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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<!-- Last revised 05 Dez, 1996 -->
<TITLE>Rosa Luxemburg: Die russische Revolution</TITLE>
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<P>
<HR>
<A name="top"><H2>Rosa Luxemburg</BIG></H2></A>
<SMALL>
<p>
<A name="quelle">Quelle: Politische Schriften, Band 3, Europ&auml;ische
Verlagsanstalt, Frankfurt a. Main, 1968, Seite 106- 141</A>
</P>
</SMALL>
<P>
Zuerst ver&ouml;ffentlicht 1922 von Paul Levi nach dem handschriftlichen
Manuskript aus dem Nachla&szlig;.
<P>
<HR>
<P>
<H1>Die russische Revolution</H1>
<P>
<h3>I </h3>
<P>
Die russische Revolution ist das gewaltigste Faktum des Weltkrieges. Ihr
Ausbruch, ihr beispielloser Radikalismus, ihre dauerhafte Wirkung strafen
am besten die Phrase L&uuml;gen, mit der die offizielle deutsche Sozialdemokratie
den Eroberungsfeldzug des deutschen Imperialismus im Anfang diensteifrig
ideologisch bem&auml;ntelt hat: die Phrase von der Mission der deutschen
Bajonette, den Zarismus zu st&uuml;rzen und seine unterdr&uuml;ckten V&ouml;lker
zu befreien. Der gewaltige Umfang, den die Revolution in Ru&szlig;land angenommen
hat, die tiefgehende Wirkung, womit sie alle Klassenverh&auml;ltnisse
ersch&uuml;ttert, s&auml;mtliche sozialen und wirtschaftlichen Probleme
aufgerollt, sich folgerichtig vom ersten Stadium der b&uuml;rgerlichen Republik
voranbewegt hat - wobei der Sturz des Zarismus nur eine knappe Episode, beinahe
eine Lappalie geblieben ist -, all dies zeigt auf flacher Hand, da&szlig;
die Befreiung Ru&szlig;lands nicht das Werk des Krieges und der
milit&auml;rischen Niederlage des Zarismus war, nicht das Verdienst "deutscher
Bajonette in deutschen F&auml;usten", wie die "Neue Zeit" unter der Redaktion
Kautskys im Leitartikel versprach, sondern da&szlig; sie im eigenen Lande
tiefe Wurzeln hatte und innerlich vollkommen reif war. Das Kriegsabenteuer
des deutschen Imperialismus unter dem ideologischen Schilde der deutschen
Sozialdemokratie hat die Revolution in Ru&szlig;land nicht herbeigef&uuml;hrt,
sondern nur f&uuml;r eine Zeitlang, anf&auml;nglich - nach ihrer ersten
steigenden Sturmflut in den Jahren 1911-1913 - unterbrochen und dann - nach
ihrem Ausbruch - ihr die schwierigsten, abnormalsten Bedingungen geschaffen.
<P>
<P>
Dieser Verlauf ist aber f&uuml;r jeden denkenden Beobachter auch ein schlagender
Beweis gegen die doktrin&auml;re Theorie, die Kautsky mit der Partei der
Regierungssozialdemokraten teilt, wonach Ru&szlig;land als wirtschaftlich
zur&uuml;ckgebliebenes, vorwiegend agrarisches Land f&uuml;r die soziale
Revolution und f&uuml;r eine Diktatur des Proletariats noch nicht reif
w&auml;re. Diese Theorie, die in Ru&szlig;land nur eine B&Uuml;RGERLICHE
Revolution f&uuml;r ang&auml;ngig h&auml;lt - aus welcher Auffassung sich
dann auch die Taktik der Koalition der Sozialisten in Ru&szlig;land mit dem
b&uuml;rgerlichen Liberalismus ergibt -, ist zugleich diejenige des
opportunistischen Fl&uuml;gels in der russischen Arbeiterbewegung, der
sogenannten Menschewiki unter der bew&auml;hrten F&uuml;hrung Axelrods und
Dans. Beide: die russischen wie die deutschen Opportunisten treffen in dieser
grunds&auml;tzlichen Auffassung der russischen Revolution, aus der sich die
Stellungnahme zu den Detailfragen der Taktik von selbst ergibt, vollkommen
mit den deutschen Regierungssozialisten zusammen: nach der Meinung aller
drei h&auml;tte die russische Revolution bei jenem Stadium halt machen sollen,
das sich die Kriegf&uuml;hrung des deutschen Imperialismus nach der Mythologie
der deutschen Sozialdemokratie zur edlen Aufgabe stellt: beim Sturz des Zarismus.
Wenn sie dar&uuml;ber hinausgegangen ist, wenn sie die Diktatur des Proletariats
zur Aufgabe gestellt hat, so ist das nach jener Doktrin ein einfacher Fehler
des radikalen Fl&uuml;gels der russischen Arbeiterbewegung, der Bolschewiki,
gewesen, und alle Unbilden, die der Revolution in ihrem weiteren Verlauf
zugesto&szlig;en sind, alle Wirren, denen sie zum Opfer gefallen, stellen
sich eben als ein Ergebnis dieses verh&auml;ngnisvollen Fehlers dar. THEORETISCH
l&auml;uft diese Doktrin, die vom Stampferischen Vorw&auml;rts wie von Kautsky
gleicherma&szlig;en als Frucht "marxistischen Denkens" empfohlen wird, auf
die originelle "marxistische" Entdeckung hinaus, da&szlig; die sozialistische
Umw&auml;lzung eine nationale, sozusagen h&auml;usliche Angelegenheit jedes
modernen Staates f&uuml;r sich sei. In dem blauen Dunst des abstrakten Schemas
wei&szlig; ein Kautsky nat&uuml;rlich sehr eingehend die weltwirtschaftlichen
Verkn&uuml;pfungen des Kapitals auszumalen, die aus allen modernen L&auml;ndern
einen zusammenh&auml;ngenden Organismus machen. Ru&szlig;lands Revolution
- eine Frucht der internationalen Entwicklung und der Agrarfrage - ist aber
unm&ouml;glich in den Schranken der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft zu
l&ouml;sen.
<P>
<P>
PRAKTISCH hat diese Doktrin die Tendenz, die Verantwortlichkeit des
internationalen, in erster Linie des deutschen Proletariats, f&uuml;r die
Geschichte der russischen Revolution abzuw&auml;lzen, die internationalen
Zusammenh&auml;nge dieser Revolution zu leugnen. Nicht Ru&szlig;lands Unreife,
sondern die Unreife des deutschen Proletariats zur Erf&uuml;llung der
historischen Aufgaben hat der Verlauf des Krieges und der russischen Revolution
erwiesen, und dies mit aller Deutlichkeit hervorzukehren ist die erste Aufgabe
einer kritischen Betrachtung der russischen Revolution. Die Revolution
Ru&szlig;lands war in ihren Schicksalen v&ouml;llig von den internationalen
Ereignissen abh&auml;ngig. Da&szlig; die Bolschewiki ihre Politik g&auml;nzlich
auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das
gl&auml;nzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer
grunds&auml;tzlichen Festigkeit, des k&uuml;hnen Wurfs ihrer Politik. Darin
ist der gewaltige Sprung sichtbar, den die kapitalistische Entwicklung in
dem letzten Jahrzehnt gemacht hat. Die Revolution 1905-1907 fand nur ein
schwaches Echo in Europa. Sie mu&szlig;te deshalb ein Anfangskapitel bleiben.
Fortsetzung und L&ouml;sung war an die europ&auml;ische Entwicklung gebunden.
<P>
<P>
Es ist klar, da&szlig; nicht kritikloses Apologetentum, sondern nur eingehende
nachdenkliche Kritik imstande ist, die Sch&auml;tze an Erfahrungen und Lehren
zu heben. Es w&auml;re in der Tat eine wahnwitzige Vorstellung, da&szlig;
bei dem ersten welthistorischen Experiment mit der Diktatur der Arbeiterklasse,
und zwar unter den denkbar schwersten Bedingungen: mitten im Weltbrand und
Chaos eines imperialistischen V&ouml;lkermordens in der eisernen Schlinge
der reaktion&auml;rsten Milit&auml;rmacht Europas, unter v&ouml;lligem Versagen
des internationalen Proletariats, da&szlig; bei einem Experiment der
Arbeiterdiktatur unter so abnormen Bedingungen just alles, was in Ru&szlig;land
getan und gelassen wurde, der Gipfel der Vollkommenheit gewesen sei. Umgekehrt
zwingen die elementaren Begriffe der sozialistischen Politik und die Einsicht
in ihre notwendigen historischen Voraussetzungen zu der Annahme, da&szlig;
unter so fatalen Bedingungen auch der riesenhafteste Idealismus und die
sturmfeste revolution&auml;re Energie nicht Demokratie und nicht Sozialismus,
sondern nur ohnm&auml;chtige, verzerrte Anl&auml;ufe zu beiden zu verwirklichen
imstande seien.
<P>
<P>
Sich dies in allen tiefgehenden Zusammenh&auml;ngen und Wirkungen klar vor
die Augen zu f&uuml;hren, ist geradezu elementare Pflicht der Sozialisten
in allen L&auml;ndern; denn nur an einer solchen bitteren Erkenntnis ist
die ganze gr&ouml;&szlig;e der eigenen Verantwortung des internationalen
Proletariats f&uuml;r die Schicksale der russischen Revolution zu ermessen.
Andererseits kommt nur auf diesem Wege die entscheidende Wichtigkeit des
geschlossenen internationalen Vorgehens der proletarischen Revolution zur
Geltung - als eine Grundbedingung, ohne die auch die gr&ouml;&szlig;te
T&uuml;chtigkeit und die h&ouml;chsten Opfer des Proletariats in einem einzelnen
Lande sich unvermeidlich in ein Wirrsal von Widerspr&uuml;chen und Fehlgriffen
verwickeln m&uuml;ssen.
<P>
<P>
Es unterliegt auch keinem Zweifel, da&szlig; die klugen K&ouml;pfe an der
Spitze der russischen Revolution, da&szlig; Lenin und Trotzki auf ihrem
dornenvollen, von Schlingen aller Art umstellten Weg gar manchen entscheidenden
Schritt nur unter gr&ouml;&szlig;ten inneren Zweifeln und mit dem heftigsten
inneren Widerstreben taten und da&szlig; ihnen selber nichts ferner liegen
kann, als all ihr unter dem bitteren Zwange und Drange in g&auml;rendem Strudel
der Geschehnisse eingegebenes Tun und Lassen von der Internationale als erhabenes
Muster der sozialistischen Politik hingenommen zu sehen, f&uuml;r das nur
kritiklose Bewunderung und eifrige Nachahmung am Platze w&auml;re.
<P>
<P>
Es w&auml;re ebenso verfehlt, zu bef&uuml;rchten, eine kritische Sichtung
der bisherigen Wege, die die russische Revolution gewandelt, sei eine
gef&auml;hrliche Untergrabung des Ansehens und des faszinierenden Beispiels
der russischen Proletarier, das allein die fatale Tr&auml;gheit der deutschen
Massen &uuml;berwinden k&ouml;nne. Nichts verkehrter als dies. Das Erwachen
der revolution&auml;ren Tatkraft der Arbeiterklasse in Deutschland kann
nimmermehr im Geiste der Bevormundungsmethoden der deutschen Sozialdemokratie
seligen Angedenkens durch irgendeine fleckenlose Autorit&auml;t, sei es die
der eigenen "Instanzen" oder die des "russischen Beispiels", hervorgezaubert
werden. Nicht durch Erzeugung einer revolution&auml;ren Hurrastimmung, sondern
umgekehrt: nur durch Einsicht in den ganzen furchtbaren Ernst, die ganze
Kompliziertheit der Aufgaben, aus politischer Reife und geistiger
Selbst&auml;ndigkeit, aus kritischer Urteilsf&auml;higkeit der Massen, die
von der deutschen Sozialdemokratie unter verschiedensten Vorw&auml;nden
jahrzehntelang systematisch ert&ouml;tet wurde, kann die geschichtliche
Aktionsf&auml;higkeit des deutschen Proletariats geboren werden. Sich kritisch
mit der russischen Revolution in allen historischen Zusammenh&auml;ngen
auseinanderzusetzen, ist die beste Schulung der deutschen wie der internationalen
Arbeiter f&uuml;r die Aufgaben, die ihnen aus der gegenw&auml;rtigen Situation
erwachsen.
<P>
<P>
<h3>II </h3>
<P>
<P>
Die erste Periode der russischen Revolution von deren Ausbruch im M&auml;rz
bis zum Oktoberumsturz entspricht in ihrem allgemeinen Verlauf genau dem
Entwicklungsschema sowohl der gro&szlig;en englischen wie der gro&szlig;en
franz&ouml;sischen Revolution. Er ist der typische Werdegang jeder ersten
gro&szlig;en Generalauseinandersetzung der im Scho&szlig;e der b&uuml;rgerlichen
Gesellschaft erzeugten revolution&auml;ren Kr&auml;fte mit den Fesseln der
alten Gesellschaft.
<P>
<P>
Ihre Entfaltung bewegt sich naturgem&auml;&szlig; auf aufsteigender Linie:
von gem&auml;&szlig;igten Anf&auml;ngen zu immer gr&ouml;&szlig;erer
Radikalisierung der Ziele und parallel damit von der Koalition der Klassen
und Parteien zur Alleinherrschaft der radikalen Partei.
<P>
<P>
Im ersten Moment im M&auml;rz 1917 standen an der Spitze der Revolution die
"Kadetten", d.h. die liberale Bourgeoisie. Der allgemeine erste Hochgang
der revolution&auml;ren Flut ri&szlig; alle und alles mit: die vierte Duma,
das reaktion&auml;rste Produkt des aus dem Staatsstreich hervorgegangenen
Vierklassenwahlrechts verwandelte sich pl&ouml;tzlich in ein Organ der
Revolution. S&auml;mtliche b&uuml;rgerlichen Parteien, einschlie&szlig;lich
der nationalistischen Rechten, bildeten pl&ouml;tzlich eine Phalanx gegen
den Absolutismus. Dieser fiel auf den ersten Ansturm fast ohne Kampf, wie
ein abgestorbenes Organ, das nur anger&uuml;hrt zu werden brauchte, um dahin
zu fallen. Auch der kurze Veruch der liberalen Bourgeoisie, wenigstens die
Dynastie und den Thron zu retten, zerschnellte in wenigen Stunden. Der
rei&szlig;ende Fortgang der Entwicklung &uuml;bersprang in Tagen und Stunden
Strecken, zu denen Frankreich einst Jahrzehnte brauchte. Hier zeigte sich,
da&szlig; Ru&szlig;land die Resultate der europ&auml;ischen Entwicklung eines
Jahrhunderts realisierte und vor allem - da&szlig; die Revolution des Jahres
1917 eine direkte Fortsetzung der von 1905-1907, nicht ein Geschenk der deutschen
"Befreier" war. Die Bewegung im M&auml;rz 1917 kn&uuml;pfte unmittelbar dort
an, wo sie vor zehn Jahren ihr Werk abgebrochen hatte. Die demokratische
Republik war das fertige, innerlich reife Produkt gleich des ersten Ansturms
der Revolution.
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<P>
Jetzt begann aber die zweite, schwierige Aufgabe. Die treibende Kraft der
Revolution war vom ersten Augenblick an die Masse des st&auml;dtischen
Proletariats. Seine Forderungen ersch&ouml;pften sich aber nicht in der
politischen Demokratie, sondern richteten sich auf die brennende Frage der
internationalen Politik: sofortigen Frieden. Zugleich st&uuml;rzte sich die
Revolution auf die Masse des Heeres, das dieselbe Forderung nach sofortigem
Frieden erhob, und auf die Masse des Bauerntums, das die Agrarfrage, diesen
Drehpunkt der Revolution schon seit 1905, in den Vordergrund schob. Sofortiger
Frieden und Land - mit diesen beiden Zielen war die innere Spaltung der
revolution&auml;ren Phalanx gegeben. Die Forderung des sofortigen Friedens
setzte sich in sch&auml;rfsten Widerspruch mit der imperialistischen Tendenz
der liberalen Bourgeoisie, deren Wortf&uuml;hrer Miljukow war; die Landfrage
war das Schreckgespenst zun&auml;chst f&uuml;r den anderen Fl&uuml;gel der
Bourgeoisie: f&uuml;r das Landjunkertum, sodann aber, als Attentat auf das
heilige Privateigentum &uuml;berhaupt, ein wunder Punkt f&uuml;r die gesamten
b&uuml;rgerlichen Klassen.
<P>
<P>
So begann am andern Tage nach dem ersten Siege der Revolution ein innerer
Kampf in ihrm Scho&szlig;e um die beiden Brennpunkte: Frieden und Landfrage.
Die liberale Bourgeoisie begann eine Taktik der Verschleppung und der
Ausfl&uuml;chte. Die Arbeitermassen, die Armee, das Bauerntum dr&auml;ngten
immer ungest&uuml;mer. Es unterliegt keinem Zweifel, da&szlig; mit der Frage
des Friedens und der Landfrage auch die Schicksale selbst der politischen
Demokratie der Republik verkn&uuml;pft waren. Die b&uuml;rgerlichen Klassen,
die, von der ersten Sturmwelle der Revolution &uuml;bersp&uuml;lt, sich bis
zur republikanischen Staatsform hatten mit fortrei&szlig;en lassen, begannen
alsbald nach r&uuml;ckw&auml;rts St&uuml;tzpunkte zu suchen und im Stillen
die Konterrevolution zu organisieren. Der Kaledinsche Kosakenfeldzug gegen
Petersburg hat dieser Tendenz deutlichen Ausdruck gegeben. W&auml;re dieser
Vorsto&szlig; von Erfolg gekr&ouml;nt gewesen, dann war nicht nur die Friedens-
und die Agrarfrage, sondern auch das Schicksal der Demokratie, der Republik
selbst besiegelt. Milit&auml;rdiktatur mit einer Schreckensherrschaft gegen
das Proletariat und dann R&uuml;ckkehr zur Monarchie w&auml;ren die
unausbleibliche Folge gewesen.
<P>
<P>
Daran kann man das Utopische und im Kern Reakton&auml;re der Taktik ermessen,
von der sich die russischen Sozialisten der Kautskyschen Richtung, die
Menschewiki, leiten lie&szlig;en. In die Fiktion von dem b&uuml;rgerlichen
Charakter der russischen Revolution festgebissen - dieweil ja Ru&szlig;land
f&uuml;r die soziale Revolution noch nicht reif sei - klammerten sie sich
verzweifelt an die Koalition mit den b&uuml;rgerlichen Liberalen, d.h. an
die gewaltsame Verbindung derjenigen Elemente, die, durch den nat&uuml;rlichen
inneren Gang der revolution&auml;ren Entwicklung gespalten, in sch&auml;rfsten
Widerspruch zueinander geraten waren. Die Axelrods, Dans wollten um jeden
Preis mit denjenigen Klassen und Parteien zusammenarbeiten, von denen der
Revolution und ihrer ersten Errungenschaft, der Demokratie, die
gr&ouml;&szlig;ten Gefahren drohten.
<P>
<P>
Es ist geradezu erstaunlich zu beobachten, wie dieser flei&szlig;ige Mann
(Kautsky) in den vier Jahren des Weltkrieges durch seine unerm&uuml;dliche
Schreibarbeit ruhig und methodisch ein theoretisches Loch nach dem andern
in den Sozialismus rei&szlig;t, eine Arbeit, aus der der Sozialismus wie
ein Sieb ohne eine heile Stelle hervorgeht. Der kritiklose Gleichmut, mit
dem seine Gefolgschaft dieser flei&szlig;igen Arbeit ihres offiziellen
Theoretikers zusieht und seine immer neuen Entdeckungen schluckt, ohne mit
der Wimper zu zucken, findet nur ihre Analogie in dem Gleichmut, mit dem
die Gefolgschaft der Scheidemann und Co. zusieht, wie diese letzteren den
Sozialismus praktisch durchl&ouml;chern. In der Tat erg&auml;nzen sich die
beiden Arbeiten vollkommen, und Kautsky, der offizielle Tempelw&auml;chter
des Marxismus, verrichtet seit Ausbruch des Krieges in Wirklichkeit nur
theoretisch dasselbe, was die Scheidem&auml;nner praktisch: 1. Die
Internationale, ein Instrument des Friedens; 2. Abr&uuml;stung und
V&ouml;lkerbund, Nationalismus; endlich 3. Demokratie, NICHT Sozialismus.
<P>
<P>
In dieser Situation geb&uuml;hrt denn der bolschewistischen Richtung das
geschichtliche Verdienst, von Anfang an diejenige Taktik proklamiert und
mit eiserner Konsequenz verfolgt zu haben, die allein die Demokratie retten
und die Revolution vorw&auml;rts treiben konnte. Die ganze Macht
ausschlie&szlig;lich in die H&auml;nde der Arbeiter- und Bauernmasse, in
die H&auml;nde der Sowjets - dies war in der Tat der einzige Ausweg aus der
Schwierigkeit, in die die Revolution geraten war, das war der Schwertstreich,
womit der gordische Knoten durchhauen, die Revolution aus dem Engpa&szlig;
hinausgef&uuml;hrt und vor ihr das freie Blachfeld einer ungehemmten weiteren
Entfaltung ge&ouml;ffnet wurde.
<P>
<P>
Die Lenin-Partei war somit die einzige in Ru&szlig;land, welche die wahren
Interessen der Revolution in jener ersten Periode begriff, sie war ihr
vorw&auml;rtstreibendes Element, als in diesem Sinne die einzige Partei,
die wirklich sozialistische Politik treibt.
<P>
<P>
Dadurch erkl&auml;rt sich auch, da&szlig; die Bolschewiki, im Beginn der
Revolution eine von allen Seiten verfemte, verleumdete und gehetzte Minderheit,
in k&uuml;rzester Zeit an die Spitze der Revolution gef&uuml;hrt wurden und
alle wirklichen Volksmassen: das st&auml;dtische Proletariat, die Armee,
das Bauerntum, sowie die revolution&auml;ren Elemente der Demokratie, den
linken Fl&uuml;gel der Sozialisten-Revolution&auml;re, unter ihrer Fahne
sammeln konnten.
<P>
<P>
Die wirkliche Situation der russischen Revolution ersch&ouml;pfte sich nach
wenigen Monaten in der Alternative: Sieg der Konterrevolution oder Diktatur
des Proletariats, Kaledin oder Lenin. Das war die objektive Lage, die sich
in jeder Revolution sehr bald, nachdem der erste Rausch verflogen ist, ergibt
und die sich in Ru&szlig;land aus den konkreten brennenden Fragen nach dem
Frieden und der Landfrage ergab, f&uuml;r die im Rahmen der b&uuml;rgerlichen
Revolution keine L&ouml;sung vorhanden war.
<P>
<P>
Die russische Revolution hat hier nur best&auml;tigt die Grundlehre jeder
gro&szlig;en Revolution, deren Lebensgesetz lautet: entweder mu&szlig; sie
sehr rasch und entschlossen vorw&auml;rtsst&uuml;rmen, mit eiserner Hand
alle Hindernisse niederwerfen und ihre Ziele immer weiter stecken, oder sie
wird sehr bald hinter ihren schw&auml;cheren Ausgangspunkt zur&uuml;ckgeworfen
und von der Konterrevolution erdr&uuml;ckt. Ein Stillstehen, ein Trippeln
auf demselben Fleck, ein Selbstbescheiden mit dem ersten einmal erreichten
Ziel gibt es in der Revolution nicht. Und wer diese hausbackenen Weisheiten
aus den parlamentarischen Froschm&auml;usekriegen auf die revolution&auml;re
Taktik &uuml;bertragen will, zeigt nur, da&szlig; ihm die Psychologie, das
Lebensgesetz selbst der Revolution ebenso fremd wie alle historische Erfahrung
ein Buch mit sieben Siegeln ist.
<P>
<P>
Der Verlauf der englischen Revolution seit ihrem Ausbruch 1642. Wie die Logik
der Dinge dazu trieb, da&szlig; erst die schw&auml;chlichen Schwankungen
der Presbyterianer, der zaudernde Krieg gegen die royalistische Armee, in
dem die presbyterianischen H&auml;upter einer entscheidenden Schlacht und
einem Siege &uuml;ber Karl I. geflissentlich auswichen, es zur unabweisbaren
Notwendigkeit machten, da&szlig; die Independenten sie aus dem Parlament
vertrieben und die Gewalt an sich rissen. Und ebenso war es weiter innerhalb
des Independenten-Heeres die untere kleinb&uuml;rgerliche Masse der Soldaten,
die Lilburnschen "Gleichmacher", die die Sto&szlig;kraft der ganzen
Independentenbewegung bildeten, sowie endlich die proletarischen Elemente
der Soldatenmasse, die in der Digger-Bewegung ihren Ausdruck fanden, ihrerseits
den Sauerteig der demokratischen "Gleichmacher"-Partei darstellten.
<P>
<P>
Ohne die geistige Wirkung der revolution&auml;ren proletarischen Elemente
auf die Soldatenmasse, ohne den Druck der demokratischen Soldatenmasse auf
die b&uuml;rgerliche Oberschicht der Independentenpartei w&auml;re es weder
zur "Reinigung" des Langen Parlamentes von den Presbyterianern noch zur
siegreichen Beendigung des Krieges mit dem Heer der Kavaliere und mit den
Schotten, noch zum Proze&szlig; und zur Hinrichtung Karls I., noch zur
Abschaffung der Lordskammer und zur Proklamierung der Republik gekommen.
<P>
<P>
Wie war es in der gro&szlig;en franz&ouml;sischen Revolution? Die Machtergreifung
der Jakobiner erwies sich hier nach vierj&auml;hrigen K&auml;mpfen als das
einzige Mittel, die Errungenschaften der Revolution zu retten, die Republik
zu verwirklichen, den Feudalismus zu zerschmettern, die revolution&auml;re
Verteidigung nach innen wie nach au&szlig;en zu organisieren, die Konspiration
der Konterrevolution zu erdr&uuml;cken, die revolution&auml;re Welle aus
Frankreich &uuml;ber ganz Europa zu verbreiten.
<P>
<P>
Kautsky und seine russischen Gesinnungsgenossen, die der russischen Revolution
ihren "b&uuml;rgerlichen Charakter" der ersten Phase bewahrt wissen wollten,
sind ein genaues Gegenst&uuml;ck zu jenen deutschen und englischen Liberalen
des vorigen Jahrhunderts, die in der gro&szlig;en franz&ouml;sischen Revolution
die zwei Phasen unterschieden: die "gute" Revolution der ersten girondistischen
Phase und die "schlechte" seit dem jakobinischen Umsturz. Die liberale Seichtheit
der Geschichtsauffassung brauchte nat&uuml;rlich nicht zu begreifen, da&szlig;
ohne den Umsturz der "ma&szlig;losen" Jakobiner auch die ersten zaghaften
und halben Errungenschaften der ersten girondistischen Phase alsbald unter
den Tr&uuml;mmern der Revolution begraben worden w&auml;ren, da&szlig; die
wirkliche Alternative zu der Jakobiner-Diktatur, wie sie der eherne Gang
der geschichtlichen Entwicklung im Jahre 1793 stellte, nicht die
"gem&auml;&szlig;igte" Demokratie war, sondern - Restauration der Bourbonen!
Der "goldene Mittelweg" l&auml;&szlig;t sich eben in keiner Revolution
aufrechterhalten, ihr Naturgesetz fordert eine rasche Entscheidung: entweder
wird die Lokomotive volldampf den geschichtlichen Anstieg bis zum
&auml;u&szlig;ersten Punkt vorangetrieben, oder sie rollt durch die eigene
Schwerkraft wieder in die Ausgangsniederung zur&uuml;ck und rei&szlig;t
diejenigen, die sie auf halbem Wege mit ihren schwachen Kr&auml;ften aufhalten
wollten, rettungslos in den Abgrund mit.
<P>
<P>
Dadurch erkl&auml;rt sich, da&szlig; in jeder Revolution nur diejenige Partei
die F&uuml;hrung und die Macht an sich zu rei&szlig;en vermag, die den Mut
hat, die vorw&auml;rtstreibende Parole auszugeben und alle Konsequenzen daraus
zu ziehen. Daraus erkl&auml;rt sich die kl&auml;gliche Rolle der russischen
Menschewiki, der Dan, Zeretelli u.a., die, anf&auml;nglich von ungeheurem
Einflu&szlig; auf die Massen, nach l&auml;ngerem Hin- und Herpendeln, nachdem
sie sich gegen die &Uuml;bernahme der Macht und Verantwortung mit H&auml;nden
und F&uuml;&szlig;en gestr&auml;ubt hatten, ruhmlos von der B&uuml;hne weggefegt
worden sind.
<P>
<P>
Die Lenin-Partei war die einzige, die das Gebot und die Pflicht einer wirklich
revolution&auml;ren Partei begriff, die durch die Losung: alle Macht in die
H&auml;nde des Proletariats und des Bauerntums, den Fortgang der Revolution
gesichert hat.
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<P>
Damit haben die Bolschewiki die ber&uuml;hmte Frage nach der "Mehrheit des
Volkes" gel&ouml;st, die den deutschen Sozialdemokraten seit jeher wie ein
Alp auf der Brust liegt. Als eingefleischte Z&ouml;glinge des parlamentarischen
Kretinismus &uuml;bertragen sie auf die Revolution einfach die hausbackene
Weisheit der parlamentarischen Kinderstube: um etwas durchzusetzen, m&uuml;sse
man erst die Mehrheit haben. Also auch in der Revolution: zuerst werden wir
eine "Mehrheit". Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese
parlamentarische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: nicht durch Mehrheit zur
revolution&auml;ren Taktik, sondern durch revolution&auml;re Taktik zur Mehrheit
geht der Weg. Nur eine Partei, die zu f&uuml;hren, d.h. vorw&auml;rtszutreiben
versteht, erwirbt sich im Sturm die Anh&auml;ngerschaft. Die Entschlossenheit,
mit der Lenin und Genossen im entscheidenden Moment die einzige
vorw&auml;rtstreibende Losung ausgegeben haben: die ganze Macht in die
H&auml;nde des Proletariats und der Bauern, hat sie fast &uuml;ber Nacht
aus einer verfolgten, verleumdeten Minderheit, deren F&uuml;hrer sich wie
Marat in den Kellern verstecken mu&szlig;ten, zur absoluten Herrin der Situation
gemacht.
<P>
<P>
Die Bolschewiki haben auch sofort als Zweck dieser Machtergreifung das ganze
und weitgehendste revolution&auml;re Programm aufgestellt: nicht etwa Sicherung
der b&uuml;rgerlichen Demokratie, sondern Diktatur des Proletariats zum Zwecke
der Verwirklichung des Sozialismus. Sie haben sich damit das unverg&auml;ngliche
geschichtliche Verdienst erworben, zum erstenmal die Endziele des Sozialismus
als unmittelbares Programm der praktischen Politik zu proklamieren.
<P>
<P>
Was eine Partei in geschichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, revolution&auml;rem
Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben Lenin, Trotzki und
Genossen vollauf geleistet. Die ganze revolution&auml;re Ehre und
Aktionsf&auml;higkeit, die der Sozialdemokratie im Westen gebrach, war in
den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktober-Aufstand war nicht nur eine
tats&auml;chliche Rettung f&uuml;r die russische Revolution, sondern auch
eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus.
<P>
<P>
<h3>III</h3>
<P>
<P>
Die Bolschewiki sind die historischen Erben der englischen Gleichmacher und
der franz&ouml;sischen Jakobiner. Aber die konkrete Aufgabe, die ihnen in
der russischen Revolution nach der Machtergreifung zugefallen ist, war
unvergleichlich schwieriger als diejenige ihrer geschichtlichen Vorg&auml;nger.
(Bedeutung der Agrarfrage. Schon 1905. Dann in der 3. Duma die rechten Bauern!
Bauernfrage und Verteidigung, Armee.) Gewi&szlig; war die Losung der
unmittelbaren sofortigen Ergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch
die Bauern die k&uuml;rzeste, einfachste und lapidarste Formel, um zweierlei
zu erreichen: den Gro&szlig;grundbesitz zu zertr&uuml;mmern und die Bauern
sofort an die revolution&auml;re Regierung zu fesseln. Als politische
Ma&szlig;nahme zur Befestigung der proletarisch-sozialistischen Regierung
war dies eine vorz&uuml;gliche Taktik. Sie hatte aber leider ihre zwei Seiten,
und die Kehrseite bestand darin, da&szlig; die unmittelbare Landergreifung
durch die Bauern mit sozialistischer Wirtschaft meist gar nichts gemein hat.
<P>
<P>
Die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaftsverh&auml;ltnisse setzt in
Bezug auf die Agrarverh&auml;ltnisse zweierlei voraus. - Zun&auml;chst die
Nationalisierung gerade des Gro&szlig;grundbesitzes als der technisch
fortschrittlichsten Konzentration der agrarischen Produktionsmittel und Methoden,
die allein dem Ausgangspunkt, der sozialistischen Wirtschaftsweise auf dem
Lande dienen kann. Wenn man nat&uuml;rlich dem Kleinbauern seine Parzelle
nicht wegzunehmen braucht und es ihm ruhig anheimstellen kann, sich durch
die Vorteile des gesellschaftlichen Betriebes freiwillig zuerst f&uuml;r
den genossenschaftlichen Zusammenschlu&szlig; und schlie&szlig;lich f&uuml;r
die Einordnung in den sozialen Gesamtbetrieb gewinnen zu lassen, so mu&szlig;
jede sozialistische Wirtschaftsreform auf dem Lande selbstverst&auml;ndlich
mit dem Gro&szlig;- und Mittelgrundbesitz anfangen. Sie mu&szlig; hier das
Eigentumsrecht vor allem auf die Nation oder, was bei sozialistischer Regierung
dasselbe ist, wenn man will, auf den Staat &uuml;bertragen; denn nur dies
gew&auml;hrt die M&ouml;glichkeit, die landwirtschaftliche Produktion nach
zusammenh&auml;ngenden gro&szlig;en sozialistischen Gesichtspunkten zu
organisieren.
<P>
<P>
Zweitens aber ist eine der Voraussetzungen dieser Umgestaltung, da&szlig;
die Trennung der Landwirtschaft von der Industrie, dieser charakteristische
Zug der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft, aufgehoben wird, um einer gegenseitigen
Durchdringung und Verschmelzung beider, einer Ausgestaltung sowohl der Agrar-
wie der Industrieproduktion nach einheitlichen Gesichtspunkten Platz zu machen.
Wie im einzelnen die praktische Bewirtschaftung sein mag: ob durch
st&auml;dtische Gemeinden, wie die einen vorschlagen, oder vom staatlichen
Zentrum aus - auf jeden Fall ist Voraussetzung eine einheitlich
durchgef&uuml;hrte, vom Zentrum aus eingeleitete Reform und als ihre
Voraussetzung Nationalisierung des Grund und Bodens. Nationalisierung des
gro&szlig;en und mittleren Grundbesitzes, Vereinigung der Industrie und der
Landwirtschaft, das sind zwei grundlegende Gesichtspunkte jeder sozialistischen
Wirtschaftsreform, ohne die es keinen Sozialismus gibt.
<P>
<P>
Da&szlig; die Sowjet-Regierung in Ru&szlig;land diese gewaltigen Reformen
nicht durchgef&uuml;hrt hat - wer kann ihr das zum Vorwurf machen! Es w&auml;re
ein &uuml;bler Spa&szlig;, von Lenin und Genossen zu verlangen oder zu erwarten,
da&szlig; sie in der kurzen Zeit ihrer Herrschaft mitten im rei&szlig;enden
Strudel der inneren und &auml;u&szlig;eren K&auml;mpfe, von zahllosen Feinden
und Widerst&auml;nden ringsum bedr&auml;ngt, eine der schwierigsten, ja,
wir k&ouml;nnen ruhig sagen: die schwierigste Aufgabe der sozialistischen
Umw&auml;lzung l&ouml;sen oder auch nur in Angriff nehmen sollten! Wir werden
uns, einmal zur Macht gelangt, auch im Westen und unter den g&uuml;nstigsten
Bedingungen an dieser harten Nu&szlig; manchen Zahn ausbrechen, ehe wir nur
aus den gr&ouml;bsten der tausend komplizierten Schwierigkeiten dieser
Riesenaufgabe heraus sind!
<P>
<P>
Eine sozialistische Regierung, die zur Macht gelangt ist, mu&szlig; auf jeden
Fall eins tun: Ma&szlig;nahmen ergreifen, die in der Richtung auf jene
grundlegenden Voraussetzungen einer sp&auml;teren sozialistischen Reform
der Agrarverh&auml;ltnisse liegen, sie mu&szlig; zum mindesten alles vermeiden,
was ihr den Weg zu jenen Ma&szlig;nahmen verrammelt.
<P>
<P>
Die Parole nun, die von den Bolschewiki herausgegeben wurde: sofortige
Besitzergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern,
mu&szlig;te geradezu nach der entgegengesetzten Richtung wirken. Sie ist
nicht nur keine sozialistische Ma&szlig;nahme, sondern sie schneidet den
Weg zu einer solchen ab, sie t&uuml;rmt vor der Umgestaltung der
Agrarverh&auml;ltnisse im sozialistischen Sinne un&uuml;berwindliche
Schwierigkeiten auf.
<P>
<P>
Die Besitzergreifung der L&auml;ndereien durch die Bauern auf die kurze und
lapidare Parole Lenins und seiner Freunde hin: Geht und nehmet euch das Land!
f&uuml;hrte einfach zur pl&ouml;tzlichen chaotischen &Uuml;berf&uuml;hrung
des Gro&szlig;grundbesitzes in b&auml;uerlichen Grundbesitz. Was geschaffen
wurde, ist nicht gesellschaftliches Eigentum, sondern neues Privateigentum,
und zwar Zerschlagung des gro&szlig;en Eigentums in mittleren und kleineren
Besitz, des relativ fortgeschrittenen Gro&szlig;betriebes in primitiven
Kleinbetrieb, der technisch mit den Mitteln aus der Zeit der Pharaonen arbeitet.
Nicht genug: durch diese Ma&szlig;nahme und die chaotische, rein
willk&uuml;rliche Art ihrer Ausf&uuml;hrung wurden die Eigentumsunterschiede
auf dem Lande nicht beseitigt, sondern nur versch&auml;rft. Obwohl die
Bolschewiki die Bauernschaft aufforderten, Bauernkomitees zu bilden, um die
Besitzergreifung der adligen L&auml;ndereien irgendwie zu einer Kollektivaktion
zu machen, so ist es klar, da&szlig; dieser allgemeine Rat an der wirklichen
Praxis und den wirklichen Machtverh&auml;ltnissen auf dem Lande nichts zu
&auml;ndern vermochte. Ob mit oder ohne Komitees, sind die reichen Bauern
und Wucherer, welche die Dorfbourgeoisie bildeten und in jedem russischen
Dorf die tats&auml;chliche lokale Macht in ihren H&auml;nden haben, sicher
die Hauptnutznie&szlig;er der Agrarrevolution geworden. Unbesehen kann jeder
sich an den Fingern abz&auml;hlen, da&szlig; im Ergebnis der Aufteilung des
Landes die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit im Scho&szlig;e des
Bauerntums nicht beseitigt, sondern nur gesteigert, die Klassengegens&auml;tze
dort versch&auml;rft worden sind. Diese Machtverschiebung hat aber ZUUNGUNSTEN
der proletarischen und sozialisitschen Interessen stattgefunden. Fr&uuml;her
stand einer sozialistischen Reform auf dem Lande allenfalls der Widerstand
einer kleinen Kaste adeliger und kapitalistischer Gro&szlig;grundbesitzer
sowie eine kleine Minderheit der reichen Dorfbourgeoisie entgegen, deren
Expropriation durch eine revolution&auml;re Volksmasse ein Kinderspiel ist.
Jetzt, nach der "Besitzergreifung" steht als Feind jeder sozialistischen
Vergesellschaftung der Landwirtschaft eine enorm angewachsene und starke
Masse des besitzenden Bauerntums entgegen, da&szlig; sein neuerworbenes Eigentum
gegen alle sozialistischen Attentate mit Z&auml;hnen und N&auml;geln verteidigen
wird. Jetzt ist die Frage der k&uuml;nftigen Sozialisierung der Landwirtschaft,
also der Produktion &uuml;berhaupt in Ru&szlig;land, zur Gegensatz- und
Kampffrage zwischen dem st&auml;dtischen Proletariat und der Bauernmasse
geworden. Wie scharf der Gegensatz schon jetzt geworden ist, beweist der
Boykott der Bauern den St&auml;dten gegen&uuml;ber, denen sie die Lebensmittel
vorenthalten, um damit Wuchergesch&auml;fte zu machen, genau wie die
preu&szlig;ischen Junker. Der franz&ouml;sische Parzellenbauer war zum tapfersten
Verteidiger der gro&szlig;en franz&ouml;sischen Revolution geworden, die
ihn mit dem konfiszierten Land der Emigranten ausgestattet hatte. Er trug
als napoleonischer Soldat die Fahne Frankreichs zum Siege, durchquerte ganz
Europa und zertr&uuml;mmerte den Feudalismus in einem Lande nach dem anderen.
Lenin und seine Freunde mochten eine &auml;hnliche Wirkung von ihrer Agrarparole
erwartet haben. Indes der russische Bauer hat, nachdem er vom Lande auf eigene
Faust Besitz ergriffen, nicht im Traume daran gedacht, Ru&szlig;land und
die Revolution, der er das Land verdankte, zu verteidigen. Er verbi&szlig;
sich in seinen neuen Besitz und &uuml;berlie&szlig; die Revolution ihren
Feinden, den Staat dem Zerfall, die st&auml;dtische Bev&ouml;lkerung dem
Hunger.
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<P>
Lenins Rede &uuml;ber notwendige Zentralisation in der Industrie,
Nationalisierung der Banken, des Handels und der Industrie. Warum nicht des
Grund und Bodens? Hier im Gegenteil, Dezentralisation und Privateigentum.
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Lenins eigenes Agrarprogramm vor der Revolution war anders. Die Losung
&uuml;bernommen von den vielgeschm&auml;hten Sozialisten-Revolution&auml;ren
oder richtiger: von der spontanen Bewegung der Bauernschaft.
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<P>
Um sozialistische Grunds&auml;tze in die Agrarverh&auml;ltnisse
einzuf&uuml;hren, suchte die Sowjetregierung nunmehr aus Proletariern - meist
st&auml;dtischen, arbeitslosen Elementen - Agrarkommunen zu schaffen. Allein
es l&auml;&szlig;t sich leicht im voraus erraten, da&szlig; die Ergebnisse
dieser Anstrengungen, gemessen an dem ganzen Umfang der Agrarverh&auml;ltnisse,
nur verschwindend winzig bleiben mu&szlig;ten und f&uuml;r die Beurteilung
der Frage gar nicht in Betracht fallen. (Nachdem man den Gro&szlig;grundbesitz,
den geeignetsten Ansatzpunkt f&uuml;r die sozialistische Wirtschaft, in
Kleinbetrieb zerschlagen, sucht man jetzt aus kleinen Anf&auml;ngen
kommunistische Musterbetriebe aufzubauen.) Unter den gegebenen
Verh&auml;ltnissen beanspruchen diese Kommunen nur den Wert eines Experiments,
nicht einer umfassenden sozialen Reform. Getreidemonopol mit Pr&auml;mien.
JETZT post festum wollen sie den Klassenkampf ins Dorf hineintragen!
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<P>
Die Leninsche Agrarreform hat dem Sozialismus auf dem Lande eine neue
m&auml;chtige Volksschicht von Feinden geschaffen, deren Widerstand viel
gef&auml;hrlicher und z&auml;her sein wird, als es derjenige der adligen
Gro&szlig;grundbesitzer war.
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<P>
Da&szlig; sich die milit&auml;rischen Niederlage in den Zusammenbruch und
Zerfall Ru&szlig;lands verwandelte, daf&uuml;r haben die Bolschewiki einen
Teil der Schuld. Diese objektiven Schwierigkeiten der Lage haben sich die
Bolschewiki aber selbst in hohem Ma&szlig;e versch&auml;rft durch eine Parole,
die sie in den Vordergrund ihrer Politik geschoben haben: das sogenannte
Selbstbestimmungsrecht der Nationen oder, was unter dieser Phrase in Wirklichkeit
steckte, den staatlichen Zerfall Ru&szlig;lands. Die mit doktrin&auml;rer
Hartn&auml;ckigkeit immer wieder proklamierte Formel von dem Recht der
verschiedenen Nationalit&auml;ten des Russischen Reichs, ihre Schicksale
selbst&auml;ndig zu bestimmen "bis einschlie&szlig;lich der staatlichen
Lostrennung von Ru&szlig;land", war ein besonderer Schlachtruf Lenins und
Genossen w&auml;hrend ihrer Opposition gegen den Miljukowschen wie den
Kerenskischen Imperialismus, sie bildete die Achse ihrer inneren Politik
nach dem Oktoberumschwung, und sie bildete die ganze Plattform der Bolschewiki
in Brest-Litowsk, ihre einzige Waffe, die sie der Machtstellung des deutschen
Imperialismus entgegenzustellen hatten.
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<P>
Zun&auml;chst frappiert an der Hartn&auml;ckigkeit und starren Konsequenz,
mit der Lenin und Genossen an dieser Parole festhielten, da&szlig; sie sowohl
in krassem Widerspruch zu ihrem sonstigen ausgesprochenen Zentralismus der
Politik wie auch zu der Haltung steht, die sie den sonstigen demokratischen
Grunds&auml;tzen gegen&uuml;ber eingenommen haben. W&auml;hrend sie
gegen&uuml;ber der konstituierenden Versammlung, dem allgemeinen Wahlrecht,
der Presse- und Versammlungsfreiheit, kurz dem ganzen Apparat der demokratischen
Grundfreiheiten der Volksmassen, die alle zusammen das "Selbstbestimmungsrecht"
in Ru&szlig;land selbst bildeten, eine sehr k&uuml;hle Geringsch&auml;tzung
an den Tag legten, behandelten sie das Selbstbestimmungsrecht der Nationen
als ein Kleinod der demokratischen Politik, dem zuliebe alle praktischen
Gesichtspunkte der realen Kritik zu schweigen h&auml;tten. W&auml;hrend sie
sich von der Volksabstimmung zur konstituierenden Versammlung in Ru&szlig;land,
einer Volksabstimmung auf Grund des demokratischsten Wahlrechts der Welt
und in voller Freiheit einer Volksrepublik, nicht im geringsten hatten imponieren
lassen und von sehr n&uuml;chternen, kritischen Erw&auml;gungen ihre Resultate
einfach f&uuml;r null und nichtig erkl&auml;rten, verfochten sie in Brest
die "Volksabstimmung" der fremden Nationen Ru&szlig;lands &uuml;ber ihre
staatliche Zugeh&ouml;rigkeit als das wahre Palladium jeglicher Freiheit
und Demokratie, unverf&auml;lschte Quintessenzen des V&ouml;lkerwillens und
als die h&ouml;chste entscheidende Instanz in Fragen des politischen Schicksals
der Nationen.
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<P>
Der Widerspruch, der hier klafft, ist um so unverst&auml;ndlicher, als es
sich bei den demokratischen Formen des politischen Lebens in jedem Lande,
wie wir das noch weiter sehen werden, tats&auml;chlich um h&ouml;chst wertvolle,
ja, unentbehrliche Grundlagen der sozialistischen Politik handelt, w&auml;hrend
das famose "Selbstbestimmungsrecht der Nationen" nichts als hohle
kleinb&uuml;rgerliche Phraseologie und Humbug ist.
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<P>
In der Tat, was soll dieses Recht bedeuten? Es geh&ouml;rt zum Abc der
sozialistischen Politik, da&szlig; sie wie jede Art Unterdr&uuml;ckung so
auch die einer Nation durch die andere bek&auml;mpft.
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<P>
Wenn trotz alledem sonst so n&uuml;chterne und kritische Politiker wie Lenin
und Trotzki mit ihren Freunden, die f&uuml;r jede Art utopische Phraseologie
wie Abr&uuml;stung, V&ouml;lkerbund usw. nur ein ironisches Achselzucken
haben, diesmal eine hohle Phrase von genau derselben Kategorie geradezu zu
ihrem Steckenpferd machten, so geschah es, wie es uns scheint, aus einer
Art Opportunit&auml;tspolitik. Lenin und Genossen rechneten offenbar darauf,
da&szlig; es kein sicheres Mittel g&auml;be, die vielen fremden
Nationalit&auml;ten im Scho&szlig;e des russischen Reiches an die Sache der
Revolution, an die Sache des sozialistischen Proletariats zu fesseln, als
wenn man ihnen im Namen der Revolution und des Sozialismus die
&auml;u&szlig;erste unbeschr&auml;nkteste Freiheit gew&auml;hrte, &uuml;ber
ihre Schicksale zu verf&uuml;gen. Es war dies eine Analogie zu der Politik
der Bolschewiki den russischen Bauern gegen&uuml;ber, deren Landhunger die
Parole der direkten Besitzergreifung des adeligen Grund und Bodens befriedigt
und die dadurch an die Fahne der Revolution und der proletarischen Regierung
gefesselt werden sollten. In beiden F&auml;llen ist die Berechnung leider
g&auml;nzlich fehlgeschlagen. W&auml;hrend Lenin und Genossen offenbar
erwarteten, da&szlig; sie als Verfechter der nationalen Freiheit, und zwar
"bis zur staatlichen Absonderung", Finnland, die Ukraine, Polen, Litauen,
die Baltenl&auml;nder, die Kaukasier usw. zu ebenso vielen treuen
Verb&uuml;ndeten der russischen Revolution machen w&uuml;rden, erlebten wir
das umgekehrte Schauspiel: eine nach der anderen von diesen "Nationen" benutzte
die frisch geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen
Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verb&uuml;nden und
unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution nach Ru&szlig;land selbst
zu tragen. Das Zwischenspiel mit der Ukraine in Brest, das eine entscheidende
Wendung jener Verhandlungen und der ganzen inner- und au&szlig;enpolitischen
Situationen der Bolschewiki herbeigef&uuml;hrt hatte, ist daf&uuml;r ein
Musterbeispiel. Das Verhalten Finnlands, Polens, Litauens, der
Baltenl&auml;nder, der Nationen des Kaukasus zeigt &uuml;berzeugendsterweise,
da&szlig; wir hier nicht etwa mit einer zuf&auml;lligen Ausnahme, sondern
mit einer typischen Entscheidung zu tun haben.
<P>
<P>
Freilich, es sind in allen diesen F&auml;llen in Wirklichkeit nicht die
"Nationen", die jene reaktion&auml;re Politik bet&auml;tigen, sondern nur
die b&uuml;rgerlichen und kleinb&uuml;rgerlichen Klassen, die im sch&auml;rfsten
Gegensatz zu den eigenen proletarischen Massen das "nationale
Selbstbestimmungsrecht" zu einem Werkzeug ihrer konterrevolution&auml;ren
Klassenpolitik verkehrten. Aber - damit kommen wir gerade zum Knotenpunkt
der Frage - darin liegt eben der utopisch-kleinb&uuml;rgerliche Charakter
dieser nationalistischen Phrase, da&szlig; sie in der rauhen Wirklichkeit
der Klassengesellschaft, zumal in der Zeit aufs &auml;u&szlig;erste
versch&auml;rfter Klassengegens&auml;tze, sich einfach in ein Mittel der
b&uuml;rgerlichen Klassenherrschaft verwandelt. Die Bolschewiki sollten zu
ihrem und der Revolution gr&ouml;&szlig;ten Schaden dar&uuml;ber belehrt
werden, da&szlig; es eben unter der Herrschaft des Kapitalismus keine
Selbstbestimmung der Nation gibt, da&szlig; sich in einer Klassengesellschaft
jede Klasse der Nation anders "selbstzubestimmen" strebt und da&szlig; f&uuml;r
die b&uuml;rgerlichen Klassen die Gesichtspunkte der nationalen Freiheit
hinter denen der Klassenherrschaft v&ouml;llig zur&uuml;cktreten. Das finnische
B&uuml;rgerum wie das ukrainische Kleinb&uuml;rgertum waren darin vollkommen
einig, die deutsche Gewaltherrschaft der nationalen Freiheit vorzuziehen,
wenn diese mit den Gefahren des "Bolschewismus" verbunden werden sollte.
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<P>
Die Hoffnung, diese realen Klassenverh&auml;ltnisse etwa durch
"Volksabstimmungen", um die sich alles in Brest drehte, in ihr Gegenteil
umzukehren und im Vertrauen auf die revolution&auml;re Volksmasse ein
Mehrheitsvotum f&uuml;r den Zusammenschlu&szlig; mit der russischen Revolution
zu erzielen, war, wenn sie von Lenin-Trotzki ernst gemeint war, ein
unbegreiflicher Optimismus, und wenn sie nur ein taktischer Florettsto&szlig;
im Duell mit der deutschen Gewaltpolitik sein sollte, ein gef&auml;hrliches
Spiel mit dem Feuer. Auch ohne die deutsche milit&auml;rische Okkupation
h&auml;tte die famose "Volksabstimmung", w&auml;re es in den Randl&auml;ndern
zu einer solchen gekommen, bei der geistigen Verfassung der Bauernmasse und
gro&szlig;er Schichten noch indifferenter Proletarier, bei der reaktion&auml;ren
Tendenz des Kleinb&uuml;rgertums und den tausend Mitteln der Beeinflussung
der Abstimmung durch die Bourgeoisie, mit aller Wahrscheinlichkeit allenthalben
ein Resultat ergeben, an dem die Bolschewiki wenig Freude erlebt h&auml;tten.
Kann es doch in Sachen dieser Volksabstimmungen &uuml;ber die nationale Frage
als unverbr&uuml;chliche Regel gelten, da&szlig; die herrschenden Klassen
sie entweder, wo ihnen eine solche nicht in den Kram pa&szlig;t, zu verhindern
wissen oder, wo sie zustande k&auml;me, ihre Resultate durch all diese Mittel
und Mittelchen zu beeinflussen w&uuml;&szlig;ten, die es auch bewirken, da&szlig;
wir auf dem Wege von Volksabstimmungen keinen Sozialismus einf&uuml;hren
k&ouml;nnen.
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<P>
Da&szlig; &uuml;berhaupt die Frage der nationalen Bestrebungen und
Sondertendenzen mitten in die revolution&auml;ren K&auml;mpfe hineingeworfen,
ja, durch den Brester Frieden in den Vordergrund geschoben und gar zum
Schibboleth der sozialistischen und revolution&auml;ren Politik gestempelt
wurde, hat die gr&ouml;&szlig;te Verwirrung in die Reihen des Sozialismus
getragen und die Position des Proletariats gerade in den Randl&auml;ndern
ersch&uuml;ttert. In Finnland hatte das sozialistische Proletariat, solange
es als ein Teil der geschlossenen revolution&auml;ren Phalanx Ru&szlig;lands
k&auml;mpfte, bereits eine beherrschende Machtstellung; es besa&szlig; die
Mehrheit im Landtag, in der Armee, es hatte die Bourgeoisie v&ouml;llig zur
Ohnmacht herabgedr&uuml;ckt und war der Herr der Situation im Lande. Die
russische Ukraine war zu Beginn des Jahrhunderts, als die Narreteien des
"ukrainischen Nationalismus" mit den Karbowentzen und den "Universals" und
das Steckenpferd Lenins von einer "selbst&auml;ndigen Ukraine" noch nicht
erfunden waren, die Hochburg der russischen revolution&auml;ren Bewegung
gewesen. Von dort aus, aus Rostow, aus Odessa, aus dem Donez-Gebiete flossen
die ersten Lavastr&ouml;me der Revolution (schon um das Jahr 1902-04) und
entz&uuml;ndeten ganz S&uuml;dru&szlig;land zu einem Flammenmeer, so den
Ausbruch von 1905 vorbereitend; dasselbe wiederholte sich in der jetzigen
Revolution, in der das s&uuml;drussische Proletariat die Elitetruppen der
proletarischen Phalanx stellte. Polen und die Baltenl&auml;nder waren seit
1905 die m&auml;chtigsten und zuverl&auml;ssigsten Herde der Revolution,
in denen das sozialistische Proletariat eine hervorragende Rolle spielte.
<P>
<P>
Wie kommt es, da&szlig; in allen diesen L&auml;ndern pl&ouml;tzlich die
Konterrevolution triumphiert? Die nationalistische Bewegung hat eben das
Proletariat dadurch, da&szlig; sie es von Ru&szlig;land losgerissen hat,
gel&auml;hmt und der nationalen Bourgeoisie in den Randl&auml;ndern ausgeliefert.
Statt gerade im Geiste der reinen internationalen Klassenpolitik, die sie
sonst vertraten, die kompakteste Zusammenfassung der revolution&auml;ren
Kr&auml;fte auf dem ganzen Gebiet des Reiches anzustreben, die Integrit&auml;t
des russischen Reiches als Revolutionsgebiet mit Z&auml;hnen und N&auml;geln
zu verteidigen, die Zusammengeh&ouml;rigkeit und Unzertrennlichkeit der
Proletarier aller L&auml;nder im Bereiche der russischen Revolution als oberstes
Gebot der Politik allen nationalistischen Sonderbestrebungen entgegenzustellen,
haben die Bolschewiki durch die dr&ouml;hnende nationalistische Phraseologie
von dem "Selbstbestimmungsrecht bis zur staatlichen Lostrennung" gerade umgekehrt
der Bourgeoisie in allen Randl&auml;ndern den erw&uuml;nschtesten,
gl&auml;nzendsten Vorwand, geradezu das Banner f&uuml;r ihre
konterrevolution&auml;ren Bestrebungen geliefert. Statt die Proletarier in
den Randl&auml;ndern vor jeglichem Separatismus als vor rein b&uuml;rgerlichem
Fallstrick zu warnen, haben sie vielmehr die Massen in allen Randl&auml;ndern
durch ihre Parole verwirrt und der Demagogie der b&uuml;rgerlichen Klassen
ausgeliefert. Sie haben durch diese Forderung des Nationalismus den Zerfall
Ru&szlig;lands selbst herbeigef&uuml;hrt, vorbereitet und so den eigenen
Feinden das Messer in die Hand gedr&uuml;ckt, das sie der russischen Revolution
ins Herz sto&szlig;en sollten.
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Freilich, ohne die Hilfe des deutschen Imperialismus, ohne "die deutschen
Gewehrkolben in deutschen F&auml;usten", wie die "Neue Zeit" Kautskys schrieb,
w&auml;ren die Lubinskys und die anderen Schufterles der Ukraine sowie die
Erichs und Mannerheims in Finnland und die baltischen Barone mit den
sozialistischen Proletariermassen ihrer L&auml;nder nimmermehr fertig geworden.
Aber der nationale Separatismus war das trojanische Pferd, in dem die deutschen
"Genossen" mit Bajonetten in den F&auml;usten in alle jene L&auml;nder eingezogen
kamen. Die realen Klassengegens&auml;tze und die milit&auml;rischen
Machtverh&auml;ltnisse haben die Intervention Deutschlands herbeigef&uuml;hrt.
Aber die Bolschewiki haben die Ideologie geliefert, die diesen Feldzug der
Konterrevolution maskiert hatte, sie haben die Position der Bourgeoisie
gest&auml;rkt und die der Proletarier geschw&auml;cht. Der beste Beweis ist
die Ukraine, die eine so fatale Rolle in den Geschicken der russischen Revolution
spielen sollte. Der ukrainische Nationalismus war in Ru&szlig;land ganz anders
als etwa der tschechische, polnische oder finnische, nichts als eine einfache
Schrulle, eine Fatzkerei von ein paar Dutzend kleinb&uuml;rgerlichen
Intelligenzlern, ohne die geringsten Wurzeln in den wirtschaftlichen, politischen
oder geistigen Verh&auml;ltnissen des Landes, ohne jegliche historische
Tradition, da die Ukraine niemals eine Nation oder einen Staat gebildet hatte,
ohne irgendeine nationale Kultur, au&szlig;er den reaktion&auml;rromantischen
Gedichten Schewtschenkos. Es ist f&ouml;rmlich, als wenn eines sch&ouml;nen
Morgens die von der Wasserkante auf den Fritz Reuter hin eine neue plattdeutsche
Nation und Staat gr&uuml;nden wollten. Und diese l&auml;cherliche Posse von
ein paar Universit&auml;tsprofessoren und Studenten bauschten Lenin und Genossen
durch ihre doktrin&auml;re Agitation mit dem "Selbstbestimmungsrecht bis
einschlie&szlig;lich usw." k&uuml;nstlich zu einem politischen Faktor auf.
Sie verliehen der anf&auml;nglichen Posse eine Wichtigkeit, bis die Posse
zum blutigsten Ernst wurde: n&auml;mlich nicht zu einer ernsten nationalen
Bewegung, f&uuml;r die es nach wie vor gar keine Wurzeln gibt, sondern zum
Aush&auml;ngeschild und zur Sammelfahne der Konterrevolution! Aus diesem
Windei krochen in Brest die deutschen Bajonette.
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<P>
Diese Phrasen haben in der Geschichte der Klassenk&auml;mpfe zu Zeiten eine
sehr reale Bedeutung. Es ist das fatale Los des Sozialismus, da&szlig; er
in diesem Weltkrieg dazu ausersehen war, ideologische Vorw&auml;nde f&uuml;r
die konterrevolution&auml;re Politik zu liefern. Die deutsche Sozialdemokratie
beeilte sich beim Ausbruch des Krieges, den Raubzug des deutschen Imperialismus
mit einem ideologischen Schild aus der Rumpelkammer des Marxismus zu
schm&uuml;cken, indem sie ihn f&uuml;r den von unseren Altmeistern
herbeigesehnten Befreierfeldzug gegen den russischen Zarismus erkl&auml;rte.
Den Antipoden der Regierungssozialisten, den Bolschewiki, war es beschieden,
mit der Phrase von der Selbstbestimmung der Nationen Wasser auf die M&uuml;hle
der Konterrevolution zu liefern und damit eine Ideologie nicht nur f&uuml;r
die Erdrosselung der russischen Revolution selbst, sondern f&uuml;r die geplante
konterrevolution&auml;re Liquidierung des ganzen Weltkrieges zu liefern.
Wir haben allen Grund, uns die Politik der Bolschewiki in dieser Hinsicht
sehr gr&uuml;ndlich anzusehen. Das "Selbstbestimmungsrecht der Nationen",
verkoppelt mit dem V&ouml;lkerbund und der Abr&uuml;stung von Wilsons Gnaden,
bildet den Schlachtruf, dem sich die bevorstehende Auseinandersetzung des
internationalen Sozialismus mit der b&uuml;rgerlichen Welt abspielen wird.
Es liegt klar zu Tage, da&szlig; die Phrase von der Selbstbestimmung und
die ganze nationale Bewegung, die gegenw&auml;rtig die gr&ouml;&szlig;te
Gefahr f&uuml;r den internationalen Sozialismus bildet, gerade durch die
russische Revolution und die Brester Verhandlungen eine au&szlig;erordentliche
St&auml;rkung erfahren haben. Wir werden uns mit dieser Plattform noch eingehend
zu befassen haben. Die tragischen Schicksale dieser Phraseologie in der
russischen Revolution, in deren Stacheln sich die Bolschewiki verfangen und
blutig ritzen sollten, mu&szlig; dem internationalen Proletariat als warnendes
Exempel dienen.
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Nun folgte aus alledem die Diktatur Deutschlands. Vom Brester Frieden bis
zum "Zusatzvertrag"! Die 200 S&uuml;hneopfer in Moskau. Aus dieser Lage ergab
sich der Terror und die Erdr&uuml;ckung der Demokratie.
<P>
<P>
<h3>IV</h3>
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Wir wollen dies an einigen Beispielen n&auml;her pr&uuml;fen.
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<P>
Eine hervorragende Rolle in der Politik der Bolschewiki spielte die bekannte
Aufl&ouml;sung der konstituierenden Versammlung im November 1917. Diese
Ma&szlig;nahme war bestimmend f&uuml;r ihre weitere Postition, sie war
gewisserma&szlig;en der Wendepunkt ihrer Taktik. Es ist eine Tatsache, da&szlig;
Lenin und Genossen bis zu ihrem Oktobersiege die Einberufung der
Konstitutionsversammlung st&uuml;rmisch forderten, da&szlig; gerade die
Verschleppungspolitik der Kerenski-Regierung in dieser Sache einen Anklagepunkt
der Bolschewiki gegen jene Regierung bildete und ihnen zu heftigsten
Ausf&auml;llen Anla&szlig; gab. Ja, Trotzki sagt in seinem interessanten
Schriftchen "Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag",
der Oktoberumschwung sein geradezu "eine Rettung f&uuml;r die Konstituante"
gewesen, wie f&uuml;r die Revolution &uuml;berhaupt. "Und als wir sagten",
f&auml;hrt er fort, "da&szlig; der Eingang zur konstituierenden Versammlung
nicht &uuml;ber das Vorparlament Zeretellis, sondern &uuml;ber die
Machtergreifung der Sowjets f&uuml;hre, waren wir vollkommen aufrichtig."
<P>
<P>
Und nun war nach diesen Ank&uuml;ndigungen der erste Schritt Lenins nach
der Oktoberrevolution - die Auseinandertreibung derselben konstituierenden
Versammlung, zu der sie den Eingang bilden sollte. Welche Gr&uuml;nde konnten
f&uuml;r eine so verbl&uuml;ffende Wendung ma&szlig;gebend sein? Trotzki
&auml;u&szlig;ert sich dar&uuml;ber in der erw&auml;hnten Schrift
ausf&uuml;hrlich, und wir wollen seine Argumente hierher setzen:
<P>
<P>
"Wenn die Monate, die der Oktoberrevolution vorangingen, eine Zeit der
Linksverschiebung der Massen und des elementaren Zustroms der Arbeiter, Soldaten
und Bauern zu den Bolschewiki waren, so dr&uuml;ckte sich innerhalb der Partei
der Sozialisten-Revolution&auml;re dieser Proze&szlig; in der Verst&auml;rkung
des linken Fl&uuml;gels auf Kosten des rechten aus. Aber immer noch dominierten
in den Parteilisten der Sozialisten-Revolution&auml;re zu drei Vierteln die
alten Namen des rechten Fl&uuml;gels ...
<P>
<P>
Dazu kam noch der Umstand, da&szlig; die Wahlen selbst im Laufe der ersten
Wochen nach dem Oktoberumsturz stattfanden. Die Nachricht von der
Ver&auml;nderung, die stattgefunden habe, verbreitete sich
verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig langsam in konzentrischen Kreisen, von der
Hauptstadt nach der Provinz und aus den St&auml;dten nach den D&ouml;rfern.
Die Bauernmassen waren sich an vielen Orten recht wenig klar &uuml;ber das,
was in Petrograd und Moskau vorging. Sie stimmten f&uuml;r "Land und Freiheit"
und stimmten f&uuml;r ihre Vertreter in den Nationalkomitees, die meistens
unter dem Banner der "Narodniki" standen. Damit aber stimmten sie f&uuml;r
Kerenski und Awxentjew, die dieses Landkomitee aufl&ouml;sten und verhaften
lie&szlig;en ... Dieser Sachverhalt gibt eine klare Vorstellung, in welchem
Ma&szlig;e die Konstituante hinter der Entwicklung des politischen Kampfes
und den Parteigruppierungen zur&uuml;ckgeblieben war."
<P>
<P>
Das alles ist ganz ausgezeichnet und sehr &uuml;berzeugend. Nur mu&szlig;
man sich wundern, da&szlig; so kluge Leute wie Lenin und Trotzki nicht auf
die n&auml;chstliegende Schlu&szlig;folgerung geraten sind, die sich aus
den obigen Tatsachen ergab. Da die konstituierende Versammlung lange vor
dem entscheidenden Wendepunkt, dem Oktoberumschwung, gew&auml;hlt und in
ihrer Zusammensetzung das Bild der &uuml;berholten Vergangenheit, nicht der
neuen Sachlage spiegelte, so ergab sich von selbst der Schlu&szlig;, da&szlig;
sie eben die verj&auml;hrte, also totgeborene konstituierende Versammlung
kassierten und unges&auml;umt Neuwahlen zu einer neuen Konstituante ausschrieben!
Sie wollten und durften die Geschicke der Revolution nicht einer Versammlung
anvertrauen, die das gestrige Kerenskische Ru&szlig;land, die Periode der
Schwankungen und der Koalition mit der Bourgeoisie spiegelte. Wohlan, es
blieb nur &uuml;brig, sofort an ihre Stelle eine aus dem erneuerten,
weitergegangenen Ru&szlig;land hervorgegangene Versammlung einzuberufen.
<P>
<P>
Statt dessen schlie&szlig;t Trotzki aus der speziellen Unzul&auml;nglichkeit
der im Oktober zusammengetretenen konstituierenden Versammlung, ja er
verallgemeinert sie zu der Untauglichkeit jeder aus dem allgemeinen Volkswahlen
hervorgegangenen Volksvertretung w&auml;hrend der Revolution &uuml;berhaupt.
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<P>
"Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt h&auml;ufen
die arbeitenden Massen in k&uuml;rzester Zeit eine Menge politischer Erfahrung
an und steigen in ihrer Entwicklung schnell von einer Stufe auf die andere.
Der schwerf&auml;llige Mechanismus der demokratischen Institutionen kommt
dieser Entwicklung um so weniger nach, je gr&ouml;&szlig;er das Land und
je unvollkommener sein technischer Apparat ist." (Trotzki S. 93)
<P>
<P>
Hier haben wir schon den "Mechanismus der demokratischen Institution
&uuml;berhaupt". Demgegen&uuml;ber ist zun&auml;chst hervorzuheben, da&szlig;
in dieser Einsch&auml;tzung der Vertreterinstitutionen eine etwas schematische,
steife Auffassung zum Ausdruck kommt, der die historische Erfahrung gerade
aller revolution&auml;ren Epochen nachdr&uuml;cklich widerspricht. Nach Trotzkis
Theorie widerspiegelt jede gew&auml;hlte Versammlung ein f&uuml;r allemal
nur die geistige Verfassung, politische Reife und Stimmung ihrer
W&auml;hlerschaft just in dem Moment, wo sie zur Wahlurne schritt. Die
demokratische K&ouml;rperschaft ist demnach stets das Spiegelbild der Masse
vom Wahltermin, gleichsam wie der Herschelsche Sternhimmel uns stets die
Weltk&ouml;rper nicht wie sie sind zeigt, da wir auf sie blicken, sondern
wie sie im Moment der Versendung ihrer Lichtboten aus unerme&szlig;licher
Weite zur Erde waren. Jeder lebendige geistige Zusammenhang zwischen den
einmal Gew&auml;hlten und der W&auml;hlerschaft, jede dauernde Wechselwirkung
zwischen beiden wird hier geleugnet.
<P>
<P>
Wie sehr widerspricht dem alle geschichtliche Erfahrung! Diese zeigt uns
umgekehrt, da&szlig; das lebendige Fluidum der Volksstimmung best&auml;ndig
die Vertretungsk&ouml;rperschaften umsp&uuml;lt, in sie eindringt, sie lenkt.
Wie w&auml;re es sonst m&ouml;glich, da&szlig; wir in jedem b&uuml;rgerlichen
Parlament zu Zeiten die erg&ouml;tzlichsten Kapriolen der "Volksvertreter"
erleben, die, pl&ouml;tzlich von einem neuen "Geist" belebt, ganz unerwartete
T&ouml;ne hervorbringen, da&szlig; die vertrocknetsten Mumien sich zu Zeiten
jugendlich geb&auml;rden und die verschiedenen Scheidem&auml;nnchen auf einmal
in ihrer Brust revolution&auml;re T&ouml;ne finden - wenn es in den Fabriken,
Werkst&auml;tten und auf der Stra&szlig;e rumort?
<P>
<P>
Und diese st&auml;ndige lebendige Einwirkung der Stimmung und der politischen
Reife der Massen auf die gew&auml;hlten K&ouml;rperschaften sollte gerade
in einer Revolution vor dem starren Schema der Parteischilder und Wahllisten
versagen? Gerade umgekehrt! Gerade die Revolution schafft durch ihre Gluthitze
jene d&uuml;nne, vibrierende, empf&auml;ngliche politische Luft, in der die
Wellen der Volksstimmung, der Pulsschlag des Volkslebens augenblicklich in
wunderbarster Weise auf die Vertretungsk&ouml;rperschaften einwirken. Gerade
darauf beruhen ja immer die bekannten effektvollen Szenen aus dem Anfangsstadium
aller Revolutionen, wo alte reaktion&auml;re oder h&ouml;chst
gem&auml;&szlig;igte unter altem Regime aus beschr&auml;nktem Wahlrecht
gew&auml;hlte Parlamente pl&ouml;tzlich zu heroischen Wortf&uuml;hrern des
Umsturzes, zu St&uuml;rmern und Dr&auml;ngern werden. Das klassische Beispiel
bietet ja das ber&uuml;hmte "Lange Parlament" in England, das, 1642 gew&auml;hlt
und zusammengetreten, sieben Jahre lang auf dem Posten blieb und in seinem
Innern alle Wechsel-Verschiebungen der Volksstimmung, der politischen Reife,
der Klassenspaltung, des Fortgangs der Revolution bis zu ihrem H&ouml;hepunkt,
von der anf&auml;nglich devoten Pl&auml;nkelei mit der Krone unter einem
auf Knien liegenden "Sprecher" bis zur Abschaffung des Hauses der Lords,
Hinrichtung Karls und Proklamierung der Republik widerspiegelt.
<P>
<P>
Und hat sich nicht dieselbe wunderbare Wandlung in den Generalstaaten
Frankreichs, im Zensusparlament Louis Philipps, ja - das letzte frappanteste
Beispiel liegt Trotzki so nahe - in der vierten russischen Duma wiederholt,
die im Jahre des Heils 1909, unter der starrsten Herrschaft der Konterrevolution
gew&auml;hlt, im Februar 1917 pl&ouml;tzlich den Johannistrieb des Umsturzes
versp&uuml;rte und zum Ausgangspunkt der Revolution ward?
<P>
<P>
Das alles zeigt, da&szlig; "der schwerf&auml;llige Mechanismus der demokratischen
Institutionen" einen kr&auml;ftigen Korrektor hat - eben in der lebendigen
Bewegung der Masse, in ihrem unausgesetzten Druck. Und je demokratischer
die Institution, je lebendiger und kr&auml;ftiger der Pulsschlag des politischen
Lebens der Masse ist, um so unmittelbarer und genauer ist die Wirkung - trotz
starrer Parteischilder, veralteter Wahllisten etc. Gewi&szlig;, jede
demokratische Institution hat ihre Schranken und M&auml;ngel, was sie wohl
mit s&auml;mtlichen menschlichen Institutionen teilt. Nur ist das Heilmittel,
das Trotzki und Lenin gefunden: die Beseitigung der Demokratie &uuml;berhaupt,
noch schlimmer als das &Uuml;bel, dem es steuern soll: es versch&uuml;ttet
n&auml;mlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen
Unzul&auml;nglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden
k&ouml;nnen. Das aktive, ungehemmte, energiesche politische Leben der breitesten
Volksmassen.
<P>
<P>
Nehmen wir ein anderes frappantes Beispiel: das von der Sowjetregierung
ausgearbeitete Wahlrecht. Es ist nicht ganz klar, welche praktische Bedeutung
diesem Wahlrecht beigemessen ist. Aus der Kritik Trotzkis und Lenins an den
demokratischen Institutionen geht hervor, da&szlig; sie Volksvertretungen
aus allgemeinen Wahlen grunds&auml;tzlich ablehnen und sich nur auf die Sowjets
st&uuml;tzen wollen. Weshalb dann &uuml;berhaupt ein allgemeines Wahlrecht
ausgearbeitet wurde, ist eigentlich nicht ersichtlich. Es ist uns auch nicht
bekannt, da&szlig; dieses Wahlrecht irgendwie ins Leben eingef&uuml;hrt worden
w&auml;re; von Wahlen zu einer Art Volksvertretung auf seiner Grundlage hat
man nichts geh&ouml;rt. Wahrscheinlicher ist die Annahme, da&szlig; es nur
ein theoretisches Produkt sozusagen vom gr&uuml;nen Tisch aus geblieben ist;
aber so wie es ist, bildet es ein sehr merkw&uuml;rdiges Produkt der
bolschewistischen Diktaturtheorie. Jedes Wahlrecht, wie &uuml;berhaupt jedes
politische Recht, ist nicht nach irgendwelchen abstrakten Schemen der
"Gerechtigkeit" und &auml;hnlicher b&uuml;rgerlich demokratischer Phraseologie
zu messen, sondern an den sozialen und wirtschaftlichen Verh&auml;ltnissen,
auf die es zugeschnitten ist. Das von der Sowjetregierung ausgearbeitete
Wahlrecht ist eben auf die &Uuml;bergangsperiode von der
b&uuml;rgerlich-kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsform berechnet,
auf die Periode der proletarischen Diktatur. Im Sinne der Auslegung von dieser
Diktatur, die Lenin-Trotzki vertreten, wird das Wahlrecht nur denjenigen
verliehen, die von eigener Arbeit leben, und allen anderen verweigert.
<P>
<P>
Nun ist es klar, da&szlig; ein solches Wahlrecht nur in einer Gesellschaft
Sinn hat, die auch wirtschaftlich in der Lage ist, allen, die arbeiten wollen,
ein ausk&ouml;mmliches, kulturw&uuml;rdiges Leben von eigener Arbeit zu
erm&ouml;glichen. Trifft das auf das jetzige Ru&szlig;land zu? Bei den ungeheuren
Schwierigkeiten, mit denen das vom Weltmarkt abgesperrte, von seinen wichtigsten
Rohstoffquellen abgeschn&uuml;rte Sowjetru&szlig;land zu ringen hat, bei
der allgemeinen, furchtbaren Zerr&uuml;ttung des Wirtschaftslebens, bei dem
schroffen Umsturz der Produktionsverh&auml;ltnisse infolge der Umw&auml;lzungen
der Eigentumsverh&auml;ltnisse in der Landwirtschaft wie in der Industrie
und im Handel liegt es auf der Hand, da&szlig; ungez&auml;hlte Existenzen
ganz pl&ouml;tzlich entwurzelt, aus ihrer Bahn herausgeschleudert werden,
ohne jede objektive M&ouml;glichkeit, in dem wirtschaftlichen Mechanismus
irgendeine Verwendung f&uuml;r ihre Arbeitskraft zu finden. Das bezieht sich
nicht blo&szlig; auf die Kapitalisten- und Grundbesitzerklasse, sondern auch
auf die breite Schicht des Mittelstandes und auf die Arbeiterklasse selbst.
Ist es doch Tatsache, da&szlig; das Zusammenschrumpfen der Industrie ein
massenhaftes Abfluten des st&auml;dtischen Proletariats aufs platte Land
hervorgerufen hat, das in der Landwirtschaft Unterkunft sucht. Unter solchen
Umst&auml;nden ist ein politisches Wahlrecht, das den allgemeinen Arbeitszwang
zur wirtschaftlichen Voraussetzung hat, eine ganz unbegreifliche Ma&szlig;regel.
Der Tendenz nach soll es die Ausbeuter allein politisch rechtlos machen.
Und w&auml;hrend produktive Arbeitskr&auml;fte massenhaft entwurzelt werden,
sieht sich die Sowjetregierung umgekehrt vielfach gezwungen, die nationale
Industrie den fr&uuml;heren kapitalistischen Eigent&uuml;mern sozusagen in
Pacht zu &uuml;berlassen. Desgleichen sah sich die Sowjetregierung gezwungen,
auch mit den b&uuml;rgerlichen Konsumgenossenschaften ein Kompromi&szlig;
zu schlie&szlig;en. Ferner hat sich die Benutzung von b&uuml;rgerlichen
Fachleuten als unumg&auml;nglich erwiesen. Eine andere Folge derselben Richtung
ist, da&szlig; wachsende Schichten des Proletariats als Rotgardisten etc.
vom Staate aus &ouml;ffentlichen Mitteln erhalten werden. In Wirklichkeit
macht es rechtlos breite und wachsende Schichten des Kleinb&uuml;rgertums
und des Proletariats, f&uuml;r die der wirtschaftliche Organismus keinerlei
Mittel zur Aus&uuml;bung des Arbeitszwanges vorsieht.
<P>
<P>
Das ist eine Ungereimtheit, die das Wahlrecht als ein utopisches, von der
sozialen Wirklichkeit losgel&ouml;stes Phantasieprodukt qualifiziert. Und
gerade deshalb ist es kein ernsthaftes Werkzeug der proletarischen Diktatur.
Ein Anachronismus, eine Vorwegnahme der rechtlichen Lage, die auf einer schon
fertigen sozialistischen Wirtschaftsbasis am Platze ist, nicht in der
&Uuml;bergangsperiode der proletarischen Diktatur.
<P>
<P>
Als der ganze Mittelstand, die b&uuml;rgerliche und kleinb&uuml;gerliche
Intelligenz nach der Oktoberrevolution die Sowjetregierung monatelang
boykottierten, den Eisenbahn-, Post- und Telegraphenverkehr, den Schulbetrieb,
den Verwaltungsapparat lahmlegten und sich auf diese Weise gegen die
Arbeiterregierung auflehnten, da waren selbstverst&auml;ndlich alle
Ma&szlig;regeln des Druckes gegen sie: durch Entziehung politischer Rechte,
wirtschaftlicher Existenzmittel etc. geboten, um den Widerstand mit eiserner
Faust zu brechen. Da kam eben die sozialistische Diktatur zum Ausdruck, die
vor keinem Machtaufgebot zur&uuml;ckschrecken darf, um bestimmte Ma&szlig;nahmen
im Interesse des Ganzen zu erzwingen oder zu verhindern. Hingegen ein Wahlrecht,
das eine allgemeine Entrechtung ganz breiter Schichten der Gesellschaft
ausspricht, das sie politisch au&szlig;erhalb des Rahmens der Gesellschaft
stellt, w&auml;hrend es f&uuml;r sie wirtschaftlich innerhalb dieses Rahmens
selbst keine Platz zu schaffen imstande ist, eine Entrechtung nicht als konkrete
Ma&szlig;nahme zu einem konkreten Zweck, sondern als allgemeine Regel von
dauernder Wirkung, das ist nicht eine Notwendigkeit der Diktatur, sondern
eine lebensunf&auml;hige Improvisation. Sowohl Sowjets als R&uuml;ckgrat
wie Konstituante und allgemeines Wahlrecht.
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<P>
Die Bolschewiki bezeichneten die Sowjets als reaktion&auml;r, weil die Mehrheit
darin Bauern seien (Bauerndelegierte und Soldatendelegierte). Nachdem sich
die Sowjets auf ihre Seite stellten, wurden sie die richtigen Vertreter der
Volksmeinung. Aber dieser pl&ouml;tzliche Umschwung hing nur mit Frieden
und Landfrage zusammen.
<P>
<P>
Doch mit der konstituierenden Versammlung und dem Wahlrecht ist die Frage
nicht ersch&ouml;pft: Es kam nicht nur Abschaffung der wichtigsten demokratischen
Garantien eines gesunden &ouml;ffentlichen Lebens und der politischen
Aktivit&auml;t der arbeitenden Massen in Betracht: der Pressefreiheit, des
Vereins- und Versammlungsrechts, ohne die alle Gegner der Sowjetregierung
vogelfrei geworden sind. F&uuml;r diese Eingriffe reicht die obige Argumentation
Trotzkis &uuml;ber die Schwerf&auml;lligkeit der demokratischen Wahlk&ouml;rper
nicht entfernt aus. Hingegen ist es eine offenkundige, unbestreitbare Tatsache,
da&szlig; ohne freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und
Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen v&ouml;llig undenkbar
ist.
<P>
<P>
Lenin sagt: der b&uuml;rgerliche Staat sei ein Werkzeug zur Unterdr&uuml;ckung
der Arbeiterklasse, der sozialistische zur Unterdr&uuml;ckung der Bourgeoisie.
Es sei blo&szlig; gewisserma&szlig;en der auf den Kopf gestellte kapitalistische
Staat. Diese vereinfachte Auffassung sieht von dem Wesentlichsten ab: die
b&uuml;rgerliche Klassenherrschaft braucht keine politische Schulung und
Erziehung der ganzen Volksmasse, wenigstens nicht &uuml;ber gewisse enggezogene
Grenzen hinaus. F&uuml;r die proletarische Diktatur ist sie das Lebenselement,
die Luft, ohne die sie nicht zu existieren vermag.
<P>
<P>
"Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt h&auml;ufen
die arbeitenden Massen in k&uuml;rzester Zeit eine Menge politischer Erfahrung
an und steigen in ihrer Entwicklung schnell von Stufe zu Stufe." Hier widerlegt
Trotzki sich selbst und seine eigenen Parteifreunde. Eben weil dies zutrifft,
haben sie durch Erdr&uuml;ckung des &ouml;ffenlichen Lebens die Quelle der
politischen Erfahrung und das Steigen der Entwicklung verstopft. Oder aber
m&uuml;&szlig;te man annehmen, da&szlig; die Erfahrung und Entwicklung bis
zur Machtergreifung der Bolschewiki n&ouml;tig war, den h&ouml;chsten Grad
erreicht hatte und von nun an &uuml;berfl&uuml;ssig wurde. (Rede Lenins:
Ru&szlig;land ist &uuml;berzeugt f&uuml;r den Sozialismus!!!)
<P>
<P>
In Wirklichkeit umgekehrt! Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki
mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische
Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung.
<P>
<P>
Freiheit nur f&uuml;r die Anh&auml;nger der Regierung, nur f&uuml;r Mitglieder
einer Partei - m&ouml;gen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit.
Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus
der "Gerechtigkeit", sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende
der politischen Freiheit an diesem Wesen h&auml;ngt und seine Wirkung versagt,
wenn die "Freiheit" zum Privilegium wird.
<P>
<P>
Die Bolschewiki werden selbst mit der Hand auf dem Herzen nicht leugnen wollen,
da&szlig; sie auf Schritt und Tritt tasten, versuchen, experimentieren, hin-
und herprobieren mu&szlig;ten und da&szlig; ein gut Teil ihrer Ma&szlig;nahmen
keine Perle darstellt. So mu&szlig; und wird es uns allen gehen, wenn wir
daran gehen - wenn auch nicht &uuml;berall so schwierige Verh&auml;ltnisse
herrschen m&ouml;gen.
<P>
<P>
Die stillschweigende Voraussetzung der Diktaturtheorie im Lenin-Trotzkischen
Sinn ist, da&szlig; die sozialistische Umw&auml;lzung eine Sache sei, f&uuml;r
die ein fertiges Rezept in der Tasche der Revolutionspartei liege, dies dann
nur mit Energie verwirklicht zu werden brauche. Dem ist leider - oder je
nachdem: zum Gl&uuml;ck - nicht so. Weit entfernt, eine Summe fertiger
Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden h&auml;tte, ist die praktische
Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und
rechtlichen Systems eine Sache, die v&ouml;llig im Nebel der Zukunft liegt.
Was wir in unserem Programm besitzen, sind nur wenige gro&szlig;e Wegweiser,
die die Richtung anzeigen, in der die Ma&szlig;nahmen gesucht werden
m&uuml;ssen, dazu vorwiegend negativen Charakters. Wir wissen so ungef&auml;hr,
was wir zu allererst zu beseitigen haben, um der sozialistischen Wirtschaft
die Bahn frei zu machen, welcher Art hingegen die tausend konkreten praktischen
gro&szlig;en und kleinen Ma&szlig;nahmen sind, um die sozialistischen
Grundz&uuml;ge in die Wirtschaft, in das Recht, in alle gesellschaftlichen
Beziehungen einzuf&uuml;hren, dar&uuml;ber gibt kein sozialistisches
Parteiprogramm und kein sozialistisches Lehrbuch Aufschlu&szlig;. Das ist
kein Mangel, sondern gerade der Vorzug des wissenschaftlichen Sozialismus
vor dem utopischen. Das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann
nur ein geschichtliches Produkt sein, geboren aus der eigenen Schule der
Erfahrung, in der Stunde der Erf&uuml;llung, aus dem Werden der lebendigen
Geschichte, die genau wie die organische Natur, deren Teil sie letzten Endes
ist, die sch&ouml;ne Gepflogenheit hat, zusammen mit einem wirklichen
gesellschaftlichen Bed&uuml;rfnis stets auch die Mittel zu seiner Befriedigung,
mit der Aufgabe zugleich die L&ouml;sung hervorzubringen. Ist dem aber so,
dann ist es klar, da&szlig; der Sozialismus sich seiner Natur nach nicht
oktroyieren l&auml;&szlig;t, durch Ukase einf&uuml;hren. Er hat zur Voraussetzung
eine Reihe Gewaltma&szlig;nahmen - gegen Eigentum usw. Das Negative, den
Abbau kann man dekretieren, den Aufbau, das Positive nicht. Neuland. Tausend
Probleme. Nur Erfahrung ist imstande, zu korrigieren und neue Wege zu
er&ouml;ffnen. Nur ungehemmt sch&auml;umendes Leben verf&auml;llt auf tausend
neue Formen, Improvisationen, erhellt sch&ouml;pferische Kraft, korrigiert
selbst alle Fehlgriffe. Das &ouml;ffentliche Leben der Staaten mit
beschr&auml;nkter Freiheit ist eben deshalb so d&uuml;rftig, so armselig,
so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschlie&szlig;ung der
Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts
absperrt. (Beweis: die Jahre 1905 und die Monate Februar-Oktober 1917.) Wie
dort politisch, so auch &ouml;konomisch und sozial. Die ganze Volksmasse
mu&szlig; daran teilnehmen. Sonst wird der Sozialismus vom gr&uuml;nen Tisch
eines Dutzends Intellektueller dekretiert, oktroyiert.
<P>
<P>
Unbedingt &ouml;ffentliche Kontrolle notwendig. Sonst bleibt der Austausch
der Erfahrungen nur in dem geschlossenen Kreis der Beamten der neuen Regierung.
Korruption unvermeidlich. (Lenins Worte, Mitteilungsblatt Nr. 29.) Die Praxis
des Sozialismus erfordert eine ganze geistige Umw&auml;lzung in den durch
Jahrhunderte der b&uuml;rgerlichen Klassenherrschaft degradierten Massen.
Soziale Instinkte anstelle egoistischer, Masseninitiative anstelle der
Tr&auml;gheit, Idealismus, der &uuml;ber alle Leiden hinweg tr&auml;gt usw.
usw. Niemand wei&szlig; das besser, schildert das eindringlicher, wiederholt
das hartn&auml;ckiger als Lenin.
Nur vergreift er sich v&ouml;llig im Mittel.
Dekret, diktatorische Gewalt der Fabrikaufseher, drakonische Strafen,
Schreckensherrschaft, das sind alles Palliative. Der einzige Weg zur Wiedergeburt
ist die Schule des &ouml;ffentlichen Lebens selbst, uneingeschr&auml;nkteste
breiteste Demokratie, &ouml;ffentliche Meinung. Gerade die Schreckensherrschaft
demoralisiert.
<P>
<P>
F&auml;llt das alles weg, was bleibt in Wirklichkeit? Lenin und Trotzki haben
an Stelle der aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen
Vertretungsk&ouml;rperschaften die Sowjets als die einzige wahre Vertretung
der arbeitenden Massen hingestellt. Aber mit dem Erdr&uuml;cken des politischen
Lebens im ganzen Lande mu&szlig; auch das Leben in den Sowjets immer mehr
erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit,
freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der &ouml;ffentlichen
Institution, wird zum Scheinleben, in der die B&uuml;rokratie allein das
t&auml;tige Element bleibt. Das &ouml;ffentliche Leben schl&auml;ft
allm&auml;hlich ein, einige Dutzend Parteif&uuml;hrer von unersch&ouml;pflicher
Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen
leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender K&ouml;pfe, und eine Elite
der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um
den Reden der F&uuml;hrer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen
einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur
allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur
einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im b&uuml;rgerlichen Sinne, im Sinne
der Jakobiner-Herrschaft (das Verschieben der Sowjet-Kongresse von drei Monaten
auf sechs Monate!). Ja noch weiter: solche Zust&auml;nde m&uuml;ssen eine
Verwilderung des &ouml;ffentlichen Lebens zeitigen: Attentate,
Geiselerschie&szlig;ungen usw.
<P>
<!-- Das folgende bis zum schlie<69>enden Kommentar geh<65>rt eigentlich in eine Fu<46>note. Siehe R.L. Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 361 -->
<P>
Lenins Rede &uuml;ber Disziplin und Korruption.
<P>
<P>
Ein Problem f&uuml;r sich von hoher Wichtigkeit in jeder Revolution bildet
der Kampf mit dem Lumpenproletariat. Auch wir in Deutschland und allerorts
werden damit zu tun haben. Das lumpenproletarische Element haftet tief der
b&uuml;rgerlichen Gesellschaft an, nicht nur als besondere Schicht, als sozialer
Abfall, der namentlich in Zeiten riesig anw&auml;chst, wo die Mauern der
Gesellschaftsordnung zusammenst&uuml;rzen, sondern als integrierendes Element
der gesamten Gesellschaft. Die Vorg&auml;nge in Deutschland - und mehr oder
minder in allen andern Staaten - haben gezeigt, wie leicht alle Schichten
der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft der Verlumpung anheimfallen. Abstufungen
zwischen kaufm&auml;nnischem Preiswucher, Schlachtschitzen-Schiebungen, fiktiven
Gelegenheitsgesch&auml;ften, Lebensmittelf&auml;lschung, Prellerei,
Beamtenunterschlagung, Diebstahl, Einbruch und Raub flossen so ineinander,
da&szlig; die Grenze zwischen dem ehrbaren B&uuml;rgertum und dem Zuchthaus
verschwand. Hier wiederholt sich dieselbe Erscheinung wie die
regelm&auml;&szlig;ige rasche Verlumpung b&uuml;rgerlicher Zierden, wenn
sie in &uuml;berseeische koloniale Verh&auml;ltnisse auf fremden sozialen
Boden verpflanzt werden. Mit der Abstreifung der konventionellen Schranken
und St&uuml;tzen f&uuml;r Moral und Recht f&auml;llt die b&uuml;rgerliche
Gesellschaft, deren innerstes Lebensgesetz die tiefste Unmoral: die Ausbeutung
des Menschen durch den Menschen, unmittelbar und hemmungslos einfacher Verlumpung
anheim. Die proletarische Revolution wird &uuml;berall mit diesem Feind und
Werkzeug der Konterrevolution zu ringen haben.
<P>
<P>
Und doch ist auch in dieser Beziehung der Terror ein stumpfes, ja zweischneidiges
Schwert. Die drakonischste Feldjustiz ist ohnm&auml;chtig gegen Ausbr&uuml;che
des lumpenproletarischen Unwesens. Ja, jedes dauernde Regiment des
Belagerungszustandes f&uuml;hrt unweigerlich zur Willk&uuml;r, und jede
Willk&uuml;r wirkt depravierend auf die Gesellschaft. Das einzige wirksame
Mittel in der Hand der proletarischen Revolution sind auch hier: radikale
Ma&szlig;nahmen politischer und sozialer Natur, rascheste Umwandlung der
sozialen Garantien des Lebens der Masse und - Entfachung des revolution&auml;ren
Idealismus, der sich nur in uneingeschr&auml;nkter politischer Freiheit durch
intensiv aktives Leben der Massen auf die Dauer halten l&auml;&szlig;t.
<P>
<P>
Wie gegen Krankheitsinfektionen und -keime die freie Wirkung der Sonnenstrahlen
das wirksamste, reinigende und heilende Mittel ist, so ist die Revolution
selbst und ihr erneuerndes Prinzip, das von ihr hervorgerufenen geistige
Leben, Aktivit&auml;t und Selbstverantwortung der Massen, also die breiteste
politische Freiheit als ihre Form, die einzige heilende und reinigende Sonne.
<P>
<P>
Anarchie wird auch bei uns und &uuml;berall unvermeidlich sein.
Lumpenproletarisches Element haftet der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft an
und l&auml;&szlig;t sich nicht von ihr trennen:
<P>
Beweise:
<P>
1. Ostpreu&szlig;en, die "Kosaken"-Pl&uuml;nderungen.
<P>
2. Der generelle Ausbruch von Raub und Diebstahl in Deutschland ("Schiebungen",
Post- und Eisenbahnpersonal, Polizei, v&ouml;llige Verwischung der Grenzen
zwischen der wohlgeordneten Gesellschaft und dem Zuchthaus).
<P>
3. Die rapide Verlumpung der Gewerkschaftsf&uuml;hrer. Dagegen sind die
drakonischen Terrorma&szlig;nahmen machtlos. Im Gegenteil, sie korrumpieren
noch mehr. Das einzige Gegengift: Idealismus und soziale AKTIVIT&Auml;T der
Massen, unbeschr&auml;nkte politische Freiheit.
<P>
Das ist ein &uuml;berm&auml;chtiges objektives Gesetz, dem sich keine Partei
zu entziehen vermag.
<P>
<P>
Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie ist eben der, da&szlig; sie
die Diktatur, genau wie Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. "Diktatur
ODER Demokratie" hei&szlig;t die Fragestellung sowohl bei den Bolschewiki
wie bei Kautsky. Dieser entscheidet sich nat&uuml;rlich f&uuml;r die Demokratie,
und zwar f&uuml;r die B&Uuml;RGERLICHE Demokratie, da er sie eben als die
Alternative der sozialistischen Umw&auml;lzung hinstellt. Lenin-Trotzki
entscheiden sich umgekehrt f&uuml;r die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie
und damit f&uuml;r die Diktatur einer Handvoll Personen, d.h. f&uuml;r Diktatur
nach b&uuml;rgerlichem Muster. Es sind zwei Gegenpole, beide gleich weit
entfernt von der wirklichen sozialistischen Politik. Das Proletariat kann,
wenn es die Macht ergreift, nimmermehr nach dem guten Rat Kautskys unter
dem Vorwand der "Unreife des Landes" auf die sozialistische Umw&auml;lzung
verzichten und sich nur der Demokratie widmen, ohne an sich selbst, an der
Internationale, an der Revolution Verrat zu &uuml;ben. Es soll und mu&szlig;
eben sofort sozialistische Ma&szlig;nahmen in energischster, unnachgiebigster,
r&uuml;cksichtslosester Weise in Angriff nehmen, also Diktatur aus&uuml;ben,
aber Diktatur der KLASSE, nicht einer Partei oder Clique, Diktatur der Klasse,
d.h. in breitester &Ouml;ffentlichkeit, unter t&auml;tigster ungehemmter
Teilnahme der Volksmassen, in unbeschr&auml;nkter Demokratie. "Als Marxisten
sind wir nie G&ouml;tzendiener der formalen Demokratie gewesen", schreibt
Trotzki. Gewi&szlig;, wir sind nie G&ouml;tzendiener der formalen Demokratie
gewesen. Wir sind auch nie G&ouml;tzendiener des Sozialismus oder des Marxismus
gewesen. Folgt etwa daraus, da&szlig; wir auch den Sozialismus, den Marxismus,
wenn er uns unbequem wird, a la Cunow-Lensch-Parvus, in die Rumpelkammer
werfen d&uuml;rfen? Trotzki und Lenin sind die lebendige Verneinung dieser
Frage. Wir sind nie G&ouml;tzendiener der formalen Demokratie gewesen, das
hei&szlig;t nur: Wir unterscheiden stets den sozialen Kern von der politischen
Form der B&Uuml;RGERLICHEN Demokratie, wir enth&uuml;llten stets den herben
Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der s&uuml;&szlig;en
Schale der formalen Gleichheit und Freiheit - nicht um diese zu verwerfen,
sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale
zu begn&uuml;gen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem
sozialen Inhalt zu f&uuml;llen. Es ist die historische Aufgabe des Proletariats,
wenn es zur Macht gelangt, an Stelle der b&uuml;rgerlichen Demokratie
sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen.
Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn
der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges
Weihnachtsgeschenk f&uuml;r das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll
sozialistischer Diktatoren unterst&uuml;tzt hat. Sozialistische Demokratie
beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des
Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die
sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats.
<P>
<P>
Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der ART DER VERWENDUNG DER
DEMOKRATIE, nicht in ihrer ABSCHAFFUNG, in energischen, entschlossenen Eingriffen
in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verh&auml;ltnisse der
b&uuml;rgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische
Umw&auml;lzung nicht verwirklichen l&auml;&szlig;t. Aber diese Diktatur mu&szlig;
das Werk der KLASSE, und nicht einer kleinen, f&uuml;hrenden Minderheit im
Namen der Klasse sein, d.h. sie mu&szlig; auf Schritt und Tritt aus der aktiven
Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung
stehen, der Kontrolle der gesamten &Ouml;ffentlichkeit unterstehen, aus der
wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen.
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Genauso w&uuml;rden auch bisher die Bolschewiki vorgehen, wenn sie nicht
unter dem furchtbaren Zwang des Weltkriegs, der deutschen Okkupation und
aller damit verbundenen abnormen Schwierigkeiten litten, die jede von den
besten Absichten und den sch&ouml;nsten Grunds&auml;tzen erf&uuml;llte
sozialistische Politik verzerren m&uuml;ssen.
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Ein krasses Argument dazu bildet die so reichliche Anwendung des Terrors
durch die R&auml;teregierung, und zwar namentlich in der letzten Periode
vor dem Zusammenbruch des deutschen Imperialismus, seit dem Attentat auf
den deutschen Gesandten. Die Binsenweisheit, da&szlig; Revolutionen nicht
mit Rosenwasser getauft werden, ist an sich ziemlich d&uuml;rftig.
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Alles, was in Ru&szlig;land vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche
Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlu&szlig;steine:
das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Ru&szlig;lands
durch den deutschen Imperialismus. Es hie&szlig;e, von Lenin und Genossen
&uuml;bermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter
solchen Umst&auml;nden die sch&ouml;nste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur
des Proletariats und eine bl&uuml;hende sozialistische Wirtschaft
hervorzuzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolution&auml;re Haltung,
ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbr&uuml;chliche Treue dem
internationalen Sozialismus wahrhaftig geleistet, was unter so verteufelt
schwierigen Verh&auml;ltnissen zu leisten war. Das Gef&auml;hrliche beginnt
dort, wo sie aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen
aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen St&uuml;cken fixieren und
dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik
zur Nachahmung empfehlen wollen. Wie sie sich damit selbst v&ouml;llig
unn&ouml;tig im Lichte stehen und ihr wirkliches, unbestreitbares historisches
Verdienst unter den Scheffel notgedrungener Fehltritte stellen, so erweisen
sie dem internationalen Sozialismus, demzuliebe und um dessentwillen sie
gestritten und gelitten, einen schlechten Dienst, wenn sie in seine Speicher
als neue Erkenntnisse all die von Not und Zwang in Ru&szlig;land eingegebenen
Schiefheiten eintragen wollen, die letzten Endes nur Ausstrahlungen des
Bankerotts des internationalen Sozialismus in diesem Weltkriege waren.
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M&ouml;gen die deutschen Regierungssozialisten schreien, die Herrschaft der
Bolschewiki in Ru&szlig;land sei ein Zerrbild der Diktatur des Proletariats.
Wenn sie es war oder ist, so nur, weil sie eben ein Produkt der Haltung des
deutschen Proletariats war, die ein Zerrbild auf sozialistischen Klassenkampf
war. Wir alle stehen unter dem Gesetz der Geschichte, und die sozialistische
Gesellschaftsordnung l&auml;&szlig;t sich eben nur international
durchf&uuml;hren. Die Bolschewiki haben gezeigt, da&szlig; sie alles
k&ouml;nnen, was eine echte revolution&auml;re Partei in den Grenzen der
historischen M&ouml;glichkeiten zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht
Wunder wirken wollen. Denn eine musterg&uuml;ltige und fehlerfreie proletarische
Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg ersch&ouml;pften, vom Imperialismus
erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande w&auml;re
ein Wunder. Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das
Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zuf&auml;lligen zu
unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden
Endk&auml;mpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem
des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene
Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsf&auml;higkeit des Proletariats,
die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus &uuml;berhaupt.
In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten,
die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis
jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen k&ouml;nnen: Ich hab's
gewagt!
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Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem
Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung
der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung
des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und
die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt
m&auml;chtig vorangetrieben zu haben. In Ru&szlig;land konnte das Problem
nur gestellt werden. Es konnte nicht in Ru&szlig;land gel&ouml;st werden.
Und in DIESEM Sinne geh&ouml;rt die Zukunft &uuml;berall dem "Bolschewismus".
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