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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Larissa Reissner - Hamburg</TITLE>
<META NAME="BOOKTITLE" CONTENT ="Wir sind die Rote Garde">
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<META NAME="QUELLE" CONTENT =" Larissa Reissner: Hamburg auf den Barrikaden. Erlebtes und Erh&ouml;rtes aus dem Hamburger Aufstand 1923. - Berlin: Neuer Dt. Verl. [1925], S. 17-24.">
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<META NAME="PUBLISHER" CONTENT ="Philipp Reclam jun. Leipzig">
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Reissner</SMALL></A></TD>
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<H2> Larissa Reissner</H2>
<H1> <!-- #BeginEditable "Titel" -->Hamburg<!-- #EndEditable --></H1>
<P><SMALL><!-- #BeginEditable "Quelle" -->(Quelle: Hamburg auf
den Barrikaden. Erlebtes und Erh&ouml;rtes aus dem Hamburger Aufstand 1923. -
Berlin: Neuer Dt. Verl. [1925], S. 17-24)<!-- #EndEditable --> </SMALL></P>
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<P> <!-- #BeginEditable "Text" -->
<P>Wie ein gro&szlig;er, eben gefangener, noch zuckender Fisch liegt Hamburg an der
Nordsee. <P>
Ewige Nebel lagern auf den zugespitzten schuppigen D&auml;chern seiner H&auml;user.
Kein Tag h&auml;lt seinem blassen, windigen, launischen Morgen die Treue. Mit
Flut und Ebbe wechseln dumpf nasse W&auml;rme, Sonne, graue K&auml;lte des offenen
Meeres und Regen, der auf den blanken Asphalt niederstr&ouml;mt, als wenn jemand,
am Seeufer stehend, mit einem alten durchl&ouml;cherten Schiffseimer die halbe
Elbe auf das von Feuchtigkeit rauchende, vom Grog der Hafenkneipe durchw&auml;rmte,
lustige Hamburg aussch&uuml;ttet, das breitbeinig auf beiden Ufern der Elbe steht
wie auf einem Schiffsdeck. <P>
Wie ein Vorurteil, wie etwas, das nicht mehr in unsere Zeit geh&ouml;rt, ist die
Natur an den Ufern dieses riesigen Industrieflusses ausgemerzt. Im Verlauf Dutzender
Kilometer sah ich zwei B&auml;ume. Doch diese glichen eher Masten, von einem Schiffbruch
&uuml;briggeblieben: den einen an der Mole, geb&uuml;ckt wie eine Alte, die gegen
den Wind k&auml;mpft, der ihre wollenen Str&uuml;mpfe mit zornigen Schaumflocken
bewirft. Den zweiten - am Kontor der gr&ouml;&szlig;ten der Hamburger Werften,
der Werft von Blohm & Voss. Dieser Baum steht nur aus Angst da: unter ihm - ein
widerw&auml;rtiger schwarzer Kanal, in den sich die Fabriken durch die aufgesperrten
Rachen der Zuflu&szlig;rohre erbrechen. Eine Br&uuml;cke, das H&auml;uschen eines
Postens, und am anderen Ufer, im blassen Licht der f&uuml;nften Morgenstunde -
die gl&auml;nzenden Fenster der unsichtbaren Geb&auml;udekomplexe; endlose Reihen
&uuml;bereinander, kn&uuml;pfen sie ihr elektrisches Licht an das Tageslicht an.
Das gr&ouml;&szlig;te Wunder, das Schlankste, was das Reich des schlanken Metalls
kennt, sind die sich &uuml;ber den Hafen beugenden leichten Tore der gr&ouml;&szlig;ten
Hebekr&auml;ne, die es in der Welt gibt. Zu ihren F&uuml;&szlig;en liegen wie
aufget&uuml;rmtes Spielzeug fertiggebaute Ozeandampfer, mit erleuchteten Bordfenstern,
mit unsch&ouml;nem Unterteil, gleich Schw&auml;nen, die man aus dem Wasser gehoben
hat. Hier arbeiten drei Schichten - krampfhaft, unbarmherzig. Hier macht die deutsche
Bourgeoisie, indem sie die Arbeiter wie nasse W&auml;sche auspre&szlig;t, die
letzten hoffnungslosen Versuche, die sie paralysierende Krise zu &uuml;berwinden;
sie baut, schafft neue Werte, bev&ouml;lkert den Ozean mit ihren wei&szlig;en
schwarzr&ouml;hrigen Schiffen, an deren Heck das alte kaiserliche schwarzwei&szlig;rote
Banner mit einem kaum merklichen republikanischen Fleck weht. Alles, was sonst
Himmel hei&szlig;t, ist hier in Hamburg - der Rauch der Fabrikschlote, sind die
Greifarme der Hebekr&auml;ne, die die Schiffsb&auml;uche pl&uuml;ndern und steinerne
Riesenk&auml;sten auff&uuml;llen; leichte, fl&uuml;chtig geneigte Br&uuml;cken
&uuml;ber decken die nasse Geburtsst&auml;tte der neu erstandenen Schiffe. Heulen
der Sirenen, Fluchen der Pfeifen, Flut 1 und Ebbe des Ozeans, der mit dem Unrat
spielt und mit den M&ouml;wen, die wie Schwimmh&ouml;lzer auf dem Wasser tanzen,
und - gleichm&auml;&szlig;ige W&uuml;rfel dunkelroter, aus Ziegeln gebauter Geb&auml;udekomplexe,
Lager, Fabriken, Kontore, M&auml;rkte, geradlinig gebaute Zoll&auml;mter, die
aussehen wie eben abgeladene Gep&auml;ckst&uuml;cke. Eine Armee, Legionen von
Arbeitern sind in diesen Werften bei dem Laden und L&ouml;schen der Schiffe, in
den zahllosen Metallwerken, &ouml;lverarbeitenden und chemischen Fabriken, in
einigen der gr&ouml;&szlig;ten Manufakturen und auf den gro&szlig;en Baupl&auml;tzen
besch&auml;ftigt, die das Hinterland von Hamburg, seinen sumpfigen und sandigen
Grund, ununterbrochen mit einer Kruste von Beton und Stahl bedecken. <P>
Die Elbe, dieses alte schmutzige Einkehrhaus f&uuml;r die Vagabunden des Ozeans
- baut und erweitert ununterbrochen ihre gewaltigen Betonhinterh&ouml;fe. <P>
Hier werfen die Seerosse ihre Last ab, hier fressen sie Naphtha und Kohle, hier
reinigen und waschen sie sich, w&auml;hrend die Kapit&auml;ne dem Zollamt die
Schmiergelder zahlen, die Papiere richtig zugestutzt werden und die Barbiere ihr
Versch&ouml;nerungswerk an den Gesichtern der Schiffsgewaltigen vornehmen. Diese
gehen dann zu ihren Familien an Land, indes die Mannschaft im Stadtviertel der
Kneipen, der Kleiderbuden, der Versatz&auml;mter, wo der eben gekaufte Anzug sofort
versetzt werden kann, und endlich der erstaunlichsten Bordelle - in Sankt Pauli
untertaucht. <P>
Noch vom Mittelalter her sind die Gassen von Sankt Pauli von der Stadt durch feste
eiserne Tore abgegrenzt, die nur des Nachts ge&ouml;ffnet werden. Sie sind sch&ouml;n
gearbeitet mit allen m&ouml;glichen Raffinessen und h&uuml;bschen Details, mit
denen ein stolzes Zunfthandwerk seine Embleme und Ehrenzeichen zu schm&uuml;cken
liebte. Des ,Abends &ouml;ffnet sich in jeder auf die Gasse hinausgehenden T&uuml;r
ein kleines erleuchtetes Fenster,' aus dem die K&ouml;niginnen dieser Matrosenparadiese
l&auml;chelnd in die ewige regnerische Dunkelheit hinausblicken. Sie stecken in
tief ausgeschnittenen, an der Taille eng zusammengerafften, mit Flitterwerk und
Federn ben&auml;hten Kleidern, mit denen die Mode aus dem Ende des letzten Jahrhunderts,
die nur noch in den Anpreisungen der billigen Parf&uuml;merieartikel und in der
Vorstellung der nach dem Weibe ausgehungerten Matrosen fortlebt - die Verk&ouml;rperung
der h&ouml;chsten Lebensfreude zum Ausdruck zu bringen pflegte. <P>
In diesen Handelsreihen wird lebendiges Fleisch mit ungek&uuml;nstelter Schlichtheit
verkauft. Die Besucher gehen von einem Schaufenster zum n&auml;chsten, besehen
sich die ausgestellte Ware und treten ein, um nach einer Weile, von schweren .
Fl&uuml;chen und lautem L&auml;rm begleitet, auf das Stra&szlig;enpflaster hinauszufliegen:
Sankt Paulis Torh&uuml;ter sind ihrer k&ouml;rperlichen Kr&auml;fte wegen weit
und breit ber&uuml;hmt. <P>
In den kleinen Kneipen dieser Vorstadt klingen alle Sprachen und vermischen sich
alle Nationen. Witz, Eiergrog, v&ouml;llige Unantastbarkeit von Seiten der Polizei,
ein erstaunliches Gemisch von Mut, Alkohol, revolution&auml;rer Entflammbarkeit,
Tabaksrauch herrschen hier und - vor allem - die letzte, verwelkte, hoffnungslos
gefallene S&uuml;nde, die an einem mit saurem Bier begossenen Tisch einem betrunkenen
namenlosen Adam f&uuml;r ein Butterbrot die g&ouml;ttlichste der L&uuml;gen -
die Liebe vort&auml;uscht <P>
Die Sprache, die hier gesprochen wird, ist die Sprache Hamburgs. Sie ist durch
und durch mit der See ges&auml;ttigt und salzig wie ein Klippfisch; rund und saftig
wie ein holl&auml;ndischer K&auml;se, derb, gewichtig und munter wie englischer
Schnaps; glatt, reich und leicht wie die Schuppen eines Tiefseefisches. Und nur
der Buchstabe &quot;S&quot;, spitz wie eine Nadel, anmutig wie ein Schiffsmast,
zeugt von der alten Gotik Hamburgs, von den Zeiten der Gr&uuml;ndung der Hansast&auml;dte
und dem Piratentum der Bisch&ouml;fe. Nicht nur das Lumpenproletariat - die ganze
Stadt ist durchsetzt von dem lebendigen, beweglichen Geist des Hafens. Von allen
Seiten umschlie&szlig;t sein dichter Ring die b&uuml;rgerlichen, um die Alster
gelegenen Viertel. Die Villen sind dicht ans Ufer gedr&auml;ngt, sie haben kaum
den n&ouml;tigen Raum, um ihre schmucken G&auml;rten, die mit ihren Blumen, Tennispl&auml;tzen,
Treppenfluten geschm&uuml;ckt sind, zu entfalten. <P>
Die H&auml;user der Patrizier sp&uuml;ren in ihrem Nacken den unsauberen, erregten
Atem der Vorst&auml;dte. Der Ring der elektrischen Bahnen spannt die gedr&auml;ngten
Vorst&auml;dte eng um die eleganten Viertel; zweimal am Tage saust der tr&uuml;be
Strom der Arbeiter, die Stadt nach den Docks zu durchquerend, die Wagen mit dem
Geruch von Schwei&szlig;, Teer und Alkohol erf&uuml;llend, um ihre Villen. <P>
Auf diese Weise gehorcht ganz Hamburg ebensosehr der Mittagssirene der Werften,
dem morgendlichen und abendlichen Namensaufruf an den Ufern der Elbe, wie die
kleinste Pf&uuml;tze, ein armseliger Froschteich, dem fernen Pulsschlag des Ozeans
gehorcht, der Hamburg seine Reicht&uuml;mer und seine unerm&uuml;dlichen Winde
schickt. Der Bourgeois, der ehrbare B&uuml;rger, ist ebensowenig wie seine Wohnung
gegen die Ber&uuml;hrung und die Nachbarschaft der Proletarier gesichert. Die
Dame, die abends ins Theater f&auml;hrt, sitzt zwischen zwei Dockarbeitern eingezw&auml;ngt,
die ihre &ouml;ligen S&auml;cke in aller Gelassenheit auf die weichen Sitzb&auml;nke
niederlegen. <P>
Die Dirne aus Sankt Pauli sitzt neben der Gattin eines Beamten, zwinkert den Nachbarn
zu und steigt an der n&auml;chsten Haltestelle aus - schon am Arm irgendeines
von ihnen; der Arbeiter umarmt seine Frau oder seine Freundin; der L&ouml;scharbeiter
umw&ouml;lkt seine N&auml;chsten mit seinem unm&ouml;glichen Tabak; Freunde schleppen
einen betrunkenen Matrosen nach Hause, und der ganze Wagen am&uuml;siert sich
mit ihnen, denkt, spricht und lacht im reinsten Hamburger Platt, das geeignet
ist, jeden beliebigen Ort sofort in eine lustige Hafenkneipe zu verwandeln. Von
unserem Gesichtspunkt aus betrachtet, scheint das alles nicht sehr wichtig. Aber
nach Berlin, wo der Arbeiter mit seinen Instrumenten nur in einem besonders schmutzigen
und unsauberen Wagen fahren darf, wo das Vorrecht der Ersten und Zweiten Klasse
nahezu- mit polizeilichem Aufgebot verteidigt wird; wo der Arbeitslose, sich seine
vor K&auml;lte violetten Ohren reibend, es kaum wagen darf, sich auf einer der
zahllosen, stets leeren B&auml;nke des Tiergartens auszuruhen; nach dem offiziellen
b&uuml;rgerlichen Berlin riecht allein schon die Luft von Hamburg mit seiner Einfachheit
und seinen freien Sitten nach Revolution. <P>
Um vier oder f&uuml;nf Uhr nachts schl&auml;ft das Lumpenproletariat dieser Stadt
an irgendeinem beliebigen Platz oder wird auf die Polizeiwache geschafft. <P>
Ein Viertel vor sechs, noch bei elektrischem Licht, setzt die erste Arbeiterflut
ein. <P>
&Uuml;ber der Stra&szlig;enbahn h&auml;ngt in der Dunkelheit die Stadtbahn, kurze,
leuchtende B&auml;nder der elektrischen Z&uuml;ge der Hochbahn winden sich &uuml;ber
dieser, und alle zusammen schaffen eine ganze Armee, Hunderttausende von Dockarbeitern
und weitere Hunderttausende von Arbeitslosen, die, in der Hoffnung auf einen gelegentlichen
Verdienst, die Anlegestellen umlagern, zum Hafen. Jeder Trupp sammelt sich um
seinen Meister, zwischen den geteerten Jacken, h&ouml;ckrigen, mit Werkzeug beladenen
Schultern leuchtet wie bei Bergarbeitern das &Ouml;ll&auml;mpchen. Nach dem Namensaufruf
verteilen sich die Arbeiterregimenter auf Hunderte von Dampfern, die sie in die
Werften und Betriebe bringen. Durch vier Br&uuml;cken str&ouml;men sie in das
Industriezentrum. Truppen und Polizei passen scharf auf, da&szlig; kein einziger
&quot;Zivilist&quot; auf die Industrieinseln dringt. Aber auch diese Br&uuml;cken
und Hunderte von Dampfern, die mit ihren Lichtern und Scheinwerfern einen unerh&ouml;rten
Karneval, ein schwarzes, geteertes Venedig auff&uuml;hren, gen&uuml;gen der Flut
der Morgenschicht nicht. Tief unter dem Elbgew&auml;sser liegt ein trockenes,
helles Rohr, der Elbtunnel, der morgens und abends Legionen von Arbeitern von
Ufer zu Ufer pumpt. <P>
An beiden Enden dieses Tunnels heben und senken sich Riesenlifts und werfen den
Strom zu den Betonausg&auml;ngen. <P>
In ihren eisenknarrenden, schraubenf&ouml;rmigen T&uuml;rmen bewegen sich diese
beiden Lifts wie zwei m&auml;chtige Schaufeln, die unausgesetzt lebendiges Heizmaterial
in die zahllosen Fabrik&ouml;fen schleudern. Aus ihren Essen kam der Hamburger
Aufstand. <P>
<P>
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<P><SMALL>Pfad: &raquo;../lr&laquo;<BR>
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