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<title>Leo Trotzki: Porträt des Nationalsozialismus</title>
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<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle><A href="../default.htm"><SMALL>Lew Trotzki</SMALL></A></TD>
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<H2>Lew Dawidowitsch Trotzki</H2>
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<H1><!-- #BeginEditable "Titel" -->Porträt des
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Nationalsozialismus<!-- #EndEditable --> </H1>
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<p>»Die neue Weltbühne«, II.28 (13.07.1933), S.
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856 - 862</p>
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<p>Prinkipo (Büyük Ada), 10.6.1933</p>
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<HR SIZE="1">
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<p>Naive Leute glauben, die Königswürde stecke im
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König selbst, in seinem Hermelinmantel und in der Krone, in
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seinem Fleisch und Bein. Aber die Königswürde ist ein
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Verhältnis zwischen Menschen. Der König ist nur darum
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König, weil sich in seiner Person die Interessen und
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Vorurteile von Millionen Menschen widerspiegeln. Wenn dieses
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Verhältnis vom Strom der Ereignisse weggespült wird,
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erweist sich der König bloß als ein verbrauchter Herr
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mit herabhängender Unterlippe. Davon dürfte, aus frischen
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Erlebnissen, jener erzählen können, der sich einst Alfons
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XIII. nannte.</p>
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<p>Der Unterschied zwischen dem Führer von Gottes und dem von
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Volkes Gnaden ist der, daß dieser darauf angewiesen ist, sich
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selbst den Weg zu bahnen oder wenigstens den Umständen zu
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helfen, ihn zu entdecken. Aber jeder Führer ist immer ein
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Verhältnis zwischen Menschen, ein individuelles Angebot auf
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eine kollektive Nachfrage. Die Erörterungen über die
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Persönlichkeit Hitlers sind um so hitziger, je mehr man das
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Geheimnis seines Erfolges in ihm selbst sucht. Doch ist es schwer,
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eine andere politische Gestalt zu finden, die in einem solchen
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Maße Knoten unpersönlicher geschichtlicher Kräfte
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wäre. Nicht jeder erbitterte Kleinbürger könnte ein
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Hitler werden, aber ein Stückchen Hitler steckt in jedem von
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ihnen.</p>
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<p>Das rasche Wachstum des deutschen Kapitalismus vor dem Kriege
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bedeutete bei weitem nicht die einfache Aufreibung der
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Mittelklassen; während er einzelne Schichten des
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Kleinbürgertums zugrunderichtete, schuf er wieder neue:
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Handwerker und Krämer um die großen Betriebe herum,
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Techniker und Angestellte in den Betrieben. Aber während sie
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sich zahlenmäßig hielten - das alte und das neue
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Kleinbürgertum umfaßt nicht viel weniger als die
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Hälfte des deutschen Volkes -, büßten die
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Mittelklassen den letzten Schatten von Selbständigkeit ein:
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sie lebten am Rande der Schwerindustrie und des Bankensystems, sie
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aßen die Brosamen vom Tisch der Kartelle, sie lebten von den
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geistigen Almosen ihrer alten Theoretiker und Politiker.</p>
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<p>Die Kriegsniederlage verbaute dem deutschen Imperialismus den
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Weg. Die äußere Dynamik verwandelte sich in die innere,
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der Krieg ging in die Revolution über. Die SoziaIdemokratie,
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die den Hohenzollern geholfen hatte, den Krieg bis zum tragischen
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Ende zu führen, verbot dem Proletariat, nun seinerseits die
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Revolution bis zum Ende zu führen. Vierzehn Jahre vergingen
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unter beständigen Entschuldigungen der Weimarer Demokratie
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für ihr eigenes Dasein. Die Kommunistische Partei rief die
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Arbeiter zu einer neuen Revolution, erwies sich aber als unfahig,
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sie zu führen. Die deutschen Arbeiter gingen durch die Siege
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und Zusammenbrüche des Krieges, der Revolution, des
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Parlamentarismus und des Pseudobolschewismus. Während die
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alten bürgerichen Parteien sich restlos verausgabten, war
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zugleich die Bewegungskraft der Arbeiter gebrochen.</p>
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<p>Das Nachkriegschaos traf die Handwerker, Krämer und
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Angestellten nicht weniger heftig als die Arbeiter. Die
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Landwirtschaftskrise richtete die Bauern zugrunde. Der Verfall der
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Mittelschichten konnte nicht ihre Proletarisierung bedeuten, da ja
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im Proletariat selbst ein riesiges Heer chronisch Arbeitsloser
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entstand. Die Pauperisierung der Mittelschichten - mit Mühe
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durch Halstuch und Strümpfe aus Kunstseide verhüllt -
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fraß allen offiziellen Glauben und vor allem die Lehren vom
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demokratischen Parlamentarismus.</p>
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<p>Die Vielzahl der Parteien, das kalte Fieber der Wahlen, der
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fortwährende Wechsel der Ministerien komplizierten die soziale
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Krise (durch das Kaleidoskop unfruchtbarer politischer
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Kombinationen. In der durch Krieg, Niederlage, Reparationen,
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Inflation, Ruhrbesetzung, Krise, Not und Erbitterung
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überhitzten Atmosphäre erhob sich das Kleinbürgertum
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gegen alle alten Parteien, die es betrogen hatten. Die schweren
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Frustrationen der Kleineigentümer, die aus dem Bankrott nicht
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herauskamen, ihrer studierten Söhne ohne Stellung und
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Klienten, ihrer Töchter ohne Aussteuer und Freier, verlangten
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nach Ordnung und nach einer eisernen Hand.</p>
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<p>Die Fahne des Nationalsozialismus wurde erhoben von der unteren
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und mittleren Offiziersschicht des alten Heeres. Die
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ordengeschmückten Offiziere und Unteroffiziere konnten nicht
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darin einwilligen, daß ihr Heroismus und ihre Leiden nicht
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allein fürs Vaterland umsonst hingegeben sein, sondern auch
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ihnen selbst keine besonderen Rechte auf Dank gebracht haben
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sollten; daher stammt ihr Haß gegen die Revolution und das
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Proletariat. Sie waren unzufrieden damit, daß die Bankiers,
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Fabrikanten, Minister sie wieder in die bescheidenen Stellungen von
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Buchhaltern, Ingenieuren, Postbeamten und Volksschullehrern
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schickten - daher ihr »Sozialismus«. An der Yser und
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vor Verdun hatten sie gelernt, sich und andere aufs Spiel zu setzen
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und im Kommandoton zu reden, was dem kleinen Mann im Hinterland
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mächtig imponierte. So wurden diese Leute Führer.</p>
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<p>Zu Beginn seiner politischen Laufbahn zeichnete sich Hitler
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vielleicht nur durch größeres Temperament, eine lautere
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Stimme und selbstsichere geistige Beschränktheit aus. Er
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brachte in die Bewegung keinerlei fertiges Programm mit - wenn man
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den Rachedurst des gekränkten Soldaten nicht zählt.
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Hitler begann mit Verwünschungen und Klagen über die
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Versailler Bedingungen, über das teure Leben, über das
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Fehlen des Respekts vor dem verdienten Unteroffizier, über das
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Treiben der Bankiers und Journalisten mosaischen Bekenntnisses.
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Heruntergekommene, Verarmte, Leute mit Schrammen und frischen
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blauen Flecken fanden sich genug. Jeder von ihnen wollte mit der
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Faust auf den Tisch hauen. Hitler verstand das besser als die
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anderen. Zwar wußte er nicht, wie der Not beizukommen sei.
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Aber seine Anklagen klangen bald wie Befehl, bald wie Gebet,
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gerichtet an das ungnädige Schicksal. Todgeweihte Klassen
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werden - ähnlich hoffnungslosen Kranken - nicht müde,
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ihre Klagen zu variieren und Tröstungen anzuhören. Alle
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Reden Hitlers sind auf diesen Ton gestimmt. Sentimentale
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Formlosigkeiten, Mangel an Disziplin des Denkens, Unwissenheit bei
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buntscheckiger Belesenheit - all diese Minus verwandelten sich in
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ein Plus. Sie gaben ihm die Möglichkeit, im Bettelsack
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»Nationalsozialismus« alle Formen der Unzufriedenheit
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zu vereinen und die Masse dorthin zu führen, wohin sie ihn
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stieß. Von den eigenen Improvisationen des Beginns blieb im
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Gedächtnis des Agitators nur das haften, was Billigung fand.
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Seine politische Gedanken waren die Frucht der rhetorischen
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Akustik. So ging die Auswahl der Losungen vonstatten. So
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verdichtete sich das Programm. So bildete sich aus dem Rohstoff der
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»Führer«.</p>
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<p>Mussolini war von Anfang an der sozialen Materie bewußter
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als Hitler, dem der Polizeimystizismus eines Metternich näher
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ist als die politische Algebra Machiavellis. Mussolini ist geistig
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verwegener und zynischer. Als Beweis dürfte genügen,
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daß der römische Atheist sich der Religion lediglich
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bedient wie der Polizei oder der Justiz, während sein Berliner
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Kollege wirklich an die Unfehlbarkeit der römischen Kirche
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glaubt. In jener Zeit, als der heutige Diktator Italiens Marx noch
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für »unser aller unsterblich en Meister« hielt,
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verteidigte er nicht ohne Geschick die Theorie, die im Leben der
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heutigen Gesellschift vor allem das Gegeneinanderwirken zweier
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grundlegender Klassen sieht: der Bourgeoisie und des Proletariats.
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Allerdings, schrieb Mussolini im Jahre 1914, liegen zwischen ihnen
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sehr zahlreiche Mitteilschichten, die sozusagen das
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»einigende Gewebe der menschlichen Kollektive« bilden,
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aber »in einer Krisenperiode werden die Mittelschichten ihren
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Interessen und Ideen gemäß angezogen von der einen oder
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der anderen der beiden Hauptklassen«. Eine sehr wichtige
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Verallgemeinerung! Wie die wissenschaftliche Medizin ihre Adepten
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sowohl mit der Möglichkeit ausrüstet, einen Kranken zu
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heilen, als auch mit jener, auf kürzestem Wege einen Gesunden
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ins Grab zu legen, so hat die wissenschaftliche Analyse der
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Klassenbeziehungen - die von ihrem Urheber zur Mobilisierung des
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Proletariats gedacht war - Mussolini, als er ins gegnerische Lager
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schwenkte, die Möglichkeit gegeben, die Mittelklassen gegen
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das Proletariat zu mobilisieren. Hitler hat die gleiche Arbeit
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verrichtet, wobei er die Methodologie des italienischen Faschismus
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in die Sprache der deutschen Mystik übersetzte.</p>
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<p>Die Scheiterhaufen, auf denen die verruchten Schriften des
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Marxismus brennen, werfen helles Licht auf die Klassennatur des
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Nationalsozialismus. Solange die Nazis als Partei handelten und
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nicht als Staatsmacht, fanden sie fast keinen Eingang in die
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Arbeiterklasse. Andererseits betrachtete sie die
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Großbourgeoisie, auch jene, die Hitler mit Geld
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unterstützte - nicht als ihre Partei. Das nationale
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»Erwachen« stützte sich ganz und gar auf die
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|
Mittelklassen, den rückständigsten Teil der Nation, den
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schweren Ballast der Geschichte. Die politische Kunst bestand
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darin, das Kleinbürgertum durch Feindseligkeit gegen das
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Proletariat zusammenzuschweißen. Was wäre zu tun, damit
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alles besser werde? Vor allem die niederdrücken, die unten
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sind. Kraftlos vor den großen Wirtschaftsmächten hofft
|
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das Kleinbürgertum, durch die Zertrümmerung der
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Arbeiterorganisationen seine gesellschaftliche Würde
|
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wiederherzustellen.</p>
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<p>Die Nazis geben ihrem Umsturz den usurpierten Namen Revolution.
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In Wirklichkeit läßt der Faschismus in Deutschland wie
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auch in Italien die Gesellschaftsordnung unangetastet. Hitlers
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Umsturz hat, isoliert betrachtet, nicht einmal Recht auf den Namen
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Konterrevolution. Aber man darf ihn nicht abgesondert sehen, er ist
|
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|
die Vollendung des Kreislaufs von Erschütterungen, der in
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Deutschland 1918 begann. Die Novemberrevolution, die die Macht den
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Arbeiter- und Soldatenräten übergab, war in ihrer
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Grundtendenz protetarisch. Doch die an der Spitze der
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Arbeiterschaft stehende Partei gab die Macht dem Bürgertum
|
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zurück. In diesem Sinne eröffnete die Sozialdemokratie
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die Ära der Konterrevolution, ehe es der Revolution gelang,
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ihr Werk zu vollenden. Solange die Bourgeoisie von der
|
||
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Sozialdemokratie und folglich von den Arbeitern abhängig war,
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||
|
enthielt das Regime aber immer noch Elemente des Kompromisses. Bald
|
||
|
ließ die internationale und die innere Lage des deutschen
|
||
|
Kapitalismus keinen Raum mehr für Zugeständnisse. Rettete
|
||
|
die Sozialdemokratie die Bourgeoisie vor der proletarischen
|
||
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Revolution, so hatte der Faschismus seinerseits die Bourgeoisie vor
|
||
|
der Sozialdemokratie zu retten. Hitlers Umsturz ist nur das
|
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|
Schlußglied in der Kette der konterrevolutionären
|
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|
Verschiebungen.</p>
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<p>Der Kleinbürger ist dem Entwicklungsgedanken feind, denn
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die Entwicklung geht beständig gegen ihn - der Fortschritt
|
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brachte ihm nichts als unbezahlbare Schulden. Der
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Nationalsozialismus lehnt nicht nur den Marxismus, sondern auch den
|
||
|
Darwinismus ab. Die Nazis verfluchen den Materialismus, weil die
|
||
|
Siege der Technik über die Natur den Sieg des großen
|
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|
über das kleine Kapital bedeuten. Die Führer der Bewegung
|
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|
liquidieren den »Intellektualismus« nicht so sehr
|
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|
deshalb, weil sie selbst mit einem Intellekt zweiter und dritter
|
||
|
Sorte versehen sind, sondern vor allem, weil ihre geschichtliche
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Rolle es ihnen nicht gestattet, irgendeinen Gedanken zu Ende zu
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|
führen. Der Kleinbürger braucht eine höchste
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Instanz, die über Natur und Geschichte steht, gefeit gegen
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|
Konkurrenz, Inflation, Krise und Versteigerung. Der Evolution, dem
|
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|
»ökonomischen Denken«, dem Rationalismus - dem
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zwanzigsten, neunzehnten und achtzehnten Jahrhundert - wird der
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nationale Idealismus als die Quelle des Heldischen
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entgegengestellt. Die Nation Hitlers ist ein mythologischer
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Schatten des Kleinbürgertums selbst, sein pathetischer Wahn
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vom tausendjährigen Reich auf Erden.</p>
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<p>Um die Nation über die Geschichte zu erheben, gab man ihr
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|
als Stütze die Rasse. Den geschichtlichen Ablauf betrachtet
|
||
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man als Emanation der Rasse. Die Eigenschaften der Rasse werden
|
||
|
ohne Bezug auf die veränderlichen gesellschaftlichen
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|
Bedingungen konstruiert. Das niedrige »ökonomische
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|
Denken« ablehnend, steigt der Nationalsozialismus ein
|
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|
Stockwerk tiefer, gegen den wirtschaftlichen Materialismus beruft
|
||
|
er sich auf den zoologischen.</p>
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<p>Die Rassentheorie - wie besonders geschaffen für einen
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|
anspuchsvollen Autodidakten, der nach einem Universalschlüssel
|
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|
für alle Geheimnisse des Lebens sucht - sieht im Licht der
|
||
|
Ideengeschichte besonders kläglich aus. Die Religion des rein
|
||
|
Germanischen mußte Hitler aus zweiter Hand beim
|
||
|
französischen Diplomaten und dilettierenden Schriftsteller
|
||
|
Gobineau entlehnen. Die politische Methodologie fand Hitler fertig
|
||
|
bei den Italienern vor. Mussolini hat sich ausgiebig der Marxschen
|
||
|
Theorie des Klassenkampfs bedient. Der Marxismus selbst war die
|
||
|
Frucht einer Verbindung deutscher Philosophie, französischer
|
||
|
Geschichtsschreibung und englischer Ökonomie. In der
|
||
|
Genealogie der Ideen - selbst der rückschrittlichsten und
|
||
|
stumpfsinnigsten - findet sich vom Rassismus keine Spur.</p>
|
||
|
|
||
|
<p>Die Armseligkeit der nationalsozialistischen Philosophie hat die
|
||
|
Universitätsprofessoren selbstverständlich nicht
|
||
|
gehindert, mit vollen Segeln in Hitlers Fahrwasser einzulenken -
|
||
|
als sein Sieg außer Frage stand. Die Jahre der Weimarer
|
||
|
Ordnung waren für die Mehrheit des Professorenpöbels eine
|
||
|
Zeit der Verwirrung und Unruhe. Die Historiker, Ökonomen,
|
||
|
Juristen und Philosophen ergingen sich in Vermutungen darüber,
|
||
|
welches der einander bekämpfenden Wahrheitskriterien das echte
|
||
|
sei, das heißt, welches Lager sich zuguterletzt als Sieger
|
||
|
erweisen werde. Die faschistische Diktatur beseitigt die Zweifel
|
||
|
der Fäuste und das Schwanken der Hamlets auf dem
|
||
|
Universitätskatheder. Aus der Dämmerung der
|
||
|
parlamentarischen Relativität tritt die Wissenschaft wiederum
|
||
|
in das Reich des Absoluten ein. Einstein mußte Deutschland
|
||
|
verlassen.</p>
|
||
|
|
||
|
<p>Auf der Ebene der Politik ist der Rassismus eine aufgeblasene
|
||
|
und prahlerische Abart des Chauvinismus, gepaart mit
|
||
|
Schädellehre. Wie herabgekommener Adel Trost findet in der
|
||
|
alten Abkunft seines Bluts, so besäuft sich das
|
||
|
Kleinbürgerturn am Märchen von den besonderen
|
||
|
Vorzügen seiner Rasse. Es verdient Beachtung, daß die
|
||
|
Führer des Nationalsozialismus nicht germanische Deutsche
|
||
|
sind, sondern Zugewanderte: aus Österreich, wie Hitler selbst,
|
||
|
aus den ehemaligen baltischen Provinzen des Zarenreichs, wie
|
||
|
Rosenberg, aus den Kolonialländern, wie der augenblickliche
|
||
|
Stellvertreter Hitlers in der Parteileitung, Heß, und der
|
||
|
neue Minister Darré. Es bedurfte der Schule barbarischer
|
||
|
nationaler Balgerei in den kulturellen Randgebieten, um den
|
||
|
Führern die Gedanken einzuflößen, die später
|
||
|
ein Echo im Herzen der barbarischsten Klassen Deutschlands
|
||
|
fanden.</p>
|
||
|
|
||
|
<p>Die Persönlichkeit und die Klasse - der Liberalismus und
|
||
|
der Marxismus - sind das Böse. Die Nation ist das Gute. Doch
|
||
|
an der Schwelle des Eigentums verkehrt sich diese Philosophie ins
|
||
|
Gegenteil. Nur im persönlichen Eigentum liegt das Heil. Der
|
||
|
Gedanke des nationalen Eigentums ist eine Ausgeburt des
|
||
|
Bolschewismus. Obwohl er die Nation vergottet, will der
|
||
|
Kleinbürger ihr doch nichts schenken. Im Gegenteil erwartet
|
||
|
er, daß die Nation ihm selbst Besitz beschert und diesen dann
|
||
|
gegen Arbeiter und Gerichtsvollzieher in Schutz nimmt.</p>
|
||
|
|
||
|
<p>Vor dem Hintergrund des heutigen Wirtschaftslebens -
|
||
|
international in den Verbindungen, unpersönlich in den
|
||
|
Methoden - scheint das Rassenprinzip einem mittelalterlichen
|
||
|
Ideenfriedhof entstiegen. Die Nazis machen im voraus
|
||
|
Zugeständnisse: Im Reich des Geistes wird Rasseneinheit durch
|
||
|
den Paß bescheinigt, im Reich der Wirtschaft aber muß
|
||
|
sie sich durch Geschäftstüchtigkeit ausweisen. Unter
|
||
|
heutigen Bedingungen heißt das: durch
|
||
|
Konkurrenzfähigkeit. So kehrt der Rassismus durch die
|
||
|
Hintertür zum ökonomischen Liberalismus - ohne politische
|
||
|
Freiheiten - zurück.</p>
|
||
|
|
||
|
<p>Praktisch beschränkt sich der Nationalismus in der
|
||
|
Wirtschaft auf - trotz aller Brutalität - ohnmächtige
|
||
|
Ausbrüche von Antisemitismus. Vom heutigen Wirtschaftssystem
|
||
|
sondern die Nazis das raffende oder Bankkapital als den bösen
|
||
|
Geist ab; gerade in dieser Sphäre nimmt ja die jüdische
|
||
|
Bourgeoisie einen bedeutenden Platz ein. Während er sich vor
|
||
|
dem kapitalistischen System verbeugt, bekriegt der Kleinbürger
|
||
|
den bösen Geist des Profits in Gestalt des polnischen Juden im
|
||
|
langschößigen Kaftan, der oft keinen Groschen in der
|
||
|
Tasche hat. Der Pogrom wird zum Beweis rassischer
|
||
|
Überlegenheit.</p>
|
||
|
|
||
|
<p>Das Programm, mit dem der Nationalsozialismus an die Macht
|
||
|
gelangte, erinnert nur zu sehr an die jüdischen
|
||
|
Warenhäuser der finsteren Provinz. Was findet man dort nicht
|
||
|
alles zu niedrigem Preis und in noch niedrigerer Qualität. Die
|
||
|
Erinnerung an die »glücklichen« Zeiten der freien
|
||
|
Konkurrenz und die vage Überlieferung von der Stabilität
|
||
|
der Ständegesellschaft, Träume von der Auferstehung des
|
||
|
Kolonialreichs und den Wahn von einer geschlossenen Wirtschaft,
|
||
|
Phrasen über eine Rückkehr vom römischen zum
|
||
|
altdeutschen Recht und über die Befürwortung des
|
||
|
amerikanischen Moratoriums, neidische Feindschaft gegen die
|
||
|
Ungleichheit in Gestalt einer Villa und eines Autos und tierische
|
||
|
Furcht vor der Gleichheit in Gestalt des Arbeiters mit Mütze
|
||
|
und ohne Kragen, tobenden Nationalismus und Angst vor den
|
||
|
Weltgläubigern - all dieser internationale Auswurf politischer
|
||
|
Gedanken füllt die geistige Schatzkammer des neudeutschen
|
||
|
Messianismus.</p>
|
||
|
|
||
|
<p>Der Faschismus entdeckte den Bodensatz der Gesellschaft für
|
||
|
die Politik. Nicht nur in den Bauernhäusern, sondern auch in
|
||
|
den Wolkenkratzern der Städte lebt neben dem zwanzigsten
|
||
|
Jahrhundert heute noch das zehnte oder dreizehnte. Hunderte
|
||
|
Millionen Menschen benutzen den elektrischen Strom, ohne
|
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aufzuhören, an die magische Kraft von Gesten und
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Beschwörungen zu glauben. Der römische Papst predigt
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durchs Radio vom Wunder der Verwandlung des Wassers in Wein.
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Kinostars laufen zur Wahrsagerin. Flugzeugführer, die
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wunderbare, vom Genie des Menschen erschaffene Mechanismen lenken,
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tragen unter dem Sweater Amulette. Was für
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unerschöpfliche Vorräte an Finsternis, Unwissenheit,
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Wildheit! Die Verzweiflung hat sie auf die Beine gebracht, der
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Faschismus wies ihnen die Richtung. All das, was bei ungehinderter
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Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus als
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Kulturexkrement ausgeschieden werden mußte, kommt jetzt durch
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den Schlund hoch; die kapitalistische Zivilisation erbricht die
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unverdaute Barbarei. Das ist die Physiologie des
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Nationalsozialismus.</p>
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<p>Der deutsche wie der italienische Faschismus stiegen zur Macht
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über den Rücken des Kleinbürgertums, das sie zu
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einem Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Einrichtungen der
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Demokratie zusammenpreßten. Aber der Faschismus, einmal an
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der Macht, ist alles andere als eine Regierung des
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Kleinbürgertums. Mussolini hat recht, die Mittelklassen sind
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nicht fähig zu selbständiger Politik. In Perioden
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großer Krisen sind sie berufen, die Politik einer der beiden
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Hauptklassen bis zur Absurdität zu treiben. Dem Faschismus
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gelang es, sie in den Dienst des Kapitals zu stellen. Solche
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Lösungen wie die Verstaatlichung der Trusts und die
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Abschaffung des »arbeits- und mühelosen
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Einkommens« waren nach Übernahme der Macht mit einem Mal
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über Bord geworfen. Der Partikularismus der deutschen
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Länder, der sich auf die Eigenarten des Kleinbürgertums
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stützte, hat dem polizeilichen Zentralismus Platz gemacht, den
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der moderne Kapitalismus braucht. Jeder Erfolg der
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nationalsozialistischen Innen- und Außenpolitik wird
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unvermeidlich Erdrückung des kleinen Kapitals durch das
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große bedeuten.</p>
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<p>Das Programm der kleinbürgerlichen Illusionen wird dabei
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nicht abgeschafft, es wird einfach von der Wirklichkeit abgetrennt
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und in Ritualhandlungen aufgelöst. Die Vereinigung aller
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Klassen läuft hinaus auf die Halbsymbolik der
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Arbeitsdienstpflicht und die Beschlagnahme des Arbeiterfeiertags
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»zugunsten des Volkes«. Die Beibehaltung der gotischen
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Schrift im Gegensatz zur lateinischen ist eine symbolische
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Vergeltung für das Joch des Weltmarkts. Die Abhängigkeit
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von den internationalen - darunter auch jüdischen - Bankiers
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ist nicht um ein Jota gemildert, dafür ist es verboten, Tiere
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nach dem Talmudritual zu schlachten. Ist der Weg zur Hölle mit
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guten Vorsätzen gepflastert, so sind die Straßen des
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Dritten Reiches mit Symbolen ausgelegt.</p>
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<p>Indem er das Programm der kleinbürgerlichen Illusionen auf
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elende bürokratische Maskeraden reduziert, erhebt sich der
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Nationalsozialismus über die Nation als reinste
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Verkörperung des Imperialismus. Die Hoffnung darauf, daß
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die Hitlerregierung heute oder morgen als Opfer ihres inneren
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Bankrotts fallen werde, ist völlig vergeblich. Das Programm
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war für die Nazis nötig, um an die Macht zu kommen, aber
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die Macht dient Hitler durchaus nicht dazu, das Programm zu
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erfüllen. Die gewaltsame Zusammenfassung aller Kräfte und
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Mittel des Volkes im Interesse des Imperialismus - die wahre
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geschichtliche Sendung der faschistischen Diktatur - bedeutet die
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Vorbereitung des Krieges; diese Aufgabe duldet keinerlei Widerstand
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von innen und führt zur weiteren mechanischen Zusammenballung
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der Macht. Den Faschismus kann man weder reformieren noch zum
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Abtreten bewegen. Ihn kann man nur stürzen. Der politische Weg
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der Naziherrschaft führt zur Alternative Krieg oder
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Revolution. Der erste Jahrestag der Nazidiktatur steht bevor. Alle
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Tendenzen des Regimes haben sich inzwischen klar und deutlich
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entfalten können. Die »sozialistische« Revolution,
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die den kleinbürgerlichen Massen die unentbehrliche
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Ergänzung der »nationalen« schien, wurde offiziell
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verdammt und liquidiert. Die Klassenverbrüderung gipfelt
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darin, daß - an einem eigens von der Regierung bestimmten
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Tage - die Reichen zugunsten der Armen auf Vor- und Nachtisch
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verzichten. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit hat dazu
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geführt, daß man die halbe Hungerration noch einmal
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teilt. Alles übrige ist Produkt der manipulierten Statistik.
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Die »geplante« Autarkie erweist sich als ein neues
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Stadium wirtschaftlichen Zerfalls.</p>
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<p>Je weniger das Polizeiregime der Nazis ökonomisch leistet,
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desto größere Anstrengungen muß es auf
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außenpolitischem Gebiet unternehmen. Dies entspricht
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völlig der inneren Dynamik des durch und durch aggressiven
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deutschen Kapitals. Das Umschwenken der Naziführer auf
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Friedensdeklarationen kann nur Dummköpfe irreführen.
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Hitler hat kein anderes Mittel, die Schuld an inneren
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Schwierigkeiten auf äußere Feinde abzuwälzen und
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die Sprengkraft des Imperialismus unter dem Druck der Diktatur zu
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steigern.</p>
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<p>Dieser Teil des Programms, der noch vor der Machtergreifung der
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Nazis offen angekündigt wurde, realisiert sich jetzt mit
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eiserner Logik vor den Augen der ganzen Welt. Die Zeit, die uns bis
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zur nächsten europäischen Katastrophe bleibt, ist
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befristet durch die deutsche Aufrüstung. Das ist keine Frage
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von Monaten, aber auch keine von Jahrzehnten. Wird Hitler nicht
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rechtzeitig durch innerdeutsche Kräfte aufgehalten, so wird
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Europa in wenigen Jahren neuerlich in Krieg gestürzt.
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<p><small>Pfad: «../tr/»<br>
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Verknüpfte Dateien: <a href=
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"http://www.mlwerke.de/css/format.css">«../css/format.css»</a><br>
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Quelle: die nicht mehr existierende Seite "Linksruck"Linksruck</a></small></p>
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"../../index.shtml.html"><small>MLWerke</small></a></td>
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"../default.htm"><small>Lew Trotzki</small></a></td>
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