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<TITLE>John Reed: 10 Tage die die Welt erschütterten</TITLE>
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<BODY bgcolor="#FFFFFF">
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X. MOSKAU
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Das Revolutionäre Militärkomitee verfolgte mit grimmiger
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Entschlossenheit seinen Sieg:
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Æ14. November.
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A n a l l e A r m e e k o m i t e e s, a n a l l e K o r p s -, D i v i s
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i o n s - u n d
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R e g i e r u n g s k o m i t e e s, a n a l l e S o w j e t s d e r A r
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b e i t e r - , S o l d a t e n - u n d
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B a u e r n d e p u t i e r t e n , a n A l l e , A l l e , A l l e !
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Gemäß dem Abkommen zwischen den Kosaken, Offiziersschülern
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Soldaten Matrosen und Arbeitern ist beschlossen worden, Alexander Fjodorowitsch
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Kerenski vor ein Volkstribunal zu stellen. Wir fordern, daß Kerenski
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verhaftet und ihm, im Namen der nachgenannten Organisationen, befohlen wird,
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unverzüglich nach Petrograd zu kommen und sich dem Tribunal zu stellen.
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Gezeichnet:
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Die Kosaken der 1. Ussuri-Kavalleriedivision.
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Das Komitee der Offiziersschüler der Petrograder
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Freischützen-Abteilung.
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Der Delegierte der Fünften Armee.
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Volkskommissar <I>Dybenko</I>."
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Das Komitee zu Rettung des Vaterlandes und der Revolution, die Duma, das
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Zentralkomitee der Sozialrevolutionären Partei (die Kerenski stolz als
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ihr Mitglied zählte) protestierten leidenschaftlich und erklärten,
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daß nur die Konstituierende Versammlung ihn zur Verantwortung ziehen
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könne.
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Am 16. November abends sah ich zweitausend Rotgardisten den Sagorodny-Prospekt
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hinuntermarschieren, an ihrer Spitze eine Militärkapelle, die die
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Marseillaise spielte, mit blutroten Fahnen, die heimkehrenden Brüder
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zu begrüßen, die siegreich das Rote Petrograd verteidigt hatten.
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Männer und Frauen, ihre Gewehre geschultert, in der kalten Dämmerung
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durch die schlecht beleuchteten, schlüpfrigen Straßen stampfend,
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an schweigenden Haufen von Bourgeois vorbei, die sie verächtlich, aber
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furchterfüllt vorüberziehen sahen.
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Alle waren gegen sie - Geschäftsleute, Spekulanten, Kapitalisten,
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Gutsbesitzer, Offiziere, Politiker, Lehrer, Studenten, Angehörige freier
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Berufe, Handwerker, Krämer, Beamte, Büroangestellte. Die anderen
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sozialistischen Parteien begegneten den Bolschewiki mit unversöhnlichem
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Haß. Auf ihrer Seite waren nur die Massen der Arbeiter, die Matrosen,
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alle nichtdemoralisierten Soldaten, die landlosen Bauern und einige - sehr
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wenige - Intellektuelle. Die Kunde von Kerenskis Niederlage kam wie ein Echo
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von den entferntsten Ecken des weiten Rußlands, wo ausgedehnte
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Straßenkämpfe wie eine welle losbrachen, als ungeheures Brausen
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des proletarischen Sieges zurück. In Kasan, Saratow, Nowgorod und Winniza
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waren die Straßen mit Blut bedeckt; in Moskau hatten die Bolschewiki
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ihre Geschütze gegen die letzte Festung der Bourgeoisie - den Kreml
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- gerichtet. ÆSie bombardieren den Kreml!" - Mit abergläubischem
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Entsetzen rief man es einander in den Straßen Petrograds zu. Reisende
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aus dem Æweißen und schimmernden Moskau" berichteten
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Fürchterliches: Tausende ermordet, die Twerskaja und der Kusnezki-Most
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in Flammen, die Basilius-Kathedrale ein rauchender Trümmerhaufen, die
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Uspenski-Kathedrale im Zusammenbrechen, das Spasski-Tor des Kreml vor dem
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Einsturz, die Duma niedergebrannt. Nichts, was die Bolschewiki bisher getan,
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war dieser furchtbaren Lästerung im Herzen des heiligen Rußlands
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selbst vergleichbar. Die Ohren der Gläubigen hörten förmlich
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das Krachen der Granaten, wie sie einschlugen in das Antlitz der Heiligen
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Orthodoxen Kirche und das Allerheiligste der russischen Nation zu Staub
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zermalmten. Am 15. November brach in der Sitzung des Rates der Volkskommissare
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Lunatscharski, der Kommissar für Volksbildung, in Tränen aus und
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eilte aus dem Saal, schreiend: ÆDas halte ich nicht aus! Ich kann diese
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entsetzliche Vernichtung von soviel Schönheit und Tradition nicht ertragen!"
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Am Nachmittag brachten die Zeitungen sein Rücktrittsschreiben: ÆVon
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Augenzeugen habe ich soeben gehört, was sich in Moskau abspielt. Die
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Basilius-Kathedrale, die Uspenski-Kathedrale werden bombardiert. Der Kreml,
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in dem zu Zeit die wichtigsten Kunstschätze Petrograds und Moskaus
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aufbewahrt werden, steht unter Artilleriefeuer. Die Opfer zählen nach
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Tausenden. Der fürchterliche Kampf hat dort den Gipfel bestialischer
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Wildheit erreicht. Was bleibt da noch? Kann es noch schlimmer kommen? Ich
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kann das nicht aushalten. Das Maß ist voll. Ich bin nicht in der Lage,
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diesen Schrecken aufzuhalten. Unter dem Druck dieser Gedanken, die mich zum
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Wahnsinn treiben, kann ich nicht arbeiten! Ich scheide darum aus dem Rat
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der Volkskommissare aus. Ich bin mir über die Tragweite dieses Entschlusses
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vollkommen klar. Aber ich kann es nicht mehr ertragen..." Am selben Tage
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streckten die Weißgardisten und Offiziersschüler im Kreml die
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Waffen, und ihnen wurde freier Abzug gewährt.
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Hier der Friedensvertrag:
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Æ1. Das Komitee für öffentliche Sicherheit hört auf
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zu bestehen.
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2. Die Weiße Garde gibt die Waffen ab und wird aufgelöst. Die
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Offiziere behalten die ihrem Rang zustehenden Waffen. Die Offiziersschüler
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behalten nur die für ihre Ausbildung notwendigen Waffen. Alle übrigen
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Waffen der Offiziersschüler werden abgeliefert. Das Revolutionäre
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Militärkomitee garantiert allen persönliche Freiheit und
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Unverletzlichkeit.
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3. Zur Entscheidung der Frage, wie die Entwaffnung, von der in Punkt 2 die
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Rede ist, durchgeführt werden soll, wird eine Kommission gebildet aus
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Vertretern des Revolutionären Militärkomitees, des Offizierskorps
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und der Organisationen, die an der Vermittlung teilgenommen haben.
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4. Mit dem Augenblick der Unterzeichnung des Friedensabkommens geben beide
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Seiten unverzüglich den Befehl, jedes Schießen und alle
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Kampfhandlungen einzustellen, und ergreifen entschiedene Maßnahmen,
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um diesen Befehl an Ort und Stelle unbedingt zur Durchführung zu bringen.
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5. Nach Unterzeichnung des Abkommens werden alle Gefangenen beider Seiten
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unverzüglich in Freiheit gesetzt."
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Seit zwei Tagen waren nun die Bolschewiki Herren der Stadt. Die
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geängstigten Bürger kamen aus ihren Kellern herausgekrochen, um
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ihre Toten zu suchen. Aus den Straßen verschwanden die Barrikaden.
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Trotzdem nahmen die Schauermeldungen über die in Moskau angerichteten
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Zerstörungen nicht ab, sondern zu. Wir beschlossen daher, nach Moskau
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zu fahren, um selbst zu sehen, was sich dort abgespielt hatte. Petrograd
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hat, wenn auch seit zwei Jahrhunderten Sitz der Regierung, noch immer etwas
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Gekünsteltes und Fremdes an sich. Moskau aber ist das wahre Rußland,
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das Rußland, wie es war und wie es sein wird; in Moskau würden
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wir erfahren, wie das russische Volk in Wahrheit zur Revolution steht. Das
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Leben war dort immer intensiver.
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Im Verlaufe der letzten Woche hatte das Petrograder Revolutionäre
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Militärkomitee mit Hilfe der Massen der Eisenbahner die Kontrolle der
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Nikolaibahn übernommen und warf jetzt Zug um Zug mit Matrosen und
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Rotgardisten nach dem Südwesten. Wir hatten vom Smolny ausgestellte
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Passierscheine, ohne die niemand die Hauptstadt verlassen durfte. Der Zug
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war noch nicht ganz eingelaufen, als auch schon ein großer Haufe zerlumpter
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Soldaten, alle mit riesigen Lebensmittelpaketen beladen, die Türen
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stürmte, die Fenster zerschlug, in alle Abteile eindrang, die Trittbretter
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besetzte und sogar auf die Dächer kletterte. Wir waren unser drei, denen
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es gelang, sich in ein Abteil zu zwängen; aber mindesten zwanzig Soldaten
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waren sofort hinter uns. Plätze waren nur für vier Personen da.
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Wir versuchten die Soldaten zu überzeugen, schimpften, und der Schaffner
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gab uns recht. Wir wurden aber nur ausgelacht. Was kümmerte sie das
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Bequemlichkeitsbedürfnis einer Handvoll ÆBurshui" (Bourgeois)!
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Jetzt zeigten wir unsere Passierscheine vom Smolny, und sofort änderten
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die Soldaten ihre Haltung. ÆGenossen", schrie einer, Ædas sind
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amerikanische Genossen! Sie sind dreißigtausend Werst weit hierhergekommen,
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um unsere Revolution zu sehen. Da ist es natürlich, daß sie müde
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sind." Unter höflichen und freundlichen Entschuldigungen ließen
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uns die Soldaten allein. Einige Augenblicke später hörten wir sie
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ein Abteil aufbrechen, das von zwei dicken, gut gekleideten Russen mit Beschlag
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belegt war, die den Schaffner bestochen und die Abteiltür abgeschlossen
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hatten. Gegen sieben Uhr abends fuhr unser Zug endlich aus der Station hinaus,
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nur von einer winzigen, holzgefeuerten Lokomotive gezogen, langsam, unter
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vielem Halten vorwärtskriechend. Die Soldaten auf dem Dache sangen
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weinerliche Bauernweisen, den Takt dazu mit ihren Absätzen stampfend.
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Im Korridor des Zuges, in dem ein fürchterliches Gedränge herrschte,
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so daß man keinen Schritt zu tun vermochte, tobten die ganze Nacht
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hindurch wütende politische Debatten. Hin und wieder kamen Schaffner,
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um - der Gewohnheit getreu - die Fahrkarten zu kontrollieren. Außer
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den unsrigen fand er nicht viele, und nach einer halben Stunde fruchtlosen
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Streitens hob er verzweifelt die Arme und verschwand. Die Luft war zum Ersticken,
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voller Tabaksqualm und ensetzlichem Gestank. Ohne die zerbrochenen
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Fensterscheiben hätten wir die Nacht kaum überstehen können.
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Als wir am nächsten Morgen, reichlich spät, erwachten, hatten wir,
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aus den Fenstern blickend, die Überraschung einer völlig verschneiten
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Welt. Es war bitter kalt. Gegen Mittag brachte uns eine Bauersfrau einen
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großen Korb Brotschnitten und eine mächtige Kanne lauwarmen
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Kaffee-Ersatzes. Von da an bis zum Abend war nichts als der
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überfüllte Zug, rüttelnd, anhaltend, manchmal eine Station,
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wo die ausgehungerten Soldaten über das spärlich versorgte Büffet
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herfielen und es im Handumdrehen leerfegten. Auf einer dieser Stationen
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stieß ich auf Nogin und Rykow, die ausgeschiedenen Kommissare, die
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nach Moskau zurückkehrten, um ihre Klagen bei ihrem eigenen Sowjet
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vorzubringen; etwas weiter traf ich Bucharin, einen kleinen rotbärtigen
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Mann, mit den Augen eines Fanatikers - Ælinker als Lenin", hieß
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es von ihm... Dann ertönte die Bahnhofsglocke, und wir stürzten
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uns wieder auf unseren Zug, zwängten uns durch den überfüllten
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und lauten Gang...Gutmütige Menschen, die alle Unbequemlichkeiten geduldig
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und voller Humor ertrugen und dabei endlos über alles debattierten,
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von der Lage in Petrograd bis zur britischen Gewerkschaftsbewegung, oder
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laut auf die wenigen mitreisenden ÆBurshui" einredeten. Bevor wir in
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Moskau ankamen, hatte fast jeder Waggon einen Ausschuß für die
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Beschaffung und Verteilung von Lebensmitteln gebildet, und diese Ausschüsse
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spalteten sich in politische Parteien, die sich endlos über prinzipielle
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Fragen stritten. In Moskau fanden wir den Bahnhof verödet. Wir gingen
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zu dem Büro des Kommissars, um die Karten für unsere Rückfahrt
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in Ordnung bringen zu lassen, und trafen einen mürrisch blickenden jungen
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Menschen, der die Achselstücke eines Leutnants trug. Als wir ihm unsere
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Passierscheine vom Smolny zeigten, wurde er wütend und erklärte
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schimpfend, daß er kein Bolschewik sei, sondern das Komitee für
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die öffentliche Sicherheit repräsentiere. Es war charakteristisch
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- in der allgemeinen Aufregung um den Besitz der Stadt hatten die Sieger
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den Hauptbahnhof völlig vergessen. Keine Droschke in Sicht. Ein paar
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Häuserblocks weiter weckten wir jedoch einen grotesk vermummten Kutscher,
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der auf dem Bock seines kleinen Schlittens eingeschlafen war. Wieviel die
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Fahrt bis zum Stadtzentrum kostet? Er kratzte sich den Kopf. ÆDie Herren
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werden in keinem Hotel Unterkommen finden", sagte er. ÆIch will Sie
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jedoch für hundert Rubel fahren..." Vor der Revolution kostete dieselbe
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Fahrt zwei Rubel! Wir protestierten. Er zuckte die Schultern. ÆEs
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gehört Mut dazu, nachts einen Schlitten zu fahren", fuhr er fort. Es
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gelang uns, ihn bis auf fünfzig herunterzudrücken... Während
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wir in schnellem Tempo die stillen, im Schnee leuchtenden Straßen
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entlangfuhren, schilderte er uns seine Abenteuer während des
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sechstägigen Kampfes. Æich fahre meines Weges oder warte an der
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Straßenecke auf einen Fahrgast, plötzlich paff! - eine Granate
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hier, paff! - eine Granate dort, ratt, ratt, ratt - ein Maschinengewehr...Ich
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los, im Galopp. Überall um mich herum wird wie verrückt geschossen.
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Ich erreiche eine hübsche ruhige Straße, halte da, verschnaufe
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mich ein bißchen, mit einemmal, paff! - eine neue Granate...Verteufelt!"
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Die schneebedeckten Straßen im Zentrum der Stadt lagen ruhig. Nur ein
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paar Bogenlampen brannten, und auf den Bürgersteigen eilten schnellen
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Schrittes vereinzelte Fußgänger vorüber. Von der Ebene her
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blies ein eisiger Wind, der durch Mark und Bein schnitt. Im ersten Hotel
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betraten wir ein von zwei Kerzen kümmerlich erleuchtetes Büro.
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ÆJawohl, wir haben einige sehr komfortable Zimmer, nur sind alle Fenster
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herausgeschossen. Falls ein bißchen frische Luft die Herren nicht
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geniert..." Auf der Twerskaja waren alle Schaufenster zerschlagen, allenthalben
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in der Straße Granatlöcher und aufgewühlte Pflastersteine.
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Ein Hotel nach dem anderen, alles überfüllt oder die Eigentümer
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noch immer so erschreckt, daß sie nichts anderes zu sagen vermochten,
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als Ænein nein, wir haben keinen Platz! Wir haben keinen Platz!" In
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den Hauptstraßen, wo die großen Banken und
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Geschäftshäuser lagen, hatte die Artillerie der Bolschewiki
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gründliche Arbeit geleistet. Ein Sowjetfunktionär erzählte
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mir: ÆWenn wir nicht genau wußten, wo die Offiziersschüler
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und Weißgardisten waren, bombardierten wir eben die Geldschränke."
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Im großen Hotel ÆNational" nahm man uns dann endlich auf. Wir
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waren Ausländer, und das Revolutionäre Militärkomitee hatte
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versprochen, die Wohnsitze der Ausländer zu schützen. Der Hoteldirektor
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führte uns umher und zeigte uns eine Anzahl durch Schrapnellschüsse
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zertrümmerte Fensterscheiben im Dachgeschoß. ÆDiese Bestien!"
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sagte er, die Fäuste ballend. ÆAber nur Geduld! Ihre Zeit wird
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kommen! In einigen Tagen wird ihre lächerliche Regierung stürzen,
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und dann werden wir's ihnen zeigen!"
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Wir aßen in einem vegetarischen Restaurant, mit dem verlockenden Namen
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ÆIch esse Niemand" und einem auffallend großen Bild Tolstois
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an der Wand. Dann eilten wir hinaus, die Stadt zu sehen. Der Hauptsitz des
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Moskauer Sowjets befand sich in dem früheren Palast des Generalgouverneurs,
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einem imposanten weißen Bau, dessen Front nach dem Skobelewplatz zu
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liegt. Vor dem Eingang standen Rotgardisten Wache. In der oberen Etage des
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weiten regelmäßigen Treppenhauses, dessen Wände mit der
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Ankündigung von Komiteesitzungen und den Aufrufen der politischen Parteien
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bedeckt waren, passierten wir mehrere vornehme Empfangssäle mit zahllosen,
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jetzt rot verhängten Bildern in vergoldeten Rahmen und gelangten in
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den prächtigen Staatssalon mit seinen herrlichen Kristallkronleuchtern
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und goldstrotzender Stuckverzierung. Gedämpftes Sprechen und das surrende
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Gebrumm einiger zwanzig Nähmaschinen füllte den Saal. Riesige Ballen
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roter und schwarzer Stoffe lagen entrollt und schlängelten sich über
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den Parkettboden und die Tische, an denen ein halbes Hundert Frauen saßen,
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die Fahnen und Banner für das Begräbnis der Revolutionsopfer
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zuschnitten und nähten. Die Züge der Frauen waren herb und trugen
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die Spuren der Kämpfe des Proletarierdaseins. Sie arbeiteten mit Feuereifer,
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mit vom Weinen geröteten Augen. Die Verluste der Roten Armee waren schwer
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|
gewesen. An einem Pult in einer Ecke sah ich Rogow, einen intelligenten
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bärtigen Mann mit einer Brille, in der schwarzen Bluse eines Arbeiters.
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Er lud uns ein, bei der am nächsten Morgen stattfindenden
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Trauerdemonstration mit dem Zentralexekutivkomitee zu marschieren. ÆDen
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Sozialrevolutionären und Menschewiki etwas beizubringen ist unmöglich!
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Die können das Kompromisseln nun einmal nicht lassen! Stellen Sie sich
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vor, sie haben uns ein gemeinsames Leichenbegängnis mit den
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||
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Offiziersschülern vorgeschlagen!" Durch den Saal kam ein Mann in einem
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||
|
zerlumpten Soldatenmantel, eine Soldatenmütze auf dem Kopf, dessen Gesicht
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mir vertraut schien. Ich erkannte Melnitschanski, den ich in Bayonne, New
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Jersey, während des großen Standard-Oil-Streiks als Uhrmacher
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|
Georg Melcher kennengelernt hatte. Jetzt war er, wie er mir erzählte,
|
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|
Sekretär des Moskauer Metallarbeiterverbandes und seit den Kämpfen
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||
|
Kommissar des Revolutionären Militärkomitees. ÆDa, schauen
|
||
|
Sie mich an", sagte er, auf seine abgerissene Kleidung weisend. ÆIch
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||
|
war mit den Jungen im Kreml, als die Offiziersschüler zum erstenmal
|
||
|
gekommen sind. Sie haben mich in den Keller geworfen, mir Mantel, Geld und
|
||
|
Uhr, ja sogar den Ring vom Finger gestohlen! In solchen Lumpen muß
|
||
|
ich jetzt herumlaufen!" Von ihm erfuhr ich eine Fülle von Einzelheiten
|
||
|
über die blutige Sechstageschlacht, die Moskau in zwei sich wutentbrannt
|
||
|
gegenüberstehende Lager gespalten hatte. Anders als in Petrograd, hatte
|
||
|
hier die Stadtduma das Oberkommando über die Offiziersschüler und
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||
|
Weißgardisten übernommen. Die Aktionen des Komitees für die
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||
|
öffentliche Sicherheit und die der Truppen unterstanden der Leitung
|
||
|
des Bürgermeisters Rudnew und des Dumapräsidenten Minor. Der
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||
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Stadtkommandant Rjabzew, ein mehr demokratisch gesinnter Mann, hatte anfangs
|
||
|
gezögert, sich dem Revolutionären Militärkomitee zu widersetzen,
|
||
|
sich dann aber dem Zwange der Duma gefügt. Die Besetzung des Kreml war
|
||
|
auf Anraten des Bürgermeisters geschehen. ÆSie werden es nie wagen,
|
||
|
euch dort zu beschießen", hatte er gesagt. Ein Garnisonregiment, durch
|
||
|
lange Inaktivität völlig demoralisiert, war von beiden Seiten um
|
||
|
Hilfe angegangen worden. Die Soldaten des Regiments hielten eine Versammlung
|
||
|
ab, um zu beraten, wie sie sich verhalten sollten. Sie beschlossen, daß
|
||
|
das Regiment neutral bleiben und seiner gegenwärtigen Beschäftigung
|
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|
nachgehen sollte - dem Handel mit Feuersteinen und Sonnenblumenkernen! ÆDas
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||
|
Schlimmste aber war", sagte Melnitschanski, Ædaß wir unsere
|
||
|
Kräfte organisieren mußten, während wir kämpften. Die
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||
|
andere Seite wußte genau, was sie wollte. Aber hier hatten die Soldaten
|
||
|
ihre Sowjets, und die Arbeiter hatten die ihren. Man stritt fürchterlich
|
||
|
darum, wer das Oberkommando haben sollte. Manche Regimenter debattierten
|
||
|
tagelang, bevor sie zu einem Beschluß kamen, und als uns die Offiziere
|
||
|
plötzlich verließen, hatten wir keinen Stab, der die Kämpfe
|
||
|
leitete." Er schilderte mir lebendige kleine Episoden: An einem kalten, grauen
|
||
|
Tage hatte er an einer Ecke der Nikitskaja gestanden, über die ein Hagel
|
||
|
von Maschinengewehrfeuer ging. Eine Gruppe kleiner Jungen war dort versammelt
|
||
|
- Straßenbuben, die sonst Zeitungen verkauften. Kreischend, aufgeregt,
|
||
|
als ob es sich um ein neues Spiel handelte, warteten sie ab, bis das
|
||
|
Schießen etwas nachließ, und rannten dann über die
|
||
|
Straße...Viele kamen dabei um, aber die übrigen rannten weiter
|
||
|
hin und her, lachend, sich gegenseitig herausfordernd.
|
||
|
<P>
|
||
|
Spät am Abend ging ich zur Dworjanskoje Sobranije, dem Adelsklub, wo
|
||
|
eine Versammlung der Moskauer Bolschewiki stattfinden sollte, um zu hören,
|
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|
was die aus dem Rate der Volkskommissare ausgetretenen Bolschewiki Nogin,
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||
|
Rykow und einige andere zu ihrer Rechtfertigung vorzubringen hätten.
|
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|
Die Versammlung fand im Theatersaal statt, wo unter dem alten Regime vor
|
||
|
einem auserlesenen Publikum von Offizieren und elegant gekleideten Damen
|
||
|
die neuesten französischen Komödien gespielt zu werden pflegten.
|
||
|
Beim Beginn der Versammlung überwogen die im Zentrum der Stadt wohnenden
|
||
|
Intellektuellen. Nogin sprach, und die Mehrzahl der Anwesenden stimmte ihm
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zu. Spät erst kamen die Arbeiter. Ihre Wohnungen lagen weit draußen
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an der Peripherie der Stadt, und die Straßenbahnen fuhren nicht. Aber
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gegen Mitternacht begannen sie in Trupps zu zehn oder zwanzig Mann in den
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Saal zu strömen - große, derbe Gestalten, die Kleider noch schmutzig
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vom Kot der Schützengräben, wo sie sich eine Woche lang wie die
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Teufel geschlagen und ihre Kameraden rechts und links neben sich hatten fallen
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sehen. Die formelle Eröffnung der Versammlung war kaum erfolgt, als
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Nogin auch schon mit einem Hagel spöttischer und zorniger Zurufe
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überschüttet wurde. Vergebens versuchte er zu reden und
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Erklärungen abzugeben. Sie wollten ihn nicht hören. Er war aus
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dem Rate der Volkskommissare ausgetreten, er hatte seinen Posten mitten im
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Schlachtgetümmel verlassen! Was die bürgerliche Presse anbelange,
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die gebe es in Moskau überhaupt nicht mehr; sogar die Stadtduma sei
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aufgelöst worden. Bucharin sprach, wild, mit unerbittlicher Logik, jedes
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Wort ein Hammerschlag. Ihm lauschten sie mit leuchtenden Augen. Mit großer
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Mehrheit wurde eine Resolution angenommen, die das Vorgehen des Rates der
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Volkskommissare guthieß. So sprach Moskau.
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Spät in der Nacht gingen wir durch die leeren Straßen und das
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Iberische Tor nach dem großen Roten Platz vor dem Kreml. Durch die
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Dunkelheit schimmerten verschwommen die phantastischen Formen der
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Basilius-Kathedrale mit ihren leuchtenden Kuppeln und Türmen. Von
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Beschädigungen keine Spur. Längs der einen Seite des Platzes erhoben
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sich die dunklen Mauern des Kreml, darauf der flackernde Widerschein unsichtbarer
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Feuer. Von jenseits des mächtigen Platzes drangen Stimmen zu uns, vermischt
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mit dem Geräusch arbeitender Picken und Schaufeln. Wir gingen hinüber.
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Am Fuße der Mauer türmten sich Berge von Erde und Steinen. Wir
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kletterten hinauf und blickten in zwei mächtige Gruben, zehn bis
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fünfzehn Fuß tief und etwa vierzig Meter lang, wo gegen hundert
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Arbeiter und Soldaten bei dem Scheine mächtiger Feuer schaufelten. Ein
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junger Student sprach uns deutsch an: ÆDas Grab für unsere toten
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Brüder!" erklärte er. ÆMorgen werden wir hier fünfhundert
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Proletarier betten, die für die Revolution gestorben sind." Er half
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uns die Grube hinunter. Eilig flogen die Picken und Schaufeln, und die Berge
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Erde wuchsen höher und höher. Nicht einer der arbeitenden Männer
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sprach ein Wort. Über ihnen war der sternenübersäte Himmel,
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und die alten Mauer des Zarenkreml ragte gewaltig auf. ÆHier an diesem
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heiligen Ort", sagte der Student, Ædem heiligsten in ganz Rußland,
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werden wir unser liebstes zur ewigen Ruhe betten. Hier, wo sich die Gräber
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der Zaren befinden, sollen unsere gefallenen Brüder schlafen." Er war
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in den Kämpfen verwundet worden und trug den Arm in der Schlinge. Er
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blickte auf sie herunter. ÆIhr Ausländer seht auf uns Russen herab,
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weil wir diese mittelalterliche Monarchie solange geduldet haben; aber wir
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Russen wußten, daß der Zar nicht der einzige Tyrann in der Welt
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war. Der Kapitalismus ist schlimmer, und er herrscht in der ganzen Welt.
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Die Taktik der russischen Revolutionäre, das ist die richtige." Als
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wir gingen, begannen die Arbeiter in den Gruben, erschöpft und trotz
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der Kälte schweißtriefend, schwerfällig herauszuklettern.
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Über den Platz kamen eilig neue Trupps. Die Männer sprangen in
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die Gruben hinein, packten die Picken und Schaufeln und arbeiteten in tiefem
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Schweigen. So lösten die ganze Nacht hindurch Proletarier einander ab,
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in rastloser Eile schaufelnd, und als über dem schneebedeckten weiten
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Platz das Kalte Morgenlicht dämmerte, war das Massengrab fertig.
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Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als wir schon wieder auf den Beinen
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waren und durch die dunklen Straßen nach dem Skobelewplatz eilten.
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Wir sahen in der ganzen großen Stadt nicht einen Menschen; in der Luft
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war aber ein kaum merkliches aufgeregtes Summen, wie von heranbrausendem
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Sturm. Aus dem faden Dämmerlicht tauchte eine kleine Gruppe von
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Männern und Frauen mit goldbeschriebenen roten Bannern auf - das
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Zentralexekutivkomitee des Moskauer Sowjets. Es wurde allmählich heller.
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Das Summen in der Luft wurde lauter und tiefer und wuchs an zu einem
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unaufhörlichen wuchtigen Baß. Die Stadt begann zu erwachen. Wir
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marschierten die Twerskaja entlang, die wehenden Banner über uns. Die
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kleinen Straßenkapellen längs des Weges waren verschlossen und
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finster. Verschlossen und finster war auch die Kapelle der Iberischen Jungfrau,
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die jeder neue Zar zu besuchen pflegte, bevor er zum Kreml ging, im sich
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dort selbst die Krone aufs Haupt zu setzen, und die sonst Tag und Nacht offen
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stand, wimmelnd von Gläubigen und strahlend im Glanze der von den Frommen
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gestifteten Kerzen, dem Gold und Silber, den Juwelen der Heiligenbilder.
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Zum ersten Male, seit Napoleon in Moskau gewesen, waren, so hieß es,
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die Kerzen ausgegangen.
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Die Heilige Orthodoxe Kirche hatte ihre Gunst Moskau entzogen, dem ÆNeste
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verruchten Otterngezüchts", das den Kreml zu bombardieren den verwegenen
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Mut gehabt hatte. Schwarz und schweigend lagen die Kirchen. Die Priester
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waren verschwunden. Keine Popen waren da, um bei dem roten Leichenbegängnis
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den Gottesdienst zu halten. Niemand hatte die Toten eingesegnet. Keine Gebete
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sollte über den Gräbern der ÆGotteslästerer" gesprochen
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werden! Tichon, der Metropolit von Moskau, bereitete die Exkommunikation
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der Sowjets vor. Auch die Läden waren geschlossen, und die besitzenden
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Klassen blieben zu Hause; aber aus einem anderen Grunde: Das Volk war heute
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auf der Straße, und sie zogen es vor, dem furchterweckenden Getöse
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seines Aufmarsches fernzubleiben. Schon zog ein unabsehbarer Menschenstrom
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durch das Iberische Tor. Tausende standen auf dem Roten Platz. An der Iberischen
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Kapelle, wo sonst niemand vorbeiging, ohne sich zu bekreuzigen, strömten
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die Massen heute achtlos vorüber. Mit Mühe bahnten wir uns einen
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Weg durch die sich an der Kremlmauer stauenden Massen und erkletterten eine
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Erdhügel. Dort standen schon mehrere Männer, unter ihnen Muralow,
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der zum Moskauer Stadtkommandanten gewählte Soldat, ein einfach
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ausschauender bärtiger Mensch mit sanftem Gesicht. Aus allen Straßen
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wälzten sich jetzt die Massen heran, zu Tausenden und aber Tausenden
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den mächtigen Platz füllend, in der überwiegenden Mehrzahl
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Proletarier. Eine Militärkapelle marschierte auf, spielte die
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Internationale, und plötzlich stieg, sich schnell über den Platz
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verbreitend, gemessener und feierlicher Gesang empor. Von der Kremlmauer
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herab hingen gigantische Banner mit goldenen und weißen Inschriften:
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ÆDen Märtyrern der Avantgarde der sozialistischen Weltrevolution"
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und ÆEs lebe der Bruderbund der Arbeiter der ganzen Welt". Ein eisiger
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Wind fegte über den Platz, zerrte an den Bannern. Jetzt kamen aus den
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entfernteren Stadtvierteln die Arbeiter der verschiedenen Fabriken mit ihren
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Toten. Wir sahen sie durch das Tor marschieren, mit ihren leuchtenden Bannern
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und den dunkleren blutfarbenen Särgen. Diese waren aus ungehobeltem
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Holz roh zusammengeschlagene und rot übertünchte Kästen, hoch
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auf den Schultern rauher Gestalten getragen, denen unaufhaltsam die Tränen
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über die Wangen rannen. Frauen folgten, herzzerbrechend schluchzend
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und jammernd oder mit versteinerten, totenblassen Gesichtern. Einige der
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Särge waren offen, und die Deckel wurden hinterhergetragen. Andere waren
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mit gold- oder silberdurchwirktem Tuch bedeckt oder trugen eine auf den Deckel
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genagelte Soldatenmütze. Dazu unzählige aus häßliche
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künstlichen Blumen gefertigte Kränze.
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Langsam bewegte sich die Prozession auf uns zu, durch eine
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unregelmäßige schmale Gasse, die sich öffnete und wieder
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schloß. Jetzt kam durch das Tor ein endloser Zug von roten Bannern
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in allen Schattierungen mit silbernen und goldenen Inschriften und
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herabhängendem schwarzen Flor, dazwischen einige anarchistische Fahnen,
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schwarz, mit weißen Inschriften. Das Orchester spielte den
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revolutionären Trauermarsch, und wieder erhob sich, hinreißend
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und feierlich, mit unterdrücktem Schluchzen, der Gesang der barhäuptig
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stehenden Menge. Zwischen den Arbeitern marschierten Kompanien Soldaten,
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gleichfalls mit ihren Särgen, Kavallerieschwadronen, salutierend, und
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Batterien Artillerie, ihre Geschütze rot und schwarz umwunden - für
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immer, wie es schien. Auf ihren Bannern die Losungen: ÆEs lebe die
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Dritte Internationale!" ÆWir wollen einen gerechten, allgemeinen ,
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demokratischen Frieden!" Langsam näherte sich der Zug mit den Särgen
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dem Grab, und die Träger - unter ihnen viele Frauen, untersetzte,
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kräftige Proletarierinnen - erklommen mit ihrer Last die Erdhügel
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und stiegen hinunter in die Gruft. Hinter den Toten kamen andere Frauen,
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junge, vom Kummer gebrochene, oder alte verhutzelte Mütterchen,
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herzzerbrechend jammernd, die ihren Söhnen und Gatten in das Massengrab
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zu folgen versuchten und schrien, wenn mitleidsvolle Hände sie
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zurückrissen. Den ganzen Tag hindurch währte die Trauerprozession,
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wälzte sich durch das Iberische Tor und verließ den Platz wieder
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durch die Nikolskaja, ein nicht enden wollender Strom roter Banner mit
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Inschriften der Hoffnung und Bruderliebe und kühnen Prophezeiungen,
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vorbei an den fünfzigtausend am Grabe stehenden Menschen - und die
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Werktätigen der ganzen Welt und ihre Nachkommen blicken auf diese Banner
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für alle Zeiten.
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Einer nach dem anderen sanken die fünfhundert Särge in die Gruft.
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Die Dämmerung fiel, und noch immer wehten und flatterten die Banner;
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das Orchester spielte den Trauermarsch, und die vielen Versammelten sangen.
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In den kahlen Zweigen der Bäume über dem Grab hingen die Kränze
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gleich fremdartigen Blumen. Zweihundert Mann begannen das Grab zuzuschaufeln.
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Dumpf dröhnte die herabfallende Erde, den Gesang übertönend.
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Die Lichter erloschen. Das letzte Banner zog vorüber, die letzte
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schluchzende Frau blickte noch einmal starr zurück. Langsam verebbte
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auf dem großen Platz die proletarische Flut. Plötzlich wurde mit
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klar, daß das fromme russische Volk keine Priester mehr brauchte, um
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sich das Himmelreich zu erflehen. Auf Erden bauten sie an einem Reich,
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schöner, als es der Himmel je sein konnte, und für ein solches
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Reich lohnte es sich zu sterben.
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