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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Friedrich Engels - Bruno Bauer und das Urchristentum</TITLE>
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<META name="description" content="Bruno Bauer und das Urchristentum">
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<TD valign="top"><SMALL>Seitenzahlen verweisen auf: </SMALL></TD>
<TD><SMALL>&nbsp;&nbsp;</SMALL></TD>
<TD><SMALL>Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unver&auml;nderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 297-305.</SMALL></TD>
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<TD><SMALL>Korrektur:</SMALL></TD>
<TD><SMALL>&nbsp;&nbsp;</SMALL></TD>
<TD><SMALL>1</SMALL></TD>
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<TD><SMALL>Erstellt:</SMALL></TD>
<TD><SMALL>&nbsp;&nbsp;</SMALL></TD>
<TD><SMALL>18.07.1999</SMALL></TD>
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<H2>Friedrich Engels</H2>
<H1>Bruno Bauer und das Urchristentum</H1>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben in der zweiten Aprilh&auml;lfte 1882.<BR>
Nach der Handschrift.</P>
</FONT><P><HR size="1" align="center"></P>
<B><P>|297|</B> In Berlin starb am 13. April ein Mann, der fr&uuml;her einmal als Philosoph und Theolog eine Rolle gespielt, seit Jahren aber, halb verschollen, nur von Zeit zu Zeit als "literarischer Sonderling" die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich gezogen hatte. Die offiziellen Theologen, unter ihnen auch <I>Renan</I>, schrieben ihn ab und schwiegen ihn deshalb einstimmig tot. Und doch war er mehr wert als sie alle und hat mehr geleistet als sie alle in einer Frage, die auch uns Sozialisten interessiert: in der Frage nach dem geschichtlichen Ursprung des Christentums.</P>
<P>Nehmen wir von seinem Tode Anla&szlig;, den jetzigen Stand dieser Frage und Bauers Beitr&auml;ge zu ihrer L&ouml;sung kurz zu schildern.</P>
<P>Die seit den Freigeistern des Mittelalters bis auf die Aufkl&auml;rer des 18. Jahrhunderts, diese eingeschlossen, herrschende Ansicht, da&szlig; alle Religionen, und somit auch das Christentum, das Werk von Betr&uuml;gern seien, war nicht mehr gen&uuml;gend, seitdem Hegel der Philosophie die Aufgabe gestellt hatte, eine rationelle Entwicklung in der Weltgeschichte nachzuweisen.</P>
<P>Es ist nun einleuchtend, da&szlig;, wenn naturw&uuml;chsige Religionen, wie der Fetischdienst der Neger oder die gemeinsame Urreligion der Arier, entstehen, ohne da&szlig; Betrug dabei eine Rolle spielt, doch in ihrer weiteren Ausbildung priesterliche T&auml;uschung sehr bald unvermeidlich wird. Kunstreligionen aber k&ouml;nnen, neben aller aufrichtigen Schw&auml;rmerei, schon bei ihrer Stiftung des Betrugs und der Geschichtsf&auml;lschung nicht entbehren, und auch das Christentum hat schon gleich im Anfang hierin ganz h&uuml;bsche Leistungen aufzuweisen, wie Bauer in der Kritik des Neuen Testaments gezeigt. Aber damit ist nur eine allgemeine Erscheinung festgestellt, nicht aber der einzelne Fall erkl&auml;rt, um den es sich grade handelt.</P>
<P>Mit einer Religion, die das r&ouml;mische Weltreich sich unterworfen und den weitaus gr&ouml;&szlig;ten Teil der zivilisierten Menschheit 1.800 Jahre lang beherrscht hat, wird man nicht fertig, indem man sie einfach f&uuml;r von Betr&uuml;gern <A NAME="S298"><B>|298|</A></B> zusammengestoppelten Unsinn erkl&auml;rt. Man wird erst fertig mit ihr, sobald man ihren Ursprung und ihre Entwicklung aus den historischen Bedingungen zu erkl&auml;ren versteht, unter denen sie entstanden und zur Herrschaft gekommen ist. Und namentlich beim Christentum. Es gilt eben die Frage zu l&ouml;sen, wie es kam, da&szlig; die Volksmassen des r&ouml;mischen Reiches diesen noch dazu von Sklaven und Unterdr&uuml;ckten gepredigten Unsinn allen andern Religionen vorzogen, so da&szlig; endlich der ehrgeizige Konstantin in der Annahme dieser Unsinnsreligion das beste Mittel sah, sich zum Alleinherrscher der r&ouml;mischen Welt emporzuschwingen.</P>
<P>Zur Beantwortung dieser Frage hat Bruno Bauer bei weitem mehr beigetragen als irgendein anderer. Die von Wilke rein sprachlich nachgewiesene zeitliche Reihenfolge und gegenseitige Abh&auml;ngigkeit der Evangelien voneinander wies er auch aus dem Inhalt derselben unwiderleglich nach, wie sehr auch die halbgl&auml;ubigen Theologen der Reaktionszeit seit 1849 sich dagegen sperren m&ouml;gen. Die verschwommene Mythentheorie von Strau&szlig;, bei der jeder in den evangelischen Erz&auml;hlungen grade so viel f&uuml;r historisch halten kann wie ihm beliebt, stellte er in ihrer ganzen Unwissenschaftlichkeit blo&szlig;. Und wenn dabei von dem ganzen Inhalt der Evangelien sich fast absolut nichts als geschichtlich erweisbar darstellte - so da&szlig; man selbst die geschichtliche Existenz eines Jesus Christus f&uuml;r fraglich erkl&auml;ren kann -, so hatte Bauer hiermit erst den Boden gereinigt, auf dem die Frage gel&ouml;st werden kann: Woher stammen die Vorstellungen und Gedanken, die im Christentum zu einer Art System verkn&uuml;pft worden sind, und wie kamen sie zur Weltherrschaft?</P>
<P>Hiermit besch&auml;ftigte sich Bauer bis zuletzt. Seine Forschungen gipfeln in dem Resultat, da&szlig; der alexandrinische Jude Philo, der noch im Jahre 40 unsrer Zeitrechnung, aber in hohem Alter, lebte, der eigentliche Vater des Christentums sei und der r&ouml;mische Stoiker Seneca sozusagen dessen Onkel. Die uns unter dem Namen Philos &uuml;berlieferten zahlreichen Schriften sind in der Tat entstanden aus einer Verschmelzung allegorisch-rationalistisch aufgefa&szlig;ter j&uuml;discher Traditionen mit griechischer, namentlich stoischer Philosophie. Diese Vers&ouml;hnung okzidentalischer und orientalischer Anschauungen enth&auml;lt schon alle wesentlich christlichen Vorstellungen: Die angeborne S&uuml;ndhaftigkeit des Menschen, den Logos, das Wort, das bei Gott und Gott selbst ist, das den Mittler macht zwischen Gott und Mensch; die Bu&szlig;e nicht durch Tieropfer, sondern durch das Darbringen des eignen Herzens an Gott; endlich den wesentlichen Zug, da&szlig; die neue Religionsphilosophie die bisherige Weltordnung umkehrt, ihre J&uuml;nger unter den Armen, Elenden, Sklaven und Verworfenen sucht und die Reichen, <A NAME="S299"><B>|299|</A></B> M&auml;chtigen, Privilegierten verachtet, und da&szlig; damit die Verachtung aller weltlichen Gen&uuml;sse und die Abt&ouml;tung des Fleisches vorgeschrieben sind.</P>
<P>Andrerseits hatte schon Augustus daf&uuml;r gesorgt, da&szlig; nicht nur der Gottmensch, sondern auch die sog. unbefleckte Empf&auml;ngnis von Reichs wegen vorgeschriebne Formeln wurden. Nicht nur lie&szlig; er C&auml;sar und sich selbst g&ouml;ttlich verehren, er lie&szlig; auch verbreiten, er, Augustus C&auml;sar Divus, der G&ouml;ttliche, sei nicht der Sohn seines menschlichen Vaters, sondern seine Mutter habe ihn vom Apollogott empfangen. Wenn dieser Apollogott nur kein Verwandter des von Heine Besungenen war.</P>
<P>Man sieht, es fehlt nur noch der Schlu&szlig;stein, und das ganze Christentum ist in seinen Grundz&uuml;gen fertig: Die Verk&ouml;rperung des menschgewordnen Logos in einer bestimmten Person und sein S&uuml;hnopfer am Kreuz zur Erl&ouml;sung der s&uuml;ndigen Menschheit.</P>
<P>Wie dieser Schlu&szlig;stein geschichtlich in die stoisch-philonischen Lehren eingef&uuml;gt, dar&uuml;ber lassen uns die wirklich zuverl&auml;ssigen Quellen im Stich. Soviel aber ist sicher, von Philosophen, Sch&uuml;lern Philos oder der Stoa, ist er nicht eingef&uuml;gt worden. Religionen werden gestiftet von Leuten, die selbst ein religi&ouml;ses Bed&uuml;rfnis empfinden und Sinn haben f&uuml;r das religi&ouml;se Bed&uuml;rfnis der Massen, und das ist in der Regel nicht der Fall bei Schulphilosophen. Dagegen finden wir in Zeiten allgemeiner Aufl&ouml;sung - wie z.B. auch jetzt - Philosophie und religi&ouml;se Dogmatik in vulgarisierter Form verflacht und allgemein verbreitet. F&uuml;hrte die klassische griechische Philosophie in ihren letzten Formen - besonders bei der epikureischen Schule - zum atheistischen Materialismus, so die griechische Vulg&auml;rphilosophie zur Lehre vom einigen Gott und von der unsterblichen Menschenseele. Ebenso war das in der Mischung und dem Umgang mit Fremden und Halbjuden rationalistisch-vulgarisierte Judentum angekommen bei der Vernachl&auml;ssigung der Gesetzeszeremonien, bei der Verwandlung des ehemaligen ausschlie&szlig;lich j&uuml;dischen Nationalgottes Jahveh<A NAME="ZF1"><A HREF="me19_297.htm#F1"><SMALL><SUP>(1)</SUP></SMALL></A></A> in den einzig wahren Gott, Sch&ouml;pfer Himmels und der Erden, und bei der Annahme der dem Judentum urspr&uuml;nglich fremden Unsterblichkeit der Seele. So begegnete sich die monotheistische Vulg&auml;rphilosophie mit der Vulg&auml;r- <A NAME="S300"><B>|300|</A></B> religion, die ihr den einigen Gott fix und fertig pr&auml;sentierte. Und somit war der Boden pr&auml;pariert, auf dem bei den Juden die Verarbeitung ebenfalls vulgarisierter, philonischer Vorstellungen das Christentum erzeugen und das einmal erzeugte bei den Griechen und R&ouml;mern Annahme finden konnte. Da&szlig; es popularisierte philonische Vorstellungen waren und nicht Philos Schriften unmittelbar, aus denen das Christentum hervorging, ist bewiesen dadurch, da&szlig; das Neue Testament den Hauptteil dieser Schriften fast vollst&auml;ndig vernachl&auml;ssigt, n&auml;mlich die allegorische philosophische Deutung alttestamentlicher Erz&auml;hlungen. Es ist dies eine Seite, die Bauer nicht hinreichend beachtet hat.</P>
<P>Wie das Christentum m seiner ersten Gestalt ausgesehen hat, davon kann man sich eine Vorstellung machen, wenn man die sog. Offenbarung Johannis liest. W&uuml;ster, verworrener Fanatismus, von Dogmen erst die Anf&auml;nge, von der sog. christlichen Moral nur die Fleischesabt&ouml;tung, dagegen Visionen und Prophezeiungen die Menge. Die Ausbildung der Dogmen und der Sittenlehre geh&ouml;rt einer sp&auml;teren Zeit an, in der die Evangelien und sog. apostolischen Episteln geschrieben wurden. Und da wurde - f&uuml;r die Moral wenigstens - die stoische Philosophie und namentlich Seneca ungeniert benutzt. Da&szlig; die Episteln ihn oft w&ouml;rtlich abschreiben, hat Bauer nachgewiesen; in der Tat, die Sache war schon den Rechtgl&auml;ubigen aufgefallen; aber sie behaupteten, Seneka habe das - damals noch gar nicht verfa&szlig;te - Neue Testament abgeschrieben. Die Dogmatik entwickelte sich einerseits in Verbindung mit der sich bildenden evangelischen Legende von Jesus, andrerseits im Kampfe zwischen Judenchristen und Heidenchristen.</P>
<P>&Uuml;ber die Ursachen, die dem Christentum zum Sieg und zur Weltherrschaft verhalfen, gibt Bauer auch sehr wertvolle Daten. Aber hier tritt der Idealismus des deutschen Philosophen ihm in den Weg, verhindert ihn, klar zu sehen und scharf zu formulieren. Die Phrase mu&szlig; oft am entscheidenden Punkt statt der Sache Dienst tun. Statt also auf die Ansichten Bauers im einzelnen einzugehn, geben wir lieber unsre eigne, au&szlig;er auf Bauers Schriften auch auf selbst&auml;ndigen Studien beruhende Auffassung dieses Punktes.</P>
<P>Die r&ouml;mische Eroberung l&ouml;ste in allen unterworfnen L&auml;ndern zun&auml;chst direkt die fr&uuml;heren politischen Zust&auml;nde und sodann indirekt auch die alten gesellschaftlichen Lebensbedingungen auf. Erstens, indem sie an die Stelle der fr&uuml;heren st&auml;ndischen Gliederung (abgesehn von der Sklaverei) den einfachen Unterschied zwischen r&ouml;mischen B&uuml;rgern und Nichtb&uuml;rgern oder Staatsuntertanen setzte. Zweitens, und haupts&auml;chlich, durch die Erpressungen im Namen des r&ouml;mischen Staates. Wurde der Bereicherungswut <A NAME="S301"><B>|301|</A></B> der Statthalter unter dem Kaiserreich im Staatsinteresse m&ouml;glichst ein Ziel gesetzt, so trat an deren Stelle die stets und mit wachsender Kraft wirkende, immer mehr angezogene Steuerschraube f&uuml;r den Staatss&auml;ckel - eine Aussaugung, die furchtbar aufl&ouml;send wirkte. Drittens endlich wurde &uuml;berall nach r&ouml;mischem Recht von r&ouml;mischen Richtern geurteilt, die einheimischen gesellschaftlichen Ordnungen damit f&uuml;r ung&uuml;ltig erkl&auml;rt, soweit sie nicht mit r&ouml;mischer Rechtsordnung stimmten. Diese drei Hebel mu&szlig;ten mit ungeheurer nivellierender Kraft wirken, namentlich, wenn sie ein paar Jahrhunderte lang angesetzt wurden an Bev&ouml;lkerungen, deren kr&auml;ftigster Teil schon in den der Eroberung vorhergehenden, sie begleitenden und oft noch ihr folgenden K&auml;mpfen niedergemacht oder in die Sklaverei abgef&uuml;hrt war. Die sozialen Verh&auml;ltnisse der Provinzen n&auml;herten sich immer mehr denen der Hauptstadt Italiens. Die Bev&ouml;lkerung teilte sich mehr und mehr in drei aus den verschiedensten Elementen und Nationalit&auml;ten zusammengew&uuml;rfelte Klassen: Reiche, darunter nicht wenig freigelassene Sklaven (s. Petronius), Gro&szlig;grundbesitzer, Zinswucherer oder beides, wie der Onkel des Christentums, Seneca; besitzlose Freie, in Rom vom Staate ern&auml;hrt und belustigt - in den Provinzen konnten sie sehn, wie sie fortkamen; endlich die gro&szlig;e Masse - Sklaven. Gegen&uuml;ber dem Staat, d.h. dem Kaiser, waren die beiden ersten Klassen fast ebenso rechtlos wie die Sklaven gegen&uuml;ber ihren Herren. Namentlich von Tiberius bis Nero war es Regel, reiche R&ouml;mer zum Tode zu verurteilen, um ihr Verm&ouml;gen einzuziehen. St&uuml;tze der Regierung war materiell das Heer, das einer Landsknechtsarmee schon weit &auml;hnlicher sah als dem alten r&ouml;mischen Bauernheer, und moralisch die allgemeine Einsicht, da&szlig; aus dieser Lage nicht herauszukommen, da&szlig; zwar nicht dieser oder jener Kaiser, aber das auf Milit&auml;rherrschaft gegr&uuml;ndete Kaisertum eine unabwendliche Notwendigkeit sei. Auf welchen sehr materiellen Tatsachen diese Einsicht beruhte, darauf einzugehn, ist hier nicht der Ort.</P>
<P>Der allgemeinen Rechtlosigkeit und Verzweiflung an der M&ouml;glichkeit besserer Zust&auml;nde entsprach die allgemeine Erschlaffung und Demoralisation. Die wenigen noch &uuml;brigen Altr&ouml;mer patrizischer Art und Gesinnung wurden beseitigt oder starben aus; ihr letzter ist Tacitus. Die &uuml;brigen waren froh, wenn sie sich vom &ouml;ffentlichen Leben ganz fernhalten konnten; Reichtumserwerb und Reichtumsgenu&szlig; f&uuml;llten ihr Dasein aus, Privatklatsch und Privatkabale. Die besitzlosen Freien, in Rom Staatspension&auml;re, hatten dagegen in den Provinzen einen harten Stand. Arbeiten mu&szlig;ten sie und das obendrein gegen die Konkurrenz der Sklavenarbeit. Doch waren sie auf die St&auml;dte beschr&auml;nkt. Neben ihnen gab es in den Provinzen noch Bauern, freie <A NAME="S302"><B>|302|</A></B> Grundbesitzer (hie und da wohl auch noch in Gemeineigentum) oder, wie in Gallien, Schuldh&ouml;rige gro&szlig;er Grundherren. Diese Klasse wurde von der gesellschaftlichen Umw&auml;lzung am wenigsten ber&uuml;hrt; sie stellte auch der religi&ouml;sen den l&auml;ngsten Widerstand entgegen<A NAME="ZF2"><A HREF="me19_297.htm#F2"><SMALL><SUP>(2)</SUP></SMALL></A></A>. Endlich die Sklaven, recht- und willenlos, in der Unm&ouml;glichkeit, sich zu befreien, wie schon die Niederlage des Spartakus bewiesen; aber dabei gro&szlig;enteils selbst ehemalige Freie oder S&ouml;hne Freigelassener. Unter ihnen mu&szlig;te also noch am meisten lebendiger, wenn auch nach au&szlig;en ohnm&auml;chtiger Ha&szlig; gegen ihre Lebenslage vorhanden sein.</P>
<P>Dementsprechend werden wir auch die Ideologen jener Zeit geartet finden. Die Philosophen waren entweder blo&szlig;e gelderwerbende Schulmeister oder bezahlte Possenrei&szlig;er reicher Prasser. Manche waren sogar Sklaven. Was aus ihnen wurde, wenn es ihnen gut ging, zeigt Herr Seneca. Dieser Tugend und Enthaltung predigende Stoiker war erster Hofintrigant Neros, was ohne Kriecherei nicht abging, lie&szlig; sich von ihm Geld, G&uuml;ter, G&auml;rten, Pal&auml;ste schenken, und w&auml;hrend er den armen Lazarus des Evangeliums predigte, war er in Wirklichkeit der reiche Mann desselben Gleichnisses. Erst als Nero ihm an den Kragen wollte, bat er den Kaiser, alle Geschenke zur&uuml;ckzunehmen, seine Philosophie gen&uuml;ge ihm. Nur ganz vereinzelte Philosophen, wie Persius, schwangen wenigstens die Gei&szlig;el der Satire &uuml;ber ihre entarteten Zeitgenossen. Was aber die zweite Art Ideologen angeht, die Juristen, so schw&auml;rmten diese f&uuml;r die neuen Zust&auml;nde, weil die Verwischung aller Standesunterschiede ihnen erlaubte, ihr geliebtes Privatrecht in aller Breite auszuarbeiten, wof&uuml;r sie dann den Kaisern das h&uuml;ndischste Staatsrecht verfertigten, das je existiert hat.</P>
<P>Mit den politischen und sozialen Besonderheiten der V&ouml;lker hatte das R&ouml;merreich auch seine besonderen Religionen dem Untergang geweiht. Alle Religionen des Altertums waren naturw&uuml;chsige Stammes- und sp&auml;ter Nationalreligionen, hervorgespro&szlig;t aus und verwachsen mit den gesellschaftlichen und politischen Zust&auml;nden des jedesmaligen Volks. Einmal diese ihre Grundlagen zerst&ouml;rt, die &uuml;berlieferten Gesellschaftsformen, die hergebrachte politische Einrichtung und die nationale Unabh&auml;ngigkeit gebrochen, brach die dazugeh&ouml;rige Religion selbstredend zusammen. Die Nationalg&ouml;tter konnten andre Nationalg&ouml;tter, bei anderen V&ouml;lkern, neben sich dulden, und das war die allgemeine Regel im Altertum: aber nicht &uuml;ber sich. Die Verpflanzung orientalischer G&ouml;tterkulte nach Rom schadete nur <A NAME="S303"><B>|303|</A></B> der r&ouml;mischen Religion, konnte aber den Verfall der orientalischen Religionen nicht hemmen. Sobald die Nationalg&ouml;tter die Unabh&auml;ngigkeit und Selbst&auml;ndigkeit ihrer Nation nicht mehr schirmen k&ouml;nnen, brechen sie sich selbst den Hals. So geschah es &uuml;berall (abgesehn von den Bauern, besonders im Gebirg). Was in Rom und Griechenland die vulg&auml;rphilosophische Aufkl&auml;rung, ich h&auml;tte beinahe gesagt der Voltairianismus, das tat in den Provinzen die r&ouml;mische Unterjochung und die Ersetzung freiheitsstolzer M&auml;nner durch verzweifelnde Untertanen und selbsts&uuml;chtige Lumpe.</P>
<P>Das war die materielle und moralische Lage. Die Gegenwart unertr&auml;glich, die Zukunft wom&ouml;glich noch drohender. Kein Ausweg. Verzweiflung oder Rettung in den allerordin&auml;rsten sinnlichen Genu&szlig; - bei <I>denen</I> wenigstens, die sich das erlauben konnten, und das war eine kleine Minderzahl. Sonst blieb nur noch die schlaffe Ergebung in das Unvermeidliche.</P>
<P>Aber in allen Klassen mu&szlig;te es eine Anzahl Leute geben, die, an der materiellen Erl&ouml;sung verzweifelnd, eine geistige Erl&ouml;sung als Ersatz suchten - einen Trost im Bewu&szlig;tsein, der sie vor der g&auml;nzlichen Verzweiflung bewahrte. Diesen Trost konnte die Stoa nicht bieten, ebensowenig wie die Schule Epikurs, eben weil sie Philosophien, also nicht f&uuml;r das gemeine Bewu&szlig;tsein berechnet sind, und dann zweitens, weil der Lebenswandel ihrer J&uuml;nger die Lehren der Schule in Mi&szlig;kredit brachte. Der Trost sollte nicht die verlorne Philosophie, sondern die verlorne Religion ersetzen, er mu&szlig;te eben in religi&ouml;ser Form auftreten, wie damals, und noch bis ins 17. Jahrhundert, alles, was die Massen packen sollte.</P>
<P>Wir brauchen wohl kaum zu bemerken, da&szlig; von diesen sich nach einem solchen Bewu&szlig;tseinstrost, nach dieser Flucht aus der &auml;u&szlig;ern Welt in die innere sehnenden Leuten die Mehrzahl sich finden mu&szlig;te - unter den <I>Sklaven</I>.</P>
<P>In diese allgemeine &ouml;konomische, politische, intellektuelle und moralische Aufl&ouml;sung trat nun das Christentum. Zu allen bisherigen Religionen trat es in entschiednen Gegensatz.</P>
<P>Bei allen bisherigen Religionen waren die Zeremonien die Hauptsache. Nur durch die Teilnahme an Opfern und Umz&uuml;gen, im Orient noch dazu durch die Beobachtung der umst&auml;ndlichsten Di&auml;t- und Reinheitsvorschriften, konnte man seine Angeh&ouml;rigkeit bekunden. W&auml;hrend Rom und Griechenland in letzterer Beziehung tolerant waren, herrschte im Orient eine religi&ouml;se Verbotswut, die zum schlie&szlig;lichen Verfall nicht wenig beigetragen hat. Leute zweier verschiedner Religionen, &Auml;gypter, Perser, Juden, Chald&auml;er etc., k&ouml;nnen nicht zusammen essen oder trinken; keinen allt&auml;glichen Akt gemeinsam begehn, kaum zusammen sprechen. An dieser Scheidung <A NAME="S304"><B>|304|</A></B> des Menschen vom Menschen ist der alte Orient gro&szlig;enteils mit untergegangen. Das Christentum kennt keine scheidenden Zeremonien, nicht einmal die Opfer und Umz&uuml;ge der klassischen Welt. Indem es so alle Nationalreligionen und das ihnen gemeinsame Zeremoniell verwirft und an alle V&ouml;lker ohne Unterschied sich wendet, wird es selbst die <I>erste m&ouml;gliche Weltreligion</I>. Auch das Judentum hatte mit seinem neuen Universalgott einen Anlauf zur Weltreligion genommen; aber die Kinder Israels blieben immer eine Aristokratie unter den Gl&auml;ubigen und Beschnittenen, und selbst das Christentum mu&szlig;te die Vorstellung von dem Vorzug der Judenchristen (die noch in der sog. Offenbarung Johannis herrschte) erst loswerden, ehe es wirkliche Weltreligion werden konnte. Andrerseits hat der Islam, durch Beibehaltung seines spezifisch orientalischen Zeremoniells, selbst sein Ausbreitungsgebiet auf den Orient und das eroberte und von arabischen Beduinen neu bev&ouml;lkerte Nordafrika beschr&auml;nkt: hier konnte er herrschende Religion werden, im Westen nicht.</P>
<P>Zweitens schlug das Christentum eine Saite an, die in zahllosen Herzen widerklingen mu&szlig;te. Auf alle Klagen &uuml;ber die Schlechtigkeit der Zeiten und das allgemeine materielle und moralische Elend antwortete das christliche S&uuml;ndenbewu&szlig;tsein: So ist es, und so kann es nicht anders sein, an der Verderbtheit der Welt bist Du schuld. Ihr alle. Deine und Euere eigne innere Verderbtheit! Und wo war der Mann, der nein sagen konnte? Mea culpa! |Meine Schuld!| Die Erkenntnis des eignen Schuldanteils jedes einzelnen am allgemeinen Ungl&uuml;ck war unabweisbar und wurde nun auch Vorbedingung der geistigen Erl&ouml;sung, die das Christentum gleichzeitig verk&uuml;ndete. Und diese geistige Erl&ouml;sung war so eingerichtet, da&szlig; sie von den Genossen jeder alten Religionsgemeinschaft leicht verstanden werden konnte. Allen diesen alten Religionen war die Vorstellung des S&uuml;hnopfers gel&auml;ufig, durch das die beleidigte Gottheit vers&ouml;hnt wurde; wie sollte die Vorstellung von dem ein f&uuml;r allemal die S&uuml;nden der Menschheit tilgenden Selbstopfer des Mittlers da nicht leicht Boden finden ? Indem also das Christentum das allgemein verbreitete Gef&uuml;hl, da&szlig; die Menschen am allgemeinen Verderben selbst schuld seien, als S&uuml;ndenbewu&szlig;tsein jedes einzelnen zum klaren Ausdruck brachte und gleichzeitig mit dem Opfertod seines Stifters eine &uuml;berall leicht erfa&szlig;liche Form der allgemein ersehnten inneren Erl&ouml;sung von der verderbten Welt, des Bewu&szlig;tseinstrosts, lieferte, bew&auml;hrte es wieder seine F&auml;higkeit, Weltreligion zu werden - und zwar eine f&uuml;r die grade vorliegende Welt passende Religion.</P>
<B><P><A NAME="S305">|305|</A></B> So ist es gekommen, da&szlig; unter den Tausenden von Propheten und Predigern in der W&uuml;ste, die jene Zeit mit ihren zahllosen Religionserneuerungen erf&uuml;llten, allein die Stifter des Christentums Erfolg gehabt haben. Nicht nur in Pal&auml;stina, im ganzen Orient wimmelte es von solchen Religionsstiftern, unter denen ein - man kann sagen - darwinistischer Kampf um die ideelle Existenz herrschte. Dank vornehmlich den oben entwickelten Elementen siegte das Christentum. Und wie es allm&auml;hlich im Kampf der Sekten untereinander und mit der heidnischen Welt durch nat&uuml;rliche Zuchtwahl seinen Charakter als Weltreligion immer weiter ausbildete, das lehrt im einzelnen die Kirchengeschichte der ersten drei Jahrhunderte.</P>
<I><P ALIGN="RIGHT">F. Engels</P>
</I><P><HR size="1" align="center"></P>
<P>Fu&szlig;noten von Friedrich Engels</P>
<SMALL><SUP><P><A NAME="F1">(1)</A></SUP></SMALL> Wie schon Ewald bewiesen, schrieben die Juden in punktierten (mit Vokalen und Lesezeichen versehenen) Handschriften unter die Konsonanten des Namens Jahveh, den auszusprechen verboten war, die Vokale des an seiner Stelle gelesenen Wortes Adonai. Dies lasen die sp&auml;teren dann Jehovah. Dieses Wort ist also nicht der Name eines Gottes, sondern einfach ein grober grammatischer Schnitzer: es ist im Hebr&auml;ischen einfach unm&ouml;glich. <A HREF="me19_297.htm#ZF1">&lt;=</A></P>
<SMALL><SUP><P><A NAME="F2">(2)</A></SUP></SMALL> Nach Fallmerayer wurde noch im 9. Jahrhundert in der Maina (Peloponnes) von den Bauern dem Zeus geopfert. <A HREF="me19_297.htm#ZF2">&lt;=</A></P>
<HR size="1" align="center">
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