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<TITLE>Franz Mehring: Karl Marx - Krimkrieg und Krise</TITLE>
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<!--Hier war ein falsch terminierter Kommentar -->
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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Kapitel</SMALL></A><!-- #EndEditable --></TD>
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<TD ALIGN="center" width="19%" height=20 valign=middle><A HREF="../default.htm"><SMALL>Franz
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Mehring</SMALL></A></TD>
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<HR size="1">
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<P><SMALL>Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR,
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1960, S. <!-- #BeginEditable "Seitenzahlen" -->245-271<!-- #EndEditable -->.<BR>
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1. Korrektur<BR>
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Erstellt am 30.10.1999</SMALL></P>
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<H2>Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens</H2>
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<H1><!-- #BeginEditable "Titel" -->Neuntes Kapitel: Krimkrieg und Krise<!-- #EndEditable --></H1>
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<hr size="1">
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<!-- #BeginEditable "Text" -->
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<H3 ALIGN="CENTER">1. Europäische Politik<A name="Kap_1"></A></H3>
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<P><B>|245|</B> Etwa zur selben Zeit, Ende 1853, als Marx durch das kleine Pamphlet
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gegen Willich seinen Kampf mit der »demokratischen Emigrationsschwindelei und
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Revolutionsmacherei« abschloß, begann mit dem Krimkriege eine neue Periode
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der europäischen Politik, die für die nächsten Jahre in erster
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Reihe seine Aufmerksamkeit fesselte.</P>
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<P>Was er darüber zu sagen hatte, ist vornehmlich in seinen Aufsätzen
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für die »New-York Daily Tribune« niedergelegt. So sehr ihn dies Blatt auf
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die Stufe eines gewöhnlichen Zeitungskorrespondenten herabzudrücken
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suchte, so durfte Marx mit Recht sagen, daß er sich mit »eigentlicher Zeitungskorrespondenz
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nur ausnahmsweise befaßt« habe. Er blieb nur sich selber treu, wenn er auch
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die literarische Erwerbsarbeit zu adeln wußte, indem er sie auf mühsamen
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Studien aufbaute und ihr dadurch einen dauernden Wert verlieh.</P>
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<P>Diese Schätze sind zum großen Teil noch ungehoben, und es wird einige
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Mühe kosten, sie ans Tageslicht zu fördern. Indem die »New-York Daily
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Tribune« die Beiträge, die Marx ihr lieferte, sozusagen als Rohmaterial behandelte,
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sie nach ihrem Belieben dem Papierkorb überantwortete oder auch unter ihrer
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eigenen Flagge veröffentlichte und oft nur, wie Marx zornig sagte, den »Schund«
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unter seinem Namen wiedergab, wird sich Marxens ganze Arbeit für das amerikanische
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Blatt nicht mehr herstellen lassen, und soweit es noch möglich ist, wird
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es einer sorgsamen Prüfung bedürfen, um ihre Grenzen genau festzustellen.</P>
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<P>Eine unentbehrliche Handhabe dafür ist erst seit verhältnismäßig
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kurzer Zeit durch die Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Engels
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und Marx gegeben. Aus ihm geht zum Beispiel hervor, daß die Artikelreihe
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über die deutsche Revolution und Gegenrevolution, als deren Verfasser Marx
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seit langem gegolten hat, überwiegend von Engels verfaßt worden ist,
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sowie daß dieser nicht nur die militärischen Aufsätze für
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die »New-York Daily Tribune« verfaßt hat, was längst bekannt war, sondern
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auch sonst in umfassender Weise für das Blatt mitgearbeitet <A NAME="S246"></A><B>|246|*</B>
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hat. Außer der erwähnten Artikelreihe sind bisher die Aufsätze
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über die orientalische Frage aus den Spalten der »New-York Daily Tribune«
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gesammelt worden, aber diese Sammlung ist sowohl in dem, was sie enthält
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als auch in dem, was sie nicht enthält, noch viel anfechtbarer als die andere,
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bei der doch nur ein unrichtiger Verfasser vorausgesetzt worden ist.</P>
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<P>Mit dieser kritischen Prüfung wäre aber nur der leichtere Teil der
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Arbeit getan. So hoch Marx die publizistische Tagesarbeit zu heben wußte,
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so konnte er sie doch nicht über sich selbst herausheben. Auch das größte
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Genie kann nicht zweimal in der Woche, just mit dem fälligen Dampfer am Dienstag
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oder Freitag, neue Entdeckungen machen oder neue Gedanken gebären. Dabei
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läuft immer, wie Engels einmal sagte, »reine Ärmelschüttelei und
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Aushelferei mit dem bloßen Gedächtnis« mitunter. Zudem ist die Tagesarbeit
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immer von Tagesnachrichten und Tagesstimmungen abhängig, von denen sie sich
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nicht einmal befreien darf, ohne langweilig und ledern zu werden. Was wären
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die vier starken Bände des Briefwechsels zwischen Engels und Marx ohne die
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hundert Widersprüche, in denen sich die großen Richtlinien ihres Denkens
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und Kämpfens entwickeln!</P>
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<P>Die großen Richtlinien ihrer europäischen Politik, wie sie mit dem
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Krimkriege einsetzten, sind aber heute schon vollkommen klar, auch ohne das massenhafte
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Material, das noch in den Spalten der »New-York Daily Tribune« seiner Auferstehung
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harrt. Man kann sie im gewissen Sinne eine Umkehr nennen. Die Verfasser des »Kommunistischen
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Manifestes« richteten ihr Hauptaugenmerk auf Deutschland und so auch die »Neue
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Rheinische Zeitung«. Dann trat diese Zeitung begeistert für die Unabhängigkeitskämpfe
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der Polen, der Italiener, der Ungarn ein, und endlich verlangte sie den Krieg
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gegen Rußland als die starke Reserve der europäischen Gegenrevolution,
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was sie dann mehr und mehr zuspitzte in den Weltkrieg gegen England, mit dem erst
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die soziale Revolution aus dem Reiche der Utopie in das Reich der Wirklichkeit
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trete.</P>
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<P>Die »englisch-russische Sklaverei«, die auf Europa laste, war nun der Punkt,
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an den Marx seine europäische Politik zur Zeit des Krimkrieges anknüpfte.
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Er begrüßte diesen Krieg, insoweit er das europäische Übergewicht
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einzudämmen versprach, das der Zarismus durch die siegreiche Gegenrevolution
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gewonnen hatte, aber er war nichts weniger als einverstanden mit der Art und Weise,
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wie die Westmächte gegen Rußland kämpften. Ebenso dachte Engels,
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der den Krimkrieg eine einzige kolossale Komödie der Irrungen nannte, bei
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der man sich jeden Augenblick frage: Wer ist hier der Geprellte? Beide sahen in
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dem Kriege, soweit <A NAME="S247"></A><B>|247|</B> ihn Frankreich und namentlich
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England führten, nur einen Scheinkrieg, trotz der Million Menschenleben und
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der ungezählten Millionen, die er an Geld kostete.</P>
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<P>Er war es sicherlich insofern, als weder der falsche Bonaparte noch Lord Palmerston,
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der englische Minister des Auswärtigen, den russischen Koloß in seinem
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Lebensnerv zu treffen gedachten. Sobald sie sicher waren, daß Österreich
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die russische Hauptmacht an der Westgrenze in Schach hielt, verlegten sie den
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Krieg nach der Krim, um sich in die Festung Sewastopol zu verbeißen, deren
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eine Hälfte sie nach Jahr und Tag glücklich erobert hatten. An diesem
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dürftigen Lorbeer mußten sie sich genügen lassen und schließlich
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von dem »besiegten« Rußland die Erlaubnis »erbitten«, ihre Truppen ungestört
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nach Hause zu verschiffen.</P>
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<P>An dem falschen Bonaparte war es erklärlich genug, weshalb er den Zaren
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nicht zu einem Kampf auf Leben und Tod herauszufordern wagte, weniger an Palmerston,
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den die festländischen Regierungen als revolutionären »Feuerbrand« fürchteten
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und die festländischen Liberalen als das Muster eines konstitutionell-liberalen
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Ministers bewunderten. Marx löste das Rätsel, indem er die Blaubücher
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und Parlamentsverhandlungen aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts, darüber
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hinaus dann aber auch eine Reihe diplomatischer, im Britischen Museum niedergelegter
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Berichte einer mühsamen Prüfung unterzog, um aus ihnen nachzuweisen,
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daß seit der Zeit Peters des Großen bis auf die Tage des Krimkrieges
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ein geheimes Zusammenwirken zwischen den Kabinetten von London und Petersburg
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stattgefunden habe und daß namentlich Palmerston ein feiles Werkzeug der
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zarischen Politik sei. Die Ergebnisse dieser Studien sind nicht unbestritten geblieben
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und werden auch heute noch bestritten, namentlich was Palmerston anbetrifft, dessen
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skrupellose Geschäftspolitik mit ihren Halbheiten und Widersprüchen
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Marx unzweifelhaft viel treffender beurteilt hat als die festländischen Regierungen
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und Liberalen, ohne daß sich daraus mit zwingender Notwendigkeit ergibt,
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daß Palmerston von Rußland gekauft gewesen sei. Aber wichtiger als
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die Frage, ob Marx diesen Bogen gelegentlich überspannt hat, ist die Tatsache,
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daß er ihn fortan stets gespannt hielt und als eine unerläßliche
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Aufgabe der Arbeiterklasse betrachtete, die Mysterien der internationalen Staatskunst
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zu durchdringen und die diplomatischen Streiche der Regierungen zu verhindern
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oder, wenn ihr das noch nicht möglich sein sollte, zu denunzieren.<A name="ZT1"></A><A href="fm03_245.htm#Z1"><SPAN class="top">[1]</SPAN></A></P>
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<P>Vor allem kam es ihm auf den unversöhnlichen Kampf gegen die barbarische
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Macht an, deren Haupt er in Petersburg sitzen und deren Hände er in allen
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europäischen Kabinetten wühlen sah. Er sah in dem <A NAME="S248"></A><B>|248|</B>
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Zarentum nicht nur die große Hauptfestung der europäischen Reaktion,
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deren bloße passive Existenz eine beständige Drohung und Gefahr sei,
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sondern auch den Hauptfeind, der durch seine unaufhörlichen Einmischungen
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in die Angelegenheiten des Westens die normale Entwicklung hemme und störe,
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zu dem Zwecke, sich geographische Stellungen zu erobern, die ihm die Herrschaft
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über Europa sichern sollten und damit die Befreiung des europäischen
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Proletariats unmöglich machen würden. Das entscheidende Gewicht, das
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Marx auf diesen Gesichtspunkt legte, hat von nun an in bedeutsamer Weise seine
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Arbeiterpolitik beeinflußt, viel stärker als schon in den Jahren der
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Revolution.</P>
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<P>Spann Marx damit nur einen Faden weiter, den er schon in der »Neuen Rheinischen
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Zeitung« angeknüpft hatte, so traten für ihn und ebenso für Engels
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die Nationen, für deren Unabhängigkeitskämpfe sich dieses Blatt
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begeistert hatte, sehr in den Hintergrund. Nicht als ob beide je aufgehört
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hätten, die Unabhängigkeit Polens, Ungarns und Italiens sowohl als ein
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Recht dieser Länder, wie auch als das Interesse Deutschlands und Europas
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zu vertreten. Aber schon im Jahre 1851 gab Engels den alten Lieblingen den trockenen
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Laufpaß: »Den Italienern, Polen und Ungarn werde ich deutlich genug sagen,
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daß sie in allen modernen Fragen das Maul zu halten haben.« Einige Monate
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darauf sagte er den Polen, daß sie eine aufgelöste Nation seien, nur
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so lange noch brauchbar als Mittel, bis Rußland selbst in die Revolution
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hineingerissen sei. Die Polen hätten in der Geschichte nie etwas anderes
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getan, als tapfere krakeelsüchtige Dummheit gespielt. Selbst gegen Rußland
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hätten sie nie etwas von historischer Bedeutung getan, während Rußland
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wirklich progressiv gegen den Osten sei. Die russische Herrschaft mit all ihrer
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Gemeinheit, all ihrem slawischen Schmutz, sei zivilisierend für das Schwarze
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und Kaspische Meer und Zentralasien, für Baschkiren und Tataren, und Rußland
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habe viel mehr Bildungselemente und besonders industrielle Elemente in sich aufgenommen
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als das seiner ganzen Natur nach chevaleresk-bärenhäuternde Polen. Sätze,
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die freilich stark von der Leidenschaft der Emigrantenkämpfe gefärbt
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sind. Später hat Engels wieder viel milder über Polen geurteilt und
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noch in seinen letzten Lebensjahren anerkannt, daß es wenigstens zweimal
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die europäische Zivilisation gerettet habe: durch seine Erhebung in den Jahren
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1792 bis 1793 und durch seine Revolution von 1830 bis 1831.</P>
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<P>Marx selbst aber schrieb dem gefeierten Helden der italienischen Revolution
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ins Stammbuch: »Mazzini kennt nur die Städte mit ihrem liberalen Adel und
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ihren aufgeklärten Bürgern. Die materiellen Bedürfnisse des italienischen
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Landvolkes - so ausgesogen und systematisch <A NAME="S249"></A><B>|249|</B> entnervt
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und verdummt wie das irische - liegen natürlich unter dem Phrasenhimmel seiner
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kosmopolitisch-neokatholisch-ideologischen Manifeste. Aber allerdings gehört
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Mut dazu, den Bürgern und dem Adel zu erklären, daß der erste
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Schritt zur Unabhängigkeit Italiens die völlige Emanzipation der Bauern
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und die Verwandlung ihres Halbpachtsystems in freies bürgerliches Eigentum
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ist.« Und dem prahlerisch in London sich aufspielenden Kossuth ließ Marx
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in einem Offenen Briefe seines Freundes Ernest Jones erklären, daß
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die europäischen Revolutionen den Kreuzzug der Arbeit gegen das Kapital bedeuteten.
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Sie könnten nicht auf das geistige und soziale Niveau eines obskuren, halb
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barbarischen Volkes wie die Magyaren herabgedrückt werden, die noch in der
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Halbzivilisation des sechzehnten Jahrhunderts steckten und sich tatsächlich
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einbildeten, sie dürften die große Erleuchtung Deutschlands und Frankreichs
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kommandieren und der Leichtgläubigkeit Englands ein erschwindeltes Hoch ablocken.</P>
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<P>Am weitesten jedoch entfernte sich Marx von den Überlieferungen der »Neuen
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Rheinischen Zeitung«, indem er auf Deutschland nicht nur nicht mehr sein Hauptaugenmerk
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richtete, sondern es so ziemlich aus seinem politischen Gesichtskreise verbannte.
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Deutschland spielte damals freilich eine ungemein trübselige Rolle in der
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europäischen Politik und konnte als russisches Paschalik gelten, aber wenn
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es sich dadurch einigermaßen erklärt, so war es doch in mancher Beziehung
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verhängnisvoll, daß Marx - und dasselbe gilt von Engels - eine Reihe
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von Jahren jede engere Fühlung mit der deutschen Entwicklung verlor. Vor
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allem die Mißachtung, die beide als annektierte Rheinländer von jeher
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gegen den preußischen Staat empfunden hatten, steigerte sich in den Tagen
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Manteuffel-Westphalens auf einen Grad, der in starkem Mißverhältnis
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zu ihrem Scharfblick für die reale Lage der Dinge stand.</P>
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<P>Ein beredtes Zeugnis dafür legt besonders auch der eine Ausnahmefall ab,
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wo Marx die preußischen Zustände der Zeit seiner Beachtung würdigte.
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Es geschah gegen Ende des Jahres 1856, als Preußen sich wegen des Neuenburger
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Handels mit der Schweiz in die Haare geriet. Der Zwischenfall veranlaßte
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Marx, wie er am 2. Dezember 1856 an Engels schrieb, seinen »höchst mangelhaften
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Kenntnissen von der preußischen Geschichte« nachzuhelfen, wobei er das Ergebnis
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seiner Studien dahin zusammenfaßte, etwas Lausigeres habe die Weltgeschichte
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nie produziert. Was er im Anschluß daran in dem Briefe selbst ausführte
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und einige Tage darauf im »Peoples Paper«, einem chartistischen Organ, ausführlicher
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wiederholte, zeigt ihn nicht entfernt auf der Höhe seiner sonstigen Geschichtsauffassung,
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streift vielmehr bedenklich an <A NAME="S250"></A><B>|250|</B> jene historischen
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Niederungen biedermännisch scheltender Demokratie, die überwunden zu
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haben sonst gerade sein Verdienst ist.</P>
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<P>Harter Bissen, wie der preußische Staat ohne Zweifel für jeden Kulturmenschen
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war, ließ er sich ebendeshalb doch nicht auflösen durch das Scheidewasser
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des Spotts über das »göttliche Recht der Hohenzollern«, über ihre
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drei immer wiederkehrenden »Charaktermasken«: Pietist, Unteroffizier, Hanswurst,
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über die preußische Geschichte als eine »unsaubere Familienchronik«
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verglichen mit dem »diabolischen Epos« der österreichischen Geschichte und
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|
ähnliches mehr, was höchstens doch nur das Warum erklärte, aber
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|
das Warum des Warum noch ganz im ungewissen ließ.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER">2. David Urquhart. Harney und Jones<A name="Kap_2"></A></H3>
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<P>Zu gleicher Zeit und in gleichem Sinne wie an der »New-York Daily Tribune«
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arbeitete Marx an den urquhartistischen und den chartistischen Organen mit.</P>
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<P>David Urquhart war ein englischer Diplomat, der sich durch die genaue Kenntnis
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und unablässige Bekämpfung der russischen Weltherrschaftspläne
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große Verdienste erworben, aber diese Verdienste durch einen fanatischen
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Russenhaß und eine fanatische Türkenschwärmerei wieder geschmälert
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hat. Marx ist oft ein Urquhartit genannt worden, aber sehr mit Unrecht; man kann
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eher sagen, daß er wie Engels sich mehr an den närrischen Übertreibungen
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des Mannes gestoßen als seine wirklichen Leistungen geschätzt habe.
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Gleich wo er zum ersten Male erwähnt wird, schrieb Engels im März 1853:
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»Ich habe jetzt den Urquhart zu Hause ... der den Palmerston für von Rußland
|
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|
bezahlt angibt. Die Sache erklärt sich einfach: der Kerl ist ein keltischer
|
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Schotte mit sächsisch-schottischer Bildung, der Tendenz nach Romantiker,
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|
der Bildung nach freetrader [Mehring übersetzt: Freihändler]. Dieser
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Kerl ging als Philhellene nach Griechenland, und nachdem er sich drei Jahre mit
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||
|
den Türken herumgeschlagen, ging er in die Türkei und begeisterte sich
|
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|
für ebendieselben Türken. Er schwärmt für den Islam und sein
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||
|
Prinzip ist: wenn ich nicht Kalvinist wäre, so könnte ich nur Mohammedaner
|
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|
sein.« Im ganzen fand Engels das Buch Urquharts freilich höchst amüsant.</P>
|
||
|
<P>Der Berührungspunkt zwischen Marx und Urquhart war der Kampf gegen Palmerston.
|
||
|
Ein Artikel gegen diesen Minister, den Marx in der »New-York Daily Tribune« veröffentlicht
|
||
|
und ein Glasgower Blatt nachgedruckt <A NAME="S251"></A><B>|251|*</B> hatte, erregte
|
||
|
die Aufmerksamkeit Urquharts, und er hatte im Februar 1854 eine Zusammenkunft
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||
|
mit Marx, wobei er diesen mit dem Kompliment empfing, seine Artikel seien so,
|
||
|
als ob ein Türke sie geschrieben hätte. Als Marx darauf erklärte,
|
||
|
daß er »Revolutionist« sei, fand sich Urquhart sehr enttäuscht, denn
|
||
|
es gehörte zu seinen Schrullen, daß die europäischen Revolutionäre
|
||
|
bewußte oder unbewußte Werkzeuge des Zarismus seien, um den europäischen
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||
|
Regierungen Schwierigkeiten zu bereiten. »Er ist ein kompletter Monoman«, schrieb
|
||
|
Marx nach dieser Unterredung an Engels. Er stimme in nichts mit ihm überein,
|
||
|
wie er ihm erklärt habe, außer Palmerston, und zu diesem Punkt habe
|
||
|
Urquhart ihm nicht verholfen.</P>
|
||
|
<P>Man wird nun freilich diese vertraulichen Äußerungen nicht allzusehr
|
||
|
pressen dürfen. Öffentlich hat Marx bei allen kritischen Vorbehalten
|
||
|
die Verdienste Urquharts wiederholt anerkannt und auch kein Hehl daraus gemacht,
|
||
|
daß er von Urquhart, wenn auch nicht überzeugt, so doch angeregt worden
|
||
|
sei. Er nahm deshalb auch keinen Anstand, für die Organe Urquharts, namentlich
|
||
|
die »Free Press« in London, gelegentliche Beiträge zu liefern und die Verbreitung
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||
|
mehrerer seiner Aufsätze aus der »New-York Daily Tribune« in Form von Flugschriften
|
||
|
zu gestatten. Diese Palmerston-Pamphlets wurden in verschiedenen Auflagen zu 15.000
|
||
|
bis 30.000 Exemplaren vertrieben und erregten großes Aufsehen. Aber sonst
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||
|
hat Marx bei dem Schotten Urquhart so wenig Seide gesponnen wie bei dem Yankee
|
||
|
Dana.</P>
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|
<P>Eine dauernde Verbindung zwischen Marx und Urquhart war schon dadurch ausgeschlossen,
|
||
|
daß Marx zum Chartismus hielt, den Urquhart doppelt haßte, als Freihändler
|
||
|
und als Russenfeind, der in jeder revolutionären Bewegung den Rubel rollen
|
||
|
hörte. Von der schweren Niederlage, die er am 10. April 1848 erlitten hatte,
|
||
|
hat sich der Chartismus nicht mehr erholt, aber solange seine Reste noch um neues
|
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|
Leben rangen, haben Engels und Marx sie tapfer und treu unterstützt, namentlich
|
||
|
uneigennützige Mitarbeit an den Organen geleistet, die George Julian Harney
|
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|
und Ernest Jones in den fünfziger Jahren herausgaben, Harney in rascher Folge
|
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|
hintereinander den »Red Republican«, den »Friend of the People« und die »Democratic
|
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|
Review«, Jones die »Notes to the People« und »The Peoples Paper«, das am längsten
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|
dauerte, bis zum Jahre 1858.</P>
|
||
|
<P>Harney und Jones gehörten zur revolutionären Fraktion der Chartisten
|
||
|
und waren unter ihnen auch wohl am freiesten von aller insularen Beschränktheit;
|
||
|
in der internationalen Verbindung der Fraternal Democrats galten sie als die leitenden
|
||
|
Geister. Harney war ein Seemannskind <A NAME="S252"></A><B>|252|*</B> und in proletarischen
|
||
|
Verhältnissen aufgewachsen; er hatte sich selbst an der revolutionären
|
||
|
Literatur Frankreichs geschult und sah namentlich in Marat sein Muster. Ein Jahr
|
||
|
älter als Marx, saß er schon zur Zeit, wo dieser die »Rheinische Zeitung«
|
||
|
leitete, in der Redaktion des »Northern Star«, des chartistischen Hauptorgans.
|
||
|
Hier suchte ihn im Jahre 1843 Engels auf, »ein schlanker, junger Mann von fast
|
||
|
knabenhafter Jugendlichkeit, der schon damals ein merkwürdig korrektes Englisch
|
||
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sprach«. 1847 lernte Harney auch Marx kennen und schloß sich ihm begeistert
|
||
|
an.</P>
|
||
|
<P>In seinem »Red Republican« brachte er eine englische Übersetzung des »Kommunistischen
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Manifestes« mit der Randnote, es sei das revolutionärste Dokument, das der
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Welt je gegeben worden sei, und in seiner »Democratic Review« übersetzte
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er die Aufsätze der »Neuen Rheinischen Revue« über die französische
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Revolution als die »wahre Kritik« der französischen Affären. In den
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Emigrantenkämpfen kam er dann doch zu seiner alten Liebe zurück und
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geriet in heftigen Zwist mit Jones nicht minder als mit Marx und Engels. Bald
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darauf siedelte er nach der Insel Jersey und dann nach den Vereinigten Staaten
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über, wo ihn Engels noch im Jahre 1888 besucht hat. Gleich darauf kehrte
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Harney nach England zurück, und hier ist er in hohem Alter als letzter Zeuge
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einer großen Zeit gestorben.</P>
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<P>Ernest Jones stammte aus einem alten normannischen Geschlecht, war aber in
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Deutschland geboren und erzogen, wo sein Vater als militärischer Begleiter
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des Herzogs von Cumberland lebte, des späteren Königs Ernst August von
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Hannover. Dieser erzreaktionäre Wüstling, dem die englische Presse jedes
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Verbrechen mit Ausnahme des Selbstmordes nachsagte, hat den kleinen Ernest aus
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der Taufe gehoben, ohne daß diese Patenschaft und die höfischen Beziehungen
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seiner Familie auf ihn abgefärbt hätten. Schon als Knabe bekundete er
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einen unbändigen Freiheitssinn, und als Mann hat er allen Versuchungen widerstanden,
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ihn in goldenen Ketten einzufangen. Er zählte etwa zwanzig Jahre, als seine
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Familie nach England zurückkehrte, wo er sich dem Rechtsstudium widmete und
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zur Advokatur zugelassen wurde. Er opferte aber alle Aussichten, die ihm seine
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glänzenden Fähigkeiten und die aristokratischen Verbindungen seiner
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Familie eröffneten, um sich der chartistischen Sache zu widmen, die er mit
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so glühendem Eifer vertrat, daß er im Jahre 1848 zu einer zweijährigen
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Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Zur Strafe für den Verrat an seiner
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Klasse wurde er in der Haft als gemeiner Sträfling behandelt, verließ
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den Kerker aber im Jahre 1850 gänzlich ungebessert und hat vom Sommer 1850
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ab, ziemlich zwei Jahrzehnte <A NAME="S253"></A><B>|253|*</B> lang, nahe mit Marx
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und Engels verkehrt, zwischen denen er im Alter stand.</P>
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<P>Ganz ohne Trübungen ist freilich auch diese Freundschaft nicht geblieben:
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Trübungen ähnlicher Art, wie sie in der Freundschaft mit Freiligrath,
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mit dem Jones die dichterische Begabung teilte, oder auch mit Lassalle eintraten,
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über den Marx ähnlich, nur noch ungleich schärfer urteilte, wie
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wenn er von Jones 1855 schrieb: »Bei aller Energie, Ausdauer und Tätigkeit,
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die man an Jones anerkennen muß, verdirbt er alles durch Marktschreierei,
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taktloses Haschen nach Agitationsprätexten [Mehring übersetzt: -vorwänden]
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und Unruhe, die Zeit zu überspringen.« Auch später hat es an harten
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Zusammenstößen nicht gefehlt, als die chartistische Agitation unaufhaltsam
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versandete und Jones sich dem bürgerlichen Radikalismus näherte.</P>
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<P>Aber im Grunde blieb es eine aufrichtige und echte Freundschaft. Jones lebte
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zuletzt als Advokat in Manchester und starb 1869 unerwartet, noch in der vollen
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Kraft des Mannesalters; auf einem eiligen Zettel sandte Engels die Trauerkunde
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nach London: »Das ist wieder einer von den Alten!« Marx antwortete: »Die Nachricht
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mit E. Jones hat bei uns im Haus natürlich tiefe Bestürzung erregt,
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da er einer der wenigen alten Freunde.« Engels meldete dann noch, Jones sei unter
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einer enormen Prozession auf demselben Kirchhof begraben worden, wo schon einer
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ihrer Getreuen, Wilhelm Wolff, ruhte. Es sei wirklich schade um ihn; seine bürgerlichen
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Phrasen seien doch nur Heuchelei, und unter den Politikern sei er der einzige
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gebildete Engländer gewesen, der im Grunde ganz auf ihrer Seite gestanden
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habe.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER">3. Familie und Freunde<A name="Kap_3"></A></H3>
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<P>Von allen politischen Verbindungen hielt sich Marx in diesen Jahren fern, ja
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fast von aller Gesellschaft. Er hatte sich völlig in die Studierstube zurückgezogen,
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die er nur verließ, um seiner Familie zu leben, die sich im Januar 1855
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um ein Töchterchen Eleanor vermehrte.</P>
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<P>Er war ein großer Kinderfreund wie Engels auch, und wenn er je seiner
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rastlosen Arbeit eine Stunde abzwackte, so war es, um mit seinen Kindern zu spielen.
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Sie hingen mit abgöttischer Liebe an ihm, obgleich oder auch weil er auf
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alle väterliche Autorität verzichtete; sie gingen mit ihm wie mit einem
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Kameraden um und nannten ihn »Mohr«, mit einem Spitznamen, den ihm seine dunkle
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Haar- und Hautfarbe eingetragen <A NAME="S254"></A><B>|254|*</B> hatte. »Die Kinder
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müssen die Eltern erziehen«, pflegte er zu sagen. Vor allem verboten sie
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ihm alle Sonntagsarbeit; am Sonntag mußte er ihnen ganz gehören, und
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die sonntäglichen Ausflüge aufs Land, wo in einfachen Schenken gerastet
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wurde, um Ingwerbier zu trinken und Brot mit Käse zu verspeisen, waren die
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spärlichen Sonnenblicke zwischen den schweren Wolken, die immer über
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dem Hause hingen.</P>
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<P>Mit besonderer Vorliebe richteten sich diese Ausflüge nach Hampstead Heath,
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der Heide von Hampstead, einem unbebauten, mit Baumgruppen und Stachelginster
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bewachsenen Hügelstrich im Norden Londons. Liebknecht hat diese Sonntagsfahrten
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sehr anmutig beschrieben. Die Heide ist heute nicht mehr das, was sie vor sechzig
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Jahren war, aber von dem alten Wirtshaus, Jack Straws Castle, an dessen Tische
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Marx oft gesessen hat, hat man noch immer einen prächtigen Blick über
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sie, mit ihrem malerischen Wechsel von Berg und Tal, namentlich wenn sie an Sonntagen
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von fröhlichen Menschen belebt ist. Im Süden die Riesenstadt mit ihren
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Häusermassen, überragt von der Kuppel der St. Paulskathedrale und den
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Westminstertürmen, in der dämmernden Ferne die Hügel von Surrey,
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im Norden ein dichtbevölkerter fruchtbarer Landstrich, mit zahlreichen Dörfern
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übersäet, im Westen der Schwesterhügel von Highgate, wo Marx den
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ewigen Schlaf schläft.</P>
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<P>In sein bescheidenes Familienglück fuhr ihm nun aber ein zündender
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Blitz; am Karfreitag des Jahres 1855 wurde ihm sein einziger Sohn durch den Tod
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entrissen, der etwa neunjährige Edgar oder »Musch«, wie er mit einem Kosenamen
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in der Familie genannt wurde. Der Knabe, der schon eine reiche Begabung verriet,
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war der allgemeine Liebling. »Ein so trauriger, entsetzlicher Verlust, daß
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ich gar nicht sagen kann, wie mir der Fall ans Herz gegriffen hat«, schrieb Freiligrath
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in die Heimat.</P>
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<P>Herzzerreißend klang es aus den Briefen, in denen Marx über Krankheit
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und Tod an Engels berichtete. Am 30. März schrieb er: »Meine Frau war seit
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einer Woche so krank wie nie vorher vor geistiger Erregung. Mir selbst blutet
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das Herz und brennt der Kopf, obgleich ich natürlich Haltung behaupten muß.
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Das Kind verleugnet während der Krankheit keinen Augenblick seinen originellen,
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gutmütigen und zugleich selbständigen Charakter.« Und am 6. April: »Der
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arme Musch ist nicht mehr. Er entschlief (im wörtlichen Sinne) in meinen
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Armen heute zwischen 5 und 6 Uhr. Ich werde nie vergessen, wie Deine Freundschaft
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diese schreckliche Zeit uns erleichtert hat. Meinen Schmerz um das Kind begreifst
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Du.« Und am 12. April: »Das Haus ist natürlich ganz verödet und verwaist
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seit dem Tode des teuren Kindes, das seine belebende <A NAME="S255"></A><B>|255|*</B>
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Seele war. Es ist unbeschreiblich, wie das Kind uns überall fehlt. Ich habe
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schon allerlei Pech durchgemacht, aber erst jetzt weiß ich, was ein wirkliches
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Unglück ist ... Unter all den furchtbaren Qualen, die ich in diesen Tagen
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durchgemacht habe, hat mich immer der Gedanke an Dich und Deine Freundschaft aufrechtgehalten
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und die Hoffnung, daß wir noch etwas Vernünftiges in der Welt zusammen
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zu tun haben.«</P>
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<P>Es dauerte lange, ehe die Wunde auch nur zu vernarben begann. Auf einen Trostbrief
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Lassalles antwortete Marx am 28. Juli: »Baco sagt, daß wirklich bedeutende
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Menschen so viel Relationen [Mehring übersetzt: Beziehungen] zur Natur und
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der Welt haben, so viele Gegenstände des Interesses, daß sie jeden
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Verlust leicht verschmerzen. Ich gehöre nicht zu diesen bedeutenden Menschen.
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Der Tod meines Kindes hat mir Herz und Hirn tief erschüttert, und ich fühle
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den Verlust noch so frisch wie am ersten Tag. Meine arme Frau ist auch völlig
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niedergebrochen.« Und Freiligrath schrieb am 6. Oktober an Marx: »Daß Dein
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Verlust Dich noch immer nicht losläßt, geht mir unendlich nahe. Da
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läßt sich nichts tun und nichts raten. Ich begreife und ich ehre Deinen
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Schmerz - aber suche ihn zu bemeistern, damit er Deiner nicht Meister wird. Du
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begehst damit keinen Verrat am Gedächtnis Deines lieben Kindes.«</P>
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<P>Der Tod des kleinen Edgar war der Gipfel fortwährender Krankheiten, die
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seit ein paar Jahren in der Familie eingerissen waren, und seit dem Frühjahr
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auch Marx selbst ergriffen hatten, um ihn völlig nie wieder loszulassen.
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Hauptsächlich quälte ihn ein Leberleiden, das er von seinem Vater ererbt
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zu haben glaubte. Aber viel trug zu den immer schlechteren Gesundheitszuständen
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auch die elende Wohnung und das ungesunde Viertel bei, worin sie lag. Im Sommer
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1854 wütete hier die Cholera besonders arg, angeblich weil die gleichzeitig
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gegrabenen Abfuhrkanäle durch die Schächte getrieben wurden, in denen
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die an der Pest von 1665 Gestorbenen begraben worden waren. Der Arzt drängte,
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»den Bannkreis von Soho Square« zu verlassen, dessen Luft Marx seit Jahren ununterbrochen
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eingeatmet hatte. Ein neuer Trauerfall in der Familie schuf die Möglichkeit
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dazu. Im Sommer 1856 war Frau Marx mit den drei Töchtern nach Trier gereist,
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um ihre alte Mutter noch einmal zu sehen. Sie kam aber gerade nur noch zur rechten
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Zeit, um ihr nach elftägigen Leiden die müden Augen zuzudrücken.</P>
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<P>Ihre Hinterlassenschaft war gering, jedoch ein paar hundert Taler fielen auf
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den Anteil der Frau Marx, und dazu kam, wie es scheint, noch eine kleine Erbschaft
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von der schottischen Verwandtschaft her. So konnte die Familie im Herbst 1856
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in ein Häuschen übersiedeln, nicht weit von <A NAME="S256"></A><B>|256|</B>
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ihrem geliebten Hampstead Heath: 9 Graftonterrace, Maitlandpark, Haverstockhill.
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Die Jahresmiete betrug 36 Pfund. »Es ist eine wahrhaft prinzliche Wohnung, verglichen
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mit unseren früheren Löchern«, schrieb Frau Marx einer Freundin, »und
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obgleich die sämtlichen Einrichtungen vom Kopf bis zum Fuß nicht viel
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über 40 Pfund kamen (second hand rubbish spielte eine große Rolle dabei),
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so kam ich mir im Anfang in unserem jungen Parlour ganz großartig vor. Sämtliche
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Wäsche und sonstige Überreste früherer Größe wurden
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aus des ›Onkels‹ Händen befreit, und ich zählte mit Lust einmal wieder
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die Damastservietten, die noch alten schottischen Ursprungs waren. Obgleich die
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Herrlichkeit nicht lange dauerte, denn bald mußte ein Stück nach dem
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andern wieder ins ›Pop-Haus‹ wandern (so nennen die Kinder den geheimnisvollen
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Drei-Kugel-Shop), so freuten wir uns doch einmal recht in unserer bürgerlichen
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Behäbigkeit.« Es war ein nur allzu kurzes Aufatmen.</P>
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<P>Auch unter den Freunden hielt der Tod seine Ernte. Daniels starb im Herbst
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1855, Weerth im Januar 1856 in Haiti, Konrad Schramm Anfang 1858 auf der Insel
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Jersey. Ihnen allen wenigstens kurze Nachrufe in der Presse zu schaffen, bemühten
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sich Marx und Engels eifrig, aber ohne Erfolg. Sie klagten oft, daß die
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alte Garde zusammenschmelze und kein neuer Zufluß käme. So sehr ihnen
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ihre »öffentliche Isolation« anfangs gefallen hatte, und so felsenfest die
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Siegeszuversicht war, womit die beiden Einsamen an der europäischen Politik
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teilnahmen, als wären sie selbst eine europäische Macht, so waren sie
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doch viel zu leidenschaftliche Politiker, um nicht auf die Dauer den Mangel einer
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Partei zu empfinden, denn ihre wenigen Anhänger waren, wie Marx einmal selbst
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sagte, keine Partei. Und unter ihnen war keiner, der an den Hochwuchs ihrer Gedanken
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heranreichte, bis auf den einen, gegen den sie ihr Mißtrauen niemals ganz
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überwinden konnten.</P>
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<P>In London war Liebknecht täglicher Gast bei Marx, namentlich solange dieser
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in der Deanstreet hauste, aber er hatte in seinem Dachkämmerchen hart mit
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der Not des Lebens zu kämpfen, und das gleiche galt von den alten Gefährten
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des Kommunistenbundes, von Leßner und dem Tischler Lochner, von Eccarius
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und dem »reuigen Sünder« Schapper. Andere waren zerstreut: Dronke als Kaufmann
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in Liverpool und dann in Glasgow, Imandt als Professor in Dundee, Schily als Advokat
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in Paris, wo auch Reinhardt, der Sekretär Heines in dessen letzten Lebensjahren,
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zum engeren Kreise der Getreuen zählte.</P>
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<P>Aber auch unter den Allgetreuesten erlahmte der politische Kampf. Wilhelm Wolff,
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|
der sich in Manchester durch Stundengeben erträglich ernährte, blieb
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|
ganz der alte, wie Frau Marx einmal von ihm schrieb: <A NAME="S257"></A><B>|257|</B>
|
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|
»die kreuzbrave, tüchtige, plebejische Natur«, nur daß mit den Jahren
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die Grillen des Junggesellen wuchsen und seine »Hauptkämpfe« seiner Wirtin
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um Tee und Zucker und Kohlen galten. Geistig ist er den alten Freunden im Exil
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nicht mehr viel gewesen. So auch blieb Freiligrath der alte zuverlässige
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Freund; ja seitdem er im Sommer 1856 die Londoner Agentur einer Schweizer Bank
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übertragen erhalten hatte, hat er die größere Möglichkeit
|
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finanzieller Hilfe für Marx um so reichlicher ausgenützt, ihm namentlich
|
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die Honorare der »New-York Daily Tribune«, die sich oft genug zum Überfluß
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noch als saumselige Zahlerin erwies, so rasch wie möglich flüssig gemacht.
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Auch in seinen revolutionären Überzeugungen blieb Freiligrath unerschüttert,
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aber dem Parteikampf entfremdete er sich mehr und mehr. Mochte er auch aus ehrlicher
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Überzeugung sagen, daß sich der Revolutionär nirgends mit Anstand
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begraben lassen könne als im Exil, so konnte der deutsche Dichter doch des
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Exils nicht froh werden. Da er des geliebten Weibes Heimweh sah und der Kinderschar
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den Weihnachtsbaum auf fremder Erde anzünden mußte, rann ihm der Quell
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der Dichtung selten und spärlich. Er litt darunter und empfand es wohltätig,
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daß die Heimat sich allmählich ihres berühmten Dichters wieder
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erinnerte.</P>
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<P>Und nun die lange Reihe der »lebendig Verstorbenen«! Es traf sich, daß
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Marx in London mit manchen Genossen seiner philosophischen Frühzeit zusammentraf:
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mit Eduard Meyen, der immer noch die alte Giftkröte war, mit Faucher, der
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als Sekretär Cobdens freihändlerische »Geschichte zu machen« beanspruchte,
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mit Edgar Bauer, der umgekehrt den kommunistischen Agitator spielte, von Marx
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aber immer nur der »Clown« genannt wurde. Als Bruno Bauer zum Besuche des Bruders
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auf längere Zeit nach London kam, ist auch Marx wiederholt mit dem alten
|
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Jugendfreunde zusammengetroffen. Da Bruno Bauer für die russische Urkraft
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schwärmte, dagegen im Proletariat nur »Pöbel« sah, der mit Gewalt und
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List zu leiten sei und im äußersten Fall sich mit einem Silbergroschen
|
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Zulage abspeisen lasse, so war natürlich jede Verständigung ausgeschlossen.
|
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Marx fand ihn sichtbar gealtert, mit gewachsener Stirn und den Manieren eines
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pedantischen Professors, aber über seine Unterhaltungen mit dem »vergnüglichen
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alten Herrn« berichtete er doch ausführlich an Engels.</P>
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<P>Allein auch aus einer jüngeren Vergangenheit waren der »lebendig Verstorbenen«
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gerade genug, und sie mehrten sich mit jedem Jahre. So die alten Freunde am Rheine:
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Georg Jung, Heinrich Bürgers, Hermann Becker und andere. Mancher von ihnen,
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||
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wie Becker und nach ihm der brave Miquel, machten sich die Sache »wissenschaftlich«
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|
zurecht; erst <A NAME="S258"></A><B>|258|</B> müsse die Bourgeoisie vollständig
|
||
|
über das Junkertum siegen, ehe das Proletariat an seinen Sieg denken könne.
|
||
|
Becker lehrte: »Soweit der Bohrwurm der Kanaille der materiellen Interessen dringt,
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||
|
soweit verwandelt sich das morsche Gerüst des Junkertums in Staub, und die
|
||
|
Geschichte geht beim ersten Hauche des Weltgeistes über den ganzen äußeren
|
||
|
Verputz zur höchst einfachen Tagesordnung über.« Eine sehr hübsche
|
||
|
Theorie soweit, die auch heute noch manchen Schlaumeier bezaubern mag. Aber als
|
||
|
Becker Oberbürgermeister von Köln und Miquel preußischer Finanzminister
|
||
|
geworden war, hatten sie sich in die »Kanaille der materiellen Interessen« dermaßen
|
||
|
verliebt, daß sie sich gegen »den ersten Hauch des Weltgeistes« zusamt seiner
|
||
|
»höchst einfachen Tagesordnung« mit Händen und Füßen sträubten.</P>
|
||
|
<P>Für Männer wie Becker und Miquel, war es immerhin ein fragwürdiger
|
||
|
Ersatz, als im Frühling 1856 ein Kaufmann Gustav Levy aus Düsseldorf
|
||
|
bei Marx erschien, um ihm eine Fabrikinsurrektion in Iserlohn, Solingen usw. auf
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||
|
dem Präsentierteller anzubieten. Marx sprach sich derb gegen die gefährliche
|
||
|
und nutzlose Narrheit aus; er ließ den Arbeitern, in deren angeblichem oder
|
||
|
wirklichem Auftrage Levy gekommen war, durch diesen sagen, sie möchten in
|
||
|
einiger Zeit wieder nach London senden, aber nichts tun ohne vorherige Verständigung.</P>
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||
|
<P>Nicht ebenso ablehnend stellte sich Marx zu dem andern angeblichen Auftrage,
|
||
|
den Levy von den Düsseldorfer Arbeitern haben wollte: nämlich vor Lassalle
|
||
|
zu warnen als einem unsicheren Kantonisten, der nach dem siegreichen Ausgange
|
||
|
der Hatzfeldtschen Prozesse unter dem schmählichen Joche der Gräfin
|
||
|
lebe, sich von ihr unterhalten lasse, mit ihr nach Berlin gehen wolle, um ihr
|
||
|
einen Hof von Literaten zu schaffen, die Arbeiter aber als verbrauchte Werkzeuge
|
||
|
beiseite werfe, um zur Bourgeoisie überzugehen und was des Klatsches mehr
|
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|
war. Diesmal darf man mit allem Fug daran zweifeln, daß rheinische Arbeiter
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||
|
eine solche Botschaft an Marx gesandt haben, denn dieselben Arbeiter haben wenige
|
||
|
Jahre später durch feierliche Adressen und jubelnde Zurufe bekundet, daß
|
||
|
Lassalles Haus in Düsseldorf in der weißen Schreckenszeit der fünfziger
|
||
|
Jahre »das treue Asyl der furchtlosesten und entschlossensten Parteihilfe« gewesen
|
||
|
war. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß der Bote auf eigene Faust die Botschaft
|
||
|
ersonnen hat: der Biedermann war aufs äußerste ergrimmt über Lassalle,
|
||
|
weil dieser ihm ein Darlehen von 2.000 Talern nur in der Höhe von 500 Talern
|
||
|
hatte bewilligen wollen.</P>
|
||
|
<P>Wäre Marx davon unterrichtet gewesen, so hätte er sicherlich gegenüber
|
||
|
diesem Levy die größte Zurückhaltung beobachtet. Aber der Bericht
|
||
|
selbst war schon geeignet, starkes Mißtrauen zu erwecken. Marx <A NAME="S259"></A><B>|259|</B>
|
||
|
war mit Lassalle nicht gerade in häufigem, aber doch fortlaufendem Briefwechsel
|
||
|
geblieben, er hatte ihn immer, persönlich wie politisch, als zuverlässigen
|
||
|
Freund und Parteigenossen befunden; ja, er hatte selbst das Mißtrauen bekämpft,
|
||
|
das in den Tagen des Kommunistenbundes allerdings noch in den Kreisen der rheinischen
|
||
|
Arbeiter gegen Lassalle wegen dessen Verstrickung in die Hatzfeldtschen Händel
|
||
|
bestanden hatte. Noch vor kaum Jahresfrist, als ihm Lassalle aus Paris schrieb,
|
||
|
hatte er in durchaus herzlicher Weise geantwortet: »Ich bin natürlich überrascht,
|
||
|
Dich so nah bei London zu wissen, ohne daß Du auch nur für einige Tage
|
||
|
herüberzukommen denkst. Ich hoffe, Du wirst noch in Dich gehen und entdecken,
|
||
|
wie kurz und wohlfeil die Reise von Paris nach London ist. Wären mir die
|
||
|
Tore Frankreichs nicht hermetisch verschlossen, so würde ich Dich in Paris
|
||
|
überraschen.«</P>
|
||
|
<P>So läßt es sich schwer erklären, daß Marx das lose Gerede
|
||
|
Levys am 5. März 1856 an Engels berichtete und hinzufügte: »Dies alles
|
||
|
ist nur einzelnes, herausgehört und strichweise fixiert. Das <I>Ganze</I>
|
||
|
hat auf mich und Freiligrath einen <I>definitiven</I> Eindruck gemacht, so sehr
|
||
|
ich für Lassalle eingenommen war und so mißtrauisch ich gegen Arbeiterklatsch
|
||
|
bin.« Er habe dem Levy gesagt, auf den Bericht einer einzigen Seite hin zu einem
|
||
|
Schlusse zu kommen, sei unmöglich, aber Verdacht sei unter allen Umständen
|
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nützlich; man möge Lassalle überwachen, aber einstweilen jeden
|
||
|
öffentlichen Eklat vermeiden. Dem stimmte Engels zu, mit einigen Bemerkungen,
|
||
|
die aus seinem Munde weniger auffallen, da er Lassalle weniger kannte als Marx.
|
||
|
Es sei schade um den Kerl, seines großen Talentes wegen, aber diese Sachen
|
||
|
seien doch zu arg. Lassalle sei immer ein Mensch gewesen, dem man höllisch
|
||
|
aufpassen mußte; als echter Jud von der slawischen Grenze sei er immer auf
|
||
|
dem Sprunge, unter Parteivorwänden jeden für seine Privatzwecke auszubeuten.</P>
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||
|
<P>Marx aber brach seinen Briefwechsel mit dem Manne ab, der ihm wenige Jahre
|
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|
später mit aller Wahrheit schreiben konnte: Du hast in Deutschland keinen
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Freund als mich.</P>
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<H3 ALIGN="CENTER">4. Die Krise von 1857<A name="Kap_4"></A></H3>
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|
<P>Als sich Marx und Engels im Herbst 1850 aus den öffentlichen Kämpfen
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|
des Parteilebens zurückzogen, hatten sie erklärt: <I>»Eine neue Revolution
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|
ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher
|
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|
wie diese.«</I><A name="ZT2"></A><A href="fm03_245.htm#Z2"><SPAN class="top">[2]</SPAN></A> Seitdem hatten sie, und mit jedem Jahre <A NAME="S260"></A><B>|260|</B>
|
||
|
ungeduldiger, nach den Anzeichen einer neuen Krise ausgespäht. Liebknecht
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erzählt, daß Marx sie manchmal daneben prophezeit habe und deshalb
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von den Freunden geneckt worden sei; als sie 1857 nun wirklich kam, ließ
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Marx in der Tat durch Engels an Wilhelm Wolff melden, er werde beweisen, daß
|
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|
sie normalerweise zwei Jahre früher hätte ausbrechen müssen.</P>
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<P>Sie begann in den Vereinigten Staaten, und schon ihre Vorboten machten sich
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für Marx dadurch fühlbar, daß ihn die »New-York Daily Tribune«
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auf Halbsold setzte. Der Schlag traf ihn um so schwerer, als sich in der neuen
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Wohnung schon das alte oder selbst ein vermehrtes Elend eingestellt hatte. Marx
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konnte sich hier nicht »von Tag zu Tag durchklemmen wie in der Deanstreet«; ohne
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Aussicht und mit wachsenden Familienausgaben. »Ich weiß absolut nicht, was
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ich anfangen soll und bin in der Tat in einer verzweifelteren Situation als vor
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fünf Jahren«, schrieb er am 20. Januar 1857 an Engels. Diesen traf die Nachricht
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wie ein »Donnerschlag aus heiterem Himmel«, aber er eilte zu helfen und klagte
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nur, daß Marx nicht vierzehn Tage früher geschrieben hätte. Er
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hätte sich eben ein Pferd gekauft, für das ihm sein Alter das Geld als
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Weihnachtsgeschenk gesandt habe; »es ist mir höchst ärgerlich, daß
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ich hier ein Pferd halten soll, während Du in London mit Deiner Familie im
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Pech sitzest«. Hoch erfreut war er dann, als ein paar Monate später Dana
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bei Marx um Mitarbeit, namentlich auch wegen militärischer Artikel, für
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ein von ihm herausgegebenes Konversationslexikon anfragte. Die Sache komme ihm
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»ganz gepfiffen« und mache ihm «unendlichen Spaß«, da sie ein enormer Hebel
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sein werde, Marx aus den ewigen Geldnöten zu befreien; dieser möge nur
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so viele Artikel nehmen, als er kriegen könne, und allmählich ein Büro
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organisieren.</P>
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<P>Daraus wurde nichts, schon aus Mangel an Leuten. Auch sonst erwies sich die
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Aussicht nicht so glänzend, wie Engels annahm; das Honorar lief schließlich
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nicht einmal auf einen Penny (8<SPAN class="top">1</SPAN>/<SPAN class="bottom">2</SPAN>
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Pfennig) für die Zeile hinaus, und wenn vieles auch bloße Füllarbeit
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zu sein brauchte, so war Engels doch viel zu gewissenhaft, um sie leichter Hand
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abzutun. Was davon in ihren Briefwechsel durchgesickert ist, rechtfertigt keineswegs
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das wegwerfende Urteil, das Engels später über diese, teils von ihm,
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teils von Marx verfaßten Artikel gefällt hat: »Reine Geschäftsarbeit,
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weiter nichts, können ruhig begraben bleiben.« Allmählich schlief diese
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immerhin nebensächliche Tätigkeit auch wieder ein, bis über den
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Buchstaben C hinaus scheint die regelmäßige Mitarbeit der beiden Freunde
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an dem Lexikon nicht gediehen zu sein.</P>
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<P>Von vornherein wurde sie dadurch arg behindert, daß Engels im <A NAME="S261"></A><B>|261|</B>
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Sommer 1857 von einem Drüsenleiden befallen wurde, das ihn zwang, längere
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Zeit an die See zu gehen. Auch bei Marx sah es trübe aus. Sein Leberleiden
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meldete sich in einem neuen Anfall so heftig, daß er nur mit äußerster
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Anstrengung das Notwendigste arbeiten konnte. Im Juli wurde seine Frau von einem
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nicht lebensfähigen Kinde entbunden, unter Umständen, die einen furchtbaren
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Eindruck auf seine Phantasie und ihm die Rückerinnerung qualvoll machten.
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»Es muß Dir hart kommen, ehe Du so schreibst«, antwortete der erschreckte
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Engels, doch verschob Marx alles auf mündliche Auskunft, schreiben könne
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er über diese Dinge nicht.</P>
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<P>Alles persönliche Ungemach war aber sofort vergessen, als die Krisis im
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Herbst nach England und dann auch auf den Kontinent hinüberschlug. »So sehr
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ich selbst in financial distress [Mehring übersetzt: Finanznot], habe ich
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seit 1849 nicht so cosy gefühlt als bei diesem outbreak [Mehring übersetzt:
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Ausbruch]«, schrieb Marx am 13. November an Engels. Und dieser hatte am nächsten
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Tage nur die Besorgnis, daß die Entwicklung sich überstürzen könne.
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»Es wäre zu wünschen, daß erst diese ›Besserung‹ zur chronischen
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Krisis einträte, ehe ein zweiter und entscheidender Hauptschlag fällt.
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Der chronische Druck ist eine Zeitlang nötig, um die Bevölkerung warm
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zu machen. Das Proletariat schlägt dann besser, in beßrer connaissence
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de cause [Mehring übersetzt: Kenntnis der Dinge] und mit mehr Einklang; grade
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wie eine Kavallerieattacke viel besser ausfällt, wenn die Pferde erst eine
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500 Schritt traben mußten, um an den Feind zur Carrieredistanz zu kommen.
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Ich möchte nicht, daß es zu früh etwas gäbe, ehe ganz Europa
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vollständig ergriffen ist, der Kampf nachher würde härter, langweiliger
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und mehr hin- und herwogend. Mai oder Juni wäre fast noch zu früh. Die
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Massen müssen durch die lange Prosperität verdammt lethargisch geworden
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sein. ... Mir geht es übrigens wie Dir. Seitdem der Schwindelzusammenbrach
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in New York, hatte ich keine Ruhe mehr in Jersey, und ich fühle mich enorm
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fidel in diesem general downbreak [Mehring übersetzt: allgemeinen Zusammenbruch].
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Der bürgerliche Dreck der letzten sieben Jahre hatte sich doch einigermaßen
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an mich gehängt, jetzt wird er abgewaschen, ich werde wieder ein andrer Kerl.
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Die Krisis wird mir körperlich ebenso wohl tun wie ein Seebad, das merk'
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ich jetzt schon. 1848 sagten wir: jetzt kommt unsere Zeit, und sie kam in einem
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certain sense [Mehring übersetzt: gewissen Sinn], diesmal aber kommt sie
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vollständig, jetzt geht es um den Kopf.«</P>
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<P>Um den Kopf ging es nun doch nicht. Die Krisis hatte in ihrer Art revolutionäre
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|
Wirkungen, aber sie waren anderer Art, als Marx und Engels annahmen. Nicht als
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|
ob sie sich utopischen Hoffnungen ins Blaue <A NAME="S262"></A><B>|262|</B> hinein
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|
hingegeben hätten; sie studierten vielmehr mit äußerster Sorgfalt
|
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|
Tag und Tag den Verlauf der Krisis, und Marx schrieb am 18. Dezember: »Ich arbeite
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|
ganz kolossal, meist bis vier Uhr morgens. Die Arbeit ist nämlich eine doppelte:
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1. Ausarbeitung der Grundzüge der Ökonomie. (Es ist durchaus nötig,
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für das Publikum au fond [Mehring übersetzt: auf den Grund] der Sache
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zu gehn und für mich, individually, to get rid of this night mare [Mehring
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übersetzt: persönlich, diesen Alp los zu werden].) 2. <I>Die jetzige
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Krisis.</I> Darüber - außer den Artikeln an die <I>›Tribune‹</I> -
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führe ich bloß Buch, was aber bedeutend Zeit wegnimmt. Ich denke, daß
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wir about [Mehring übersetzt: gegen] Frühling zusammen ein Pamphlet
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über die Geschichte machen, als <I>Wiederankündigung</I> beim deutschen
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Publico - daß wir wieder und noch da sind, always the same [Mehring übersetzt:
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|
immer dieselben].« Aus diesem Pamphlet ist nichts geworden, da die Krisis die
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Massen nicht aufwühlte, aber eben dadurch gewann Marx die Muße, den
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|
theoretischen Teil seines Planes auszuführen.</P>
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<P>Zehn Tage früher hatte Frau Marx an den sterbenden Konrad Schramm in Jersey
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geschrieben: »Obgleich wir die amerikanische Krise an unserem Beutel sehr verspüren,
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indem Karl statt zweimal wöchentlich nur mehr einmal an die ›Tribune‹ schreibt,
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die allen europäischen Korrespondenten außer Bayard Tailor und Karl
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den Abschied gegeben, so können Sie sich doch wohl denken, wie obenauf der
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Mohr ist. Seine ganze frühere Arbeitsfähigkeit und Arbeitsleichtigkeit
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ist wiedergekehrt wie auch die Frische und Heiterkeit des Geistes, die seit Jahren
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gebrochen war, seit dem großen Leiden, dem Verlust unseres Herzenskindes,
|
||
|
um das mein Herz ewig trauern wird. Karl arbeitet am Tage, um fürs tägliche
|
||
|
Brot zu sorgen, nachts, um seine Ökonomie zur Vollendung zu bringen. Jetzt,
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||
|
wo diese Arbeit eine Notwendigkeit geworden, wird sich doch auch wohl ein elender
|
||
|
Buchhändler finden.« Und er fand sich, dank den Bemühungen Lassalles.</P>
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|
<P>Er hatte im April 1857 an Marx geschrieben, in der alten freundschaftlichen
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|
Weise, verwundert zwar, daß Marx den Briefwechsel so lange hatte einschlafen
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||
|
lassen, aber ohne zu ahnen, weshalb. Obgleich Engels dazu riet, hat Marx diesen
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||
|
Brief nicht beantwortet. Im Dezember desselben Jahres schrieb Lassalle dann wieder,
|
||
|
aus einem äußeren Anlaß: sein Vetter Max Friedländer hatte
|
||
|
ihn ersucht, Marx zur Mitarbeit an der »Wiener Presse« zu veranlassen, zu deren
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||
|
Redakteuren Friedländer gehörte. Nun antwortete Marx, indem er das Anerbieten
|
||
|
Friedländers ablehnte, da er zwar »antifranzösisch«, aber nicht minder
|
||
|
»antienglisch« sei und am allerwenigsten für Palmerston schreiben <A NAME="S263"></A><B>|263|*</B>
|
||
|
könne. Auf Lassalles Klage aber, so fremd ihm sonst Sentimentalität
|
||
|
sei, es habe ihn geschmerzt, auf den Aprilbrief kein Wort der Erwiderung erhalten
|
||
|
zu haben, antwortete Marx »kurz und kühl«, er habe aus Gründen, die
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||
|
schriftlich schwer mitzuteilen seien, nicht geantwortet. Sonst fügte er nur
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||
|
wenige Worte hinzu, darunter allerdings die Mitteilung, daß er ein ökonomisches
|
||
|
Werk erscheinen zu lassen gedenke.</P>
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|
<P>Im Januar 1858 traf ein Exemplar von Lassalles »Heraklit« in London ein, dessen
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||
|
Absendung der Verfasser in dem Dezemberbriefe angekündigt hatte, zugleich
|
||
|
mit einigen Bemerkungen über die begeisterte Aufnahme, die sein Werk in der
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||
|
gelehrten Welt Berlins gefunden hatte. Schon die Portokosten von zwei Schilling
|
||
|
»sicherten ihm einen schlechten Empfang«. Aber auch den Inhalt beurteilte Marx
|
||
|
ziemlich abfällig. Die »enorme Schaustellung« von Gelehrsamkeit imponierte
|
||
|
ihm nicht; er meinte, es sei wohlfeil, Zitate zu häufen, wenn man Geld und
|
||
|
Zeit habe, und sich nach Belieben aus der Bonner Universitätsbibliothek Bücher
|
||
|
ins Haus schicken lassen könne; in diesem philosophischen Flitterstaate bewege
|
||
|
sich Lassalle ganz mit der Grazie eines Kerls, der zum ersten Male einen eleganten
|
||
|
Anzug trage. Das hieß, über Lassalles wirkliche Gelehrsamkeit allzu
|
||
|
unbillig urteilen, doch läßt sich sehr wohl erklären, daß
|
||
|
Marx sich durch das Buch aus demselben Grunde unsympathisch berührt fühlte,
|
||
|
aus dem nach seiner Meinung die professoralen Größen darüber erfreut
|
||
|
sein mußten, nämlich solch altertümliches Wesen in einem jungen
|
||
|
Menschen zu finden, der für einen großen Revolutionär gelte. Bekanntlich
|
||
|
war der größte Teil des Werks mehr als zehn Jahre vor seinem Erscheinen
|
||
|
niedergeschrieben worden.</P>
|
||
|
<P>Aus der »kurzen und kühlen« Antwort auf seinen klagenden Brief hatte Lassalle
|
||
|
noch immer nicht gemerkt, daß irgend etwas nicht im Lote sei. Er mißverstand
|
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- offenbar gutgläubig und nicht etwa absichtlich wie Marx argwöhnte
|
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- die Notwendigkeit einer mündlichen Erörterung in dem harmlosen Sinne,
|
||
|
daß Marx ihm einiges erzählen wolle, wozu Privatgelegenheit erforderlich
|
||
|
sei. Er antwortete im Februar 1858 in aller Unbefangenheit, schilderte drastisch
|
||
|
den Schwindel, worin sich die Berliner Bourgeoisie wegen der Vermählung des
|
||
|
preußischen Kronprinzen mit einer englischen Prinzessin berauschte, und
|
||
|
erbot sich übrigens, einen Verleger für das nationalökonomische
|
||
|
Werk zu schaffen. Hierauf ging Marx ein, und nun hatte Lassalle den Kontrakt mit
|
||
|
seinem eigenen Verleger, Franz Duncker, schon Ende März fertig, und zwar
|
||
|
unter günstigeren Bedingungen noch, als Marx beansprucht hatte. Dieser wollte
|
||
|
selbst, daß die Sache in Lieferungen erscheine, und war bereit, für
|
||
|
die ersten Lieferungen auf jedes Honorar zu verzichten. <A NAME="S264"></A><B>|264|</B>
|
||
|
Lassalle sicherte ihm jedoch von vornherein drei Friedrichsdor - das gewöhnliche
|
||
|
Professorenhonorar betrug nur zwei - für den Druckbogen. Der Verleger behielt
|
||
|
sich nur vor, falls der Absatz sich nicht verlohne, bei der dritten Lieferung
|
||
|
abzubrechen.</P>
|
||
|
<P>Es dauerte aber noch reichlich dreiviertel Jahre, bis Marx mit dem Manuskripte
|
||
|
der ersten Lieferung fertig wurde. Neue Anfälle seiner Leber und häusliche
|
||
|
Sorgen hinderten den Abschluß. Um Weihnachten 1858 sah es im Hause »düsterer
|
||
|
und trostloser denn je« aus. Am 21. Januar 1859 war das »unglückliche Manuskript«
|
||
|
fertig, aber nun war »kein Farthing« da, um es frei zu machen und zu versichern.
|
||
|
»Ich glaube nicht, daß unter solchem Geldmangel je über das ›Geld‹
|
||
|
geschrieben worden ist. Die meisten Autoren über dies subjekt waren in tiefem
|
||
|
Frieden mit dem subjekt of their researches [Mehring übersetzt: Gegenstand
|
||
|
ihrer Forschungen].« So schrieb Marx an Engels, als er diesen um die Zusendung
|
||
|
des nötigen Portos bat.</P>
|
||
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<H3 ALIGN="CENTER">5. »Zur Kritik der politischen Ökonomie«<A name="Kap_5"></A></H3>
|
||
|
<P>Der Plan eines großen nationalökonomischen Werkes, das der kapitalistischen
|
||
|
Produktionsweise bis auf den Grund gehen sollte, war ziemlich fünfzehn Jahre
|
||
|
alt, als Marx ihn praktisch auszuführen begann. Er hatte ihn schon in vormärzlicher
|
||
|
Zeit erwogen, und die Schrift gegen Proudhon war eine erste Abschlagszahlung gewesen.
|
||
|
Nach seiner Beteiligung an den Kämpfen der Revolutionsjahre hatte Marx ihn
|
||
|
sofort wieder aufgenommen und schon am 2. April 1851 an Engels gemeldet: »Ich
|
||
|
bin so weit, daß ich in fünf Wochen mit der ganzen ökonomischen
|
||
|
Plackerei fertig bin. Und danach werde ich zu Haus die Ökonomie ausarbeiten
|
||
|
und im Museum mich auf eine andre Wissenschaft werfen. Das beginnt mich zu langweiligen.
|
||
|
Im Grunde hat diese Wissenschaft seit Adam Smith und David Ricardo keine Fortschritte
|
||
|
mehr gemacht, so viel auch in einzelnen Untersuchungen, oft supradelikaten, geschehn
|
||
|
ist.« Engels antwortete erfreut: »Ich bin froh, daß Du mit der Ökonomie
|
||
|
endlich fertig bist. Das Ding zog sich wirklich zu sehr in die Länge«, aber
|
||
|
als erfahrener Mann fügte er hinzu: »Solange Du noch ein für wichtig
|
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gehaltnes Buch ungelesen vor Dir hast, solange kommst Du doch nicht zum Schreiben.«
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Er neigte allemal zu der Ansicht, daß bei allen anderen Störungen »die
|
||
|
Hauptverzögerung« immer in den »eigenen Skrupeln« des Freundes läge.</P>
|
||
|
<P><B><A NAME="S265">|265|</A></B> Diese »Skrupel« waren nun freilich nicht -
|
||
|
und so meinte es im Grunde auch Engels nicht - von der Oberfläche geschöpft.
|
||
|
Wodurch Marx im Jahre 1851 bestimmt wurde, nicht abzuschließen, sondern
|
||
|
von vorn anzufangen, hat er selbst - in der Vorrede des ersten Heftes - mit den
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|
Worten angegeben: »Das ungeheure Material für Geschichte der politischen
|
||
|
Ökonomie, das im British Museum aufgehäuft ist, der günstige Standpunkt,
|
||
|
den London für die Beobachtung der bürgerlichen Gesellschaft gewährt,
|
||
|
endlich das neue Entwicklungsstadium, worin letztere mit der Entdeckung des kalifornischen
|
||
|
und australischen Goldes einzutreten schien ...«<A name="ZT3"></A><A href="fm03_245.htm#Z3"><SPAN class="top">[3]</SPAN></A> Wenn er hinzufügte, daß
|
||
|
seine nunmehr achtjährige Tätigkeit für die »New-York Daily Tribune«
|
||
|
eine außerordentliche Zersplitterung seiner Studien nötig gemacht habe,
|
||
|
so wäre zu ergänzen, daß diese Tätigkeit ihn bis zu einem
|
||
|
gewissen Grade in den politischen Kampf zurückführte, der ihm immer
|
||
|
obenan stand. War es doch auch gerade die Aussicht auf das Wiedererwachen einer
|
||
|
revolutionären Arbeiterbewegung, die ihn auf den Schreibsessel drückte,
|
||
|
um nun endlich schriftlich niederzulegen, was er all die Jahre nicht aufgehört
|
||
|
hatte, wieder und wieder zu erwägen.</P>
|
||
|
<P>Davon gibt beredtes Zeugnis sein Briefwechsel mit Engels, worin die Erörterung
|
||
|
ökonomischer Fragen nicht abreißt und sich vielmehr zu Abhandlungen
|
||
|
auswächst, die man ebenfalls »supradelikat« nennen darf. Wie sich dabei der
|
||
|
Gedankenaustausch zwischen beiden Freunden gestaltet, zeigen ein paar ihrer gelegentlichen
|
||
|
Äußerungen. Engels schrieb einmal von seiner »bekannten Trägheit
|
||
|
en fait de théorie«, die sich bei dem inneren Knurren seines besseren Ich
|
||
|
beruhige, ohne der Sache auf den Grund zu gehen, während Marx ein andermal
|
||
|
den Stoßseufzer nicht unterdrücken konnte: »Wenn die Leute nur wüßten,
|
||
|
wie wenig ich von all dem Zeug weiß«, als ihn ein Fabrikant mit der »amüsanten«
|
||
|
Wendung begrüßte, er müsse selbst einmal Fabrikant gewesen sein.</P>
|
||
|
<P>Zieht man in beiden Fällen, wie billig, die humoristische Übertreibung
|
||
|
ab, so bleibt das Ergebnis, daß Engels den inneren Mechanismus der kapitalistischen
|
||
|
Gesellschaft genauer kannte, Marx aber mit schärferer Denkkraft ihren Bewegungsgesetzen
|
||
|
nachzuspüren wußte. Als er dem Freunde den Plan des ersten Heftes entwickelte,
|
||
|
antwortete Engels: »Es ist wirklich ein sehr abstrakter Abriß, wie bei der
|
||
|
Kürze nicht anders zu vermeiden, und ich muß die dialektischen Übergänge
|
||
|
oft mit Mühe suchen, da alles abstrakte Denken mir sehr fremd geworden ist.«
|
||
|
Dagegen hatte Marx einige Mühe, sich in den Auskünften zurechtzufinden,
|
||
|
die ihm von Engels auf seine Fragen über die Art, wie Fabrikanten und <A NAME="S266"></A><B>|266|</B>
|
||
|
Kaufleute den Teil des Einkommens berechnen, den sie selbst verzehren, oder über
|
||
|
Abnutzung der Maschinerie oder die Umschlagsberechnung des vorgeschossenen zirkulierenden
|
||
|
Kapitals erteilt wurden. Er klagte wohl, daß in der politischen Ökonomie
|
||
|
das praktisch Interessante und das theoretisch Notwendige weit auseinandergingen.</P>
|
||
|
<P>Daß Marx erst in den Jahren 1857 und 1858 mit dem Ausarbeiten seines
|
||
|
Werkes begonnen hat, geht auch daraus hervor, daß sich ihm der Plan unter
|
||
|
der Hand änderte. Noch im April 1858 wollte er im ersten Heft »das Kapital
|
||
|
im Allgemeinen« behandeln, aber obgleich das Heft auf das Doppelte oder gar Dreifache
|
||
|
des geplanten Umfangs anwuchs, so enthielt es noch nichts über das Kapital,
|
||
|
sondern nur zwei Kapitel über Ware und Geld. Marx sah darin den Vorteil,
|
||
|
daß die Kritik sich nicht auf bloße Tendenzschimpferei beschränken
|
||
|
können werde, wobei er nur übersah, daß ihr die wirksame Waffe
|
||
|
des Totschweigens um so näher gelegt wurde.</P>
|
||
|
<P>In der Vorrede gab er eine Übersicht über seinen wissenschaftlichen
|
||
|
Entwicklungsgang, und die berühmten Sätze, in denen er den historischen
|
||
|
Materialismus zusammenfaßt, dürfen auch hier nicht fehlen. »Meine Untersuchung
|
||
|
(Mehring fügt ein: der Hegelschen Rechtsphilosophie) mündete in dem
|
||
|
Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst
|
||
|
zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen
|
||
|
Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln,
|
||
|
deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des
|
||
|
18. Jahrhunderts, unter dem Namen ›bürgerliche Gesellschaft‹ zusammenfaßt,
|
||
|
daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen
|
||
|
Ökonomie zu suchen sei. ... Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und,
|
||
|
einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert
|
||
|
werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte,
|
||
|
notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse,
|
||
|
die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte
|
||
|
entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische
|
||
|
Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer
|
||
|
Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen
|
||
|
entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen,
|
||
|
politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das
|
||
|
Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches
|
||
|
Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung
|
||
|
geraten die materiellen <A NAME="S267"></A><B>|267|</B> Produktivkräfte der
|
||
|
Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen
|
||
|
oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen,
|
||
|
innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte
|
||
|
schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche
|
||
|
sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage
|
||
|
wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In
|
||
|
der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen
|
||
|
der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in
|
||
|
den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen,
|
||
|
religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen
|
||
|
Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten.
|
||
|
So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst
|
||
|
dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein
|
||
|
beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen
|
||
|
des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen
|
||
|
Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Eine Gesellschaftsformation
|
||
|
geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die
|
||
|
sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie
|
||
|
an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß
|
||
|
der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich
|
||
|
die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet
|
||
|
wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen
|
||
|
Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß
|
||
|
ihres Werdens begriffen sind. In großen Umrissen können asiatische,
|
||
|
antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive
|
||
|
Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen
|
||
|
Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen
|
||
|
Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus,
|
||
|
sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden
|
||
|
Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich
|
||
|
entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen
|
||
|
zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt
|
||
|
daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.«<A name="ZT4"></A><A href="fm03_245.htm#Z4"><SPAN class="top">[4]</SPAN></A></P>
|
||
|
<P>In dem Hefte selbst, das er »Zur Kritik der politischen Ökonomie« betitelte,
|
||
|
tat Marx den entscheidenden Schritt über die bürgerliche <A NAME="S268"></A><B>|268|</B>
|
||
|
Ökonomie hinaus, wie sie namentlich durch Adam Smith und David Ricardo entwickelt
|
||
|
worden war. Sie gipfelte in der Bestimmung des Warenwerts durch die Arbeitszeit,
|
||
|
aber indem sie die bürgerliche Produktion als die ewige Naturform gesellschaftlicher
|
||
|
Produktion betrachtete, nahm sie das Wertschaffen als eine natürliche Eigenschaft
|
||
|
der menschlichen Arbeit an, wie sie in der individuellen, konkreten Arbeit des
|
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einzelnen Menschen gegeben ist, und geriet dadurch in eine Reihe von Widersprüchen,
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die sie nicht zu lösen vermochte. Dagegen sah Marx in der bürgerlichen
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Produktion nicht die ewige Naturform, sondern nur eine bestimmte historische Form
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gesellschaftlicher Produktion, der eine ganze Reihe anderer Formen vorangegangen
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war. Von diesem Standpunkt aus unterwarf Marx die wertbildende Eigenschaft der
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Arbeit einer gründlichen Prüfung; er untersuchte, welche Arbeit und
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warum und wie sie Wert bildet, weshalb Wert nichts ist als festgeronnene Arbeit
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dieser Art.</P>
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<P>So gelangte er an den »Springpunkt«, um den sich das Verständnis der politischen
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Ökonomie dreht: den zwieschlächtigen Charakter, den die Arbeit in der
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bürgerlichen Gesellschaft hat. Die individuelle, konkrete Arbeit schafft
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Gebrauchs-, die unterschiedslose, gesellschaftliche Arbeit schafft Tauschwerte.
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Soweit die Arbeit Gebrauchswerte hervorbringt, ist sie allen Gesellschaftsformen
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eigentümlich; als zweckmäßige Tätigkeit zur Aneignung des
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Natürlichen in der einen oder der anderen Form ist die Arbeit Naturbedingung
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der menschlichen Existenz, eine von allen sozialen Formen unabhängige Bedingung
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des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur. Diese Arbeit bedarf des Stoffes zu
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ihrer Voraussetzung und ist somit nicht die einzige Quelle des von ihr Hervorgebrachten,
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nämlich des stofflichen Reichtums. Mag das Verhältnis zwischen Arbeit
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und Naturstoff in den verschiedenen Gebrauchswerten sehr verschieden sein, so
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enthält der Gebrauchswert stets ein natürliches Substrat.</P>
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<P>Anders der Tauschwert. Er enthält keinen Naturstoff, sondern die Arbeit
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ist seine einzige Quelle und damit auch die einzige Quelle des Reichtums, der
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aus Tauschwerten besteht. Als Tauschwert ist ein Gebrauchswert gerade so viel
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wert als der andere, vorausgesetzt, daß er in richtiger Proportion vorhanden
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ist. »Der Tauschwert eines Palastes kann in bestimmter Anzahl von Stiefelwichsbüchsen
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ausgedrückt werden. Londoner Stiefelwichsfabrikanten haben umgekehrt den
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Tauschwert ihrer multiplizierten Büchsen in Palästen ausgedrückt.«<A name="ZT5"></A><A href="fm03_245.htm#Z5"><SPAN class="top">[5]</SPAN></A>
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Indem sich Waren austauschen, ganz gleichgültig gegen ihre natürliche
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Existenzweise und ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse, die sie befriedigen
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sollen, <A NAME="S269"></A><B>|269|</B> stellen sie trotz ihres buntscheckigen
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Scheins dieselbe Einheit dar: sie sind Resultate gleichförmiger, unterschiedsloser
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Arbeit, »der es ebenso gleichgültig, ob sie in Gold, Eisen, Weizen, Seide
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erscheint, wie es dem Sauerstoff ist, ob er vorkommt im Rost des Eisens, der Atmosphäre,
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dem Saft der Traube oder dem Blut des Menschen«<A name="ZT6"></A><A href="fm03_245.htm#Z6"><SPAN class="top">[6]</SPAN></A>. Entspringt die Verschiedenheit
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der Gebrauchswerte aus der Verschiedenheit der die Gebrauchswerte produzierenden
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Arbeit, so ist tauschwertsetzende Arbeit gleichgültig gegen den besonderen
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Stoff der Gebrauchswerte und auch gleichgültig gegen die besondere Form der
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Arbeit selbst. Sie ist gleiche, unterschiedslose, abstrakt allgemeine Arbeit,
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die sich nicht mehr in der Art, sondern nur noch im Maß unterscheidet, durch
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die verschiedenen Mengen,die sie in Tauschwerten von verschiedener Größe
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vergegenständlicht. Die verschiedenen Mengen von abstrakt allgemeiner Arbeit
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haben ihr einziges Maß an der Zeit, die ihren Maßstab an den natürlichen
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Zeitmaßen, Stunde, Tag, Woche usw. erhält. Arbeitszeit ist das lebendige
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Dasein der Arbeit, gleichgültig gegen ihre Form, ihren Inhalt, ihre Individualität.
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Als Tauschwerte sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit.
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Die in den Gebrauchswerten vergegenständlichte Arbeitszeit ist ebenso die
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Substanz, die sie zu Tauschwerten macht und daher zu Waren, wie sie ihre bestimmte
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Wertgröße mißt.</P>
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<P>Ihr zwieschlächtiger Charakter ist eine gesellschaftliche Form der Arbeit,
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die der Warenproduktion eigentümlich ist. In dem naturwüchsigen Kommunismus,
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der sich an der Schwelle der Geschichte aller Kulturvölker findet, war die
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einzelne Arbeit unmittelbar dem gesellschaftlichen Organismus eingereiht. In den
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Naturaldiensten und Naturallieferungen des Mittelalters bildete die Besonderheit,
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nicht die Allgemeinheit der Arbeit, ihr gesellschaftliches Band. In der ländlich-patriarchalischen
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Familie, wo für den Selbstbedarf der Familie die Frauen spannen und die Männer
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webten, waren Garn und Leinwand gesellschaftliche Produkte, Spinnen und Weben
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gesellschaftliche Arbeiten innerhalb der Grenzen der Familie. Der Familienzusammenhang
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mit seiner naturwüchsigen Teilung der Arbeit drückte dem Produkt der
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Arbeit seinen eigentümlichen Stempel auf: Garn und Leinwand tauschten sich
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nicht gegeneinander aus als gleich gültige und gleich geltende Ausdrücke
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derselben allgemeinen Arbeitszeit. Erst in der Warenproduktion wird die einzelne
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Arbeit dadurch gesellschaftliche Arbeit, daß sie die Form ihres unmittelbaren
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Gegensatzes, die Form der abstrakten Allgemeinheit annimmt.</P>
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<P>Nun ist die Ware unmittelbare Einheit von Gebrauchs- und Tauschwert, und zugleich
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ist sie Ware nur in Beziehung auf die anderen <A NAME="S270"></A><B>|270|</B>
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Waren. Die wirkliche Beziehung der Waren aufeinander ist der Austauschprozeß.
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In diesem Prozeß, den die voneinander unabhängigen Individuen eingehen,
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muß sich die Ware darstellen zugleich als Gebrauchs- und als Tauschwert,
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als besondere Arbeit, die besondere Bedürfnisse befriedigt und als allgemeine
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Arbeit, die austauschbar ist gegen gleiche Mengen allgemeiner Arbeit. Der Austauschprozeß
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der Waren muß den Widerspruch entwickeln und lösen, daß die individuelle
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Arbeit, die in einer besonderen Ware vergegenständlicht ist, unmittelbar
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den Charakter der Allgemeinheit haben soll.</P>
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<P>Als Tauschwert wird jede einzelne Ware zum Maße der Werte aller anderen
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Waren. Umgekehrt aber wird jede einzelne Ware, in der alle andern Waren ihren
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Wert messen, adäquates Dasein des Tauschwerts, wird somit der Tauschwert
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eine besondere ausschließliche Ware, die durch Verwandlung aller anderen
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Waren in sie unmittelbar die allgemeine Arbeitszeit des Geldes vergegenständlicht.
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So ist in der einen Ware der Widerspruch gelöst, den die Ware als solche
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einschließt, als besonderer Gebrauchswert allgemeines Äquivalent und
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daher Gebrauchswert für jeden, allgemeiner Gebrauchswert zu sein. Und diese
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eine Ware ist - Geld.</P>
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<P>Im Geld kristallisiert sich der Tauschwert der Waren als eine besondere Ware.
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Der Geldkristall ist ein notwendiges Produkt des Austauschprozesses, worin verschiedenartige
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Arbeitsprodukte einander tatsächlich gleichgesetzt und daher tatsächlich
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in Waren verwandelt werden. Er hat sich instinktartig auf historischem Wege entwickelt.
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Der unmittelbare Tauschhandel, die naturwüchsige Form des Austauschprozesses,
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stellt vielmehr die beginnende Umwandlung der Gebrauchswerte in Waren als der
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Waren in Geld dar. Je mehr sich der Tauschwert entwickelt und je mehr die Gebrauchswerte
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zu Waren werden, je mehr also der Tauschwert eine freie Gestalt gewinnt und nicht
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mehr unmittelbar an den Gebrauchswert gebunden ist, um so mehr drängt er
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zur Geldbildung. Zunächst spielen eine Ware oder auch mehrere Waren von allgemeinstem
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Gebrauchswert, Vieh, Getreide, Sklaven, die Rolle des Geldes. Sehr verschiedene,
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mehr oder weniger unpassende Waren haben abwechselnd die Funktion des Geldes verrichtet.
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Wenn diese Funktion schließlich an die edlen Metalle übergegangen ist,
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so aus dem Grunde, weil die edlen Metalle die notwendigen physischen Eigenschaften
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der besonderen Ware besitzen, worin sich das Geldsein aller Waren kristallisieren
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soll, soweit sie aus der Natur des Tauschwerts unmittelbar hervorgehen: Dauerbarkeit
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ihres Gebrauchswerts, beliebige Teilbarkeit, Gleichförmigkeit der Teile und
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Unterschiedslosigkeit aller Exemplare dieser Ware.</P>
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<P><B><A NAME="S271">|271|</A></B> Unter den edlen Metallen ist es wieder das
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Gold, das mehr und mehr zur ausschließlichen Geldware wird. Es dient als
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Maß der Werte und als Maßstab der Preise, es dient als Zirkulationsmittel
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der Waren. Durch den Salto mortale der Ware in Gold bewährt sich die in ihr
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aufgehäufte besondere Arbeit als abstrakt allgemeine, als gesellschaftliche
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Arbeit; gelingt ihr diese Transsubstantiation nicht, so hat sie ihr Dasein nicht
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nur als Ware, sondern auch als Produkt verfehlt, denn Ware ist sie nur, weil sie
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für ihren Besitzer keinen Gebrauchswert hat.</P>
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<P>So wies Marx nach, wie und warum, kraft der ihr innewohnenden Werteigenschaft,
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die Ware und der Warenaustausch den Gegensatz von Ware und Geld erzeugen muß;
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in dem Gelde, das sich als ein Naturding mit bestimmten Eigenschaften darstellt,
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erkannte er ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis und leitete die
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verworrenen Erklärungen des Geldes durch die modernen Ökonomen daher
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ab, daß bald als gesellschaftliches Verhältnis erscheine, was sie eben
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plump als Ding festzuhalten meinten, und dann wieder als Ding sie necke, was sie
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kaum als gesellschaftliches Verhältnis fixiert hätten.</P>
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<P>Die Fülle des Lichtes, die von dieser kritischen Untersuchung ausging,
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blendete zunächst mehr, als daß sie erleuchtete, selbst die Freunde
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des Verfassers. Liebknecht meinte, er sei noch von keiner Schrift so enttäuscht
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worden wie von dieser, und Miquel fand »wenig wirklich Neues« darin. Lassalle
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machte sehr schöne Bemerkungen über die künstlerische Darstellung
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des Heftes, die er neidlos über die Form des »Heraklit« stellte, aber wenn
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Marx aus diesen »Phrasen« den Verdacht schöpfte, daß Lassalle »vieles
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Ökonomische« nicht verstanden habe, so war er diesmal auf der richtigen Fährte.
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Lassalle zeigte alsbald, daß er gerade den »Springpunkt« nicht erkannt hatte,
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die Unterscheidung zwischen der Arbeit, die in Gebrauchs- und der Arbeit, die
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in Tauschwerten resultiert.</P>
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<P>Wenn das am grünen Holze geschah, wie mußte es nun gar am dürren
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Holze ausschauen? Engels meinte zwar 1885, Marx habe die erste erschöpfende
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Theorie des Geldes aufgestellt, und sie sei stillschweigend allgemein angenommen,
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aber sieben Jahre später erschien im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«,
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dem Musterwerk bürgerlicher Ökonomie, ein Aufsatz über das Geld,
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der auf fünfzig Spalten das alte Kauderwelsch breittrat und, ohne Marx auch
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nur zu erwähnen, das Geldrätsel für ungelöst erklärte.</P>
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<P>Wie sollte das Geld auch nicht unerforschlich sein für eine Welt, deren
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Gott es geworden ist?</P>
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<P><A name="Z1"></A><SPAN class="top">[1]</SPAN> Karl Marx: Lord Palmerston, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me09/me09_353.htm">Bd. 9, S. 353-418.</A> <A href="fm03_245.htm#ZT1"><=</A></P>
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|
<P><A name="Z2"></A><SPAN class="top">[2]</SPAN> Karl Marx/Friedrich Engels: Revue, Mai bis Oktober 1850, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me07/me07_421.htm#S440">Bd. 7, S. 440.</A> <A href="fm03_245.htm#ZT2"><=</A></P>
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|
<P><A name="Z3"></A><SPAN class="top">[3]</SPAN> Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me13/me13_007.htm#S10">Bd. 13, S. 10.</A> <A href="fm03_245.htm#ZT3"><=</A></P>
|
||
|
<P><A name="Z4"></A><SPAN class="top">[4]</SPAN> Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me13/me13_007.htm#S8">Bd. 13, S. 8/9.</A> <A href="fm03_245.htm#ZT4"><=</A></P>
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|
<P><A name="Z5"></A><SPAN class="top">[5]</SPAN> Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me13/me13_015.htm#S16">Bd. 13, S. 16.</A> <A href="fm03_245.htm#ZT5"><=</A></P>
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|
<P><A name="Z6"></A><SPAN class="top">[6]</SPAN> Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, <A href="../../me/me13/me13_015.htm#S17">Bd. 13, S. 17.</A> <A href="fm03_245.htm#ZT6"><=</A></P>
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<P><SMALL>Pfad: »../fm/fm03«<BR>
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Mehring</SMALL></A></TD>
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