischen
Arbeiter gegen Lassalle wegen dessen Verstrickung in die Hatzfeldtschen H&auml;ndel
bestanden hatte. Noch vor kaum Jahresfrist, als ihm Lassalle aus Paris schrieb,
hatte er in durchaus herzlicher Weise geantwortet: &raquo;Ich bin nat&uuml;rlich &uuml;berrascht,
Dich so nah bei London zu wissen, ohne da&szlig; Du auch nur f&uuml;r einige Tage
her&uuml;berzukommen denkst. Ich hoffe, Du wirst noch in Dich gehen und entdecken,
wie kurz und wohlfeil die Reise von Paris nach London ist. W&auml;ren mir die
Tore Frankreichs nicht hermetisch verschlossen, so w&uuml;rde ich Dich in Paris
&uuml;berraschen.&laquo;</P>
<P>So l&auml;&szlig;t es sich schwer erkl&auml;ren, da&szlig; Marx das lose Gerede
Levys am 5. M&auml;rz 1856 an Engels berichtete und hinzuf&uuml;gte: &raquo;Dies alles
ist nur einzelnes, herausgeh&ouml;rt und strichweise fixiert. Das <I>Ganze</I>
hat auf mich und Freiligrath einen <I>definitiven</I> Eindruck gemacht, so sehr
ich f&uuml;r Lassalle eingenommen war und so mi&szlig;trauisch ich gegen Arbeiterklatsch
bin.&laquo; Er habe dem Levy gesagt, auf den Bericht einer einzigen Seite hin zu einem
Schlusse zu kommen, sei unm&ouml;glich, aber Verdacht sei unter allen Umst&auml;nden
n&uuml;tzlich; man m&ouml;ge Lassalle &uuml;berwachen, aber einstweilen jeden
&ouml;ffentlichen Eklat vermeiden. Dem stimmte Engels zu, mit einigen Bemerkungen,
die aus seinem Munde weniger auffallen, da er Lassalle weniger kannte als Marx.
Es sei schade um den Kerl, seines gro&szlig;en Talentes wegen, aber diese Sachen
seien doch zu arg. Lassalle sei immer ein Mensch gewesen, dem man h&ouml;llisch
aufpassen mu&szlig;te; als echter Jud von der slawischen Grenze sei er immer auf
dem Sprunge, unter Parteivorw&auml;nden jeden f&uuml;r seine Privatzwecke auszubeuten.</P>
<P>Marx aber brach seinen Briefwechsel mit dem Manne ab, der ihm wenige Jahre
sp&auml;ter mit aller Wahrheit schreiben konnte: Du hast in Deutschland keinen
Freund als mich.</P>
<H3 ALIGN="CENTER">4. Die Krise von 1857<A name="Kap_4"></A></H3>
<P>Als sich Marx und Engels im Herbst 1850 aus den &ouml;ffentlichen K&auml;mpfen
des Parteilebens zur&uuml;ckzogen, hatten sie erkl&auml;rt: <I>&raquo;Eine neue Revolution
ist nur m&ouml;glich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher
wie diese.&laquo;</I><A name="ZT2"></A><A href="fm03_245.htm#Z2"><SPAN class="top">[2]</SPAN></A> Seitdem hatten sie, und mit jedem Jahre <A NAME="S260"></A><B>|260|</B>
ungeduldiger, nach den Anzeichen einer neuen Krise ausgesp&auml;ht. Liebknecht
erz&auml;hlt, da&szlig; Marx sie manchmal daneben prophezeit habe und deshalb
von den Freunden geneckt worden sei; als sie 1857 nun wirklich kam, lie&szlig;
Marx in der Tat durch Engels an Wilhelm Wolff melden, er werde beweisen, da&szlig;
sie normalerweise zwei Jahre fr&uuml;her h&auml;tte ausbrechen m&uuml;ssen.</P>
<P>Sie begann in den Vereinigten Staaten, und schon ihre Vorboten machten sich
f&uuml;r Marx dadurch f&uuml;hlbar, da&szlig; ihn die &raquo;New-York Daily Tribune&laquo;
auf Halbsold setzte. Der Schlag traf ihn um so schwerer, als sich in der neuen
Wohnung schon das alte oder selbst ein vermehrtes Elend eingestellt hatte. Marx
konnte sich hier nicht &raquo;von Tag zu Tag durchklemmen wie in der Deanstreet&laquo;; ohne
Aussicht und mit wachsenden Familienausgaben. &raquo;Ich wei&szlig; absolut nicht, was
ich anfangen soll und bin in der Tat in einer verzweifelteren Situation als vor
f&uuml;nf Jahren&laquo;, schrieb er am 20. Januar 1857 an Engels. Diesen traf die Nachricht
wie ein &raquo;Donnerschlag aus heiterem Himmel&laquo;, aber er eilte zu helfen und klagte
nur, da&szlig; Marx nicht vierzehn Tage fr&uuml;her geschrieben h&auml;tte. Er
h&auml;tte sich eben ein Pferd gekauft, f&uuml;r das ihm sein Alter das Geld als
Weihnachtsgeschenk gesandt habe; &raquo;es ist mir h&ouml;chst &auml;rgerlich, da&szlig;
ich hier ein Pferd halten soll, w&auml;hrend Du in London mit Deiner Familie im
Pech sitzest&laquo;. Hoch erfreut war er dann, als ein paar Monate sp&auml;ter Dana
bei Marx um Mitarbeit, namentlich auch wegen milit&auml;rischer Artikel, f&uuml;r
ein von ihm herausgegebenes Konversationslexikon anfragte. Die Sache komme ihm
&raquo;ganz gepfiffen&laquo; und mache ihm &laquo;unendlichen Spa&szlig;&laquo;, da sie ein enormer Hebel
sein werde, Marx aus den ewigen Geldn&ouml;ten zu befreien; dieser m&ouml;ge nur
so viele Artikel nehmen, als er kriegen k&ouml;nne, und allm&auml;hlich ein B&uuml;ro
organisieren.</P>
<P>Daraus wurde nichts, schon aus Mangel an Leuten. Auch sonst erwies sich die
Aussicht nicht so gl&auml;nzend, wie Engels annahm; das Honorar lief schlie&szlig;lich
nicht einmal auf einen Penny (8<SPAN class="top">1</SPAN>/<SPAN class="bottom">2</SPAN>
Pfennig) f&uuml;r die Zeile hinaus, und wenn vieles auch blo&szlig;e F&uuml;llarbeit
zu sein brauchte, so war Engels doch viel zu gewissenhaft, um sie leichter Hand
abzutun. Was davon in ihren Briefwechsel durchgesickert ist, rechtfertigt keineswegs
das wegwerfende Urteil, das Engels sp&auml;ter &uuml;ber diese, teils von ihm,
teils von Marx verfa&szlig;ten Artikel gef&auml;llt hat: &raquo;Reine Gesch&auml;ftsarbeit,
weiter nichts, k&ouml;nnen ruhig begraben bleiben.&laquo; Allm&auml;hlich schlief diese
immerhin nebens&auml;chliche T&auml;tigkeit auch wieder ein, bis &uuml;ber den
Buchstaben C hinaus scheint die regelm&auml;&szlig;ige Mitarbeit der beiden Freunde
an dem Lexikon nicht gediehen zu sein.</P>
<P>Von vornherein wurde sie dadurch arg behindert, da&szlig; Engels im <A NAME="S261"></A><B>|261|</B>
Sommer 1857 von einem Dr&uuml;senleiden befallen wurde, das ihn zwang, l&auml;ngere
Zeit an die See zu gehen. Auch bei Marx sah es tr&uuml;be aus. Sein Leberleiden
meldete sich in einem neuen Anfall so heftig, da&szlig; er nur mit &auml;u&szlig;erster
Anstrengung das Notwendigste arbeiten konnte. Im Juli wurde seine Frau von einem
nicht lebensf&auml;higen Kinde entbunden, unter Umst&auml;nden, die einen furchtbaren
Eindruck auf seine Phantasie und ihm die R&uuml;ckerinnerung qualvoll machten.
&raquo;Es mu&szlig; Dir hart kommen, ehe Du so schreibst&laquo;, antwortete der erschreckte
Engels, doch verschob Marx alles auf m&uuml;ndliche Auskunft, schreiben k&ouml;nne
er &uuml;ber diese Dinge nicht.</P>
<P>Alles pers&ouml;nliche Ungemach war aber sofort vergessen, als die Krisis im
Herbst nach England und dann auch auf den Kontinent hin&uuml;berschlug. &raquo;So sehr
ich selbst in financial distress [Mehring &uuml;bersetzt: Finanznot], habe ich
seit 1849 nicht so cosy gef&uuml;hlt als bei diesem outbreak [Mehring &uuml;bersetzt:
Ausbruch]&laquo;, schrieb Marx am 13. November an Engels. Und dieser hatte am n&auml;chsten
Tage nur die Besorgnis, da&szlig; die Entwicklung sich &uuml;berst&uuml;rzen k&ouml;nne.
&raquo;Es w&auml;re zu w&uuml;nschen, da&szlig; erst diese &#155;Besserung&#139; zur chronischen
Krisis eintr&auml;te, ehe ein zweiter und entscheidender Hauptschlag f&auml;llt.
Der chronische Druck ist eine Zeitlang n&ouml;tig, um die Bev&ouml;lkerung warm
zu machen. Das Proletariat schl&auml;gt dann besser, in be&szlig;rer connaissence
de cause [Mehring &uuml;bersetzt: Kenntnis der Dinge] und mit mehr Einklang; grade
wie eine Kavallerieattacke viel besser ausf&auml;llt, wenn die Pferde erst eine
500 Schritt traben mu&szlig;ten, um an den Feind zur Carrieredistanz zu kommen.
Ich m&ouml;chte nicht, da&szlig; es zu fr&uuml;h etwas g&auml;be, ehe ganz Europa
vollst&auml;ndig ergriffen ist, der Kampf nachher w&uuml;rde h&auml;rter, langweiliger
und mehr hin- und herwogend. Mai oder Juni w&auml;re fast noch zu fr&uuml;h. Die
Massen m&uuml;ssen durch die lange Prosperit&auml;t verdammt lethargisch geworden
sein. ... Mir geht es &uuml;brigens wie Dir. Seitdem der Schwindelzusammenbrach
in New York, hatte ich keine Ruhe mehr in Jersey, und ich f&uuml;hle mich enorm
fidel in diesem general downbreak [Mehring &uuml;bersetzt: allgemeinen Zusammenbruch].
Der b&uuml;rgerliche Dreck der letzten sieben Jahre hatte sich doch einigerma&szlig;en
an mich geh&auml;ngt, jetzt wird er abgewaschen, ich werde wieder ein andrer Kerl.
Die Krisis wird mir k&ouml;rperlich ebenso wohl tun wie ein Seebad, das merk'
ich jetzt schon. 1848 sagten wir: jetzt kommt unsere Zeit, und sie kam in einem
certain sense [Mehring &uuml;bersetzt: gewissen Sinn], diesmal aber kommt sie
vollst&auml;ndig, jetzt geht es um den Kopf.&laquo;</P>
<P>Um den Kopf ging es nun doch nicht. Die Krisis hatte in ihrer Art revolution&auml;re
Wirkungen, aber sie waren anderer Art, als Marx und Engels annahmen. Nicht als
ob sie sich utopischen Hoffnungen ins Blaue <A NAME="S262"></A><B>|262|</B> hinein
hingegeben h&auml;tten; sie studierten vielmehr mit &auml;u&szlig;erster Sorgfalt
Tag und Tag den Verlauf der Krisis, und Marx schrieb am 18. Dezember: &raquo;Ich arbeite
ganz kolossal, meist bis vier Uhr morgens. Die Arbeit ist n&auml;mlich eine doppelte:
1. Ausarbeitung der Grundz&uuml;ge der &Ouml;konomie. (Es ist durchaus n&ouml;tig,
f&uuml;r das Publikum au fond [Mehring &uuml;bersetzt: auf den Grund] der Sache
zu gehn und f&uuml;r mich, individually, to get rid of this night mare [Mehring
&uuml;bersetzt: pers&ouml;nlich, diesen Alp los zu werden].) 2. <I>Die jetzige
Krisis.</I> Dar&uuml;ber - au&szlig;er den Artikeln an die <I>&#155;Tribune&#139;</I> -
f&uuml;hre ich blo&szlig; Buch, was aber bedeutend Zeit wegnimmt. Ich denke, da&szlig;
wir about [Mehring &uuml;bersetzt: gegen] Fr&uuml;hling zusammen ein Pamphlet
&uuml;ber die Geschichte machen, als <I>Wiederank&uuml;ndigung</I> beim deutschen
Publico - da&szlig; wir wieder und noch da sind, always the same [Mehring &uuml;bersetzt:
immer dieselben].&laquo; Aus diesem Pamphlet ist nichts geworden, da die Krisis die
Massen nicht aufw&uuml;hlte, aber eben dadurch gewann Marx die Mu&szlig;e, den
theoretischen Teil seines Planes auszuf&uuml;hren.</P>
<P>Zehn Tage fr&uuml;her hatte Frau Marx an den sterbenden Konrad Schramm in Jersey
geschrieben: &raquo;Obgleich wir die amerikanische Krise an unserem Beutel sehr versp&uuml;ren,
indem Karl statt zweimal w&ouml;chentlich nur mehr einmal an die &#155;Tribune&#139; schreibt,
die allen europ&auml;ischen Korrespondenten au&szlig;er Bayard Tailor und Karl
den Abschied gegeben, so k&ouml;nnen Sie sich doch wohl denken, wie obenauf der
Mohr ist. Seine ganze fr&uuml;here Arbeitsf&auml;higkeit und Arbeitsleichtigkeit
ist wiedergekehrt wie auch die Frische und Heiterkeit des Geistes, die seit Jahren
gebrochen war, seit dem gro&szlig;en Leiden, dem Verlust unseres Herzenskindes,
um das mein Herz ewig trauern wird. Karl arbeitet am Tage, um f&uuml;rs t&auml;gliche
Brot zu sorgen, nachts, um seine &Ouml;konomie zur Vollendung zu bringen. Jetzt,
wo diese Arbeit eine Notwendigkeit geworden, wird sich doch auch wohl ein elender
Buchh&auml;ndler finden.&laquo; Und er fand sich, dank den Bem&uuml;hungen Lassalles.</P>
<P>Er hatte im April 1857 an Marx geschrieben, in der alten freundschaftlichen
Weise, verwundert zwar, da&szlig; Marx den Briefwechsel so lange hatte einschlafen
lassen, aber ohne zu ahnen, weshalb. Obgleich Engels dazu riet, hat Marx diesen
Brief nicht beantwortet. Im Dezember desselben Jahres schrieb Lassalle dann wieder,
aus einem &auml;u&szlig;eren Anla&szlig;: sein Vetter Max Friedl&auml;nder hatte
ihn ersucht, Marx zur Mitarbeit an der &raquo;Wiener Presse&laquo; zu veranlassen, zu deren
Redakteuren Friedl&auml;nder geh&ouml;rte. Nun antwortete Marx, indem er das Anerbieten
Friedl&auml;nders ablehnte, da er zwar &raquo;antifranz&ouml;sisch&laquo;, aber nicht minder
&raquo;antienglisch&laquo; sei und am allerwenigsten f&uuml;r Palmerston schreiben <A NAME="S263"></A><B>|263|*</B>
k&ouml;nne. Auf Lassalles Klage aber, so fremd ihm sonst Sentimentalit&auml;t
sei, es habe ihn geschmerzt, auf den Aprilbrief kein Wort der Erwiderung erhalten
zu haben, antwortete Marx &raquo;kurz und k&uuml;hl&laquo;, er habe aus Gr&uuml;nden, die
schriftlich schwer mitzuteilen seien, nicht geantwortet. Sonst f&uuml;gte er nur
wenige Worte hinzu, darunter allerdings die Mitteilung, da&szlig; er ein &ouml;konomisches
Werk erscheinen zu lassen gedenke.</P>
<P>Im Januar 1858 traf ein Exemplar von Lassalles &raquo;Heraklit&laquo; in London ein, dessen
Absendung der Verfasser in dem Dezemberbriefe angek&uuml;ndigt hatte, zugleich
mit einigen Bemerkungen &uuml;ber die begeisterte Aufnahme, die sein Werk in der
gelehrten Welt Berlins gefunden hatte. Schon die Portokosten von zwei Schilling
&raquo;sicherten ihm einen schlechten Empfang&laquo;. Aber auch den Inhalt beurteilte Marx
ziemlich abf&auml;llig. Die &raquo;enorme Schaustellung&laquo; von Gelehrsamkeit imponierte
ihm nicht; er meinte, es sei wohlfeil, Zitate zu h&auml;ufen, wenn man Geld und
Zeit habe, und sich nach Belieben aus der Bonner Universit&auml;tsbibliothek B&uuml;cher
ins Haus schicken lassen k&ouml;nne; in diesem philosophischen Flitterstaate bewege
sich Lassalle ganz mit der Grazie eines Kerls, der zum ersten Male einen eleganten
Anzug trage. Das hie&szlig;, &uuml;ber Lassalles wirkliche Gelehrsamkeit allzu
unbillig urteilen, doch l&auml;&szlig;t sich sehr wohl erkl&auml;ren, da&szlig;
Marx sich durch das Buch aus demselben Grunde unsympathisch ber&uuml;hrt f&uuml;hlte,
aus dem nach seiner Meinung die professoralen Gr&ouml;&szlig;en dar&uuml;ber erfreut
sein mu&szlig;ten, n&auml;mlich solch altert&uuml;mliches Wesen in einem jungen
Menschen zu finden, der f&uuml;r einen gro&szlig;en Revolution&auml;r gelte. Bekanntlich
war der gr&ouml;&szlig;te Teil des Werks mehr als zehn Jahre vor seinem Erscheinen
niedergeschrieben worden.</P>
<P>Aus der &raquo;kurzen und k&uuml;hlen&laquo; Antwort auf seinen klagenden Brief hatte Lassalle
noch immer nicht gemerkt, da&szlig; irgend etwas nicht im Lote sei. Er mi&szlig;verstand
- offenbar gutgl&auml;ubig und nicht etwa absichtlich wie Marx argw&ouml;hnte
- die Notwendigkeit einer m&uuml;ndlichen Er&ouml;rterung in dem harmlosen Sinne,
da&szlig; Marx ihm einiges erz&auml;hlen wolle, wozu Privatgelegenheit erforderlich
sei. Er antwortete im Februar 1858 in aller Unbefangenheit, schilderte drastisch
den Schwindel, worin sich die Berliner Bourgeoisie wegen der Verm&auml;hlung des
preu&szlig;ischen Kronprinzen mit einer englischen Prinzessin berauschte, und
erbot sich &uuml;brigens, einen Verleger f&uuml;r das national&ouml;konomische
Werk zu schaffen. Hierauf ging Marx ein, und nun hatte Lassalle den Kontrakt mit
seinem eigenen Verleger, Franz Duncker, schon Ende M&auml;rz fertig, und zwar
unter g&uuml;nstigeren Bedingungen noch, als Marx beansprucht hatte. Dieser wollte
selbst, da&szlig; die Sache in Lieferungen erscheine, und war bereit, f&uuml;r
die ersten Lieferungen auf jedes Honorar zu verzichten. <A NAME="S264"></A><B>|264|</B>
Lassalle sicherte ihm jedoch von vornherein drei Friedrichsdor - das gew&ouml;hnliche
Professorenhonorar betrug nur zwei - f&uuml;r den Druckbogen. Der Verleger behielt
sich nur vor, falls der Absatz sich nicht verlohne, bei der dritten Lieferung
abzubrechen.</P>
<P>Es dauerte aber noch reichlich dreiviertel Jahre, bis Marx mit dem Manuskripte
der ersten Lieferung fertig wurde. Neue Anf&auml;lle seiner Leber und h&auml;usliche
Sorgen hinderten den Abschlu&szlig;. Um Weihnachten 1858 sah es im Hause &raquo;d&uuml;sterer
und trostloser denn je&laquo; aus. Am 21. Januar 1859 war das &raquo;ungl&uuml;ckliche Manuskript&laquo;
fertig, aber nun war &raquo;kein Farthing&laquo; da, um es frei zu machen und zu versichern.
&raquo;Ich glaube nicht, da&szlig; unter solchem Geldmangel je &uuml;ber das &#155;Geld&#139;
geschrieben worden ist. Die meisten Autoren &uuml;ber dies subjekt waren in tiefem
Frieden mit dem subjekt of their researches [Mehring &uuml;bersetzt: Gegenstand
ihrer Forschungen].&laquo; So schrieb Marx an Engels, als er diesen um die Zusendung
des n&ouml;tigen Portos bat.</P>
<H3 ALIGN="CENTER">5. &raquo;Zur Kritik der politischen &Ouml;konomie&laquo;<A name="Kap_5"></A></H3>
<P>Der Plan eines gro&szlig;en national&ouml;konomischen Werkes, das der kapitalistischen
Produktionsweise bis auf den Grund gehen sollte, war ziemlich f&uuml;nfzehn Jahre
alt, als Marx ihn praktisch auszuf&uuml;hren begann. Er hatte ihn schon in vorm&auml;rzlicher
Zeit erwogen, und die Schrift gegen Proudhon war eine erste Abschlagszahlung gewesen.
Nach seiner Beteiligung an den K&auml;mpfen der Revolutionsjahre hatte Marx ihn
sofort wieder aufgenommen und schon am 2. April 1851 an Engels gemeldet: &raquo;Ich
bin so weit, da&szlig; ich in f&uuml;nf Wochen mit der ganzen &ouml;konomischen
Plackerei fertig bin. Und danach werde ich zu Haus die &Ouml;konomie ausarbeiten
und im Museum mich auf eine andre Wissenschaft werfen. Das beginnt mich zu langweiligen.
Im Grunde hat diese Wissenschaft seit Adam Smith und David Ricardo keine Fortschritte
mehr gemacht, so viel auch in einzelnen Untersuchungen, oft supradelikaten, geschehn
ist.&laquo; Engels antwortete erfreut: &raquo;Ich bin froh, da&szlig; Du mit der &Ouml;konomie
endlich fertig bist. Das Ding zog sich wirklich zu sehr in die L&auml;nge&laquo;, aber
als erfahrener Mann f&uuml;gte er hinzu: &raquo;Solange Du noch ein f&uuml;r wichtig
gehaltnes Buch ungelesen vor Dir hast, solange kommst Du doch nicht zum Schreiben.&laquo;
Er neigte allemal zu der Ansicht, da&szlig; bei allen anderen St&ouml;rungen &raquo;die
Hauptverz&ouml;gerung&laquo; immer in den &raquo;eigenen Skrupeln&laquo; des Freundes l&auml;ge.</P>
<P><B><A NAME="S265">|265|</A></B> Diese &raquo;Skrupel&laquo; waren nun freilich nicht -
und so meinte es im Grunde auch Engels nicht - von der Oberfl&auml;che gesch&ouml;pft.
Wodurch Marx im Jahre 1851 bestimmt wurde, nicht abzuschlie&szlig;en, sondern
von vorn anzufangen, hat er selbst - in der Vorrede des ersten Heftes - mit den
Worten angegeben: &raquo;Das ungeheure Material f&uuml;r Geschichte der politischen
&Ouml;konomie, das im British Museum aufgeh&auml;uft ist, der g&uuml;nstige Standpunkt,
den London f&uuml;r die Beobachtung der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft gew&auml;hrt,
endlich das neue Entwicklungsstadium, worin letztere mit der Entdeckung des kalifornischen
und australischen Goldes einzutreten schien ...&laquo;<A name="ZT3"></A><A href="fm03_245.htm#Z3"><SPAN class="top">[3]</SPAN></A> Wenn er hinzuf&uuml;gte, da&szlig;
seine nunmehr achtj&auml;hrige T&auml;tigkeit f&uuml;r die &raquo;New-York Daily Tribune&laquo;
eine au&szlig;erordentliche Zersplitterung seiner Studien n&ouml;tig gemacht habe,
so w&auml;re zu erg&auml;nzen, da&szlig; diese T&auml;tigkeit ihn bis zu einem
gewissen Grade in den politischen Kampf zur&uuml;ckf&uuml;hrte, der ihm immer
obenan stand. War es doch auch gerade die Aussicht auf das Wiedererwachen einer
revolution&auml;ren Arbeiterbewegung, die ihn auf den Schreibsessel dr&uuml;ckte,
um nun endlich schriftlich niederzulegen, was er all die Jahre nicht aufgeh&ouml;rt
hatte, wieder und wieder zu erw&auml;gen.</P>
<P>Davon gibt beredtes Zeugnis sein Briefwechsel mit Engels, worin die Er&ouml;rterung
&ouml;konomischer Fragen nicht abrei&szlig;t und sich vielmehr zu Abhandlungen
ausw&auml;chst, die man ebenfalls &raquo;supradelikat&laquo; nennen darf. Wie sich dabei der
Gedankenaustausch zwischen beiden Freunden gestaltet, zeigen ein paar ihrer gelegentlichen
&Auml;u&szlig;erungen. Engels schrieb einmal von seiner &raquo;bekannten Tr&auml;gheit
en fait de th&eacute;orie&laquo;, die sich bei dem inneren Knurren seines besseren Ich
beruhige, ohne der Sache auf den Grund zu gehen, w&auml;hrend Marx ein andermal
den Sto&szlig;seufzer nicht unterdr&uuml;cken konnte: &raquo;Wenn die Leute nur w&uuml;&szlig;ten,
wie wenig ich von all dem Zeug wei&szlig;&laquo;, als ihn ein Fabrikant mit der &raquo;am&uuml;santen&laquo;
Wendung begr&uuml;&szlig;te, er m&uuml;sse selbst einmal Fabrikant gewesen sein.</P>
<P>Zieht man in beiden F&auml;llen, wie billig, die humoristische &Uuml;bertreibung
ab, so bleibt das Ergebnis, da&szlig; Engels den inneren Mechanismus der kapitalistischen
Gesellschaft genauer kannte, Marx aber mit sch&auml;rferer Denkkraft ihren Bewegungsgesetzen
nachzusp&uuml;ren wu&szlig;te. Als er dem Freunde den Plan des ersten Heftes entwickelte,
antwortete Engels: &raquo;Es ist wirklich ein sehr abstrakter Abri&szlig;, wie bei der
K&uuml;rze nicht anders zu vermeiden, und ich mu&szlig; die dialektischen &Uuml;berg&auml;nge
oft mit M&uuml;he suchen, da alles abstrakte Denken mir sehr fremd geworden ist.&laquo;
Dagegen hatte Marx einige M&uuml;he, sich in den Ausk&uuml;nften zurechtzufinden,
die ihm von Engels auf seine Fragen &uuml;ber die Art, wie Fabrikanten und <A NAME="S266"></A><B>|266|</B>
Kaufleute den Teil des Einkommens berechnen, den sie selbst verzehren, oder &uuml;ber
Abnutzung der Maschinerie oder die Umschlagsberechnung des vorgeschossenen zirkulierenden
Kapitals erteilt wurden. Er klagte wohl, da&szlig; in der politischen &Ouml;konomie
das praktisch Interessante und das theoretisch Notwendige weit auseinandergingen.</P>
<P>Da&szlig; Marx erst in den Jahren 1857 und 1858 mit dem Ausarbeiten seines
Werkes begonnen hat, geht auch daraus hervor, da&szlig; sich ihm der Plan unter
der Hand &auml;nderte. Noch im April 1858 wollte er im ersten Heft &raquo;das Kapital
im Allgemeinen&laquo; behandeln, aber obgleich das Heft auf das Doppelte oder gar Dreifache
des geplanten Umfangs anwuchs, so enthielt es noch nichts &uuml;ber das Kapital,
sondern nur zwei Kapitel &uuml;ber Ware und Geld. Marx sah darin den Vorteil,
da&szlig; die Kritik sich nicht auf blo&szlig;e Tendenzschimpferei beschr&auml;nken
k&ouml;nnen werde, wobei er nur &uuml;bersah, da&szlig; ihr die wirksame Waffe
des Totschweigens um so n&auml;her gelegt wurde.</P>
<P>In der Vorrede gab er eine &Uuml;bersicht &uuml;ber seinen wissenschaftlichen
Entwicklungsgang, und die ber&uuml;hmten S&auml;tze, in denen er den historischen
Materialismus zusammenfa&szlig;t, d&uuml;rfen auch hier nicht fehlen. &raquo;Meine Untersuchung
(Mehring f&uuml;gt ein: der Hegelschen Rechtsphilosophie) m&uuml;ndete in dem
Ergebnis, da&szlig; Rechtsverh&auml;ltnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst
zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen
Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverh&auml;ltnissen wurzeln,
deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engl&auml;nder und Franzosen des
18. Jahrhunderts, unter dem Namen &#155;b&uuml;rgerliche Gesellschaft&#139; zusammenfa&szlig;t,
da&szlig; aber die Anatomie der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft in der politischen
&Ouml;konomie zu suchen sei. ... Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und,
einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert
werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte,
notwendige, von ihrem Willen unabh&auml;ngige Verh&auml;ltnisse ein, Produktionsverh&auml;ltnisse,
die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkr&auml;fte
entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverh&auml;ltnisse bildet die &ouml;konomische
Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer
&Uuml;berbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewu&szlig;tseinsformen
entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen,
politischen und geistigen Lebensproze&szlig; &uuml;berhaupt. Es ist nicht das
Bewu&szlig;tsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches
Sein, das ihr Bewu&szlig;tsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung
geraten die materiellen <A NAME="S267"></A><B>|267|</B> Produktivkr&auml;fte der
Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverh&auml;ltnissen
oder, was nur ein juristischer Ausdruck daf&uuml;r ist, mit den Eigentumsverh&auml;ltnissen,
innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkr&auml;fte
schlagen diese Verh&auml;ltnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche
sozialer Revolution ein. Mit der Ver&auml;nderung der &ouml;konomischen Grundlage
w&auml;lzt sich der ganze ungeheure &Uuml;berbau langsamer oder rascher um. In
der Betrachtung solcher Umw&auml;lzungen mu&szlig; man stets unterscheiden zwischen
der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umw&auml;lzung in
den &ouml;konomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen,
religi&ouml;sen, k&uuml;nstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen
Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewu&szlig;t werden und ihn ausfechten.
So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst
d&uuml;nkt, ebensowenig kann man eine solche Umw&auml;lzungsepoche aus ihrem Bewu&szlig;tsein
beurteilen, sondern mu&szlig; vielmehr dies Bewu&szlig;tsein aus den Widerspr&uuml;chen
des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen
Produktivkr&auml;ften und Produktionsverh&auml;ltnissen erkl&auml;ren. Eine Gesellschaftsformation
geht nie unter, bevor alle Produktivkr&auml;fte entwickelt sind, f&uuml;r die
sie weit genug ist, und neue h&ouml;here Produktionsverh&auml;ltnisse treten nie
an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Scho&szlig;
der alten Gesellschaft selbst ausgebr&uuml;tet worden sind. Daher stellt sich
die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie l&ouml;sen kann, denn genauer betrachtet
wird sich stets finden, da&szlig; die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen
Bedingungen ihrer L&ouml;sung schon vorhanden oder wenigstens im Proze&szlig;
ihres Werdens begriffen sind. In gro&szlig;en Umrissen k&ouml;nnen asiatische,
antike, feudale und modern b&uuml;rgerliche Produktionsweisen als progressive
Epochen der &ouml;konomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die b&uuml;rgerlichen
Produktionsverh&auml;ltnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen
Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus,
sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden
Antagonismus, aber die im Scho&szlig; der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft sich
entwickelnden Produktivkr&auml;fte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen
zur L&ouml;sung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schlie&szlig;t
daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.&laquo;<A name="ZT4"></A><A href="fm03_245.htm#Z4"><SPAN class="top">[4]</SPAN></A></P>
<P>In dem Hefte selbst, das er &raquo;Zur Kritik der politischen &Ouml;konomie&laquo; betitelte,
tat Marx den entscheidenden Schritt &uuml;ber die b&uuml;rgerliche <A NAME="S268"></A><B>|268|</B>
&Ouml;konomie hinaus, wie sie namentlich durch Adam Smith und David Ricardo entwickelt
worden war. Sie gipfelte in der Bestimmung des Warenwerts durch die Arbeitszeit,
aber indem sie die b&uuml;rgerliche Produktion als die ewige Naturform gesellschaftlicher
Produktion betrachtete, nahm sie das Wertschaffen als eine nat&uuml;rliche Eigenschaft
der menschlichen Arbeit an, wie sie in der individuellen, konkreten Arbeit des
einzelnen Menschen gegeben ist, und geriet dadurch in eine Reihe von Widerspr&uuml;chen,
die sie nicht zu l&ouml;sen vermochte. Dagegen sah Marx in der b&uuml;rgerlichen
Produktion nicht die ewige Naturform, sondern nur eine bestimmte historische Form
gesellschaftlicher Produktion, der eine ganze Reihe anderer Formen vorangegangen
war. Von diesem Standpunkt aus unterwarf Marx die wertbildende Eigenschaft der
Arbeit einer gr&uuml;ndlichen Pr&uuml;fung; er untersuchte, welche Arbeit und
warum und wie sie Wert bildet, weshalb Wert nichts ist als festgeronnene Arbeit
dieser Art.</P>
<P>So gelangte er an den &raquo;Springpunkt&laquo;, um den sich das Verst&auml;ndnis der politischen
&Ouml;konomie dreht: den zwieschl&auml;chtigen Charakter, den die Arbeit in der
b&uuml;rgerlichen Gesellschaft hat. Die individuelle, konkrete Arbeit schafft
Gebrauchs-, die unterschiedslose, gesellschaftliche Arbeit schafft Tauschwerte.
Soweit die Arbeit Gebrauchswerte hervorbringt, ist sie allen Gesellschaftsformen
eigent&uuml;mlich; als zweckm&auml;&szlig;ige T&auml;tigkeit zur Aneignung des
Nat&uuml;rlichen in der einen oder der anderen Form ist die Arbeit Naturbedingung
der menschlichen Existenz, eine von allen sozialen Formen unabh&auml;ngige Bedingung
des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur. Diese Arbeit bedarf des Stoffes zu
ihrer Voraussetzung und ist somit nicht die einzige Quelle des von ihr Hervorgebrachten,
n&auml;mlich des stofflichen Reichtums. Mag das Verh&auml;ltnis zwischen Arbeit
und Naturstoff in den verschiedenen Gebrauchswerten sehr verschieden sein, so
enth&auml;lt der Gebrauchswert stets ein nat&uuml;rliches Substrat.</P>
<P>Anders der Tauschwert. Er enth&auml;lt keinen Naturstoff, sondern die Arbeit
ist seine einzige Quelle und damit auch die einzige Quelle des Reichtums, der
aus Tauschwerten besteht. Als Tauschwert ist ein Gebrauchswert gerade so viel
wert als der andere, vorausgesetzt, da&szlig; er in richtiger Proportion vorhanden
ist. &raquo;Der Tauschwert eines Palastes kann in bestimmter Anzahl von Stiefelwichsb&uuml;chsen
ausgedr&uuml;ckt werden. Londoner Stiefelwichsfabrikanten haben umgekehrt den
Tauschwert ihrer multiplizierten B&uuml;chsen in Pal&auml;sten ausgedr&uuml;ckt.&laquo;<A name="ZT5"></A><A href="fm03_245.htm#Z5"><SPAN class="top">[5]</SPAN></A>
Indem sich Waren austauschen, ganz gleichg&uuml;ltig gegen ihre nat&uuml;rliche
Existenzweise und ohne R&uuml;cksicht auf die Bed&uuml;rfnisse, die sie befriedigen
sollen, <A NAME="S269"></A><B>|269|</B> stellen sie trotz ihres buntscheckigen
Scheins dieselbe Einheit dar: sie sind Resultate gleichf&ouml;rmiger, unterschiedsloser
Arbeit, &raquo;der es ebenso gleichg&uuml;ltig, ob sie in Gold, Eisen, Weizen, Seide
erscheint, wie es dem Sauerstoff ist, ob er vorkommt im Rost des Eisens, der Atmosph&auml;re,
dem Saft der Traube oder dem Blut des Menschen&laquo;<A name="ZT6"></A><A href="fm03_245.htm#Z6"><SPAN class="top">[6]</SPAN></A>. Entspringt die Verschiedenheit
der Gebrauchswerte aus der Verschiedenheit der die Gebrauchswerte produzierenden
Arbeit, so ist tauschwertsetzende Arbeit gleichg&uuml;ltig gegen den besonderen
Stoff der Gebrauchswerte und auch gleichg&uuml;ltig gegen die besondere Form der
Arbeit selbst. Sie ist gleiche, unterschiedslose, abstrakt allgemeine Arbeit,
die sich nicht mehr in der Art, sondern nur noch im Ma&szlig; unterscheidet, durch
die verschiedenen Mengen,die sie in Tauschwerten von verschiedener Gr&ouml;&szlig;e
vergegenst&auml;ndlicht. Die verschiedenen Mengen von abstrakt allgemeiner Arbeit
haben ihr einziges Ma&szlig; an der Zeit, die ihren Ma&szlig;stab an den nat&uuml;rlichen
Zeitma&szlig;en, Stunde, Tag, Woche usw. erh&auml;lt. Arbeitszeit ist das lebendige
Dasein der Arbeit, gleichg&uuml;ltig gegen ihre Form, ihren Inhalt, ihre Individualit&auml;t.
Als Tauschwerte sind alle Waren nur bestimmte Ma&szlig;e festgeronnener Arbeitszeit.
Die in den Gebrauchswerten vergegenst&auml;ndlichte Arbeitszeit ist ebenso die
Substanz, die sie zu Tauschwerten macht und daher zu Waren, wie sie ihre bestimmte
Wertgr&ouml;&szlig;e mi&szlig;t.</P>
<P>Ihr zwieschl&auml;chtiger Charakter ist eine gesellschaftliche Form der Arbeit,
die der Warenproduktion eigent&uuml;mlich ist. In dem naturw&uuml;chsigen Kommunismus,
der sich an der Schwelle der Geschichte aller Kulturv&ouml;lker findet, war die
einzelne Arbeit unmittelbar dem gesellschaftlichen Organismus eingereiht. In den
Naturaldiensten und Naturallieferungen des Mittelalters bildete die Besonderheit,
nicht die Allgemeinheit der Arbeit, ihr gesellschaftliches Band. In der l&auml;ndlich-patriarchalischen
Familie, wo f&uuml;r den Selbstbedarf der Familie die Frauen spannen und die M&auml;nner
webten, waren Garn und Leinwand gesellschaftliche Produkte, Spinnen und Weben
gesellschaftliche Arbeiten innerhalb der Grenzen der Familie. Der Familienzusammenhang
mit seiner naturw&uuml;chsigen Teilung der Arbeit dr&uuml;ckte dem Produkt der
Arbeit seinen eigent&uuml;mlichen Stempel auf: Garn und Leinwand tauschten sich
nicht gegeneinander aus als gleich g&uuml;ltige und gleich geltende Ausdr&uuml;cke
derselben allgemeinen Arbeitszeit. Erst in der Warenproduktion wird die einzelne
Arbeit dadurch gesellschaftliche Arbeit, da&szlig; sie die Form ihres unmittelbaren
Gegensatzes, die Form der abstrakten Allgemeinheit annimmt.</P>
<P>Nun ist die Ware unmittelbare Einheit von Gebrauchs- und Tauschwert, und zugleich
ist sie Ware nur in Beziehung auf die anderen <A NAME="S270"></A><B>|270|</B>
Waren. Die wirkliche Beziehung der Waren aufeinander ist der Austauschproze&szlig;.
In diesem Proze&szlig;, den die voneinander unabh&auml;ngigen Individuen eingehen,
mu&szlig; sich die Ware darstellen zugleich als Gebrauchs- und als Tauschwert,
als besondere Arbeit, die besondere Bed&uuml;rfnisse befriedigt und als allgemeine
Arbeit, die austauschbar ist gegen gleiche Mengen allgemeiner Arbeit. Der Austauschproze&szlig;
der Waren mu&szlig; den Widerspruch entwickeln und l&ouml;sen, da&szlig; die individuelle
Arbeit, die in einer besonderen Ware vergegenst&auml;ndlicht ist, unmittelbar
den Charakter der Allgemeinheit haben soll.</P>
<P>Als Tauschwert wird jede einzelne Ware zum Ma&szlig;e der Werte aller anderen
Waren. Umgekehrt aber wird jede einzelne Ware, in der alle andern Waren ihren
Wert messen, ad&auml;quates Dasein des Tauschwerts, wird somit der Tauschwert
eine besondere ausschlie&szlig;liche Ware, die durch Verwandlung aller anderen
Waren in sie unmittelbar die allgemeine Arbeitszeit des Geldes vergegenst&auml;ndlicht.
So ist in der einen Ware der Widerspruch gel&ouml;st, den die Ware als solche
einschlie&szlig;t, als besonderer Gebrauchswert allgemeines &Auml;quivalent und
daher Gebrauchswert f&uuml;r jeden, allgemeiner Gebrauchswert zu sein. Und diese
eine Ware ist - Geld.</P>
<P>Im Geld kristallisiert sich der Tauschwert der Waren als eine besondere Ware.
Der Geldkristall ist ein notwendiges Produkt des Austauschprozesses, worin verschiedenartige
Arbeitsprodukte einander tats&auml;chlich gleichgesetzt und daher tats&auml;chlich
in Waren verwandelt werden. Er hat sich instinktartig auf historischem Wege entwickelt.
Der unmittelbare Tauschhandel, die naturw&uuml;chsige Form des Austauschprozesses,
stellt vielmehr die beginnende Umwandlung der Gebrauchswerte in Waren als der
Waren in Geld dar. Je mehr sich der Tauschwert entwickelt und je mehr die Gebrauchswerte
zu Waren werden, je mehr also der Tauschwert eine freie Gestalt gewinnt und nicht
mehr unmittelbar an den Gebrauchswert gebunden ist, um so mehr dr&auml;ngt er
zur Geldbildung. Zun&auml;chst spielen eine Ware oder auch mehrere Waren von allgemeinstem
Gebrauchswert, Vieh, Getreide, Sklaven, die Rolle des Geldes. Sehr verschiedene,
mehr oder weniger unpassende Waren haben abwechselnd die Funktion des Geldes verrichtet.
Wenn diese Funktion schlie&szlig;lich an die edlen Metalle &uuml;bergegangen ist,
so aus dem Grunde, weil die edlen Metalle die notwendigen physischen Eigenschaften
der besonderen Ware besitzen, worin sich das Geldsein aller Waren kristallisieren
soll, soweit sie aus der Natur des Tauschwerts unmittelbar hervorgehen: Dauerbarkeit
ihres Gebrauchswerts, beliebige Teilbarkeit, Gleichf&ouml;rmigkeit der Teile und
Unterschiedslosigkeit aller Exemplare dieser Ware.</P>
<P><B><A NAME="S271">|271|</A></B> Unter den edlen Metallen ist es wieder das
Gold, das mehr und mehr zur ausschlie&szlig;lichen Geldware wird. Es dient als
Ma&szlig; der Werte und als Ma&szlig;stab der Preise, es dient als Zirkulationsmittel
der Waren. Durch den Salto mortale der Ware in Gold bew&auml;hrt sich die in ihr
aufgeh&auml;ufte besondere Arbeit als abstrakt allgemeine, als gesellschaftliche
Arbeit; gelingt ihr diese Transsubstantiation nicht, so hat sie ihr Dasein nicht
nur als Ware, sondern auch als Produkt verfehlt, denn Ware ist sie nur, weil sie
f&uuml;r ihren Besitzer keinen Gebrauchswert hat.</P>
<P>So wies Marx nach, wie und warum, kraft der ihr innewohnenden Werteigenschaft,
die Ware und der Warenaustausch den Gegensatz von Ware und Geld erzeugen mu&szlig;;
in dem Gelde, das sich als ein Naturding mit bestimmten Eigenschaften darstellt,
erkannte er ein gesellschaftliches Produktionsverh&auml;ltnis und leitete die
verworrenen Erkl&auml;rungen des Geldes durch die modernen &Ouml;konomen daher
ab, da&szlig; bald als gesellschaftliches Verh&auml;ltnis erscheine, was sie eben
plump als Ding festzuhalten meinten, und dann wieder als Ding sie necke, was sie
kaum als gesellschaftliches Verh&auml;ltnis fixiert h&auml;tten.</P>
<P>Die F&uuml;lle des Lichtes, die von dieser kritischen Untersuchung ausging,
blendete zun&auml;chst mehr, als da&szlig; sie erleuchtete, selbst die Freunde
des Verfassers. Liebknecht meinte, er sei noch von keiner Schrift so entt&auml;uscht
worden wie von dieser, und Miquel fand &raquo;wenig wirklich Neues&laquo; darin. Lassalle
machte sehr sch&ouml;ne Bemerkungen &uuml;ber die k&uuml;nstlerische Darstellung
des Heftes, die er neidlos &uuml;ber die Form des &raquo;Heraklit&laquo; stellte, aber wenn
Marx aus diesen &raquo;Phrasen&laquo; den Verdacht sch&ouml;pfte, da&szlig; Lassalle &raquo;vieles
&Ouml;konomische&laquo; nicht verstanden habe, so war er diesmal auf der richtigen F&auml;hrte.
Lassalle zeigte alsbald, da&szlig; er gerade den &raquo;Springpunkt&laquo; nicht erkannt hatte,
die Unterscheidung zwischen der Arbeit, die in Gebrauchs- und der Arbeit, die
in Tauschwerten resultiert.</P>
<P>Wenn das am gr&uuml;nen Holze geschah, wie mu&szlig;te es nun gar am d&uuml;rren
Holze ausschauen? Engels meinte zwar 1885, Marx habe die erste ersch&ouml;pfende
Theorie des Geldes aufgestellt, und sie sei stillschweigend allgemein angenommen,
aber sieben Jahre sp&auml;ter erschien im &raquo;Handw&ouml;rterbuch der Staatswissenschaften&laquo;,
dem Musterwerk b&uuml;rgerlicher &Ouml;konomie, ein Aufsatz &uuml;ber das Geld,
der auf f&uuml;nfzig Spalten das alte Kauderwelsch breittrat und, ohne Marx auch
nur zu erw&auml;hnen, das Geldr&auml;tsel f&uuml;r ungel&ouml;st erkl&auml;rte.</P>
<P>Wie sollte das Geld auch nicht unerforschlich sein f&uuml;r eine Welt, deren
Gott es geworden ist?</P>
<HR size="1">
<P><A name="Z1"></A><SPAN class="top">[1]</SPAN> Karl Marx: Lord Palmerston, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me09/me09_353.htm">Bd. 9, S. 353-418.</A> <A href="fm03_245.htm#ZT1">&lt;=</A></P>
<P><A name="Z2"></A><SPAN class="top">[2]</SPAN> Karl Marx/Friedrich Engels: Revue, Mai bis Oktober 1850, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me07/me07_421.htm#S440">Bd. 7, S. 440.</A> <A href="fm03_245.htm#ZT2">&lt;=</A></P>
<P><A name="Z3"></A><SPAN class="top">[3]</SPAN> Karl Marx: Zur Kritik der politischen &Ouml;konomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me13/me13_007.htm#S10">Bd. 13, S. 10.</A> <A href="fm03_245.htm#ZT3">&lt;=</A></P>
<P><A name="Z4"></A><SPAN class="top">[4]</SPAN> Karl Marx: Zur Kritik der politischen &Ouml;konomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me13/me13_007.htm#S8">Bd. 13, S. 8/9.</A> <A href="fm03_245.htm#ZT4">&lt;=</A></P>
<P><A name="Z5"></A><SPAN class="top">[5]</SPAN> Karl Marx: Zur Kritik der politischen &Ouml;konomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me13/me13_015.htm#S16">Bd. 13, S. 16.</A> <A href="fm03_245.htm#ZT5">&lt;=</A></P>
<P><A name="Z6"></A><SPAN class="top">[6]</SPAN> Karl Marx: Zur Kritik der politischen &Ouml;konomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me13/me13_015.htm#S17">Bd. 13, S. 17.</A> <A href="fm03_245.htm#ZT6">&lt;=</A></P>
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<P><SMALL>Pfad: &raquo;../fm/fm03&laquo;<BR>
Verkn&uuml;pfte Dateien: &raquo;<A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">../../css/format.css</A>&laquo;
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../../index.shtml.html"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="fm03_000.htm"><SMALL>Inhalt</SMALL></A></TD>
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../default.htm"><SMALL>Franz
Mehring</SMALL></A></TD>
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