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<TITLE>Friedrich Engels - Der europaeische Krieg</TITLE>
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<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 584-587<BR>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961</P>
</FONT><H2>Friedrich Engels</H2>
<H1>Der europ&auml;ische Krieg</H1>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben um den 18. Januar 1856.<BR>
Aus dem Englischen.</P>
</FONT><P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["New-York Daily Tribune" Nr. 4616 vom 4. Februar 1856, Leitartikel]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S584">&lt;584&gt;</A></B> Das System der Kriegf&uuml;hrung, das bisher von den Westm&auml;chten gegen Ru&szlig;land angewandt wurde, ist v&ouml;llig niedergebrochen. Es wird nicht angehen, die diesj&auml;hrige Kampagne, wenn &uuml;berhaupt eine Kampagne stattfinden wird, nach dem bisherigen Plan fortzuf&uuml;hren. Die gesamten Kr&auml;fte Frankreichs, Englands, der T&uuml;rkei und Sardiniens gegen einen besonderen Punkt auf der Krim zu konzentrieren, gegen einen Punkt, den man bei Verwendung indirekter Mittel noch nebenbei h&auml;tte gewinnen k&ouml;nnen; um diesen Punkt elf lange Monate zu k&auml;mpfen und dann nur die H&auml;lfte davon zu erlangen; alle anderen g&uuml;nstigen Gelegenheiten, dem Feinde wirksame Schl&auml;ge zu versetzen, in solch einem Ma&szlig;e ungenutzt zu lassen, da&szlig; Ru&szlig;land durch die Eroberung von Kars einen Ausgleich f&uuml;r den Verlust der S&uuml;dseite Sewastopols erhalten konnte - all das mochte bei ein oder zwei Kampagnen in einem Kriege angehen, in welchem die verwundbarsten Punkte der gegnerischen Parteien durch die Neutralit&auml;t Mitteleuropas gedeckt waren. Aber das geht nicht l&auml;nger an. Der Kriegsrat, der gerade in Paris getagt hat, ist der beste Beweis, da&szlig; wir nun im Ernst so etwas wie Krieg haben werden, wenn der Krieg &uuml;berhaupt weitergehen soll.</P>
<P>Der Krieg, wie er bisher gef&uuml;hrt wurde, ist ein Zustand offizieller Feindseligkeiten gewesen, gemildert durch ausnehmende H&ouml;flichkeit. Wir meinen hier nicht die H&ouml;flichkeiten, die die unumg&auml;nglichen Verhandlungen unter der wei&szlig;en Fahne kennzeichnen, sondern die H&ouml;flichkeiten, die selbst die Kriegsr&auml;te der kriegf&uuml;hrenden Parteien ihren Gegnern erweisen. Die Schuld, da&szlig; der Krieg &uuml;berhaupt entstand, ist in einer Fehlkalkulation Kaiser Nikolaus' zu suchen. Er hatte niemals erwartet, da&szlig; sich Frankreich und England zusammentun w&uuml;rden, um sich seinen Absichten gegen&uuml;ber der T&uuml;rkei zu <A NAME="S585"><B>&lt;585&gt;</A></B> widersetzen; er war auf einen ruhigen kleinen Krieg mit dem Sultan aus, auf einen Krieg, der seine Truppen zum zweiten Mal vor die Mauern Konstantinopels f&uuml;hren und die europ&auml;ische Diplomatie aufr&uuml;tteln k&ouml;nnte, wenn es zu sp&auml;t w&auml;re, und der schlie&szlig;lich seinen Diplomaten Gelegenheit geben w&uuml;rde, wie gew&ouml;hnlich auf Konferenzen und Kongressen doppelt so viel zu gewinnen, als seine Truppen mit dem Schwert h&auml;tten gewinnen k&ouml;nnen. Zum Ungl&uuml;ck, unerwartet und gegen ihren Willen fanden sich, ehe sie dessen gewahr wurden, Ru&szlig;land und die Westm&auml;chte in einen Krieg verstrickt, und in den Krieg mu&szlig;ten sie nun ziehen, wenngleich auch keiner von ihnen das w&uuml;nschte. Jede Partei hatte aber in der Perspektive ein letztes Mittel der Kriegf&uuml;hrung, mit dem sie glaubte, die andere davon abzuschrecken, zum &Auml;u&szlig;ersten zu greifen. Es sollte ein Krieg von Prinzipien und von mehr oder weniger revolution&auml;rem Charakter werden, an dem Deutschland und die von ihm abh&auml;ngigen Gebiete, Ungarn, Polen, Italien, w&uuml;rden teilzunehmen haben. Die Ultima ratio des Westens bestand darin, einen Kampf der unterdr&uuml;ckten Nationalit&auml;ten Ungarns, Polens, Italiens und mehr oder weniger auch Deutschlands auszul&ouml;sen. Die Ultima ratio Ru&szlig;lands war der Appell an den Panslawismus, die Verwirklichung des Traumes, den Enthusiasten unter der slawischen Bev&ouml;lkerung Europas w&auml;hrend der letzten f&uuml;nfzig Jahre hegten.</P>
<P>Aber weder die russische Regierung noch die Louis Bonapartes (von der Palmerstons nicht zu reden) entschlossen sich, auf derartige Mittel zur&uuml;ckzugreifen, ehe nicht der &auml;u&szlig;erste Notfall eingetreten war, und demzufolge ist der Krieg gef&uuml;hrt worden mit einer gegenseitigen Nachsicht und Verbindlichkeit, die kaum zwischen legitimen Monarchen aus uraltem Geschlecht &uuml;blich ist, noch viel weniger zwischen solchen Empork&ouml;mmlingen und Usurpatoren wie die Romanows, die Hannoveraner und die Pseudo-Bonapartes. Die Ostseek&uuml;ste Ru&szlig;lands wurde kaum anger&uuml;hrt; es wurden keinerlei Versuche gemacht, dort festen Fu&szlig; zu fassen. Dort, wie auch im Wei&szlig;en Meer, war Privateigentum weit mehr der Gefahr ausgesetzt als Staatseigentum; und besonders an der K&uuml;ste Finnlands schienen die britischen Flotten keinen anderen Zweck zu verfolgen als den, die Finnen mit der russischen Herrschaft auszus&ouml;hnen. Auf dem Schwarzen Meer wurde nach &auml;hnlichen Prinzipien verfahren. Die dorthin gesandten alliierten Truppen schienen mit der Absicht gekommen zu sein, die T&uuml;rken dazu zu bringen, sich nach einer russischen Invasion zu sehnen; denn das ist der einzige Schlu&szlig;, den man aus ihrem Verhalten von 1854 bis jetzt ziehen kann. Den harmlosesten Teil der Zeit, die sie in der T&uuml;rkei zubrachten, verlebten sie w&auml;hrend ihres Aufenthalts in Varna, wo sie, unf&auml;hig etwas N&uuml;tzliches zu tun, wenigstens keinen nennenswerten Schaden anrichteten, es sei denn unter sich selbst. Und schlie&szlig;lich brachen sie nach <A NAME="S586"><B>&lt;586&gt;</A></B> der Krim auf. Sie brachten es fertig, den Krieg so zu f&uuml;hren, da&szlig; die russische Regierung allen Grund hatte, mit ihnen h&ouml;chst zufrieden zu sein. Der Herzog von Cambridge hat neulich viele Medaillen an die von der Krim zur&uuml;ckgekehrten franz&ouml;sischen Soldaten verteilt; aber keine Medaillen, Kreuze, Gro&szlig;kreuze, Sterne und B&auml;nder, die die russische Regierung zu vergeben hat, werden hinl&auml;nglich die Dankbarkeit ausdr&uuml;cken k&ouml;nnen, die sie den Leitern der Kampagne von 1854 und 1855 schuldet. Als die russische Garnison die S&uuml;dseite Sewastopols aufgab, hatte das den Alliierten 250.000 Mann an Toten und Verwundeten gekostet, au&szlig;erdem Millionen und aber Millionen an Geld. Die Russen, die in der Schlacht immer besiegt wurden, hatten ihre Feinde regelm&auml;&szlig;ig an Entschlossenheit und Aktivit&auml;t und hinsichtlich des Geschicks ihres befehlshabenden Ingenieurs &lt;Todtleben&gt; &uuml;bertroffen. Wenn Inkerman eine unausl&ouml;schliche Schande f&uuml;r die Russen war, so war die von den Russen genau vor der Nase ihrer Gegner bewerkstelligte Errichtung von Redouten auf dem Sapun und dem Mamelon eine unausl&ouml;schliche Schande sowohl f&uuml;r die Engl&auml;nder als f&uuml;r die Franzosen. Und doch scheint es, da&szlig; Sewastopol die Kr&auml;fte Ru&szlig;lands nicht so sehr ersch&ouml;pft hat wie die der Alliierten, denn es hinderte die Russen nicht daran, Kars zu nehmen.</P>
<P>Diese Einnahme von Kars war in der Tat das Besch&auml;mendste, was den Alliierten zusto&szlig;en konnte. Mit der enormen Seemacht, die ihnen zur Verf&uuml;gung stand, und mit einer den Russen im Felde seit Juni 1855 &uuml;berlegenen Truppenst&auml;rke, haben sie niemals den schw&auml;chsten Punkt Ru&szlig;lands, die transkaukasischen Provinzen angegriffen. Ja, sie erlaubten sogar den Russen, in jenem Gebiet eine unabh&auml;ngige Operationsbasis zu organisieren, eine Art von Statthalterschaft, die in der Lage ist, einem Angriff von &uuml;berlegenen Kr&auml;ften einige Zeit standzuhalten, wenn auch die Kommunikationen zum Mutterland unterbunden sein mochten. Nicht zufrieden damit, nicht gewarnt durch die ununterbrochenen Niederlagen, die die asiatisch-t&uuml;rkische Armee in den Jahren 1853 und 1854 erlitten hatte, hinderten sie die t&uuml;rkische Armee Omer Paschas daran, etwas Sinnvolles in Asien zu tun, indem sie sie auf der Krim festhielten und ihr auf der Krim nichts weiter zu tun gaben, als f&uuml;r ihre Alliierten Holz zu schlagen und Wasser zu sch&ouml;pfen. Nachdem also die ganze K&uuml;ste von der Stra&szlig;e von Kertsch bis nach Batum sorgf&auml;ltig von allen russischen Siedlungen ger&auml;umt und dadurch eine Linie gewonnen war, auf der man zehn oder f&uuml;nfzehn Punkte als Hauptbasen f&uuml;r beliebige Operationen gegen Kaukasien oder Transkaukasien aussuchen konnte - den schw&auml;chsten Teil Ru&szlig;lands, wie wir schon oft gezeigt haben -, wurde nichts unternommen, <A NAME="S587"><B>&lt;587&gt;</A></B> bis schlie&szlig;lich Kars hart bedr&auml;ngt wurde und man zulie&szlig;, da die Armee bei Erzerum zu nichts zu gebrauchen war, da&szlig; Omer Pascha seine ungl&uuml;ckliche Expedition nach Mingrelien unternahm - aber es war schon zu sp&auml;t, um irgend etwas zu n&uuml;tzen.</P>
<P>Diese Halsstarrigkeit, die Wucht des Krieges auf einer Halbinsel von etwa der Gr&ouml;&szlig;e Long Islands zu konzentrieren, hat gewi&szlig; dazu gedient, alle unangenehmen Fragen auszuschalten. Keine Nationalit&auml;ten, kein Panslawismus, keine Schwierigkeiten mit Mitteleuropa, keine Notwendigkeiten, Eroberungen zu machen, keine gro&szlig;en entscheidenden Ergebnisse, welche sp&auml;tere Verhandlungen erschweren, weil sie die Notwendigkeit mit sich bringen, einer der Parteien wirkliche Opfer aufzuerlegen, sind in Erscheinung getreten. Aber f&uuml;r die in der eigentlichen Kampagne stehenden Soldaten ist das weniger angenehm. F&uuml;r sie, wenigstens vom Obersergeanten abw&auml;rts, ist der Krieg eine harte und unerbittliche Tatsache. Solange es Kriege gibt, ist noch nie so gro&szlig;artige Tapferkeit f&uuml;r so unzul&auml;ngliche Ergebnisse vergeudet worden wie in dieser Krimkampagne. Noch nie hat man derartige Mengen von erstklassigen Soldaten geopfert und noch dazu in so kurzer Zeit, um derartig zweifelhafte Erfolge herbeizuf&uuml;hren. Es ist klar, da&szlig; man den Armeen solche Leiden nicht wieder zumuten kann. Es m&uuml;ssen greifbarere Resultate erreicht werden als leerer "Ruhm". Man kann nicht mit einem Aufwand von zwei gro&szlig;en Schlachten und vier oder f&uuml;nf Generalst&uuml;rmen pro Jahr weiterk&auml;mpfen und doch immer auf derselben Stelle bleiben. Das h&auml;lt auf die Dauer keine Armee aus. Keine Flotte wird eine dritte Kampagne aushalten, die ebenso resultatlos ist wie die beiden vorhergehenden in der Ostsee und auf dem Schwarzen Meer. Falls der Krieg fortgef&uuml;hrt wird, werden wir also h&ouml;ren, da&szlig; der Einfall in Finnland, Estland und Bessarabien bevorsteht; man verspricht uns schwedische Hilfstruppen und &ouml;sterreichische Demonstrationen. Aber gleichzeitig erfahren wir, da&szlig; Ru&szlig;land die &ouml;sterreichischen Vorschl&auml;ge als Verhandlungsgrundlage angenommen hat, und wenn dies auch weit davon entfernt ist, die Frage des Friedens zu kl&auml;ren, so gibt es doch die M&ouml;glichkeit, dieses Ziel zu erreichen.</P>
<P>Es besteht also Aussicht, da&szlig; keine neue Kampagne stattfindet; aber wenn es doch dazu kommt, so d&uuml;rfen wir annehmen, da&szlig; sie viel ausgedehnter und ergebnisreicher sein mu&szlig; als die vorangegangenen,</P>
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