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<TITLE>Teil 2; I. Kapitel: Die "Aufhebung der Familie"</TITLE>
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<title>Stimmen der proletarischen Revolution - MLwerke</title>
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Wilhelm Reich
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Die sexuelle Revolution
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Quelle: Fischer Taschenbuch, Frankfurt / Main 1972
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Teil 2; I. Kapitel: Die "Aufhebung der Familie"
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Die sexuelle Revolution in der Sowjetunion setzte mit der Auflösung
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der Familie ein. Sie zerfiel radikal in allen Kreisen der Bevölkerung,
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hier früher, dort später. Dieser Prozeß war schmerzhaft und
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chaotisch; er verursachte Schrecken und Verwirrung. Ein vollgültiger
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objektiver Beweis für die Richtigkeit der sexualökonomischen Theorie
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über Wesen und Funktion der Zwangsfamilie war gegeben: Die patriarchale
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Familie ist die strukturelle und ideologische Reproduktionsstätte aller
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gesellschaftlichen Ordnungen, die auf dem Autoritätsprinzip beruhen.
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Mit der Abschaffung dieses Prinzips mußte automatisch auch die
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Familiensituation erschüttert werden.
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Der Zerfall der Zwangsfamilie ist der Ausdruck dafür, daß die
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sexuellen Bedürfnisse der Menschen die Fesseln sprengen, die ihnen mit
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der wirtschaftlichen und autoritären familiären Bindung auferlegt
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wurden. <I>Es vollzieht sich die Trennung von Wirtschaft und
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Sexualität.</I> Stand vorher im Patriarchat das Sexualbedürfnis
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im Dienste und daher unter dem Zwange wirtschaftlicher Interessen einer
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Minderheit; stand im urkommunistischen Matriarchat die Wirtschaft im Dienste
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der Bedürfnisbefriedigung der Gesamtgesellschaft (auch der
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<I>sexuellen</I>), so zielt die echte soziale Revolution eindeutig darauf,
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die Wirtschaft wieder in den Dienst der Bedürfnisbefriedigung aller
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produktiv Arbeitenden zu stellen. Diese Umkehrung des Verhältnisses
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von Bedürfnis und Wirtschaft ist einer der Kernpunkte der sozialen
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Revolution. Nur aus diesem allgemeinen Prozeß ist der Zerfall der
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Zwangsfamilie zu begreifen. Er würde sich rasch und gründlich,
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auch reibungslos vollziehen, käme nichts anderes in Frage als die Last,
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die die familiäre ökonomische Bindung für die Familienmitglieder
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bedeutet, und die Stärke der durch sie gefesselten sexuellen
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Bedürfnisse. Das Problem ist also nicht so sehr das, weshalb die Familie
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zerfällt; die Gründe dafür liegen klar zutage. Viel schwieriger
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ist die Frage zu beantworten, weshalb dieser Zerfall psychisch so schmerzhaft
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ist wie keine andere Umwälzung. Die Enteignung der Produktionsmittel
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bereitet nur ihrem früheren Besitzer Schmerzen, jedoch nicht der Masse,
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dem Träger der Revolution. Doch die Aufhebung der Familie betrifft gerade
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diejenigen, die die wirtschaftliche Umwälzung vollziehen sollen: die
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Arbeiter, Angestellten, Bauern.
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Gerade hier enthüllt sich die konservative Funktion der Familienbindung
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am allerdeutlichsten. Durch die ungeheuer intensiven Familiengefühle
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wirkt sich eine Bremsung gerade auf den Träger der Revolution selbst
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aus. Seine Bindung an Frau und Kinder, seine Liebe zum Heim, wenn er es hat,
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auch wenn es noch so notdürftig ist, sein Hang zur gebundenen Marschroute
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usw. behindert ihn mehr oder minder, wenn er den Hauptakt der Revolution,
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den Umbau des Menschen, durchführen soll. So wie bei der Heranbildung
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der faschistischen Diktatur etwa in Deutschland die familiäre Bindung
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als Bremsung der revolutionären Kraft sich ausgewirkt hatte (was Hitler
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erst ermöglichte, die imperialistische, nationalistische Ideologie auf
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dem festen Fundament dieser Bindungen aufzubauen), so wirkt sich in der
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Revolution die familiäre Bindung bremsend auf die beabsichtigte
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<I>Änderung</I> des Lebens aus. Es entsteht ein schwerer Widerspruch
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zwischen dem Zerfall der Grundlagen der Familie einerseits und der alten,
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nicht so rasch wandelbaren familiären Struktur der Menschen, die die
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Familie gefühlsmäßig, und zwar meist unbewußt,
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aufrechterhalten wollen, andererseits.
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Die Ersetzung der patriarchalischen Familienform durch das Arbeitskollektiv
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stellt fraglos den Kern des revolutionären Kulturproblems dar. Durch
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das oft so laute rebellische Geschrei: "Los von der Familie" darf man sich
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hier keineswegs täuschen lassen. Oft ist gerade der, der am lautesten
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die Vernichtung der Familie fordert, unbewußt am allerstärksten
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an seine familiäre Kindheit gebunden. Solche Rufer sind wenig geeignet,
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das schwerste aller Probleme, die Ablösung der familiären Bindung
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durch gesellschaftliche Bindungen theoretisch und praktisch zu lösen.
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Gelingt es nun nicht, gleichzeitig mit der Herstellung der selbstregulierenden
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arbeitsdemokratischen Gesellschaft ihre strukturelle Verankerung in der
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psychischen Struktur des Menschen zu sichern, erhält sich auf die Dauer
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das familiäre Gefühl, dann muß notwendigerweise eine immer
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weiter klaffende Schere entstehen zwischen der wirtschaftlichen und der
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massenstrukturellen, d.h. kulturellen Entwicklung der arbeitsdemokratischen
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Gesellschaft. Die Umwälzung im kulturellen Überbau bleibt aus,
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weil der Träger und Pfleger dieser Umwälzung, die <I>psychische
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Struktur des Menschen</I> nicht <I>qualitativ</I> mit verändert wurde.
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Wir finden in Trotzkis <I>Fragen des Alltagslebens</I> (S. 53-60) reichlich
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Material zum Prozeß des Familienzerfalls in den Jahren 1919 - 1920.
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Folgende Tatsachen wurden festgestellt:
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Die Familie, auch die proletarische, hat sich "gelockert". Diese Tatsache
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wurde bei einer Besprechung der Moskauer Agitatoren als feststehend betrachtet
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und von niemandem bestritten. Sie wurde während der Besprechung in
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verschiedener Weise bewertet: "von den einen mehr beunruhigt, von den anderen
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zurückhaltend, von den dritten unschlüssig." Es war für alle
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klar, daß man "irgendeinen großen, sehr chaotischen, bald tragische
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Formen annehmenden Prozeß" vor sich hatte, der noch "gar nicht di in
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ihm verborgenen Möglichkeiten einer neuen, höheren Familienordnung
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offenbaren konnte". Hinweise über den Verfall der Familie drangen auch
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in die Presse, "wenn auch äußerst selten und in allgemeiner Form".
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Viele glaubten, daß man in dem Zerfall der Arbeiterfamilien das
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Zutagetreten des "bürgerlichen Einflusses auf das Proletariat" erblicken
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müßte. Viele andere hielten diese Erklärung für falsch.
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Die Sache, meinten sie, wäre tiefer und komplizierter. Natürlich
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bestünde ein Einfluß der bürgerlichen Vergangenheit und der
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bürgerlichen Gegenwart. Aber der Hauptprozeß wäre in der
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krankhaften und krisenhaften "Evolution der proletarischen Familie" selbst
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zu suchen; man wäre Zeuge der ersten sehr chaotischen Etappen dieses
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Prozesses.
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Auf dem Gebiete des Familienlebens wäre die erste Zerrüttungsperiode
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noch bei weitem nicht beendet; die Zerrüttung und der Zerfall wären
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noch im vollen Gange. Das Alltagsleben wäre viel konservativer als die
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Wirtschaft, unter anderem auch deshalb, weil es viel weniger bewußt
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erkannt wurde als diese.
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Ferner wurde festgestellt, daß sich der Zerfall der alten Familie nicht
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auf die oberste Schicht der Klasse beschränkte, die dem Einfluß
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der neuen Verhältnisse am meisten ausgesetzt war, sondern über
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die Avantgarde hinaus noch weiter drang. Letzten Endes machte, so lautete
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die Ansicht, die kommunistische Avantgarde nur früher und in schrofferer
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Form durch, was für die Klasse als Ganzes mehr oder weniger unvermeidlich
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war.
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Der Mann oder die Frau geriet mehr und mehr in öffentliche Funktionen;
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dadurch zerstörte sich der Anspruch der Familie auf das Familienmitglied.
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Heranwachsende Kinder kamen in die Kollektive. <I>So entstand eine Konkurrenz
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zwischen den familiären und den gesellschaftlichen Bindungen.</I> Doch
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die gesellschaftlichen Bindungen waren neu, jung, kaum geboren, die
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familiären saßen hingegen in jeder Ritze und Fuge des Alltagslebens,
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in jeder Äußerung der psychischen Struktur. Die geistige Öde
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der sexuellen Beziehungen in den meisten Ehen konnte mit den neuen und
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lebensfrohen sexuellen Beziehungen im Kollektiv nicht konkurrieren. Und dies
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alles auf der Grundlage einer ständig fortschreitenden Entwurzelung
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des Hauptverbandes der Familie, der materiellen Gewalt des Vaters über
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Frau und Kinder. Die wirtschaftliche Bindung riß, und mit ihr zerbrach
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die sexuelle Hemmung.
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Doch das bedeutete noch nicht "sexuelle Freiheit". Die
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<I>äußere</I> Freiheit zum sexuellen Glück ist noch nicht
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das Glück selbst. Dazu gehört vor allem die psychische Fähigkeit,
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es zu gestalten und zu genießen. Doch in der Familie waren meist an
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die Stelle der genitalen Bedürfnisse säuglinghafte Abhängigkeiten
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oder krankhafte Sexualgewohnheiten getreten. Bedürfnisse, die mit aller
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Kraft sexueller Energie ausgestattet sind, aber jede biologisch normale
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orgastische Erlebnisfähigkeit zerstören. Die Familienmitglieder
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haßten einander bewußt oder unbewußt und übertönten
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den Haß mit einer krampfhaften Liebe und mit einer klebrigen
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Abhängigkeit, die ihre Herkunft aus verhülltem Haß schlecht
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verbarg.
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Im Vordergrunde der Schwierigkeiten stand die Unfähigkeit der
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genital-sexuell verkrüppelten und für wirtschaftliche
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Selbständigkeit unvorbereiteten Frauen zum Verzicht auf den familiären
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Sklavenschutz und auf die Ersatzbefriedigung in der Herrschaft über
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die Kinder. Die Frau, deren ganzes Leben sexuell öde und wirtschaftlich
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abhängig war, hatte in der Aufzucht ihrer Kinder den Sinn ihres Lebens
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gesehen. Jede, auch die für die Kinder günstige Einschränkung
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dieser Beziehung, empfand sie als eine schwere Beeinträchtigung, und
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sie verstand es, sich kräftig dagegen zu wehren. Dieses Wehren ist durchaus
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begreiflich; man muß ihm Rechnung tragen. Aus Gladkows Roman <I>Neue
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Erde</I> geht eindeutig hervor, daß der Kampf um den Aufbau des Kollektivs
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keiner Schwierigkeit begegnet, die sich mit dem Kampf der Frauen um Heim,
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Familie und Kinder auch nur annähernd hätte vergleichen lassen
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können.
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Die Kollektivierung des Lebens ging zunächst von oben mit Dekreten und
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mit Unterstützung der revolutionären Jugend vor sich, die die Fesseln
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der elterlichen Autorität zerbrach. Doch die Hemmungen der Familienbindung
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wirkten in jedem Schritt, den das durchschnittliche Mitglied der Masse zur
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Kollektivierung hin machen wollte, in erster Linie in Form der eigenen
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unbewußten familiären Abhängigkeit und Sehnsucht.
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<P>
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Was sich an Schwierigkeiten und Konflikten im kleinen Alltagsleben ergab,
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entsprach nicht etwa einem "zufälligen" "chaotischen" Zustand, der durch
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die "Unvernunft" oder "Unsittlichkeit" der Menschen zustande gekommen wäre;
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er stand vielmehr durchaus im Einklang mit einem Gesetz, das die Beziehungen
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zwischen den Sexualformen und den gesellschaftlichen Organisationsformen
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beherrscht.
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<P>
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In der Urgesellschaft, die kollektiv und "urkommunistisch" strukturiert ist,
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ist die Einheit der Klan, die Summe aller von einer Urmutter sich ableitenden
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Blutsverwandten. Innerhalb dieses Klans, der gleichzeitig auch die
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wirtschaftliche Einheit darstellt, existiert nur die lockere Paarungsehe.
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In dem Maße, in dem infolge wirtschaftlicher Umwälzungen die Klans
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der keimhaft patriarchalischen Familie des Häuptlings untertan werden,
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beginnt auch die Zerstörung des Klans durch die Familie. Familie und
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Klan treten in Gegensatz zueinander. Die Familie wird nunmehr fortschreitend
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anstelle des Klans zur wirtschaftlichen Einheit und somit zum gesellschaftlichen
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Kristallisationspunkt des Patriarchats. Der Häuptling der mutterrechtlichen
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Klanorganisation, der ursprünglich in keinem Gegensatz zur Klangesellschaft
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stand, wird allmählich der Patriarch der Familie, bekommt dadurch ein
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ökonomisches Übergewicht und entwickelt sich fortschreitend zum
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Patriarchen des gesamten Stammes. Es entsteht, wie sich nachweisen ließ,
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erstmalig ein Klassengegensatz zwischen der Familie des Häuptlings und
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den unteren Klans des Stammes.
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<P>
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Die ersten Klassen waren also die Familie des Häuptlings auf der einen
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Seite, die Gens auf der anderen Seite.
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<P>
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In der Entwicklung vom Mutterrecht zum Vaterrecht, die sich solcherweise
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anbahnte, erhält die Familie neben ihrer wirtschaftlichen Funktion noch
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die andere und bedeutsamere der Umstrukturierung des Menschen vom freien
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Klangenossen zum unterdrückten Familienmitglied. In der heutigen indischen
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Großfamilie ist diese Funktion am klarsten ausgeprägt. Indem sich
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die Familie gegenüber dem Klan verselbständigt, wird sie nicht
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nur Ursprungsorganisation des Klassenverhältnisses, sondern auch der
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sozialen Unterdrückung innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen.
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Der nun entstehende "Familienmensch" beginnt die werdende patriarchalische
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Klassenorganisation der Gesellschaft durch Veränderung seiner Struktur
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zu reproduzieren. Der Kernmechanismus dieser Reproduktion ist der Umschwung
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von der Sexualbejahung zur Sexualunterdrückung, ihre Basis ist das
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materielle Übergewicht des Häuptlings.
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<P>
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Fassen wir das Wesen dieses psychischen Umschwungs kurz zusammen: An die
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Stelle der freien, freiwilligen, nur von gemeinsamen Lebensinteressen getragenen
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Beziehung der Klan- und Stammesgenossen tritt ein Gegensatz wirtschaftlicher
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und mit ihnen sexueller Interessen. An die Stelle der freiwilligen
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Arbeitsleistung tritt die Forderung nach ihr und die Rebellion gegen sie;
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an die Stelle der natürlichen sexuellen Sozialität die moralische
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Forderung; an die Stelle kameradschaftlicher Kriegerschaft die autoritäre
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Gefolgschaft; an die Stelle der freiwilligen, glückhaften Liebesvereinigung
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die "seelische Pflicht"; an die Stelle der Klansolidarität die
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Familienbindung gleichzeitig mit der Rebellion gegen sie; an die Stelle des
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sexualökonomisch geordneten Lebens die genitale Einschränkung und
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mit ihr erstmalig seelische Erkrankungen und sexuelle Perversionen; der
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natürliche starke, selbstsichere biologische Organismus wird hilflos,
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anlehnungsbedürftig, gottesfürchtig; das orgastische Naturerleben
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macht mystischer Extatik, dem späteren "religiösen Erleben", und
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unauslöschlicher vegetativer Sehnsucht Platz; das geschwächte Ich
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jedes einzelnen sucht Stärkung in der Anlehnung und Identifizierung
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mit dem Stamm, der allmählich zur "Nation" wird, mit dem
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Stammeshäuptling, der allmählich zum Stammespatriarchen und
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schließlich zum König wird. Die Geburt der Untertanenstruktur
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ist vollzogen; die strukturelle Verankerung der menschlichen Unterjochung
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ist gesichert.
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<P>
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Die soziale Revolution in der Sowjetunion enthüllt uns in ihren ersten
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Phasen die neuerliche Umkehr dieses Prozesses: Die Wiederherstellung der
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urkommunistischen Verhältnisse auf einer höheren, zivilisierten
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Ebene; <I>den Umschwung von der Sexualverneinung zur Sexualbejahung.</I>
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<P>
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Nach den Feststellungen von Marx, die im Kommunistischen Manifest entwickelt
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sind, ist eine der Hauptaufgaben der sozialen Revolution die Aufhebung der
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Familie (Daß die Aufhebung der getrennten Wirtschaft von der Aufhebung
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der Familie nicht zu trennen ist, versteht sich von selbst.). Was hier
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theoretisch aus dem Prozeß der Gesellschaft erschlossen wurde, fand
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seine Bestätigung später durch die Entwicklung der gesellschaftlichen
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Organisation in der Sowjetunion: An die Stelle der Familie begann eine
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Organisation zu treten, die mit dem alten Klan der Urgesellschaft bestimmte
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Ähnlichkeiten hatte: das <I>sozialistische Kollektiv</I> im Betrieb,
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in der Schule, im Kolchos usw. Der Unterschied zwischen dem Klan der Urzeit
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und dem Kollektiv des Kommunismus ist der, daß jener auf der
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|
Blutsverwandtschaft beruht und als solcher auch zu einer wirtschaftlichen
|
||
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Einheit wird; das sozialistische Kollektiv des Kommunismus dagegen besteht
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|
aus nicht blutsverwandten Menschen und gründet sich auf gemeinsame
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||
|
wirtschaftliche Funktionen; es entsteht als wirtschaftliche Einheit und
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||
|
führt notwendigerweise zur Bildung persönlicher Beziehungen, die
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||
|
es auch als ein sexuelles Kollektiv kennzeichnen, besser zu kennzeichnen
|
||
|
beginnen.
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<P>
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<I>So wie in der Urgesellschaft die Familie den Klan zerstörte, so
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|
zerstört im Kommunismus das wirtschaftliche Kollektiv die Familie</I>,
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||
|
die schon in der Krise des Kapitalismus zu zerbröckeln begann. Der
|
||
|
Prozeß kehrt sich um. Wenn die Familie ideologisch oder strukturell
|
||
|
festgehalten wird, dann wird das Kollektiv in seiner Entwicklung gebremst;
|
||
|
gelingt es ihm nicht, die Bremsen zu überwinden, dann zerstört
|
||
|
es sich selbst an den Schranken der familiären Struktur des Menschen
|
||
|
wie z. B. in den Jugendkommunen (vgl. Kapitel V). Der Prozeß im Beginn
|
||
|
der kommunistischen Entwicklung läßt sich kennzeichnen als ein
|
||
|
<I>Konflikt zwischen wirtschaftlichem Kollektiv und der ihr anhängenden
|
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|
sexualbejahenden Tendenz zur sexuellen Selbständigkeit auf der einen
|
||
|
Seite und der individualistisch-familiären, sexualängstlichen Struktur
|
||
|
der Individuen auf der anderen Seite.</I>
|
||
|
<P>
|
||
|
<HR>
|
||
|
<H4>
|
||
|
... zum 2. Kapitel: Die sexuelle Revolution
|
||
|
</H4>
|
||
|
<div id="Abspann">
|
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|
<script type="text/javascript" language="JavaScript"> DateiInfo(); </script>
|
||
|
</div> <!-- Abspann -->
|
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|
|
||
|
</BODY></HTML>
|