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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<title>"Neue Rheinische Zeitung" - Der 23. Juni</title>
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<p align="center"><a href="me05_117.htm"></a><a href="me05_117.htm"><font size="2">Der
"Northern Star" &uuml;ber die "Neue Rheinische Zeitung"</font></a> <font size="2">|</font> <a
href="../me_nrz48.htm"><font size="2">Inhalt</font></a> <font size="2">|</font> <a href=
"me05_123.htm"><font size="2">Der 24. Juni</font></a></p>
<small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 118-122<br>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971</small> <br>
<br>
<h1>Der 23. Juni</font></p>
<p><font size="2">["Neue Rheinische Zeitung Nr. 28 vom 28. Juni 1848]</font></p>
<p><b><a name="S118">&lt;118&gt;</a></b> *Noch immer finden wir eine Menge Umst&auml;nde
&uuml;ber den Kampf des 23. nachzutragen. Das vor uns liegende Material ist
unersch&ouml;pflich; die Zeit erlaubt uns jedoch nur das Haupts&auml;chlichste und
Charakteristische zu geben.</p>
<p>Die Junirevolution bietet das Schauspiel eines erbitterten Kampfes, wie ihn Paris, wie ihn
die Welt noch nicht gesehen. Von allen bisherigen Revolutionen weisen die Mail&auml;nder
M&auml;rztage den hei&szlig;esten Kampf auf. Eine fast entwaffnete Bev&ouml;lkerung von 170.000
Seelen schlug eine Armee von 20.000 bis 30.000 Mann. Aber die M&auml;rztage von Mailand sind
ein Kinderspiel gegen die Junitage von Paris.</p>
<p>Was die Junirevolution vor allen bisherigen Revolutionen auszeichnet, das ist die
<i>Abwesenheit aller Illusionen</i>, <i>aller Begeisterung</i>.</p>
<p>Das Volk steht nicht wie im Februar auf den Barrikaden und singt "Mourir pour la patrie"
&lt;"Sterben f&uuml;r das Vaterland"&gt; - die Arbeiter des 23. Juni k&auml;mpfen um ihre
Existenz, das Vaterland hat alle Bedeutung f&uuml;r sie verloren. Die "Marseillaise" und alle
Erinnerungen der gro&szlig;en Revolution sind verschwunden. Volk und Bourgeois ahnen, da&szlig;
die Revolution, in die sie eintreten, gr&ouml;&szlig;er ist als 1789 und 1793.</p>
<p><i>Die Junirevolution ist die Revolution der Verzweiflung</i>, und mit dem schweigenden
Groll, mit der finstren Kaltbl&uuml;tigkeit der Verzweiflung wird sie gek&auml;mpft; die
Arbeiter wissen es, da&szlig; sie einen <i>Kampf auf Leben und Tod</i> f&uuml;hren, und vor dem
furchtbaren Ernst dieses Kampfes schweigt selbst der franz&ouml;sische heitre Esprit.</p>
<p>Die Geschichte bietet nur zwei Momente dar, die mit dem Kampfe &Auml;hnlichkeit zeigen, der
wahrscheinlich noch in diesem Augenblick in Paris gef&uuml;hrt wird: der r&ouml;mische
Sklavenkrieg und der Lyoner Aufstand von 1834. <a name="S119"><b>&lt;119&gt;</b></a> Das alte
Lyoner Motto "Arbeitend leben oder k&auml;mpfend sterben" ist auch pl&ouml;tzlich nach vierzehn
Jahren wieder aufgetaucht und auf die Fahnen geschrieben worden.</p>
<p>Die Junirevolution ist die erste, die wirklich die ganze Gesellschaft in zwei gro&szlig;e
feindliche Heerlager spaltet, die durch Ost-Paris und West-Paris vertreten sind. Die
Einstimmigkeit der Februarrevolution ist verschwunden, jene poetische Einstimmigkeit voll
blendender T&auml;uschungen, voll sch&ouml;ner L&uuml;gen, die durch den sch&ouml;nrednerischen
Verr&auml;ter Lamartine so w&uuml;rdig repr&auml;sentiert wurde. Heute zerrei&szlig;t der
unerbittliche Ernst der Wirklichkeit alle die gleisnerischen Versprechungen des 25. Februar.
Die Februark&auml;mpfer bek&auml;mpfen heut einander selbst, und - was noch nie vorkam - es
gibt keine Indifferenz mehr, jeder waffenf&auml;hige Mann k&auml;mpft wirklich mit, <i>in</i>
der Barrikade oder <i>vor</i> der Barrikade.</p>
<p>Die Armeen, die sich in den Stra&szlig;en von Paris bek&auml;mpfen, sind so stark wie die
Armeen, die die V&ouml;lkerschlacht von Leipzig schlugen. Das allein beweist die ungeheure
Bedeutung der Junirevolution.</p>
<p>Doch gehen wir &uuml;ber zur Schilderung des Kampfes selbst.</p>
<p>Nach unsren gestrigen Nachrichten mu&szlig;ten wir glauben, die Barrikaden seien ziemlich
planlos angelegt worden. Die ausf&uuml;hrlichen Berichte von heute stellen das Gegenteil
heraus. Noch nie sind die Verteidigungswerke der Arbeiter mit solcher Kaltbl&uuml;tigkeit, mit
solcher Planm&auml;&szlig;igkeit ausgef&uuml;hrt worden.</p>
<p>Die Stadt teilte sich in zwei Heerlager. Am nord&ouml;stlichen Rande der Stadt, vom
Montmartre herab bis zu der Porte St. Denis, von hier die Rue St. Denis herab, &uuml;ber die
Insel der Cit&eacute;, die Rue St. Jacques entlang bis zur Barriere ging die Scheidungslinie.
Was &ouml;stlich lag, war von den Arbeitern besetzt und verschanzt; von dem westlichen Teil aus
griff die Bourgeoisie an und erhielt sie ihre Verst&auml;rkungen.</p>
<p>Von morgens fr&uuml;h an begann das Volk schweigend seine Barrikaden zu errichten. Sie waren
h&ouml;her und fester als je. Auf der Barrikade am Eingang des Faubourg St. Antoine wehte eine
kolossale rote Fahne.</p>
<p>Boulevard St. Denis war sehr stark verschanzt. Die Barrikaden des Boulevards, der Rue de
Cl&eacute;ry und die in vollst&auml;ndige Festungen verwandelten umliegenden H&auml;user
bildeten ein vollst&auml;ndiges Verteidungssystem. Hier brach, wie wir schon gestern
berichteten, der erste bedeutende Kampf los. Das Volk schlug sich mit namenloser
Todesverachtung. Auf die Barrikade der Rue de Cl&eacute;ry wurde ein Flankenangriff durch ein
starkes Detachement Nationalgarde gemacht. Die meisten Verteidiger der Barrikade zogen sich
zur&uuml;ck. Nur sieben M&auml;nner und zwei Frauen, zwei junge sch&ouml;ne Grisetten, blieben
auf <a name="S120"><b>&lt;120&gt;</b></a> ihrem Posten. Einer der Sieben tritt auf die
Barrikade, die Fahne in der Hand. Die andern beginnen das Feuer. Die Nationalgarde erwidert,
der Fahnentr&auml;ger f&auml;llt. Da ergreift die eine Grisette, ein gro&szlig;es sch&ouml;nes
M&auml;dchen in geschmackvoller Kleidung, mit nackten Armen, die Fahne, steigt &uuml;ber die
Barrikade und geht auf die Nationalgarde zu. Das Feuer dauerte fort, und die Bourgeois der
Nationalgarde schossen das M&auml;dchen nieder, als sie dicht vor ihren Bajonetten angekommen
war. Sofort springt die andere Grisette vor, ergreift die Fahne, hebt den Kopf ihrer
Gef&auml;hrtin auf, und da sie sie tot findet, schleudert sie w&uuml;tend Steine auf die
Nationalgarde. Auch sie f&auml;llt unter den Kugeln der Bourgeois. Das Feuer wird immer
lebhafter, man schie&szlig;t aus den Fenstern, aus der Barrikade; die Reihen der Nationalgarde
lichten sich; endlich kommt Sukkurs an, und die Barrikade wird erst&uuml;rmt. Von den sieben
Verteidigern der Barrikade war nur noch einer am Leben, der entwaffnet und gefangen wurde. Es
waren die Lions und B&ouml;rsenw&ouml;lfe der zweiten Legion, die diese Heldentat gegen sieben
Arbeiter und zwei Grisetten ausf&uuml;hrten.</p>
<p>Nach der Vereinigung beider Korps und der Einnahme der Barrikade tritt ein momentanes
angstvolles Stillschweigen ein. Aber bald wird es unterbrochen. Die tapfre Nationalgarde
er&ouml;ffnet ein wohlgen&auml;hrtes Pelotonfeuer auf die unbewaffneten und ruhigen
Menschenmassen, die einen Teil des Boulevards einnehmen. Sie stieben entsetzt auseinander. Die
Barrikaden wurden aber nicht genommen. Erst als Cavaignac selbst mit der Linie und mit
Kavallerie heranzog, wurde nach langem Kampfe und erst gegen drei Uhr der Boulevard bis zur
Porte Saint Martin genommen.</p>
<p>Im Faubourg Poissonni&egrave;re waren mehrere Barrikaden errichtet und namentlich an der
Ecke der All&eacute;e Lafayette, wo mehrere H&auml;user den Insurgenten ebenfalls zur Festung
dienten. Ein Offizier der Nationalgarde f&uuml;hrte sie an. Das 7. leichte Infanterieregiment,
die Mobilgarde und die Nationalgarde r&uuml;ckten dagegen vor. Eine halbe Stunde dauerte der
Kampf; endlich siegten die Truppen, aber erst nachdem sie an 100 Tote und Verwundete verloren
hatten. Dieser Kampf fand nach 3 Uhr nachmittags statt.</p>
<p>Vor dem Justizpalaste wurden ebenfalls Barrikaden errichtet, in der Rue Constantine und den
umliegenden Stra&szlig;en sowie auf der Br&uuml;cke Saint Michel, wo die rote Fahne wehte. Nach
l&auml;ngerem Kampfe wurden auch diese Barrikaden genommen.</p>
<p>Der Diktator Cavaignac lie&szlig; seine Artillerie an der Br&uuml;cke Notre-Dame auffahren.
Von hier aus bescho&szlig; er die Stra&szlig;en Planche-Mibray und der Cit&eacute; und konnte
sie [- die Artillerie -] leicht gegen die Barrikaden der Stra&szlig;e Saint Jacques auffahren
lassen,</p>
<p><b><a name="S121">&lt;121&gt;</a></b> Diese letztere Stra&szlig;e war von zahlreichen
Barrikaden durchschnitten und die H&auml;user in wahre Festungen verwandelt. Die Artillerie
allein konnte hier wirken, und Cavaignac stand keinen Augenblick an, sie anzuwenden. Den ganzen
Nachmittag erscholl der Kanonendonner. Die Kart&auml;tschen fegten die Stra&szlig;e. Abends 7
Uhr war nur noch eine Barrikade zu nehmen. Die Zahl der Toten war sehr gro&szlig;.</p>
<p>Am Pont Saint Michel und in der Stra&szlig;e Saint-Andr&eacute; des Arts wurde ebenfalls mit
Kanonen geschossen. Ganz am nord&ouml;stlichen Ende der Stadt, Stra&szlig;e du Ch&acirc;teau
Landon, wohin eine Truppenabteilung sich vorwagte, wurde ebenfalls eine Barrikade mit
Kanonenkugeln eingeschossen.</p>
<p>Des Nachmittags wurde das Gefecht in den nord&ouml;stlichen Faubourgs immer lebhafter. Die
Bewohner der Vorst&auml;dte La Villette, Pantin usw. kamen den Insurgenten zu H&uuml;lfe. Die
Barrikaden wurden immer wieder errichtet und in sehr gro&szlig;er Anzahl.</p>
<p>In der Cit&eacute; hat eine Kompanie republikanischer Garde sich unter dem Vorwande, mit den
Insurgenten fraternisieren zu wollen, zwischen zwei Barrikaden eingeschlichen und sodann Feuer
gegeben. Das Volk fiel w&uuml;tend &uuml;ber die Verr&auml;ter her und schlug sie Mann f&uuml;r
Mann zu Boden. Kaum 20 fanden Gelegenheit zu entwischen.</p>
<p>Die Heftigkeit des Kampfes wuchs an allen Punkten. Solange es hell war, wurde &uuml;berall
mit Kanonen geschossen; sp&auml;ter beschr&auml;nkte man sich auf das Gewehrfeuer, das bis tief
in die Nacht hinein fortgesetzt wurde. Noch um 11 Uhr ert&ouml;nte der Generalmarsch in ganz
Paris, und um Mitternacht scho&szlig; man sich noch in der Richtung nach der Bastille zu. Der
Bastillenplatz war ganz in der Macht der Insurgenten nebst allen seinen Zug&auml;ngen. Das
Faubourg Saint Antoine, das Zentrum ihrer Macht, war stark verschanzt. Auf dem Boulevard von
der Montmartrestra&szlig;e bis zu der Templestra&szlig;e standen in dichten Massen Kavallerie,
Infanterie, Nationalgarde und Mobilgarde.</p>
<p>Um 11 Uhr abends z&auml;hlte man bereits &uuml;ber 1.000 Tote und Verwundete.</p>
<p>Das war der erste Tag der Junirevolution, ein Tag ohnegleichen in den revolution&auml;ren
Annalen von Paris. Die Arbeiter von Paris k&auml;mpften ganz allein gegen die bewaffnete
Bourgeoisie, gegen die Mobilgarde, die neuorganisierte republikanische Garde und gegen die
Linientruppen aller Waffengattungen. Sie haben den Kampf bestanden mit beispielloser
Tapferkeit, der nichts gleichkommt als die ebenso beispiellose Brutalit&auml;t ihrer Gegner.
Man wird nachsichtig gegen einen H&uuml;ser, einen Radetzky, einen Windischgr&auml;tz, wenn man
sieht, wie sich die Pariser Bourgeoisie mit wahrer Begeisterung zu den von Cavaignac
arrangierten Metzeleien hergibt.</p>
<p><b><a name="S122">&lt;122&gt;</a></b> In der Nacht vom 23. auf den 24. beschlo&szlig; die
Gesellschaft der Menschenrechte, die am 11. Juni wieder errichtet worden war, die Insurrektion
zum Vorteil der <i>roten Fahne</i> zu benutzen und sich demgem&auml;&szlig; daran zu
beteiligen. Sie hat also eine Zusammenkunft gehalten, die n&ouml;tigen Ma&szlig;regeln
beschlossen und zwei permanente Komitees ernannt.</p>
<p><font size="2">Geschrieben von Friedrich Engels.</font></p>
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