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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Leo Trotzki: Die USA werden am Krieg teilnehmen</TITLE>
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</TABLE>
<HR size="1">
<H2>Leo Trotzki</H2>
<H1>Die USA werden am Krieg teilnehmen</H1>
<P>1. Oktober 1939</P>
<HR SIZE=1>
<P>Dieser Artikel erschien erstmals in der <EM>New York Times</EM> vom 4. Oktober 1939, wobei deren Redakteure allerdings drei Abs&auml;tze gegen Ende des Artikels gestrichen hatten. </P>
<HR SIZE=1>
<P>Die Politik der Sowjetunion, voller &Uuml;berraschungen selbst f&uuml;r
interessierte Beobachter, ergibt sich in Wirklichkeit aus des Kreml&#146;s
traditioneller Sicht der internationalen Beziehungen, die ungef&auml;hr
wie folgt formuliert werden k&ouml;nnten:
</P>
<P>Seit langer Zeit hat die &ouml;konomische Bedeutung nicht nur von
Frankreich, sondern auch von England, aufgeh&ouml;rt, den Ausma&szlig;en
ihrer kolonialen Besitzungen zu entsprechen. Ein neuer Krieg w&uuml;rde
wahrscheinlich diese Imperien zum Zusammenbruch bringen. (Nicht
zuf&auml;llig, so sagt man sich im Kreml, hat der smarte Opportunist
Mohandas K. Gandhi, bereits die Forderung nach der Unabh&auml;ngigkeit
von Indien erhoben). Sein Schicksal an das von Britannien und
Frankreich zu binden, wenn die Vereinigten Staaten nicht hinter ihnen
stehen, bedeutet, sich von vorneherein zum Untergang zu verurteilen.
</P>
<P>Die &raquo;Operationen&laquo; an der Westfront w&auml;hrend des
ersten Monats des Krieges haben Moskau nur in ihrer Einsch&auml;tzung
best&auml;rkt. Frankreich und England entschlie&szlig;en sich nicht
zur Verletzung der Neutralit&auml;t von Belgien und der Schweiz &#151;
diese Verletzung ist absolut unvermeidlich, wenn der wirkliche Krieg
sich weiterentwickelt &#151; genausowenig, wie sie ernsthafte
Angriffe auf die Siegfriedlinie f&uuml;hren. Anscheinend wollen sie
&uuml;berhaupt keinen Krieg f&uuml;hren, ohne von vorneherein die
Garantie zu haben, da&szlig; die Vereinigten Staaten sich nicht mit
ihrer Niederlage abfinden werden.
</P>
<P>Moskau denkt, da&szlig; also die gegenw&auml;rtige konfuse und
unentschlossene F&uuml;hrung der Operationen seitens Frankreich und
Gro&szlig;britannien eine Art von milit&auml;rischer Bummelstreik
gegen die USA darstellen, aber kein Krieg gegen Deutschland.
</P>
<P>Unter diesen Umst&auml;nden wurde der Pakt vom August zwischen
Josef Stalin und Adolf Hitler unvermeidlich durch die &Uuml;bereinkunft
vom September erg&auml;nzt<SUP><A CLASS="sdfootnoteanc" NAME="sdfootnote1anc" HREF="391001a.htm#sdfootnote1sym"><SUP>1</SUP></A></SUP>.
Die wirkliche Bedeutung der algebraischen Formeln dieses neuen
diplomatischen Dokuments werden durch den Verlauf des Krieges in den
n&auml;chsten Wochen gekl&auml;rt werden.
</P>
<P>Es ist h&ouml;chst unwahrscheinlich, da&szlig; Moskau jetzt an
Hitlers Seite gegen die Kolonialm&auml;chte intervenieren wird.
Stalin ging den h&ouml;chst unpopul&auml;ren Block mit Hitler nur
ein, um den Kreml vor den Risiken und Ersch&uuml;tterungen eines
Krieges zu bewahren. Danach fand er sich selbst in einen kleinen
Krieg verwickelt, um seinen Block mit Hitler zu rechtfertigen. In den
Ritzen des gro&szlig;en Krieges, wird Moskau versuchen, weitere neue
Eroberungen im Baltikum und dem Balkan zu erringen.
</P>
<P>Es ist jedoch n&ouml;tig, diese provinziellen Eroberungen aus der
Perspektive des Weltkrieges zu betrachten. Wenn Stalin die neuen
Provinzen behalten will, dann wird er fr&uuml;her oder sp&auml;ter
gezwungen sein, die Existenz seiner Macht aufs Spiel zu setzen. All
seine Politik ist darauf ausgerichtet, diesen Moment
hinauszuschieben.
</P>
<P>Aber wenn es schwierig ist, eine direkte milit&auml;rische
Kooperation Moskaus mit Berlin an der Westfront zu erwarten, w&auml;re
es &auml;u&szlig;erster Leichtsinn, die wirtschaftliche Unterst&uuml;tzung
zu untersch&auml;tzen, die die Sowjetunion, mithilfe der deutschen
Technologie, vor allem im Transportwesen, der deutschen Armee
zukommen lassen kann. Die Bedeutung der englisch-franz&ouml;sichen
Blockade wird dadurch sicherlich nicht aufgehoben, aber doch
bedeutend geschw&auml;cht.
</P>
<P>Der deutsch-sowjetische Pakt wird unter diesen Umst&auml;nden
zwei Konsequenzen haben: Er wird die Dauer des Krieges erheblich
verl&auml;ngern, und er wird den Moment des Eintritts der USA in den
Krieg n&auml;her bringen.
</P>
<P>F&uuml;r sich genommen, ist dieser Kriegseintritt v&ouml;llig
unvermeidlich. London wollte sich glauben machen, da&szlig; Hitlers
Ambitionen nicht &uuml;ber die Donauebenen hinausgehen w&uuml;rden,
und meinte, Britannien heraushalten zu k&ouml;nnen. Gleicherma&szlig;en
glauben einige Leute auf dem amerikanischen Kontinent, sich hinter
einem papiernen Wandschirm der Isolation von dem &raquo;rein
europ&auml;ischen&laquo; Irrsin fernhalten zu k&ouml;nnen. Ihre
Hoffnungen sind vergeblich. Es geht um einen Kampf um <EM>Weltherrschaft</EM>,
und die Vereinigten Staaten werden sich da nicht heraushalten k&ouml;nnen.
</P>
<P>Die Intervention der USA, die die Orientierung nicht nur von
Moskau, sondern auch von Rom ver&auml;ndern k&ouml;nnte, ist jedoch
noch Zukunftsmusik. Die Empiriker des Kreml stehen mit beiden Beinen
auf dem Boden der Gegenwart. Sie glauben nicht an den Sieg von
Britannien und Frankreich, und folglich halten sie zu Deutschland.
</P>
<P>Um die Sowjetpolitik in allen ihren Wendungen verstehen zu k&ouml;nnen,
mu&szlig; man vor allem die absurde Idee fallen lassen, da&szlig;
Stalin die internationale Revolution mit kriegerischen Mitteln
bef&ouml;rdern will. Wenn der Kreml zu diesem Ziel strebte, wie
k&ouml;nnte er seinen Einflu&szlig; &uuml;ber die internationale
Arbeiterbewegung im Tausch f&uuml;r die Besetzung einiger
Grenzgebiete aufopfern?
</P>
<P>Das Schicksal der Revolution wird nicht in Galizien bestimt, noch
in Estland, Lettland oder Bessarabien. Es wird in Deutschland
entschieden, aber dort unterst&uuml;tzt Stalin Hitler. Es wird in
Frankreich und in Britannien entschieden, aber dort hat Stalin den
kommunistischen Parteien einen Todessto&szlig; versetzt. Genausowenig
wird die Kommunistische Partei der USA den Folgen des
Septemberabkommens entgehen k&ouml;nnen. Polen wird wieder
auferstehen, die Kommunistische Internationale niemals mehr.
</P>
<P>In Wirklichkeit gibt es keine Regierung in Europa oder der ganzen
Welt, die gegenw&auml;rtig die Revolution mehr f&uuml;rchtet als die
privilegierte Kaste, die die Sowjetunion beherrscht. Der Kreml sieht
sich selbst nicht als stabil an, und Revolutionen sind ansteckend.
Gerade weil der Kreml die Revolution f&uuml;rchtet, f&uuml;rchtet er
den Krieg, der zu Revolution f&uuml;hrt.
</P>
<P>Es ist wahr, da&szlig; der Kreml in den besetzten Gebieten daran
geht, die gro&szlig;en Eigent&uuml;mer zu enteignen. Aber das ist
keine Revolution, die von den Massen durchgef&uuml;hrt wird, sondern
ein administrativer Vorgang, mit dem das Regime der UdSSR in die
neuen Territorien ausdehnt werden soll. Morgen wird der Kreml in den
&raquo;befreiten&laquo; Gebieten erbarmungslos die Arbeiter und
Bauern niederschlagen, um sie zur Unterwerfung unter die totalit&auml;re
B&uuml;rokratie zu zwingen. Hitler hat keine Angst vor solch einer
&raquo;Revolution&laquo; an seinen Grenzen &#151; und aus seiner
Sicht hat er v&ouml;llig recht.
</P>
<P>Um die neu gefundenen Freunde gegeneinander aufzubringen, macht
die englisch-franz&ouml;sische Propaganda alle Anstrengungen, um
Hitler als das wahre Instrument Stalins darzustellen. Das ist das
Gegenteil von den Tatsachen. In dem Septemberabkommen wie auch in dem
Pakt vom August ist Hitler der aktive Teil. Stalin spielt eine
untergeordnete Rolle, pa&szlig;t sich an, marschiert zu Hitlers
Musik, und er geht nicht &uuml;ber das hinaus, was er tun mu&szlig;,
wenn er nicht mit Hitler brechen will. Hitlers Politik ist offensiv,
mit weltweiten Perspektiven. Stalins Politk ist defensiv und
provinziell. Hitler will das britische Empire weit aufbrechen und die
Grundlagen f&uuml;r einen Krieg mit den USA vorbereiten. Stalin
unterst&uuml;tzt ihn, um ihn vom Osten abzulenken. In jeder Etappe
seines Plans wei&szlig; Hitler genug, um ein neues System von
&raquo;Freundschaften&laquo; zu zimmern. Im August versicherte er
sich Stalins Neutralit&auml;t und seiner wirtschatlichen
Zusammenarbeit &#151; f&uuml;r den Angriff auf Polen. Im September
machte er Stalin zu einem interessierten Partner f&uuml;r seinen
Kampf gegen Frankreich und Gro&szlig;britannien. Die H&auml;lfte
Polens ist kein zu hoher Preis hierf&uuml;r. Wie auch immer, wenn
Hitler den Krieg verliert, wird er auch Polen verlieren. Wenn, dank
Stalin, er siegreich daraus hervorgeht, wird er erneute alle Fragen
des Ostens auf die Tagesordnung setzen.
</P>
<P>Angesichts der Schwierigkeit, wenn nicht gar Unm&ouml;glichkeit,
da&szlig; Deutschland einen langanhaltenden Krieg durchstehen kann,
will Hitler stattdessen eine Serie von schnellen Schl&auml;gen. Heute
braucht Hitler wieder eine Atempause. Stalin, wie zuvor, braucht
Frieden. Folglich Stalins Eifer, Hitler zu helfen, eine Kapitulation
von Frankreich und England zu erreichen. Sicherlich, die
Unterzeichnung eines Friedens an der Westfront w&uuml;rde Hitlers
H&auml;nde freimachen gegen die UdSSR. Wenn sich jedoch der Kreml an
Hitlers &raquo;Friedensoffensive&laquo; angeh&auml;ngt hat, dann weil
er eine kurzfristige Politik verfolgt. Stalin ist ein Taktiker, kein
Stratege. Mehr noch, nach der Teilung Polens hat er seine
Handlungsfreiheit verloren.
</P>
<P>Um den Kreml zu einer &Auml;nderung seiner Politik zu bringen,
bleibt nur ein Weg, aber ein sicherer. Es ist n&ouml;tig, Hitler
einen derart entscheidenden Schlag zu versetzen, da&szlig; der Kreml
aufh&ouml;rt, ihn zu f&uuml;rchten. In diesem Sinne ist es m&ouml;glich
zu sagen, da&szlig; der bedeutendste Schl&uuml;ssel f&uuml;r die
Politik des Kreml nunmehr in Washington liegt.
</P>
<HR SIZE=1>
<P>&Uuml;bersetzung ins Deutsche: &copy; Copyright L&uuml;ko Willms, 28.8.2000. Aus dem Englischen
nach &raquo;Writings 1939-40&laquo;, Pathfinder Press, NY, 1973, S. 94-97</P>
<HR SIZE=1>
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<P CLASS="sdfootnote"><A CLASS="sdfootnotesym" NAME="sdfootnote1sym" HREF="391001a.htm#sdfootnote1anc">1</A>In
dieser Vereinbarung wurde Ostpolen als sowjetisches Gebiet anerkannt
und ein Bev&ouml;lkerungsaustausch vereinbart &#151; Deutsche wurden
aus den nicht vom deutschen Reich beherrschten Gebieten &#132;heim
ins Reich&#147; transferiert.
</P>
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<SMALL>Verwendung zur Herstellung von Druckwerken oder f&uuml;r andere elektronische Publikationen auf Datentr&auml;gern oder im Netz nur nach R&uuml;cksprache. <A HREF="../../ies/kontakt.htm">Kontakt</A>
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