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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Larissa Reissner - Im Lager der Armut</TITLE>
<META NAME="BOOKTITLE" CONTENT ="Vorw&auml;rts und nicht vergessen, S.59 ff">
<META NAME="Herausgeber" CONTENT ="Heiner Boehncke">
<META NAME="Originalausgabe" CONTENT ="Gewehre im Oktober, Verlag Druck und Wissen, Berlin 1970">
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Reissner</SMALL></A></TD>
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<H2> Larissa Reissner</H2>
<H1> <!-- #BeginEditable "Titel" -->Im Lager der Armut<!-- #EndEditable --></H1>
<P><SMALL><!-- #BeginEditable "Quelle" -->(Quelle: Gewehre
im Oktober, Verlag Druck und Wissen, Berlin 1970)<!-- #EndEditable -->
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<H3> Kaserne und Schustersfrau </H3>
<P>Den Arbeitslosen droht in Deutschland nicht der Hungertod. Die Unterst&uuml;tzung,
die er vom Staat erh&auml;lt, ist zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Der
Arbeitslose vegetiert im Bereich der denkbar gr&ouml;&szlig;ten Armut. Nur Brot
hat er, sonst nichts. Der Verheiratete kann die Miete f&uuml;r seine Wohnung nicht
bezahlen, so klein und schlecht diese auch sein mag. Ist er einmal entlassen,
dann fliegt er automatisch aus seiner Wohnung, aus dem Stadtviertel hinaus, wo
er viele Jahre gewohnt hat. Dann quartiert ihn die Stadt irgendwo im Vorort ein,
in eine leere, verlassene Kaserne, in eine Regimentsstallung, die notd&uuml;rftig
zu einer Baracke umgewandelt ist, in leerstehende Artillerieparks. Das sind die
Konzentrationslager der Armut, &ouml;de Steinschuppen, die das Kaiserreich f&uuml;r
das Milit&auml;r gebaut hat, und in die die Republik jetzt die unzuverl&auml;ssigen
Elemente einquartiert. </P>
<P>Auf diesen vom preu&szlig;ischen Drill festgestampften &Uuml;bungspl&auml;tzen
w&auml;chst kein Gras mehr. Abgerissene Kinder spielen in Abflu&szlig;gr&auml;ben
vor den Schilderh&auml;uschen. </P>
<P>Ungeheure Geb&auml;udekomplexe, die ganze Armeen f&uuml;r das Schlachtfeld
vorbereitet hatten, stehen verlassen, finster, in ihrer Ehre gekr&auml;nkt da.
Mancher Offizier, der jetzt in die benachbarte Reichswehrkaserne &uuml;bergesiedelt
ist, mag die Gelbsucht bekommen haben - beim Anblick des mit unsauberem Ger&uuml;mpel
beladenen W&auml;gelchens eines Arbeiters, das holprig, knarrend die h&auml;&szlig;liche,
freudlose W&uuml;ste &uuml;berquert. </P>
<P>Frauen binden ihre W&auml;scheleinen an die alten Adler vor den Toren, trocknen
ihre Lumpen vor den geheiligten Fenstern der ehemaligen Offizierswohnungen. Ein
rothaariger, lahmer Schuster, der &#171;wegen der Politik&#187; schon 18 Monate
arbeitslos ist, bereitet sich auf den schweren Winter vor und &#171;renoviert&#187;
zu diesem Zweck ein altes Kanonen&ouml;fchen, das er aus einer halb zerst&ouml;rten
Kaserne geholt hat. </P>
<P>Vergeblich sind alle Versuche, diese toten Geb&auml;ude heimisch zu machen,
zu vermenschlichen. Die aus ihrer gewohnten Enge herausgerissenen Gegenst&auml;nde
bilden eine trostlose Frontlinie an den nackten W&auml;nden. Es ist unm&ouml;glich,
mit diesen &Uuml;berresten eines Lebensschiffbruchs Scheunen zu f&uuml;llen, die
f&uuml;r vierzig Soldaten bestimmt sind. Die Leere ist so &uuml;berw&auml;ltigend,
da&szlig; sie die Dinge verschluckt. Ein kr&uuml;mmtbeiniges, barf&uuml;&szlig;iges
Kind schlurft &uuml;ber das Parkett, das zum Teil schon im vorigen Jahre, als
in den ungeheuren Fenstern die H&auml;lfte der Scheiben fehlte, in den Ofen gewandert
ist. Das zweite Kind ist gestorben. </P>
<P>Zwei Betten nebeneinander, in denen der Vater, Mutter und zwei Kinder &#151;
ein Knabe mit seiner vierzehnj&auml;hrigen Schwester schlafen. Ein freudloser
K&ouml;ter sitzt mitten im Zimmer und g&auml;hnt. Aus Angst und im Bestreben,
das feindselige Haus, dessen W&auml;nde jedes Wort, jeden Schritt laut und ausdruckslos
wiederholen, zu bestehen, w&auml;scht die Frau des Schusters jeden Tag den endlos
langen Korridor auf. Sie tut es, um mit dieser Wohnung in gute Beziehung zu treten;
sie gibt der Kaserne einen Vorschu&szlig; menschlicher W&auml;rme, die diese Mauern
gleichg&uuml;ltig hinnehmen, wie der Unteroffizier - das naive Geschenk eines
Rekruten. </P>
<P>Aber die Schuhmachersfrau braucht nur ihren Kopf zu heben, um die letzte Hoffnung
zu verlieren. Die W&auml;nde dieser Kaserne mit dem toten Gesicht wiederholen
mit gro&szlig;en Lettern die einzige Weisheit, die ihnen noch geblieben ist: <P>
&#171;Lerne leiden ohne zu klagen!&#187; oder &#171;Ordnung regiert die Welt!&#187;
<P>Und wohin sich die arme Frau mit ihrem Eimer und Scheuerlappen auch wenden
mag, bei jedem Schritt und Tritt empf&auml;ngt sie die Kasernentugend mit einem
Faustschlag.</P>
<P>Sieben Mark w&ouml;chentlich f&uuml;r vier Menschen! Und diese Toteninsel dazu!
Auch wei&szlig; die Frau, da&szlig; das M&auml;dchen abends lange nicht einschl&auml;ft,
auf jede Bewegung, jeden Seufzer der Eltern krampfhaft gespannt hinh&ouml;rt.
Das Allerschlimmste ist aber die ewige Stimme der Vergangenheit, deren bleierne
Zunge von Tapferkeit und Gehorsam, von gelben Ulanen und schneidigen Husaren lallt,
die l&auml;ngst irgendwo an der Marne oder in den russischen Steppen verwest sind.
<P>Auch der andere rachitische Knabe wird diesen Winter vielleicht nicht &uuml;berleben.
Und der Schuster selbst wird es auch nicht mehr lange machen, denn es ist nicht
leicht, bei Regen und eisiger K&auml;lte auf Kr&uuml;cken den langen Weg zur Arbeitsb&ouml;rse
zur&uuml;ckzulegen. Diese Gespenster aber werden weiter leben und eine andere
proletarische Familie schrecken, die ihren Untergang in diesem unverschlie&szlig;baren
Gef&auml;ngnis suchen wird, dessen T&uuml;ren von den Angeln gerissen, dessen
Korridore bei windigem Wetter voller Schnee und Sand sind, - auch die Nachfolger
werden von diesen &#171;Fridericussen&#187; triumphierend mit kn&ouml;chernen
Trommelwirbeln empfangen werden. </P>
<P>&#171;Furchtlos und treu f&uuml;r Gott, Kaiser und Vaterland-.&#187; </P>
<P>Nur ein Fenster leuchtet aus der Dunkelheit der schwarzen Geb&auml;udereihen,
- ein goldener Zahn im gro&szlig;en toten Rachen. Und wenn es finster und besonders
kalt wird, steigen die auf der Decke gemalten Adler herab, schleichen sich in
den Hof und durchw&uuml;hlen die M&uuml;llgruben nach &Uuml;berresten, die die
H&uuml;hner des Schusters &uuml;bersehen haben. </P>
<P>Sie tauchen ihre rassigen, mit dem sp&auml;rlichen Gefieder des Kaiserreichs geschm&uuml;ckten Glatzen tief in den schmutzigen Abfall hinein. </P>
<H3> Frau Fritzke </H3>
<P>Frau Fritzke hat blo&szlig; Str&uuml;mpfe an, - um in diesen langen Korridoren
keinen L&auml;rm zu machen. Sie ist die Ninon de Lenclos dieser Armutsw&uuml;ste:
Die Liebeserfahrung hat auf ihrem Gesicht gro&szlig;e graue S&auml;cke abgelagert.
<P>
Die Luft dieses Hauses sch&auml;digt ihr Leben: das Haarnetz l&ouml;st sich fortw&auml;hrend
auf, der Puder &#171;Khasana&#187; h&auml;lt nicht. Im n&uuml;chternen Licht schimmern
die R&ouml;hren der langen engen Pantalons durch den zerrissenen Rock, <P>
W&auml;hrend des Krieges verlor Madame Fritzke ihren Mann. Jeder verkauft, was
er hat: Hunderte von H&auml;nden knutschten und rissen seit der Witwenschaft ihre
Br&uuml;ste, wie man an dem Sp&uuml;lhahn in der Toilette rei&szlig;t. Das trug
nicht zu ihrer Sch&ouml;nheit bei. Es schien, da&szlig;, wenn man den Kragen an
der Bluse &ouml;ffnete, diese Br&uuml;ste wie zwei wei&szlig;e Pf&uuml;tzen zerflie&szlig;en
w&uuml;rden. Auf diese Weise rettete Frau Fritzke ihre Kinder in den Kriegsjahren
und zur Zeit der Inflation vor dem Hungertode. Nachdem der Staat ihnen den Vater
genommen und den Waisenpfennig f&uuml;r die Unterst&uuml;tzung von Krupp und Stinnes
verbraucht hatte, beschlo&szlig; er jetzt, der sittenlosen Mutter die Kinder zu
nehmen. In einigen Tagen wird der Schutzmann kommen und den dicken Jungen mit
der niedrigen Stirn und das zw&ouml;lfj&auml;hrige idiotische M&auml;dchen in
das katholische Waisenhaus bringen.
<P>Um die Familie zu retten, beschlo&szlig; August, der letzte Freund der Frau
Fritzke, diese &Uuml;berreste der Liebe zu heiraten. Sie machten sich feierlich
zum Standesamt auf. Sie - in ihren zu engen Lackschuhen wie auf Skiern durch den
Staub stampfend, er - mit einem Papierkragen, nach Benzin duftend, bedeutungsvoll
wie das Schicksal. Die heroische Ma&szlig;nahme, die vom ganzen Armutslager eingehend
besprochen wurde, erwies sich jedoch als fruchtlos. </P>
<P>Frau Fritzke holte sich Referenzen von ihren fr&uuml;heren Brotherren, aus denen
hervorging, da&szlig; sie nicht nur Prostituierte, sondern auch eine Tagel&ouml;hnerin
war, und da&szlig;, wenn die Sittenpolizei den ganzen Schmutz auf einen Haufen
gelegt h&auml;tte, den diese Frau aus fremden Wohnungen herausgefegt hat, sich
eine stattliche Pyramide zu Ehren ihrer ehemaligen Profession gebildet h&auml;tte.
<P>Aber der gestrenge Polizist bleibt unerbittlich. Frau Fritzke weint. Um ihre
Augen kreisen dunkle Ringe.
<H3> Das eiserne Kreuz </H3>
<P>Wenn du in eine Kaserne geraten bist, dann setze dich hin und verhalte dich
ruhig. Frau Fritzke kann Crepe-Georgette-Kleider tragen und ihre H&uuml;hneraugen
mit besonderen Gummiringen bedecken, damit sie die Schuhe nicht auseinander treiben
- denn sie hat ihren Beruf.
<P>Die Schustersfrau hat ein Recht darauf, mit ihrer Brennschere am gemeinsamen
Herd zu hantieren, da&szlig; ihr staubiges Haar mitsamt den L&auml;usen knistert
und dampft, denn sie hat den Schuster - das wei&szlig; alle Welt - geheiratet,
als er schon Kr&uuml;ppel war, aus reiner Herzensneigung also. Keiner darf sich
auf ihre Kosten breit machen. Man hat es nicht n&ouml;tig, den Menschen falsche
Vorstellungen &uuml;ber sein Einkommen zu machen. Wie auf dem Wege zertretene
Schnecken, deren F&uuml;hlh&ouml;rner mit den zuversichtlichen Augen sich noch
schwach bewegen, lebt jeder in unverh&uuml;llter Nacktheit. Und wenn jemand, wie
z. B. Herr Bo&szlig;, sich seiner Leihhausquittungen sch&auml;mt und niemand in
sein Zimmer hineinl&auml;&szlig;t, damit sein Federbett und die roten Kissen ohne
&Uuml;berz&uuml;ge nicht gesehen werden (und alle wissen doch ganz genau, da&szlig;
sie so durchl&ouml;chert sind, da&szlig; die Federn umherfliegen), dann ist es
einfach emp&ouml;rend.
<P>In diesem Hause ist es wie im Paradies. Kleinb&uuml;rgerliche Scham bleibt
drau&szlig;en vor den Toren, die vom Engel der Armut mit flammendem Schwert bewacht
werden. Wenn jemand anf&auml;ngt sich zu genieren, dann beunruhigt er damit andere
Menschen, die dadurch gezwungen werden, ihre Kr&auml;fte f&uuml;r die Feigenbl&auml;tter
der L&uuml;ge zu vergeuden, die ja doch keinen hinters Licht f&uuml;hren. Das
Haus verachtet Herrn Bo&szlig; mit seinem Papierkragen, unter dem das Hemd fehlt,
mit seiner Medaille an der Weste und seiner Art zu sprechen, als wenn er schon
zu Mittag gegessen h&auml;tte.
<P>Wenn jemand gewu&szlig;t h&auml;tte, wieviel brennende Erniedrigung und Bitterkeit
sich gerade in seiner ehemaligen Unteroffizierswohnung angesammelt haben! Wenn
jemand auf N&auml;geln schl&auml;ft und sich Asche aufs Haupt streut, so ist es
gewi&szlig; Bo&szlig;, der vierunddrei&szlig;ig Jahre in der staatlichen Pulverfabrik
gearbeitet hat.
<P>Ein Schwur trennte ihn sein ganzes Leben lang von allen anderen Menschen. Leute
wie er, die den Soldatenschwur des Schweigens einmal gegeben haben, d&uuml;rfen
weder in die Gewerkschaft, noch in die Partei, selbst in der Arbeiterkneipe durften
sie sich nicht zeigen. Das Schweigen der Offiziere aus dem Generalstab war mit
schwerem Geld erkauft, mit hohem Rang, mit gl&auml;nzenden Helmen und langen Ordensreihen,
die Arbeiter der Pulver- und Gesch&uuml;tzfabrik schwiegen umsonst, aus Dank f&uuml;r
das ihnen bewiesene Vertrauen. Denn das machte sie gewisserma&szlig;en aus einfachen
Lohnarbeitern zu Bundesgenossen der Regierung. Sogar der Kaiser selbst war sozusagen
in der Schuld dieser Leute. Sie verehrten die Dynastie, wie arme Schlucker, denen
ein Milliard&auml;r die Ehre erwiesen, ein paar Groschen auszuleihen. Und als
der Krieg kam und Gold in Gesch&uuml;tze und Munition umgeschmolzen wurde, erwies
die Regierung Herrn Bo&szlig; tats&auml;chlich eine gro&szlig;e Ehre: sie nahm
sein Sparkassenbuch.
<P>Als die Frau Geheimr&auml;tin, die Gattin des Direktors, mit ihren T&ouml;chtern
und ihrem Diener in der Wohnung des Herrn Bo&szlig; erschien, um dem alten Arbeiter
einige Obligationen der Kriegsanleihe anzubieten, - mit welcher Andacht und Opferbereitschaft
warf ihr da Bo&szlig; alle seine Ersparnisse vor die F&uuml;&szlig;e!
<P>Ehe Herr Bo&szlig; sich die Tr&auml;nen der R&uuml;hrung vom Gesicht hatte
wischen k&ouml;nnen, zerrann die deutsche Mark wie Tau am Morgen. Und die Goldst&uuml;cke
- er besa&szlig; deren 132 St&uuml;ck - rollten so unh&ouml;rbar in den Abgrund
der Inflation, da&szlig; nicht einmal ein Klingen h&ouml;rbar ward. Aber Bo&szlig;
war gl&uuml;cklich.
<P>Seit jener Zeit vergingen f&uuml;nf, nein, mehr - ganze sieben Jahre.
<P>Die Welt verblutete, machte krampfhafte Befreiungsversuche und &uuml;berzog
sich endlich mit der d&uuml;nnen Kruste der Stabilisation, aus der schwarze L&ouml;cher
der Hungersnot und der Inflation g&auml;hnten.
<P>Als man das Vertiko, einen Schaukelstuhl und die sch&ouml;ne Uhr, die er f&uuml;r
seine 25-j&auml;hrige makellose Arbeit von der Fabrik erhalten hatte, aus der
Wohnung herausbrachte, glaubte Herr Bo&szlig; noch an Gott und Gerechtigkeit.
<P>
Als seine Frau mit der Leihhausquittung aus dem Versatzamt nach Hause kam, wo
sie die silberne Uhr mit den Namensz&uuml;gen des Kaisers lie&szlig;, war Herr
Bo&szlig; noch immer ein starker Mann, der es nicht duldete, da&szlig; man von
seinem im Kriege gefallenen &auml;ltesten Sohn bei Tisch sprach.
<P>Aber als alle Opfer vollkommen ersch&ouml;pft waren und sich des noch immer
geduldigen Bo&szlig; die gro&szlig;e M&uuml;digkeit bem&auml;chtigte, die jeder
Arbeiter kennt, der die Sechzig hinter sich hat; als seine Augen tr&uuml;be wurden,
seine H&auml;nde zu zittern anfingen und ihm der von &Auml;ther vergiftete Speichel
aus dem Munde zu flie&szlig;en anfing, - da wurde Bo&szlig; entlassen. Mit zwei
Billionen Papiergeld und einem Zimmer in der toten Kaserne. Da stellte es sich
pl&ouml;tzlich heraus, da&szlig; Herr Bo&szlig; auch nur ein Arbeiter war. Wie
entsetzlich! Diese Einsamkeit! Zerfetzt, von der Maschine erdr&uuml;ckt, flog
das Sandk&ouml;rnchen Bo&szlig;, der Splitter Bo&szlig; in das gro&szlig;e Meer
seiner Klasse, in ihren tiefsten Abgrund hinein, wo es kein Licht und keine Hoffnung
mehr gibt.
<P>An der Oberfl&auml;che des Meeres rollten schwere sch&auml;umende Wogen: das
Jahr 1921. Bo&szlig; lag regungslos da, und sah von Zeit zu Zeit die k&auml;mpfenden
Schiffe der Revolution sinken und langsam zu ihm herabfallen. Mit Flaggen am geknickten
Mast, mit toten Menschen auf dem aufgew&uuml;hlten Deck. Die Besten der Menschheit,
ihre Sturmv&ouml;gel: Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht.
<P>Dann pflegte Bo&szlig; - in den langen Stunden trostlosen Nichtstuns -eine
Kiste unter dem Bett hervorzuholen, die bis zum Rande mit entwertetem Geld gef&uuml;llt
war, und Tage lang in sie hineinzustarren.
<P>Das Zimmer hat graue Tapeten, mit von der Zeit verbla&szlig;ten roten Spritzern
- als wenn hier einmal ein Springbrunnen menschlichen Lebens geschlagen h&auml;tte
und auf einmal erloschen w&auml;re.
<P>Die Venen &ouml;ffneten sich an Bo&szlig;' Beinen: sein m&uuml;des Blut suchte
den R&uuml;ckweg zur Erde. </P>
<!-- <IMG SRC="armut1.jpg" border=2 ALIGN=LEFT ALT="Arbeitersiedlung"> nicht auffindbar -->
<P>Lang und hager, im kaffeebraunen Jackett, mit einer Medaille an der Uhrkette,
pflegt er, auf Kr&uuml;cken gest&uuml;tzt, seiner Frau entgegenzugehen, die trotz
ihrer grauen Haare, in der Tabakfabrik arbeitet. Die ganze Vorstadt kennt seine
Minna, - ein solches Gesicht gibt es zum zweiten Male nicht wieder. Eine wei&szlig;e
Maske von einer solchen Sch&ouml;nheit, da&szlig; man vor ihr niederknien m&ouml;chte.
Nach der Arbeit leuchtet dieses Gesicht mit den kleinen Schwei&szlig;tropfen an
der Stirn wie wei&szlig;er Gips. In seiner Jugend war Bo&szlig; hartn&auml;ckig,
n&ouml;rgelnd, gebieterisch; er hielt es f&uuml;r seine Pflicht, seine Frau zum
besten seiner Familie zu qu&auml;len. <P>
Durch die Mauern von Kellern und Dachstuben, Gef&auml;ngnissen und Fabriken sickert
und flie&szlig;t, sammelt sich zu B&auml;chen, Fl&uuml;ssen und Meeren der ger&auml;uschlose
stille Strom der Arbeitssolidarit&auml;t. Mit unendlicher Geduld r&uuml;hrt er
an den Steinen und Gittern, unterh&ouml;hlt, lockert, tr&auml;gt Sandkorn um Sandkorn
fort, um an einem gro&szlig;en Tage als eine Flut der Emp&ouml;rung &uuml;ber
die Oberfl&auml;che zu rauschen.
<P>Auch f&uuml;r Bo&szlig; kam dieser Tag, stieg m&uuml;hsam ins erste Stockwerk
hinauf, erholte sich eine Weile, kletterte weiter ins zweite, klopfte an die T&uuml;r
und trat ein. Er kam, um Bo&szlig; die &#171;Arbeiterzeitung&#187; anzubieten.
<P>Eine gro&szlig;e Stille trat ein. Die wei&szlig;e Minna wurde noch wei&szlig;er
und fl&uuml;chtete in die K&uuml;che. Der Schuster setzte sich. Die Zeitung kostet
zwanzig Pfennig. Bo&szlig; erstickt fast: wirft zwanzig Pfennig auf den Tisch
und noch ein graues stachliges Ding dazu.
<P>&#171;Da, nimm es ... Das ist alles, was ich im Leben verdient habe!&#187;
<P>Das eiserne Kreuz.
<P><I> &#171;F&uuml;r Kriegshilf dienst!&#187;</I>
<P><I>WR mit einer Krone dar&uuml;ber!</I>
<H3> Pantoffeln </H3>
<P>Bequeme, warme Pantoffeln aus Kamelhaarwolle. Vier Mark f&uuml;nfzig.
<P>Frau Kremer macht diese Pantoffeln und verdient vier Mark f&uuml;r hundert
St&uuml;ck. In einer Stunde macht sie f&uuml;nf. Ihre Tochter, die erst das zweite
Jahr diese Arbeit macht, n&auml;ht sieben Pantoffeln in 55 Minuten. Nach vierzig
Arbeitsjahren wird die alte Frau kurzerhand durch das mechanische &Uuml;bergewicht
der jugendlichen Kr&auml;fte geschlagen. Wie der Droschkengaul. Er mag noch so
viele Jahre das Stra&szlig;enpflaster abklappern - seine Kunst wird dadurch nicht
gr&ouml;&szlig;er. Mit Blitzesschnelle wird die Nadel, die mit der eigens zu diesem
Zweck entstandenen Hornhaut zwischen den Fingern festgehalten wird, eingef&auml;delt,
es n&uuml;tzt dir alles nichts - du bist eben ein alter Gaul. Jedes Bauernf&uuml;llen
wird dich nur deshalb &uuml;berholen, weil es um zwanzig Jahre j&uuml;nger ist.
<P>
Die gr&ouml;&szlig;te Anspannung der Kr&auml;fte kann den Arbeitslohn nicht erh&ouml;hen;
Je schneller die Nadel fliegt, desto &ouml;fter rei&szlig;t das schlechte Garn,
an dem der Arbeitgeber auch verdient. Alles ist bis auf Bruchteile von Pfennigen
berechnet, an Ersparnis ist nicht zu denken.
<P>Sehr verf&uuml;hrerisch sind Pantoffeln mit wattiertem Futter - sie werden
besser bezahlt. Die junge Arbeiterin, die das Handwerk nicht kennt, f&auml;llt
sicher auf sie herein. Aber Frau Kremer kennt sich in diesen Dingen aus. M&ouml;gen
sich andere die Finger verbrennen, &#151; sie wei&szlig; es nur zu gut, da&szlig;
es eine Nadelfrage ist. Eine doppelte Sohle l&auml;&szlig;t sich nicht so einfach
durchstechen, wie eine einfache. Man kriegt aber f&uuml;r beide Pantoffelsorten
die gleiche Anzahl Nadeln geliefert. Drei St&uuml;ck f&uuml;r hundert Pantoffeln.
Es ist klar, da&szlig; die f&uuml;nfzehn Pfennige, die der Fabrikant f&uuml;r
die &#171;Wattierten&#187; zahlt - f&uuml;r die Gew&ouml;hnlichen kriegt man nur
zehn -, den Mehrverbrauch an N&auml;hnadeln nicht decken k&ouml;nnen. Das ist
noch nicht alles. Es gibt zahllose Finessen und Kniffe, mit deren Hilfe der letzte
Tropfen Kraft aus dem Menschen gepre&szlig;t wird. Es ist leichter, ein Schiff
um das Kap der guten Hoffnung zu steuern, als die Pantoffelsohle so anzun&auml;hen,
da&szlig; kein einziger Stich sichtbar ist.
<P>Man rechne sich aus, wieviel &#171;Einfache&#187; eine Arbeiterin in einer
Stunde fertig bringt? F&uuml;nf St&uuml;ck. Und von den &#171;Wattierten&#187;?
Nur drei. Ein Pfennig geht auf die Nadeln drauf, w&auml;hrend der Fabrikant f&uuml;r
dieselben 60 Minuten <I> 10 </I> Pfennige weniger bezahlt. Kein Wunder, da&szlig;
Frau Kremer mit ihrem krummen R&uuml;cken, ihrem schwarzen, elenden Kleide und
der Watte im Ohr, aus dem Blutwasser flie&szlig;t, einer Statue der Trauer und
des Mi&szlig;trauens &auml;hnlich sieht. Wenn das Leben ihr heute mit ausgebreiteten
Armen gl&uuml;ckbringend entgegentr&auml;te, w&uuml;rde sie nur die Falten ihres
Mundes enger zusammenziehen, sich abwenden und den Vorrat von fertigen Pantoffeln
in Sicherheit zu bringen suchen.
<P>Dieses Zimmer mit dem B&uuml;fett ohne Geschirr, mit roten fleckigen Federbetten,
mit dem aufdringlichen Nachttopf, mit der K&uuml;che, deren Decke feucht ist und
abbl&auml;ttert, diese ganze &#171;Wohnung&#187;, die seit 15 Jahren weder renoviert,
noch gestrichen wurde, die kein Wasser und keine Toilette hat, und Frau Kremer
selbst, diese in einen Ameisenhaufen geratene und schon halbzernagte Maus - haben
nur eine Verteidigungswaffe: absolutes Mi&szlig;trauen. Sie stimmt gegen alle
und alles. Frau Kremer sagt: Diese SPD-Leute sind Kanaillen, jedes ihrer Worte
ist L&uuml;ge; diese Kommunisten sind Feiglinge, sie haben das Jahr 1923 verschlafen.
Sie k&uuml;mmert sich nicht darum, ob die Partei f&uuml;r den Kampf reif war oder
nicht, und wieviel Monate oder Jahre voll langweiliger Kiemarbeit vergehen m&uuml;ssen,
um das Proletariat tats&auml;chlich zum Siege zu f&uuml;hren.
<P>Sie braucht Hilfe, aber jetzt, sofort, oder &uuml;berhaupt nicht, denn die
Kr&auml;fte der Frau Kremer sind ihrem Ende nahe. <P>
Wenn eine Maus einen Todesschreck bekommt, f&auml;ngt sie an zu schwitzen. Sie
wird ganz na&szlig; vor Furcht. Wie kann Frau Kremer auf die Revolution warten
- ihren ganzen K&ouml;rper bedeckt ja der Schwei&szlig; der letzten Ersch&ouml;pfung.
<P>
&#171;Ich kann der Gewerkschaft nicht beitreten. Der Verband w&uuml;rde mir verbieten,
f&uuml;r einen so niedrigen Lohn zu arbeiten, er w&uuml;rde verlangen, da&szlig;
ich die Arbeit aufgebe.&#187;
<P>Aber im Hause der Frau Kremer herrscht doch ein gro&szlig;es Arbeitsfest: ihr
einziger Sohn - ein f&uuml;nfzehnj&auml;hriger, in einer Zigarrenkisten-Fabrik
besch&auml;ftigter Knabe - <I> streikt, streikt zum erstenmal in seinem Leben.
</I> Der Streik hat vor drei Wochen begonnen, 135 Menschen nehmen an ihm teil.
Ohne Hoffnung auf Erfolg: haufenweise str&ouml;men die Streikbrecher aus den Nachbarorten
in die Fabrik.
<P>Die Alte schweigt. Kein Wort des Vorwurfs, keine einzige Klage. Um sich treu
zu bleiben, tut sie, als wenn nichts geschehen, als wenn der Sohn &uuml;berhaupt
nicht da w&auml;re. Sie glaubt ja weder an Streiks, noch an Sozialismus, nicht
einmal an die Pocken. Nur das eine wei&szlig; sie: alles, was von den Herren ausgeht,
ist Betrug. Ein ganzes Jahr lang versteckte sie ihren Enkel vor dem Kreisarzt.
Erst dieser Tage schleppte man ihn ins Krankenhaus, zerstach ihm den Arm, und
- hatte sie nicht recht gehabt? Vier scheu&szlig;liche Wunden zeigten sich auf
dem &Auml;rmchen. Das konnte jeder sehen, der den schmutzigen &Auml;rmel des Kindes
aufkrempelte.
<P>Aber wie schiebt Frau Kremer ihrem Sohn bei Tisch den Teller hin, mit welchem
Blick betrachtet sie seinen starken, m&auml;nnlichen R&uuml;cken! Mit vielsagendem
Augenzwinkern, gespannt, zur Abwehr bereit, sagt sie den Nachbarn: <P>
<I> &#171;Mein Sohn streikt.&#187; </I>
<P>So winkt der abgestorbene alte Baum mit seinem letzten Ast gr&uuml;&szlig;end,
den jungen Mut, der alle Niederlagen vergi&szlig;t, so winkt er dieser Solidarit&auml;t
f&uuml;r die eigene Klasse zu.
<H3> Er - Kommunist, sie - Katholikin </H3>
<P>Der gr&ouml;&szlig;te Teil der Arbeiter, die wegen politischer Unzuverl&auml;ssigkeit
ihre Arbeit verloren haben, geh&ouml;rt nicht der jungen, sondern der &auml;lteren
Generation an. Ein junger Bauernbursch, dem es zu Hause zu eng wird, geht bei
jedem Lohn und jeder Arbeitszeit in die Fabrik, nur um sich ein paar Mark f&uuml;r
Bier, ein Fahrrad und einen in Taille gearbeiteten Sonntags-Anzug anschaffen zu
k&ouml;nnen. Essen und Trinken kosten ihn nichts &#151; der Vater gibt es ihm.
Die &auml;ltere Arbeitergeneration, die auf eine zwanzigj&auml;hrige Schule des
gewerkschaftlichen und revolution&auml;ren Kampfes zur&uuml;cksieht, ist trotz
der relativ hohen Tarife und ihrer privilegierten Stellung der Arbeiteraristokratie,
weit weniger nachgiebig und nicht geneigt, ihre letzten Positionen kampflos aufzugeben.
<P>Das Endergebnis dieses Widerstandes - mag er auch noch so vorsichtig und gem&auml;&szlig;igt
sein -, ist die Entlassung. Der Arbeiter macht sich zun&auml;chst keine Sorgen
dar&uuml;ber. Er hat ausgezeichnete Zeugnisse, blickt auf eine 20- bis 25 j&auml;hrige
Erfahrung zur&uuml;ck; auch ist auf seinem Arbeitsgebiet gerade jetzt ein Aufschwung
festzustellen: heute oder morgen wird er gewi&szlig; neue Arbeit finden. &Uuml;berdies
arbeitet seine Frau als Zugeherin in einem wohlhabenden Hause und wird durchaus
anst&auml;ndig bezahlt.
<P>Anfangs erinnerte ihn nichts an das grausame Gesetz der Arbeitslosigkeit. Es
tritt nur ganz allm&auml;hlich in Kraft. Wer die Familie ern&auml;hrt, wird zum
Herrn im Hause. Wenn er nach schwerer Tagesarbeit nach Hause kommt, will er in
eine saubere Wohnung treten und sich an einen fertig gedeckten Tisch setzen. Die
Kinder m&uuml;ssen vor seiner R&uuml;ckkehr gewaschen und gek&auml;mmt, ihre Nasen
gewischt, ihre Schulaufgaben gepr&uuml;ft sein. Und nun &#151; drei Tage nachdem
der Mann arbeitslos geworden ist, schlie&szlig;t er eines Morgens die T&uuml;r
hinter seiner zur Arbeit gehenden Frau, bindet sich dem&uuml;tig ihre Haussch&uuml;rze
um und macht sich an die Hausarbeit. Er wischt Staub, poliert die Fenster, w&auml;scht
das Geschirr und die Lappen, mit denen er gewaschen hat, tr&auml;gt den M&uuml;ll
hinaus, scheuert den Fu&szlig;boden in der K&uuml;che, macht die Betten, h&auml;ngt
die Federbetten zum Fenster hinaus und legt sie, nachdem sie von der Sonne durchw&auml;rmt
sind, mit pedantischer Sorgfalt an ihren Platz.
<P>Wir haben nicht die geringste Vorstellung &uuml;ber diesen Kultus von Sauberkeit
und Ordnung, die die Frau eines mittleren und sogar des &auml;rmsten deutschen
Arbeiters tagt&auml;glich in ihrem Hause veranstaltet. Man k&ouml;nnte stundenlang
dasitzen und zusehen, wie sie reibt, w&auml;scht, kratzt, trocknet, poliert &#151;
alles - Geschirr, W&auml;sche, M&ouml;bel, Fu&szlig;boden, W&auml;nde. Selbst
der entfernteste und dunkelste Winkel hinter und unter dem Schrank ist vor ihr
nicht sicher. Alles das mu&szlig; jetzt der Mann tun. Und wie er in guten Tagen
pr&uuml;fend &uuml;ber den Herd fuhr, um sich davon zu &uuml;berzeugen, ob da
auch kein einziges St&auml;ubchen liegt, und seiner Frau keine noch so geringe
Verfehlung hingehen lie&szlig;, so ist er jetzt! selbst vor ihr verantwortlich,
jetzt ist sie der Herr, der die Familie ern&auml;hrt.' <P>
Er - der Untergebene, der gehorsame Tagel&ouml;hner, die Waschfrau im Hause. In
der Tiefe seiner Seele h&auml;lt jeder Deutsche seine Frau f&uuml;r eine Dienerin
und verachtet ihre Arbeit. Wenn der Mann nun mit dem Scheuerlappen in der Hand,
&auml;chzend in alle Winkel kriecht oder mit einer Sch&uuml;ssel auf den Knien
Kartoffeln sch&auml;lt, f&uuml;hlt er sich unendlich erniedrigt. Der Arbeiter
fa&szlig;t diese Dinge ebenso auf, wie jeder Kleinb&uuml;rger. Ein sehr guter
Genosse, der einige Jahre arbeitslos war, sagte mit tiefer Bitterkeit, indem er
auf seine aufgekrempelten &Auml;rmel, auf die B&uuml;rste in der einen und den
schmutzigen Schuh seiner Frau in der anderen Hand hindeutete:
<P>&#171;Sehen Sie, bis zu welcher elenden Erniedrigung uns die Arbeitslosigkeit
bringen kann. Ich, ein Mann, mu&szlig; dem Frauenzimmer die Schuhe putzen!&#187;
<P>In seinem m&auml;nnlichen Stolz verletzt und beleidigt, sucht er das verlorene
Gleichgewicht auf andere Weise herzustellen. Am Lohntag, wenn die Frau mit gemachter
Bescheidenheit ihren Wochenverdienst auf den Tisch legt, geht er vom fr&uuml;hen
Morgen an finster und gereizt umher. Bei Tisch bricht ein wilder Konflikt aus.
<P> &#171;Wer ist der Herr im Hause, - du oder ich?&#187;
<P>Bums - schl&auml;gt die Faust auf den Tisch. Eine alte Peitsche wird von der
Wand genommen. Die Kinder heulen. Die Mutter lenkt ein. Nach dem Essen schlie&szlig;en
sich die Eltern im Schlafzimmer ein. Er l&auml;&szlig;t sich lange bitten. Sie
zieht sich aus, sieht ihn mit feuchten, flehenden Augen an. Er vergewaltigt sie,
er tut es mit Ha&szlig;, so da&szlig; sie schreit, da&szlig; man es auf dem Flur
h&ouml;rt, und schickt sie dann nach Zigaretten. Niemals in den Tagen liebte er
seine Frau mit einer solchen eifers&uuml;chtigen Liebe, niemals d&uuml;rstete
sie so nach neuen Z&auml;rtlichkeiten, wie gerade jetzt, da sie im Grunde erkauft
werden m&uuml;ssen.
<P>Der Mann verwandelt sich allm&auml;hlich in den Zuh&auml;lter seiner Frau.
<P> &#171;Ich werde bald ihr Zuh&auml;lter werden&#187;, sagte der kleine Kamm,
derselbe, der die Schuhe putzte. Seine Lage verwickelte sich besonders dadurch,
da&szlig; seine Frau aus einer alten katholischen Bauernfamilie stammte, einer
Familie mit Kaiser- und Kaiserinbildnissen, mit Kirchgang am Sonntag, und mit
einem Gro&szlig;vater, der Fahnentr&auml;ger der ehemaligen Hundertsechsundsechziger,
der gelbblauen Ulanen ist. &Uuml;berhaupt, der alte Mann war von jeher gegen diese
Ehe gewesen. Wie war es m&ouml;glich, da&szlig; diese gut gewachsene, ehrliche,
h&uuml;bsche Bauerndirn sich in den kleinen, unruhigen Schmied verschossen hat,
der alle Monat seinen Brotgeber wechselte. Nein, dieser kleine Mann ist nicht
imstande, eine Familie zu ern&auml;hren!. . .
<P>Jetzt, da Kamm in materielle Abh&auml;ngigkeit von den Alten geraten war, versuchen
die Schwiegereltern die ganze Familienkonstitution zugunsten der Frau und der
Kinder und sehr zuungunsten des mi&szlig;ratenen Gatten zu &auml;ndern. Ja, Lieschen,
die kleine Enkelin, kann den ganzen Sommer bei Gro&szlig;vater und Gro&szlig;mutter
verbringen, und das wird keinen Pfennig kosten. Des Sonnabends wird Speck, Gebackenes
und eine Gans ins Haus geschickt, aber die Enkelin mu&szlig; in die Kirche gehen.
Wenn die beiden unterst&uuml;tzt sein wollen, dann soll der Vater dem Kinde sagen,
da&szlig; es einen Gott gibt, und da&szlig; alle, die ihn leugnen, in die H&ouml;lle
kommen. Was soll man da machen? Man mu&szlig; durchhalten. Aber Lieschen hat gl&uuml;cklicherweise
den skeptischen Geist des Vaters und seinen franz&ouml;sischen Schalk. Sie verstehen
einander ausgezeichnet.
<P>&#171;Lieschen&#187;, sagt Kamm zu der Tochter, und setzt sie auf seine Knie,
&#171;wei&szlig;t du noch, wie ich dir gesagt habe, da&szlig; es keinen Gott gibt,
da&szlig; das Paradies nur ein dummes M&auml;rchen f&uuml;r Kinder ist, Lieschen,
schau mir in die Augen: ich habe mich geirrt, ich habe dir nicht die Wahrheit
gesagt. Er sitzt wirklich im Himmel und sieht alles und wei&szlig; alles.&#187;
<P>
Die Alten stehen daneben und sehen dem Schwiegersohn auf den Mund, wie man einem
verd&auml;chtigen Kartenspieler auf die Finger sieht. Die Kleine nickt:
<P>&#171;Sch&ouml;n, Papa.&#187;
<P>Kamm erkennt seine Rasse: ein Gl&uuml;ck, denkt er, da&szlig; das Kind sich
den Kuckuck um den ganzen Firlefanz k&uuml;mmert. <P>
Drei Jahre schon ist Kamm ohne Arbeit. Er w&auml;scht, b&auml;ckt Brot, hat gelernt
Str&uuml;mpfe zu stopfen. Endlose Vorw&uuml;rfe. Ewiges Gerede - er habe die Familie
ins Ungl&uuml;ck gest&uuml;rzt, die Partei n&uuml;tze die Leute aus, solange sie
in der Fabrik sind, um sie dann in ihrer Not laufen zu lassen. Es war um den Verstand
zu verlieren.
<P>&#171;Was hast du von all deinen Entbehrungen? Sie geben dir nicht einmal den
kleinsten Posten in der Partei!&#187;, so geht es den ganzen Tag.
<P>Der kleine Kamm flieht in die D&ouml;rfer, geht als wandernder Agitator aufs
Land, besteigt den Vogelsberg, wird nach dem Spessart verschlagen. Als erster
wagt er sich ins Dorf der alten Waldmeisen, einst Freisch&auml;rler der gro&szlig;en
Bauernkriege, jetzt - reiche Bauern, die in geiziger Einsamkeit fern von Menschen
leben. Jeder von ihnen ist im Grunde genommen reich bis zu vierzig Morgen Land,
aber weder Pferd, noch Knecht, um sie zu bearbeiten. Die Inflation hat das Geld
aufgefressen, wie soll man da ohne Maschinen und teure D&uuml;ngemittel die Ernte
aus der kalten, harten Erde herauspressen? In ihrem V&auml;terglauben betrogen,
verjagte die Gemeinde ihren Geistlichen aus dem Dorf und s&auml;mtliche Parteisprecher,
die vor den Pr&auml;sidentenwahlen Stimmen warben. Kamm hat bisher noch keinen
Anh&auml;nger unter diesen verbitterten orthodoxen Bauern gewonnen, aber er hat
es erreicht, da&szlig; die harten Gesichter der M&auml;nner mit ihren breitrandigen,
mittelalterlichen H&uuml;ten und die Frauen mit wei&szlig;en, gest&auml;rkten,
drachen&auml;hnlichen H&auml;ubchen ihn freundlich gr&uuml;&szlig;en.
<P>In den entferntesten Gebirgsd&ouml;rfern, wo die h&auml;ufigen Regeng&uuml;sse
je den D&uuml;nger fortsp&uuml;len, kennt man ihn gut, diesen Mann von scheinba
achtzehn, aber doch vierzig Jahren, der mit seiner Zeitungstasche &uuml;ber der
Schulter von Ort zu Ort geht.
<P>&#171;Dieser Bursch hat f&uuml;r Bohnen und Kartoffeln keinen Sinn&#187;, sagen
J von ihm die Steinhauer der Basaltbergwerke, verwilderte Menschen und 3 Walddiebe.
Es ist wahr, Kamm hat weder Salatbeete, noch einen Laubengarten, in dem der deutsche
Proletarier so gern seinen Feierabend verbuddelt. Der Pastor in Griesheim, mit
dem er regelm&auml;&szlig;ig am Sonntag nach der Predigt aneinander ger&auml;t,
sagte von ihm: &#171;Ein b&ouml;sartiges Maul hat diese kleine giftige Spinne!&#187;
<P>Aber die Gebirgspfade f&uuml;hren schlie&szlig;lich doch ins Tal hinab. Nach
langen Wanderungen mu&szlig; man wohl oder &uuml;bel nach Hause gehen. Zu Hause
aber herrscht die b&ouml;se fromme Frau, die h&uuml;bsche, gut gewachsene B&auml;uerin
mit dem stets gesenkten Blick, hinter dem sie ihre herrschs&uuml;chtige Gier verbirgt.
Zwanzigmal verlie&szlig; Kamm sein Haus, um nie wieder zur&uuml;ckzukehren, und
zwanzigmal kehrte er seines Lieschens wegen wieder um. Wer wird sie vor Pfaffen,
Tanten, vor der falschen m&uuml;tterlichen Liebe bewahren?
<P>Das Allerschlimmste beginnt, wenn die Kinder schlafen, wenn die T&uuml;ren
verschlossen, die Fenster verh&auml;ngt sind, wenn das ganze kleinb&uuml;rgerliche
Haus t&uuml;ckisch schweigt.
<P>Sie zieht sich schon aus. Das eiserne Korsett wird abgelegt, &uuml;ber ihr
Gesicht huschen feindselige Gedanken, die jedes seiner Gef&uuml;hle, jedes Buch
auf seinem Tisch hassen. Der Mann wei&szlig; es: die Frau freut sich &uuml;ber
seine Niederlage, ist gl&uuml;cklich mit seinen Feinden, aber &#151; schamlos
im Bett, geil, wie es eine Stra&szlig;endirne nicht sein kann. Keine Prostituierte
ist so erfinderisch, wie diese fromme, tugendhafte Frau, die sich hinter verh&auml;ngten
Fenstern ausleben will, die sich auf das Gesetz st&uuml;tzt und von ihrem Mann
verlangt, da&szlig; er sie wenigstens liebe und befriedige, wenn er seiner &#171;idiotischen
kommunistischen Ideen&#187; wegen zu nichts anderem tauge! Wer nicht arbeitet,
der soll auch nichts essen!
<P>Je z&uuml;gelloser der Bettkampf, desto gr&ouml;&szlig;er die Niederlage. Wie
eine ges&auml;ttigte Milbe f&auml;llt die befriedigte Frau auf ihre Kissen zur&uuml;ck,
um sofort - noch ehe sie sich das Haar und die verkn&uuml;llten R&ouml;cke geordnet
- unzweideutig zu verstehen zu geben, da&szlig; &#171;dies&#187; in ihren Beziehungen
nat&uuml;rlich nichts zu &auml;ndern vermag. Alles bleibt beim alten. <P>
&#171;Erinnere mich morgen daran, Hans, da&szlig; ich die Bibel f&uuml;r Lieschen
kaufe, h&ouml;rst du? Das alte und das neue Testament...&#187;
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<P><SMALL>Pfad: &raquo;../lr&laquo;<BR>
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