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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Friedrich Engels - Was soll aus der europaeischen Tuerkei werden?</TITLE>
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<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 31-35<BR>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960 </P>
</FONT><H2>Friedrich Engels</H2>
<H1>Was soll aus der europ&auml;ischen T&uuml;rkei werden?</H1>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben Anfang April 1853.<BR>
Aus dem Englischen.</P>
</FONT><P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["New-York Daily Tribune" Nr. 3748 vom 21. April 1853, Leitartikel]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S31">&lt;31&gt;</A></B> Wir haben gesehen, wie die Staatsm&auml;nner Europas in ihrer halsstarrigen Dummheit, verkn&ouml;cherten Routine und ererbten geistigen Tr&auml;gheit schon vor einem blo&szlig;en Versuch der Beantwortung dieser Frage zur&uuml;ckschrecken. Aberdeen und Palmerston, Metternich und Guizot, schon gar nicht zu sprechen von ihren republikanischen und konstitutionellen Nachfolgern in den Jahren 1848 bis 1852, deren Namen niemals auf die Nachwelt kommen werden - sie alle verzweifeln an der L&ouml;sung dieser Frage. Ungeachtet aller diplomatischen Noten, Intrigen und Machenschaften von seiten Englands und Frankreichs jedoch r&uuml;ckt Ru&szlig;land Schritt f&uuml;r Schritt, langsam zwar, doch unaufhaltsam gegen Konstantinopel vor.</P>
<P>Und obgleich alle Parteien in allen L&auml;ndern Europas sich der Tatsache dieses stetigen Vorr&uuml;ckens wohl bewu&szlig;t sind, so hat noch kein offizieller Staatsmann sie zu erkl&auml;ren vermocht. Sie sehen die Auswirkung dieser Tatsache, sehen sogar ihre letzte Konsequenz, die Ursache aber bleibt ihnen verborgen, obwohl nichts einfacher zu erkl&auml;ren ist.</P>
<P>Die gro&szlig;e Triebfeder, die Ru&szlig;lands Vorr&uuml;cken nach Konstantinopel beschleunigt, ist nichts anderes als das gleiche Mittel, das es davon abhalten sollte: die hohle, niemals durchgesetzte Theorie von der Aufrechterhaltung des Status quo.</P>
<P>Worin besteht dieser Status quo? F&uuml;r die christlichen Untertanen der Pforte bedeutet er nichts anderes als die Verewigung ihrer Unterdr&uuml;ckung durch die T&uuml;rkei. Und solange sie durch die t&uuml;rkische Herrschaft unterjocht sind, sehen sie im Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Kirche, dem Beherrscher von sechzig Millionen griechischer Christen, <I>ihren nat&uuml;rlichen Besch&uuml;tzer und Befreier</I>, mag er auch in anderer Hinsicht sein, was er will. So <A NAME="S32"><B>&lt;32&gt;</A></B> kommt es, da&szlig; dasselbe diplomatische System, das zur Verh&uuml;tung russischer &Uuml;bergriffe erfunden wurde, zehn Millionen griechischer Christen in der europ&auml;ischen T&uuml;rkei zwingt, sich an Ru&szlig;land um Schutz und Hilfe zuwenden.</P>
<P>Betrachten wir einmal die historischen Tatsachen. Noch vor Katharina II. vers&auml;umte Ru&szlig;land keine Gelegenheit, sich in der Moldau und Walachei g&uuml;nstige Verh&auml;ltnisse zu schaffen. Dies wurde schlie&szlig;lich im Vertrag von Adrianopel (1829) in einem solchen Ma&szlig;e verwirklicht, da&szlig; jetzt die erw&auml;hnten F&uuml;rstent&uuml;mer mehr Ru&szlig;land als der T&uuml;rkei untertan sind. Als im Jahre 1804 in Serbien die Revolution ausbrach, nahm Ru&szlig;land sofort die aufst&auml;ndischen Rajah unter seinen Schutz, und, nachdem es sie in zwei Kriegen unterst&uuml;tzt hatte, sicherte es ihnen in zwei Vertr&auml;gen Selbst&auml;ndigkeit in Angelegenheiten der inneren Verwaltung. Wer entschied den Kampf beim Aufstand der Griechen? Doch nicht die Verschw&ouml;rungen und Revolten des Ali Pascha von Janina, doch nicht die Schlacht von Navarino, doch nicht die franz&ouml;sische Armee in Morea oder die Konferenzen und Protokolle von London, sondern Diebitsch, der mit der russischen Armee &uuml;ber den Balkan ins Marizatal einmarschierte. Und w&auml;hrend Ru&szlig;land so ganz unverfroren sich an die Zerst&uuml;cklung der T&uuml;rkei machte, wurden die westlichen Diplomaten nicht m&uuml;de, sich weiter f&uuml;r die Aufrechterhaltung des geheiligten Status quo und die Unverletzlichkeit des Osmanischen Reiches zu verb&uuml;rgen!</P>
<P>Solange diese Tradition der Aufrechterhaltung des Status quo um jeden Preis und der Unabh&auml;ngigkeit der T&uuml;rkei in ihrem gegenw&auml;rtigen Zustand das Leitmotiv der westlichen Diplomatie sein wird, so lange werden neun Zehntel der Bev&ouml;lkerung der europ&auml;ischen T&uuml;rkei in Ru&szlig;land ihre einzige St&uuml;tze, ihren Befreier, ihren Messias sehen.</P>
<P>Nehmen wir einen Augenblick an, da&szlig; die griechisch-slawische Halbinsel sich von der t&uuml;rkischen Herrschaft befreit h&auml;tte, da&szlig; dort eine Regierung existierte, die den Bed&uuml;rfnissen des Volkes mehr entspr&auml;che; wie w&uuml;rde sich dann Ru&szlig;lands Position gestalten? Es ist allbekannt,. da&szlig; sich in jedem Staat auf t&uuml;rkischem Gebiet, der sich ganz oder teilweise unabh&auml;ngig zu machen verstand, sogleich eine starke antirussische Partei entwickelte. Wenn das also schon in einer Zeit der Fall ist, in der die Vasallen in Ru&szlig;land den einzigen Hort gegen die t&uuml;rkische Unterdr&uuml;ckung sehen, was sollen wir dann gew&auml;rtigen, wenn die Furcht vor dieser Unterdr&uuml;ckung verschwunden sein wird?</P>
<P>Aber w&uuml;rde nicht ein Weltkrieg entbrennen, wenn der t&uuml;rkische Einflu&szlig; am Bosporus verschw&auml;nde, wenn die verschiedenen Nationalit&auml;ten und Konfessionen der Balkanhalbinsel sich befreiten, wenn den Machinationen und Anschl&auml;gen, den widersprechenden W&uuml;nschen und Interessen aller Gro&szlig;- <A NAME="S33"><B>&lt;33&gt;</A></B> m&auml;chte Europas T&uuml;r und Tor ge&ouml;ffnet w&uuml;rde? So fragt sich die Diplomatie der Feigheit und Routine.</P>
<P>Es ist nat&uuml;rlich nicht zu erwarten, da&szlig; die Clarendons, die Palmerstons, die Aberdeens sowie andere europ&auml;ische Au&szlig;enminister einer solchen Tat f&auml;hig w&auml;ren! Nur mit Schaudern denken sie daran. Wer aber beim Studium der Geschichte den ewigen Wechsel der menschlichen Geschicke bewundern gelernt hat, in dem nichts st&auml;ndig ist als die Unbest&auml;ndigkeit, nichts unver&auml;nderlich als der Wechsel; wer den ehernen Gang der Geschichte verfolgt hat, deren R&auml;der mitleidlos &uuml;ber die Tr&uuml;mmer gro&szlig;er Reiche dahinrollen, ganze Generationen erbarmungslos zermalmend; wer mit einem Wort die Augen daf&uuml;r offen hat, da&szlig; kein demagogischer Aufruf und keine aufr&uuml;hrerische Proklamation so revolutionierend wirken kann als die einfachen nackten Tatsachen der Menschheitsgeschichte; wer den ungeheuren revolutionierenden Charakter unserer Epoche zu erfassen vermag, wo Dampf und Wind, Elektrizit&auml;t und Druckerpresse, Artillerie und Goldfunde miteinander im Bunde in einem Jahr mehr Ver&auml;nderungen und Revolutionen zuwege bringen als fr&uuml;her ein ganzes Jahrhundert erzeugte, der wird sicher nicht davor zur&uuml;ckschrecken, sich diese historische Frage zu stellen, weil ihre wirkliche Losung einen europ&auml;ischen Krieg im Gefolge haben k&ouml;nnte.</P>
<P>Nein, Diplomatie und Regierung im altherk&ouml;mmlichen Sinne werden diese Schwierigkeit niemals l&ouml;sen. Die L&ouml;sung des t&uuml;rkischen Problems bleibt - wie die L&ouml;sung so vieler anderer Probleme - der europ&auml;ischen Revolution vorbehalten. Und es ist keine Vermessenheit, wenn man diese auf den ersten Blick abwegige Frage in den Bereich dieser gro&szlig;en Bewegung einbezieht. Seit 1789 sind die Meilensteine der Revolution immer weiter vorger&uuml;ckt. Ihre letzten hie&szlig;en Warschau, Debreczin, Bukarest; die Vorposten der n&auml;chsten Revolution m&uuml;ssen Petersburg und Konstantinopel sein. Das sind die zwei verwundbarsten Stellen, an denen der russische antirevolution&auml;re Kolo&szlig; angegriffen werden mu&szlig;.</P>
<P>Es w&auml;re ein m&uuml;&szlig;iges Spiel der Phantasie, wollte man einen genauen Plan der Aufteilung der europ&auml;ischen T&uuml;rkei entwerfen. Es lie&szlig;en sich mindestens zwanzig solcher Entw&uuml;rfe denken, von denen einer so plausibel w&auml;re wie der andere. Wir wollen uns aber nicht mit m&uuml;&szlig;igen phantastischen Projekten abgeben, sondern aus unbestrittenen Tatsachen allgemeine Schlu&szlig;folgerungen zu gewinnen suchen. Und von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet sehen wir, da&szlig; die Frage zwei Seiten hat.</P>
<P>Erstens ist es eine unleugbare Tatsache, da&szlig; die Halbinsel, die schlechthin die europ&auml;ische T&uuml;rkei genannt wird, das nat&uuml;rliche Erbe der s&uuml;dslawischen Rasse ist. Von den zw&ouml;lf Millionen Einwohnern geh&ouml;ren sieben Millio- <A NAME="S34"><B>&lt;34&gt;</A></B> nen zu dieser Rasse. Seit zw&ouml;lfhundert Jahren ist sie im Besitz des Bodens. Abgesehen von einer d&uuml;nnges&auml;ten Bev&ouml;lkerung, die, obgleich slawischen Ursprungs, dennoch die griechische Sprache angenommen hat, sind ihre Konkurrenten t&uuml;rkische oder arnautische Barbaren, die sich l&auml;ngst als hartn&auml;ckige Gegner jeglichen Fortschritts erwiesen haben. Hingegen sind die S&uuml;dslawen im Innern des Landes die ausschlie&szlig;lichen Tr&auml;ger der Zivilisation. Sie sind zwar noch keine Nation, haben aber in Serbien schon einen kraftvollen und verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig aufgekl&auml;rten nationalen Kern. Die Serben haben eine eigene Geschichte, eine eigene Literatur. Ihre heutige innere Selbst&auml;ndigkeit verdanken sie einem elfj&auml;hrigen tapferen Kampf gegen einen ihnen an Zahl weit &uuml;berlegenen Feind. Sie sind in den letzten zwanzig Jahren - was Kultur und allgemeine Zivilisation betrifft - schnell vorangekommen. Die Christen in Bulgarien, Thrazien, Mazedonien und Bosnien sehen in Serbien das Zentrum, um das sich alle in den bevorstehenden K&auml;mpfen f&uuml;r ihre nationale Unabh&auml;ngigkeit scharen werden. Kurz gesagt kann man behaupten, je mehr sich Serbien und die serbische Nationalit&auml;t gefestigt haben, desto mehr ist der direkte Einflu&szlig; Ru&szlig;lands auf die t&uuml;rkischen Slawen in den Hintergrund gedr&auml;ngt worden; denn Serbien hat, um die ihm eigene Stellung als christlicher Staat behaupten zu k&ouml;nnen, seine politischen Institutionen, seine Schulen, seine Wissenschaft, die Organisation seiner Industrie von Westeuropa entlehnen m&uuml;ssen. Daraus erkl&auml;rt sich auch die Anomalie, da&szlig; Serbien, trotz der russischen Schutzherrschaft, seit seiner Emanzipation konstitutionelle Monarchie ist.</P>
<P>M&ouml;gen auch Blutsverwandtschaft und gemeinsame Religion noch so viele Bande zwischen Russen und S&uuml;dslawen kn&uuml;pfen, ihre Interessen werden dennoch von dem Tage an entschieden auseinandergehen, an dem sich die letzteren befreien. Die Erfordernisse des Handels, die sich aus der geographischen Lage der beiden L&auml;nder ergeben, erkl&auml;ren dies. Ru&szlig;land, ein kompaktes Binnenland, erzeugt heute vorwiegend agrarische Produkte, sp&auml;ter vielleicht einmal auch Industrieprodukte. Die griechisch-slawonische Halbinsel ist zwar von verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig kleinem Umfang; aber ihre ausgedehnten K&uuml;sten werden von drei Meeren umsp&uuml;lt, von denen sie eins beherrscht; sie ist heute haupts&auml;chlich ein Handelsland mit Transitverkehr, wenngleich sie auch selbst ausgezeichnete Ressourcen zur Entwicklung einer eigenen Produktion besitzt. Ru&szlig;lands Wirtschaft ist auf das Monopol, die der S&uuml;dslawen auf eine Ausdehnung des Marktes gerichtet. Au&szlig;erdem sind sie Konkurrenten in Mittelasien; aber w&auml;hrend Ru&szlig;land dort das lebhafteste Interesse daran hat, ausschlie&szlig;lich seine eigenen Produkte abzusetzen, haben die S&uuml;dslawen heute schon das lebhafteste Interesse daran, auf den M&auml;rkten des Ostens die Pro- <A NAME="S35"><B>&lt;35&gt;</A></B> dukte Westeuropas einzuf&uuml;hren. Wie w&auml;re es also m&ouml;glich, da&szlig; diese beiden Nationen &uuml;bereinstimmten? Die t&uuml;rkischen S&uuml;dslawen und die Griechen haben tats&auml;chlich heute weit mehr gemeinsame Interessen mit Westeuropa als mit Ru&szlig;land. Und wenn erst die Eisenbahnlinien, die von Ostende, Havre und Hamburg nach Budapest gehen, bis Belgrad und Konstantinopel weitergef&uuml;hrt werden (was jetzt geplant ist), so wird der Einflu&szlig; der westlichen Zivilisation und des westlichen Handels im S&uuml;dosten Europas ein dauernder werden.</P>
<P>Andererseits leiden die Slawen der T&uuml;rkei besonders stark unter der Knechtung durch eine mohammedanische Klasse von milit&auml;rischen Okkupanten, die sie zu erhalten haben. Diese milit&auml;rische Besatzung vereinigt in sich alle &ouml;ffentlichen Funktionen, sowohl milit&auml;rische als zivile und juristische. Was ist aber das russische Regierungssystem - &uuml;berall, wo es nicht mit feudalen Institutionen verquickt ist - anderes als eine milit&auml;rische Okkupation, wo Zivilbeh&ouml;rden und juristische Hierarchie nach milit&auml;rischen Gesichtspunkten organisiert sind und wo das Volk das Ganze zu bezahlen hat? Wer aber glaubt, da&szlig; ein derartiges System die S&uuml;dslawen verlocken kann, der mache sich mit der Geschichte Serbiens seit 1804 bekannt: Karageorg, der Begr&uuml;nder der serbischen Unabh&auml;ngigkeit, wurde vom Volke verlassen, und Michail Obrenovic, der die Unabh&auml;ngigkeit wiederherstellte, wurde mit Schimpf und Schande aus dem Lande gejagt, weil sie den Versuch gemacht hatten, das russische autokratische System mit seinen Begleiterscheinungen von Korruption, halbmilit&auml;rischer B&uuml;rokratie und pascham&auml;&szlig;iger Ausbeutung einzuf&uuml;hren.</P>
<P>Hier liegt also die einfache und endg&uuml;ltige L&ouml;sung der Frage. Die Geschichte wie auch die Tatsachen unserer Zeit weisen in gleichem Ma&szlig;e auf die Notwendigkeit hin, in Europa auf den Tr&uuml;mmern des Moslemreiches einen freien, unabh&auml;ngigen christlichen Staat zu errichten. Schon der n&auml;chste revolution&auml;re Vorsto&szlig; vermag den schon l&auml;ngst herangereiften Konflikt zwischen dem russischen Absolutismus und der europ&auml;ischen Demokratie herbeizuf&uuml;hren. An diesem Konflikt mu&szlig; England Anteil nehmen, was auch immer f&uuml;r eine Regierung am Ruder sein mag. England kann niemals zugeben, da&szlig; Ru&szlig;land von Konstantinopel Besitz ergreift. Es mu&szlig; mit den Feinden des Zaren gemeinsame Sache machen und die Bildung eines unabh&auml;ngigen Slawenreichs an Stelle der altersschwachen, verfaulten Hohen Pforte beg&uuml;nstigen.</P>
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