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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<title>"Neue Rheinische Zeitung" - Camphausens Erklaerung in der Sitzung vom 30. Mai</title>
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<p align="center"><a href="me05_022.htm"><font size="2">Die demokratische Partei</font></a>
<font size="2">|</font> <a href="../me_nrz48.htm"><font size="2">Inhalt</font></a> <font size=
"2">|</font> <a href="me05_029.htm"><font size="2">Lebens- und Sterbensfragen</font></a></p>
<small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 25-28<br>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971</small> <br>
<br>
<h1>Camphausens Erkl&auml;rung in der Sitzung vom 30. Mai</font></p>
<p><font size="2">["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 3 vom 3. Juni 1848]</font></p>
<p><b><a name="S25">&lt;25&gt;</a></b> **<i>K&ouml;ln</i>, 2. Juni. Post et non propter
&lt;Nach und nicht durch&gt;, d.h. Herr <i>Camphausen</i> ist nicht <i>durch</i> die
M&auml;rzrevolution, sondern <i>nach</i> der M&auml;rzrevolution Ministerpr&auml;sident
geworden. Diese nachtr&auml;gliche Bedeutung seines Ministeriums hat Herr Camphausen in
feierlicher, hochbeteuernder Manier, mit jener sozusagen ernsten K&ouml;rperlichkeit, welche
die M&auml;ngel der Seele versteckt, am 30. Mai 1848 der in Berlin zwischen ihm und den
indirekten Wahlm&auml;nnern vereinbarten Versammlung offenbart.</p>
<p><font size="2">"Das am 29. M&auml;rz gebildete Staatsministerium", sagt der <i>denkende
Geschichtsfreund</i>, "ist bald <i>nach</i> einer Begebenheit zusammengetreten, deren Bedeutung
es nicht verkannt hat und nicht verkennt."</font></p>
<p>Die Behauptung des Herrn Camphausen, da&szlig; er <i>vor</i> dem 29. M&auml;rz <i>kein</i>
Staatsministerium bildete, wird in den letzten Monatsg&auml;ngen der "Preu&szlig;ischen
Staats-Zeitung" ihren Beleg finden. Und da&szlig; ein Datum hohe "Bedeutung" besitzt,
namentlich f&uuml;r Herrn Camphausen, welches wenigstens den chronologischen Ausgangspunkt
seiner Himmelfahrt bildet, darf zuverl&auml;ssig angenommen werden. Welche Beruhigung f&uuml;r
die verstorbenen Barrikadenk&auml;mpfer, da&szlig; ihre kalten Leichname als Wegweiser, als
Zeigefinger auf das Staatsministerium vom 29. M&auml;rz figurieren. Quelle gloire! &lt;Welche
Ehre&gt;</p>
<p>Mit einem Worte: Nach der M&auml;rzrevolution bildete sich ein Ministerium Camphausen.
Dasselbe Ministerium Camphausen erkennt die "<i>hohe Bedeutung</i>" der M&auml;rzrevolution an;
wenigstens <i>verkennt</i> es sie nicht. Die Revolution selbst ist Bagatelle, aber ihre
<i>Bedeutung</i>! Sie <i>bedeutet</i> eben das Ministerium Camphausen, wenigstens post festum
&lt;hinterher&gt;.</p>
<p><font size="2"><b><a name="S26">&lt;26&gt;</a></b> "Diese Begebenheit" - die Bildung des
Ministeriums Camphausen oder die M&auml;rzrevolution? - "geh&ouml;rt zu den wesentlichsten
mitwirkenden Ursachen der Umgestaltung unserer <i>inneren</i> Staatsverfassung."</font></p>
<p>Die M&auml;rzrevolution, soll das hei&szlig;en, ist eine "wesentlich mitwirkende Ursache"
der Bildung des Staatsministeriums vom 29. M&auml;rz, d.h. des Staatsministeriums Camphausen.
Oder sollte das blo&szlig; sagen: Die preu&szlig;ische M&auml;rzrevolution hat Preu&szlig;en
revolutioniert! Eine solche feierliche Tautologie d&uuml;rfte von einem <i>"denkenden
Geschichtsfreund"</i> allenfalls pr&auml;sumiert werden.</p>
<p><font size="2">"Wir stehen am Eingange derselben" (n&auml;mlich der Umgestaltung unserer
inneren Staatsverh&auml;ltnisse), "und der Weg vor uns ist weit, dies erkennt die Regierung
an."</font></p>
<p>Mit einem Worte, das Ministerium Camphausen erkennt an, da&szlig; es noch einen weiten Weg
vor sich habe, d.h. es verspricht sich eine <i>lange</i> Dauer. Kurz ist die Kunst, d.h. die
Revolution, und lang das Leben, d.h. das nachtr&auml;gliche Ministerium. Es wird zum
&Uuml;berflu&szlig; von sich selbst anerkannt. Oder interpretiert man anders die
Camphausenschen Worte? Man wird dem <i>denkenden Geschichtsfreunde</i> sicher nicht die
triviale Erkl&auml;rung zumuten, da&szlig; V&ouml;lker, die am Eingang einer neuen
Geschichtsepoche stehen, am Eingang stehn und da&szlig; der Weg, den jede Epoche <i>vor</i>
sich hat, grade so lang ist, wie die <i>Zukunft</i>.</p>
<p>Soweit der <i>erste</i> Teil der m&uuml;hsamen, ernsten, f&ouml;rmlichen, gediegenen und
gewiegten Rede des Ministerpr&auml;sidenten Camphausen. Sie resumiert sich in drei Worten:
<i>Nach</i> der M&auml;rzrevolution das Ministerium Camphausen. Hohe Bedeutung des Ministeriums
Camphausen. Weiter Weg <i>vor</i> dem Ministerium Camphausen!</p>
<p>Nun der <i>zweite</i> Teil.</p>
<p><font size="2">"Keineswegs aber haben wir die Lage so aufgefa&szlig;t", doziert Herr
Camphausen, "als sei durch diese Begebenheit" (die M&auml;rzrevolution) "eine vollst&auml;ndige
Umw&auml;lzung eingetreten, als sei die ganze Verfassung unseres Staates umgeworfen worden, als
habe alles Vorhandene aufgeh&ouml;rt, rechtlich zu bestehen, als m&uuml;&szlig;ten alle
Zust&auml;nde rechtlich neu begr&uuml;ndet werden. Im Gegenteil. Im Augenblicke seines
Zusammentreten hat das Ministerium sich dar&uuml;ber geeinigt, dies als eine Frage seiner
Existenz anzusehn, da&szlig; der damals zusammenberufene Vereinigte Landtag wirklich und
ungeachtet der dagegen eingegangenen Petitionen zusammentrete, da&szlig; aus der bestehenden
Verfassung heraus mit den gesetzlichen Mitteln, die sie darbot, in die neue Verfassung
&uuml;bergegangen werde, ohne das Band abzuschneiden, welches das Alte an das Neue kn&uuml;pft.
Dieser unbestreitbar richtige Weg ist innegehalten, dem Vereinigten Landtage ist das Wahlgesetz
vorgelegt und mit dessen Beirat erlassen worden. Sp&auml;ter versuchte man, die Regierung zu
verm&ouml;gen, das Gesetz aus eigener Machtvollkommen- <a name=
"S27"><b>&lt;27&gt;</b></a></font> heit zu ver&auml;ndern, namentlich das indirekte Wahlsystem
in das direkte zu verwandeln. Die Regierung hat dem nicht nachgegeben. Die Regierung hat keine
Diktatur ausge&uuml;bt; sie hat sie nicht aus&uuml;ben k&ouml;nnen, sie hat sie nicht
aus&uuml;ben <i>wollen</i>. Wie das Wahlgesetz rechtlich besteht, so ist es auch
tats&auml;chlich zur Ausf&uuml;hrung gekommen. Auf Grund dieses Wahlgesetzes sind die
Wahlm&auml;nner, sind die Abgeordneten gew&auml;hlt. Auf Grund dieses Wahlgesetzes sind Sie
hier, mit der Vollmacht, mit der Krone eine f&uuml;r die Zukunft hoffentlich dauernde
Verfassung zu vereinbaren."</p>
<p>Ein K&ouml;nigreich f&uuml;r eine Doktrin! Eine <i>Doktrin</i> f&uuml;r ein
K&ouml;nigreich!</p>
<p>Erst kommt die "Begebenheit", versch&auml;mter Titel der <i>Revolution</i>. Hinterher kommt
die Doktrin und prellt die "Begebenheit".</p>
<p>Die ungesetzliche "Begebenheit" macht Herrn Camphausen zum <i>verantwortlichen</i>
Ministerpr&auml;sidenten, zu einem Wesen, das gar keinen Platz, keinen Sinn in dem Alten, in
der bestehenden Verfassung hatte. Durch einen Salto mortale setzen wir &uuml;ber das Alte
hinweg und finden gl&uuml;cklich einen verantwortlichen Minister, aber der verantwortliche
Minister findet noch gl&uuml;cklicher eine Doktrin. Mit dem ersten Lebenshauche eines
<i>verantwortlichen Ministerpr&auml;sidenten</i> war die absolute Monarchie gestorben,
verdorben. Unter den Gefallenen derselben befand sich in erster Linie der selige <i>"Vereinigte
Landtag"</i>, dieses widerliche Gemisch von gotischem Wahn und moderner L&uuml;ge. Der
"Vereinigte Landtag" war der "liebe Getreue", das "Grauchen" der absoluten Monarchie. Wie die
deutsche Republik nur &uuml;ber der Leiche des Herrn Venedey ihren Einzug feiern kann, so das
verantwortliche Ministerium nur &uuml;ber der Leiche des "lieben Getreuen". Der verantwortliche
Minister nun sucht sich die verschollene Leiche heraus oder beschw&ouml;rt das <i>Gespenst</i>
des lieben getreuen "Vereinigten" herauf, das wirklich erscheint, aber ungl&uuml;cklich
baumelnd in der Luft schwebt und die absonderlichsten Kapriolen schneidet, da es keinen
<i>Boden</i> mehr unter seinen F&uuml;&szlig;en findet, denn der alte <i>Rechts- und
Vertrauensboden</i> war von der "Begebenheit" des Erdbebens verschlungen worden. Der
Zaubermeister er&ouml;ffnet dem Gespenst, da&szlig; er es berufen, um seinen Nachla&szlig;
liquidieren und als loyaler Erbe desselben sich gebaren zu k&ouml;nnen. Nicht hoch genug
k&ouml;nne es diese h&ouml;fliche Lebensart w&uuml;rdigen, denn im gew&ouml;hnlichen Leben
lasse man Verstorbene keine Testamente nachtr&auml;glich ausstellen. Das h&ouml;chst
geschmeichelte Gespenst winkt pagodenm&auml;&szlig;ig allem zu, was der Zaubermeister befiehlt,
macht seine Reverenz beim Exit und verschwindet. Das Gesetz der indirekten Wahl ist sein
nachtr&auml;gliches Testament.</p>
<p>Das doktrin&auml;re Kunstst&uuml;ck, wodurch Herr Camphausen "aus der bestehenden Verfassung
heraus mit den gesetzlichen Mitteln, die sie darbot, in die neue Verfassung &uuml;bergegangen
ist", verl&auml;uft sich also wie folgt:</p>
<p><b><a name="S28">&lt;28&gt;</a></b> Eine ungesetzliche Begebenheit macht Herrn Camphausen zu
einer im Sinne der "bestehenden Verfassung" des "Alten" <i>ungesetzlichen</i> Person, zum
verantwortlichen Ministerpr&auml;sidenten, zum <i>konstitutionellen Minister</i>. Der
konstitutionelle Minister macht auf ungesetzliche Weise den <i>antikonstitutionellen</i>,
<i>st&auml;ndischen,</i> lieben getreuen <i>"Vereinigten"</i> zur <i>konstituierenden</i>
Versammlung. Der liebe getreue "Vereinigte" macht auf ungesetzliche Weise das Gesetz der
indirekten Wahl. Das Gesetz der indirekten Wahl macht die Berliner Kammer, und die Berliner
Kammer macht die Konstitution, und die Konstitution macht alle folgenden Kammern in alle
Ewigkeit.</p>
<p>So wird aus der Gans ein Ei und aus dem Ei eine Gans. An dem Kapitol rettenden Geschnatter
erkennt das Volk aber bald, da&szlig; die goldenen Ledaeier, die es in der Revolution gelegt,
entwendet worden sind. Selbst der Abgeordnete <i>Milde</i> scheint nicht der Ledasohn zu sein,
der fernhinleuchtende Kastor.</p>
<p><font size="2">Geschrieben von Karl Marx.</font></p>
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</html>