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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Karl Marx/Friedrich Engels - Die grossen Maenner des Exils</TITLE>
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<P><SMALL>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unver<65>nderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 261-264</SMALL>
<P ALIGN="CENTER"><A HREF="me08_254.htm"><FONT SIZE=2>II.</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="me08_233.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="me08_265.htm"><FONT SIZE=2>IV.</FONT></A></P>
<P ALIGN="CENTER">III</P>
<B><P><A NAME="S261">&lt;261&gt;</A></B> Mit der Gefangennehmung er&ouml;ffnete sich f&uuml;r Kinkel ein neuer Lebensabschnitt, der zugleich Epoche macht in der Entwicklungsgeschichte des deutschen Spie&szlig;b&uuml;rgertums. Kaum hatte der Maikaferverein erfahren, da&szlig; Kinkel gefangen sei, als er an alle deutschen Zeitungen schrieb, Kinkel, der gro&szlig;e Dichter, sei in Gefahr, standrechtlich erschossen zu werden, und das deutsche Volk, namentlich die Gebildeten, ganz besonders aber die Frauen und Jungfrauen, seien verpflichtet, alles aufzubieten, um das Leben des gefangenen Dichters zu retten. Er selbst machte, wie versichert wird, um diese Zeit ein Gedicht, worin er sich mit "seinem Freund und Lehrer Christus" verglich und auch von sich sagte: Mein Blut wird f&uuml;r Euch vergossen. Von nun an erhielt er das Attribut der Leier. So erfuhr Deutschland pl&ouml;tzlich, da&szlig; Kinkel ein Dichter, ein gro&szlig;er Dichter war, und von diesem Augenblick an beteiligte sich die Masse des deutschen Spie&szlig;b&uuml;rgertums und des &auml;sthetischen Waschlappentums eine Zeitlang an der blauen-Blumen-Kom&ouml;die unsres Heinrich von Ofterdingen.</P>
<P>Die Preu&szlig;en stellten ihn inzwischen vor ein Kriegsgericht. Dies gab ihm Gelegenheit, sich seit langer Zeit zum erstenmal wieder in einem jener r&uuml;hrenden Appelle an die Tr&auml;nendr&uuml;sen seines Auditoriums zu versuchen, worin er fr&uuml;her schon als H&uuml;lfsprediger in K&ouml;ln so erfolgreich gewesen war - teste &lt;nach dem Zeugnis von&gt; Mockel, wie denn auch K&ouml;ln bestimmt war, bald darauf seine gl&auml;nzendste Leistung in diesem Fach zu bewundern. Er hielt vor dem Kriegsgericht eine Verteidigungsrede, welche sp&auml;ter durch Indiskretion eines Freundes leider auch dem gr&ouml;&szlig;eren Publikum in der Berliner "Abend-Post" vorgelegt wurde. In dieser Rede "verwahrt" sich Kinkel</P>
<FONT SIZE=2><P>"gegen jede Vereinigung seines Tuns mit dem Schmutz und dem Schlamm, der sich, ich wei&szlig; es, leider zuletzt an diese Revolution geh&auml;ngt hat".</P>
</FONT><B><P><A NAME="S262">&lt;262&gt;</A></B> Nach dieser &auml;u&szlig;erst revolution&auml;ren Rede wurde Kinkel zu zwanzig Jahren Festung verurteilt, die auf dem Gnadenwege jedoch in Zuchthausstrafe verwandelt wurden. Er wurde nun abgef&uuml;hrt nach Naugard, wo man ihn zum Wollespinnen verwandt haben soll, und so erscheint er, wie fr&uuml;her mit der Reisetasche, dann mit der Muskete, dann mit der Leier, jetzt mit dem Attribut des <I>Spinnrads</I>. Wir werden ihn sp&auml;ter mit dem Attribut der Geldkatze &uuml;ber den Ozean wandern sehn.</P>
<P>Inzwischen trug sich in Deutschland ein wunderliches Ereignis zu. Der deutsche Spie&szlig;b&uuml;rger, bekanntlich von Natur eine sch&ouml;ne Seele, war durch die harten Schl&auml;ge des Jahres 1849 in seinen s&uuml;&szlig;esten Illusionen grausam entt&auml;uscht. Keine Hoffnung war Wahrheit geworden, und selbst des J&uuml;nglings hochklopfende Brust begann ob der Schicksale des Vaterlandes zu verzweifeln. Eine wehm&uuml;tige Mattigkeit erweichte alle Herzen, und allgemein tat sich das Bed&uuml;rfnis kund nach einem demokratischen Christus, nach einem wirklichen oder eingebildeten Dulder, der in seinen Leiden die S&uuml;nden der Spie&szlig;b&uuml;rgerwelt mit Lammesmut tr&uuml;ge und in dessen Schmerzen die schlappe chronische Wehmut des Gesamtphilisteriums sich gleichsam in akuter Gestalt zusammenfasse. Diesem allgemein gef&uuml;hlten Bed&uuml;rfnis abzuhelfen, setzte sich der Maik&auml;ferverein, Mockel an der Spitze, in Bewegung. Und wer in der Tat war geeigneter zur Durchf&uuml;hrung dieser gro&szlig;en Passionskom&ouml;die als die gefangene Passiflora Kinkel am Spinnrad, dieser unversiegbare Tr&auml;nenschwamm der ger&uuml;hrtesten Empfindung, der au&szlig;erdem Kanzelredner, Professor der sch&ouml;nen K&uuml;nste, Deputierter, politischer Hausierer, Musketier, neuentdeckter Dichter und alter Schauspieldirektor in einer Person war? Kinkel war der Mann der Zeit, und als solcher wurde er vom deutschen Philisterium auch sofort akzeptiert. Alle Bl&auml;tter strotzten von Anekdoten, Charakterz&uuml;gen, Gedichten, Reminiszenzen des gefangenen Dichters, seine Gef&auml;ngnisleiden wurden ins Ungeheure, ins Fabelhafte ausgemalt; seine Haare wurden alle Monate einmal in den Zeitungen grau; in allen B&uuml;rger-Ressourcen und Teegesellschaften wurde seiner mit Bek&uuml;mmernis gedacht; T&ouml;chter gebildeter St&auml;nde seufzten &uuml;ber seinen Gedichten, und alte Jungfern, die die Sehnsucht kannten, weinten in den verschiedensten St&auml;dten des Vaterlandes &uuml;ber seine gebrochene Manneskraft. Alle die andern profanen Opfer der Bewegung, Erschossene, Gefallene, Gefangene, verschwanden vor dem einen Opferlamm, vor dem Mann nach dem Herzen des m&auml;nnlichen und weiblichen Philisteriums, und ihm allein flossen die Tr&auml;nenb&auml;che, die er freilich auch allein zu erwidern imstande war. Kurz, es war die vollst&auml;ndige <I>demokratische Siegwartperiode</I>, die der literarischen Siegwartperiode des vorigen Jahrhunderts um kein Haarbreit nachgab, und <A NAME="S263"><B>&lt;263&gt;</A></B> Siegwart-Kinkel f&uuml;hlte sich nie in einer Rolle besser zu Hause als in dieser, wo er gro&szlig; erschien nicht durch das, was er tat, sondern durch das, was er nicht tat; gro&szlig; nicht durch Kraft und Widerstand, sondern durch Schw&auml;che und schlappes Zusammenknicken, und wo seine einzige Aufgabe die war, mit Anstand und Gef&uuml;hl zu dulden. Mockel aber wu&szlig;te mit gereifter Erfahrung dieser Weichm&uuml;tigkeit des Publikums die praktische Seite abzugewinnen und organisierte unverz&uuml;glich eine h&ouml;chst betriebsame Industrie. Sie lie&szlig; s&auml;mtliche gedruckten und ungedruckten Werke Gottfrieds, die nun pl&ouml;tzlich Wert erhielten und en vogue &lt;in Mode&gt; kamen, neu auflegen und in der &Ouml;ffentlichkeit poussieren; sie brachte ihre eignen Lebenserfahrungen aus der Insektenwelt, z.B. die "Geschichte eines Johannisw&uuml;rmchens", bei dieser Gelegenheit an den Mann; sie lie&szlig; durch den Maik&auml;fer Strodtmann Gottfrieds geheimste Tagebuchsgef&uuml;hle f&uuml;r ein erkleckliches St&uuml;ck Geld vor dem Publikum prostituieren; sie organisierte Kollekten aller Art und wu&szlig;te &uuml;berhaupt mit unleugbarem industriellem Geschick und gro&szlig;er Ausdauer die Gef&uuml;hle der gebildeten Welt in harte Taler umzusetzen. Und dabei hatte sie au&szlig;erdem die Satisfaktion, da&szlig; sie</P>
<FONT SIZE=2><P>"in ihrem kleinen Zimmer t&auml;glich die gr&ouml;&szlig;ten M&auml;nner Deutschlands um sich versammelt sah, z.B. Adolf Stahr".</P>
</FONT><P>Die h&ouml;chste Spitze sollte diese Siegwart-Manie indes in der Assisenverhandlung zu K&ouml;ln erreichen, bei der Gottfried im Fr&uuml;hjahr 1850 eine Gastvorstellung gab. Der Proze&szlig; wegen des Siegburger Attentats wurde hier abgewickelt, und man brachte Kinkel nach K&ouml;ln. Da in dieser Skizze die Tageb&uuml;cher Gottfrieds eine so gro&szlig;e Rolle spielen, so wird es am Platze sein, wenn auch wir hier eine Stelle aus dem Tagebuch eines Augenzeugen einschalten.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Die Frau Kinkels besuchte ihn im Gef&auml;ngnis. Sie empfing ihn hinter dem Gitter mit Versen; er antwortete, wie ich glaube, in Hexametern; darauf fielen sie voreinander auf die Knie, und der Gef&auml;ngnisinspektor, ein alter Feldwebel, der daneben stand, wu&szlig;te nicht, ob er Verr&uuml;ckte oder Kom&ouml;dianten vor sich hatte. Dem Oberprokurator hat er sp&auml;ter erkl&auml;rt, als dieser nach dem Inhalt der Unterredung inquirierte, deutsch h&auml;tten die beiden zwar gesprochen, aber er habe kein Wort davon verstehen k&ouml;nnen, worauf Frau Kinkel erwidert haben soll, da&szlig; man freilich keinen Mann zum Inspektor machen m&uuml;sse, der literarisch und k&uuml;nstlerisch total ungebildet sei."</P>
</FONT><P>Vor den Geschwornen hat sich Kinkel als reine Tr&auml;nenpresse, als Literat aus der Siegwartperiode von Anno "Werthers Leiden" herausgebissen.</P>
<B><FONT SIZE=2><P><A NAME="S264">&lt;264&gt;</A></B> "'Meine Herren vom Hofe, meine Herren Geschwornen - Aurikelaugen meiner Kinder - gr&uuml;nes Wasser des Rheins - es entw&uuml;rdigt nicht, dem Proletarier die Hand zu dr&uuml;cken - bleiche Lippen des gefangenen Mannes - milde Heimatluft' - und &auml;hnlicher Dreck: das war die ganze ber&uuml;hmte Rede, und das Publikum, die Geschwornen, das &ouml;ffentliche Ministerium und sogar die Gendarmen weinten ihre bittern Tr&auml;nen, und die Verhandlung schlo&szlig; unter einstimmiger Freisprechung und einstimmigem Flennen und Schluchzen. Kinkel ist gewi&szlig; ein guter lieber Mann, aber im &uuml;brigen ein widerliches Gemisch von religi&ouml;sen, politischen und literarischen Reminiszenzen."</P>
</FONT><P>Die L&auml;use liefen einem &uuml;ber die Leber.</P>
<P>Zum Gl&uuml;ck erreichte diese Jammerperiode sehr bald ihr Ende durch die romantische Befreiung Kinkels aus dem Spandauer Zuchthaus. In dieser Befreiung wurde die Geschichte von Richard L&ouml;wenherz und Blondel wieder aufgef&uuml;hrt, nur da&szlig; Blondel diesmal im Gef&auml;ngnis sa&szlig;, w&auml;hrend L&ouml;wenherz drau&szlig;en die Drehorgel spielte, und da&szlig; der Blondel ein ordin&auml;rer B&auml;nkels&auml;nger und der L&ouml;wenherz im Grunde auch nicht viel mehr als ein Hasenfu&szlig; war. Der L&ouml;wenherz war n&auml;mlich Studiosus Schurz aus dem Maik&auml;ferverein, ein intrigantes M&auml;nnlein von gro&szlig;er Ambition und geringen Leistungen, der indes gescheut genug war, um &uuml;ber den "deutschen Lamartine" im klaren zu sein! Studiosus Schurz hat nicht gar lange nach der Befreiungsgeschichte in Paris erkl&auml;rt, er wisse sehr gut, da&szlig; Kinkel, den er benutze, kein lumen mundi &lt;keine Weltleuchte&gt; sei, w&auml;hrend er, Schurz, und niemand andres zum k&uuml;nftigen Pr&auml;sidenten der deutschen Republik bestimmt sei. Diesem M&auml;nnlein, einem jener Studiosen "im braunen Frack und lichtblauen &Uuml;berr&ouml;cken", denen Gottfrieds d&uuml;sterflammendes Auge fr&uuml;her schon nachgeschweift hatte, gelang die Befreiung Kinkels durch Aufopferung eines armen Teufels von Gef&auml;ngnisw&auml;rter, der nun daf&uuml;r brummt mit dem Hochgef&uuml;hl, M&auml;rtyrer zu sein f&uuml;r die Freiheit - von Gottfried Kinkel.</P></BODY>
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