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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Friedrich Engels - [Die franzoesische Arbeiterklasse und die Praesidentenwahl]</TITLE>
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<P><SMALL>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 6, S. 567-561<BR>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959</SMALL></P>
<P><FONT SIZE=4>Friedrich Engels</FONT></P>
<FONT SIZE=5><P>[Die franz&ouml;sische Arbeiterklasse und die Pr&auml;sidentenwahl]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S557">&lt;557&gt;</A></B> *<I>Paris</I>, Raspail oder Ledru-Rollin? Sozialist oder Montagnard? Das ist die Frage, die jetzt die Partei der roten Republik in zwei feindliche Lager teilt.</P>
<P>Worum handelt es sich eigentlich in diesem Streit?</P>
<P>Fragt die Journale der Montagnards, die "R&eacute;forme", die "R&eacute;volution", und sie werden Euch sagen, da&szlig; sie es selbst nicht entdecken k&ouml;nnen; da&szlig; die Sozialisten buchst&auml;blich dasselbe Programm der permanenten Revolution, der Progressiv- und Erbschaftssteuer, der Organisation der Arbeit aufstellen, das der Berg aufgestellt hat; da&szlig; gar kein Streit um Prinzipien vorhanden ist und da&szlig; der ganze unzeitige Skandal von einigen Neidischen und Ehrgeizigen angestiftet worden ist, die die "Religion und den guten Glauben" des Volks t&auml;uschen und die M&auml;nner der Volkspartei aus Egoismus verd&auml;chtigen.</P>
<P>Fragt das Journal der Sozialisten, den "Peuple", und es wird euch mit bittern Expektorationen &uuml;ber die Unwissenheit und Hohlk&ouml;pfigkeit der Montagnards, mit endlosen juristisch-moralisch-&ouml;konomischen Abhandlungen und schlie&szlig;lich mit dem geheimnisvollen Wink antworten, es handle sich im Grunde um die neue Panazee des B&uuml;rgers Proudhon, die im Begriff sei, den alten sozialistischen Phrasen aus der Schule Louis Blancs den Rang abzulaufen.</P>
<P>Fragt endlich die sozialistischen Arbeiter, und sie werden euch kurz zur Antwort gehen: Ce sont des <I>bourgeois</I>, les montagnards. &lt;Das sind <I>Bourgeois</I>, die Montagnards&gt;</P>
<P>Die einzigen, die den Nagel auf den Kopf treffen, sind wieder die Arbeiter. Sie wollen vom Berge nichts wissen, weil der Berg aus lauter <I>Bourgeois </I>besteht.</P>
<P>Die sozialistisch-demokratische Partei bestand schon vor dem Februar aus zwei verschiednen Fraktionen; erstens aus den Wortf&uuml;hrern, Deputierten, <A NAME="S558"><B>&lt;558&gt;</A></B> Schriftstellern, Advokaten usw. mit ihrem nicht unbetr&auml;chtlichen Schweif kleiner Bourgeois, die die eigentliche Partei der "R&eacute;forme" bildeten; zweitens aus der Masse der Pariser Arbeiter, die keineswegs unbedingte Nachfolger der ersteren, sondern im Gegenteil sehr mi&szlig;trauische Bundesgenossen waren und sich ihnen bald enger anschlossen, bald weiter von ihnen entfernten, je nachdem die Leute von der "R&eacute;forme" entschiedner oder schwankender auftraten. In den letzten Monaten der Monarchie war die "R&eacute;forme", infolge ihrer Polemik mit dem "National", sehr entschieden aufgetreten, und das Verh&auml;ltnis zwischen ihr und den Arbeitern war ein sehr intimes.</P>
<P>Die Leute von der "R&eacute;forme" traten daher auch als Vertreter des Proletariats in die provisorische Regierung.</P>
<P>Wie sie in der provisorischen Regierung in der Minorit&auml;t waren und dadurch, unf&auml;hig das Interesse der Arbeiter durchzusetzen, nur den "reinen" Republikanern dazu dienten, die Arbeiter solange hinzuhalten, bis die reinen Republikaner die &ouml;ffentliche Gewalt, die jetzt <I>ihre </I>Gewalt gegen&uuml;ber den Arbeitern war, wieder organisiert hatten; wie der Chef der "R&eacute;forme"-Partei, Ledru-Rollin, sich durch Lamartines Aufopferungsphrasen und durch den Reiz der Macht bereden lie&szlig;, in die Exekutivkommission zu treten; wie er dadurch die revolution&auml;re Partei spaltete, schw&auml;chte, teilweise der Regierung zur Verf&uuml;gung stellte, und so die Insurrektionen des Mai und Juni scheitern machte, ja selbst gegen sie k&auml;mpfte - das alles braucht hier nicht weiter ausgef&uuml;hrt zu werden. Die Tatsachen sind noch zu frisch im Ged&auml;chtnis.</P>
<P>Genug, nach der Juniinsurrektion, nach dem Sturz der Exekutivkommission und der Erhebung der reinen Republikaner zur ausschlie&szlig;lichen Herrschaft in der Person Cavaignacs, waren der Partei der "R&eacute;forme", der demokratisch-sozialistischen kleinen Bourgeoisie, alle Illusionen &uuml;ber die Entwicklung der Republik vergangen. Sie war in die Opposition gesto&szlig;en, sie war wieder frei, machte wieder Opposition und kn&uuml;pfte ihre alten Verbindungen mit den Arbeitern wieder an.</P>
<P>Solange keine wichtigen Fragen vorkamen, solange es sich nur um die Blo&szlig;stellung der feigen, verr&auml;terischen und reaktion&auml;ren Politik Cavaignacs handelte, solange konnten die Arbeiter es sich gefallen lassen, in der Presse durch die "R&eacute;forme" und "R&eacute;volution d&eacute;mocratique et sociale" vertreten zu sein. Die "Vraie R&eacute;publique" und die eigentlichen Arbeiterbl&auml;tter waren ohnehin schon durch den Belagerungszustand, durch Tendenzprozesse und Kautionen unterdr&uuml;ckt worden. Ebenso konnten sie es sich gefallen lassen, in der Nationalversammlung durch den Berg sich vertreten zu lassen. Raspail, Barb&eacute;s, Albert waren verhaftet, Louis Blanc und Caussidiere mu&szlig;ten fl&uuml;chten. Die Klubs waren teils geschlossen, teils unter strenger Aufsicht, und die <A NAME="S559"><B>&lt;559&gt;</A></B> alten Gesetze gegen die Redefreiheit bestanden und bestehen noch fort. Wie man sie gegen die Arbeiter anzuwenden versteht, davon gaben die Journale t&auml;glich Beispiele genug. Die Arbeiter, in der Unm&ouml;glichkeit, ihre eignen Vertreter sprechen zu lassen, mu&szlig;ten sich wieder mit denen begn&uuml;gen, von denen sie vor dem Februar vertreten worden waren - von den radikalen kleinen Bourgeois und ihren Wortf&uuml;hrern.</P>
<P>Da taucht die Pr&auml;sidentschaftsfrage auf. Drei Kandidaten stehn da:</P>
<P>Cavaignac, Louis-Napoleon, Ledru-Rollin. Von Cavaignac konnte f&uuml;r die Arbeiter keine Rede sein. Der Mann, der sie im Juni mit Kart&auml;tschen und Brandraketen zusammengeschossen, konnte nur auf ihren Ha&szlig; rechnen. Louis Bonaparte? F&uuml;r ihn konnten sie nur aus Ironie stimmen, um ihn heute durch die Abstimmung zu erheben, morgen durch die Waffen wieder zu st&uuml;rzen und mit ihm die honette, "reine" Bourgeoisrepublik. Und endlich Ledru-Rollin, der sich den Arbeitern als der einzige rote, sozialistisch-demokratische Kandidat empfahl.</P>
<P>Also nach den Erfahrungen von der provisorischen Regierung, vom 15. Mai und 24. Juni her, verlangte man von den Arbeitern, da&szlig; sie der radikalen kleinen Bourgeoisie und Ledru-Rollin abermals ein Vertrauensvotum geben sollten? denselben Leuten, die am 25. Februar, als das bewaffnete Proletariat Paris beherrschte, als alles durchzusetzen war, statt revolution&auml;rer Taten nur erhabne Beruhigungsphrasen, statt rascher, entscheidender Ma&szlig;regeln nur Versprechungen und Vertr&ouml;stungen, statt der Energie von [17]93 nur die Fahne, die Redensart, die Titulaturen von 93 hatten? denselben Leuten, die mit Lamartine und Marrast riefen: Man mu&szlig; vor allem die <I>Bourgeois beruhigen</I>, und die dar&uuml;ber die Revolution fortzuf&uuml;hren verga&szlig;en? denselben Leuten, die am 15. Mai unentschieden waren, und die am 23. Juni Artillerie von Vincennes und Bataillone von Orl&eacute;ans und Bourges holen lie&szlig;en?</P>
<P>Und doch h&auml;tte das Volk vielleicht, um die Stimmen nicht zu teilen, f&uuml;r Ledru-Rollin gestimmt. Aber da kam seine Rede vom 25. November gegen Cavaignac, worin er abermals sich auf die Seite der Sieger stellt, Cavaignac zum Vorwurf macht, da&szlig; er nicht energisch genug gegen die Revolution eingeschritten, nicht noch mehr Bataillone gegen die Arbeiter bereit gehabt habe.</P>
<P>Diese Rede hat Ledru-Rollin bei den Arbeitern vollends um allen Kredit gebracht. Auch jetzt noch, nach f&uuml;nf Monaten, nachdem er alle Folgen der Junischlacht sozusagen an seinem eignen Leibe hat b&uuml;&szlig;en m&uuml;ssen, auch jetzt noch h&auml;lt er es, gegen&uuml;ber den Besiegten, mit den Siegern, ist er stolz darauf, mehr Bataillone gegen die Insurgenten verlangt zu haben, als Cavaignac stellen konnte!</P>
<B><P><A NAME="S560">&lt;560&gt;</A></B>&#9;Und der Mann, dem die Junik&auml;mpfer nicht rasch genug besiegt wurden, der will Chef der Partei sein, die die Erbschaft der Erschlagnen des Juni angetreten hat?</P>
<P>Nach dieser Rede war Ledru-Rollins Kandidatur bei den Pariser Arbeitern verloren. Die Gegenkandidatur Raspails, schon fr&uuml;her aufgestellt, schon fr&uuml;her von den Sympathien der Arbeiter umgeben, hatte in Paris gesiegt. H&auml;tten die Stimmzettel von Paris zu entscheiden, Raspail w&auml;re jetzt Pr&auml;sident der Republik.</P>
<P>Die Arbeiter wissen sehr gut, da&szlig; Ledru-Rollin noch nicht ausgespielt hat, da&szlig; er der radikalen Partei noch gro&szlig;e Dienste leisten kann und wird. Aber er hat das Vertrauen der Arbeiter verscherzt. Seine Schw&auml;che, seine kleine Eitelkeit, seine Abh&auml;ngigkeit von hochfahrenden Phrasen, wodurch sogar Lamartine ihn beherrschte, <I>sie</I>, die Arbeiter, haben sie b&uuml;&szlig;en m&uuml;ssen. Kein Dienst, den er leisten kann, wird dies vergessen machen. Die Arbeiter werden immer wissen, da&szlig;, wenn Ledru-Rollin wieder energisch wird, seine Energie nur die der bewaffneten Arbeiter ist, die treibend hinter ihm stehn werden.</P>
<P>Indem die Arbeiter Ledru-Rollin ein Mi&szlig;trauensvotum gaben, gaben sie zugleich der ganzen radikalen Kleinb&uuml;rgerschaft ein Mi&szlig;trauensvotum. Die Unentschiedenheit, die Abh&auml;ngigkeit von den hergebrachten Phrasen des d&eacute;vo&ucirc;ment &lt;der Ergebenheit&gt; etc., das Vergessen der revolution&auml;ren Handlungen &uuml;ber den revolution&auml;ren Reminiszenzen sind lauter Eigenschaften, die Ledru-Rollin mit der Klasse teilt, die er vertritt.</P>
<P>Die radikalen Kleinb&uuml;rger sind blo&szlig; deshalb sozialistisch, weil sie ihren Ruin, ihren &Uuml;bergang ins Proletariat klar vor Augen sehn. Nicht als Kleinb&uuml;rger, als Besitzer eines kleinen Kapitals, sondern als zuk&uuml;nftige Proletarier schw&auml;rmen sie f&uuml;r Organisation der Arbeit und Umw&auml;lzung des Verh&auml;ltnisses von Kapital und Arbeit. Gebt ihnen die politische Herrschaft, so werden sie die Organisation der Arbeit bald vergessen. Die politische Herrschaft gibt ihnen ja, wenigstens im Rausch des ersten Augenblicks, Aussicht auf Kapitalerwerb, auf Rettung vom drohenden Ruin. Nur wenn die bewaffneten Proletarier mit gef&auml;lltem Bajonett hinter ihnen stehn, nur dann werden sie sich ihrer Bundesgenossen von gestern erinnern. So haben sie im Februar und M&auml;rz gehandelt, und Ledru-Rollin, als ihr Chef, war der erste, der so handelte. Wenn sie jetzt entt&auml;uscht sind, &auml;ndert das die Stellung der Arbeiter zu ihnen? Wenn sie bu&szlig;fertig wiederkommen, haben sie das Recht zu verlangen, da&szlig; die Arbeiter jetzt unter ganz andern Verh&auml;ltnissen abermals in die Falle gehn sollen?</P>
<B><P><A NAME="S561">&lt;561&gt;</A></B> Da&szlig; die Arbeiter dies nicht tun werden, da&szlig; sie wissen, wie sie zu den radikalen kleinen Bourgeois stehn, das geben sie ihnen zu verstehn, indem sie nicht f&uuml;r Ledru-Rollin stimmen, sondern f&uuml;r Raspail.</P>
<P>Aber Raspail - wodurch hat sich denn Raspail um die Arbeiter so verdient gemacht?. Wie kann man <I>ihn </I>gegen&uuml;ber von Ledru-Rollin als Sozialisten par excellence &lt;reinsten Wassers&gt; hinstellen?</P>
<P>Das Volk wei&szlig; recht gut, da&szlig; Raspail kein offizieller Sozialist, kein Systemmacher von Profession ist. Das Volk will die offiziellen Sozialisten und Systemmacher gar nicht, es hat sie satt. Sonst w&auml;re der B&uuml;rger Proudhon sein Kandidat und nicht der hei&szlig;bl&uuml;tige Raspail.</P>
<P>Aber das Volk hat ein gutes Ged&auml;chtnis und ist lange nicht so undankbar, wie verkannte reaktion&auml;re Gr&ouml;&szlig;en in ihrer Bescheidenheit zu sagen lieben. Das Volk erinnert sich noch sehr gut, da&szlig; Raspail der erste war, der der provisorischen Regierung ihre Unt&auml;tigkeit, ihre Besch&auml;ftigung mit blo&szlig;em republikanischen Larifari vorwarf. Das Volk hat den "Ami du Peuple", par le citoyen &lt;des B&uuml;rgers&gt; Raspail, noch nicht vergessen, und weil Raspail zuerst den Mut hatte - es geh&ouml;rte wirklich Mut dazu -, revolution&auml;r gegen die provisorische Regierung aufzutreten, und weil Raspail gar keine bestimmte sozialistische couleur &lt;F&auml;rbung&gt;, sondern nur die soziale <I>Revolution </I>vertritt - darum stimmt das Volk von Paris f&uuml;r Raspail.</P>
<P>Es handelt sich gar nicht um die paar kleinlichen, im Manifest des Bergs feierlichst als weltrettend verk&uuml;ndeten Ma&szlig;regeln. Es handelt sich um die soziale Revolution, die den Franzosen noch ganz andre Dinge bringen wird als diese zusammenhangslosen, bereits stehend gewordenen Phrasen. Es handelt sich um die Energie, diese Revolution durchzusetzen. Es handelt sich darum, ob die kleine Bourgeoisie diese Energie haben wird, nachdem sie schon einmal sich ohnm&auml;chtig erwiesen hat. Und das Proletariat von Paris, indem es f&uuml;r Raspail stimmt, antwortet: <I>Nein</I>!</P>
<P>Daher die Verwunderung der "R&eacute;forme" und "R&eacute;volution", da&szlig; man ihre Phrasen akzeptieren und doch nicht f&uuml;r Ledru-Rollin stimmen kann, der doch diese Phrasen vertritt. Diese braven Bl&auml;tter, die sich f&uuml;r Arbeiterbl&auml;tter halten und doch jetzt mehr als je vorher Bl&auml;tter der kleinen Bourgeois sind, k&ouml;nnen nat&uuml;rlich nicht einsehn, da&szlig; dieselbe Forderung im Munde der Arbeiter revolution&auml;r, in <I>ihrem </I>Munde eine blo&szlig;e Phrase ist. Sie m&uuml;&szlig;ten ja sonst ihre eignen Illusionen nicht haben!</P>
<P>Und der B&uuml;rger Proudhon und sein "Peuple"? Davon morgen.</P>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben Anfang Dezember 1848 w&auml;hrend des Aufenthalts von Engels in der Schweiz f&uuml;r die "Neue Rheinische Zeitung". Der Artikel blieb im Manuskript erhalten. Nach der Handschrift.</P>
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