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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Karl Marx/Friedrich Engels - Russisch-tuerkische Schwierigkeiten - Ausreden und Ausfluechte des britischen Kabinetts - Nesselrodes letzte Note - Die ostindische Frage</TITLE>
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<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 195-203<BR>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960</P>
</FONT><H2>Karl Marx/Friedrich Engels</H2>
<H1>Russisch-t&uuml;rkische Schwierigkeiten -<BR>
Ausreden und Ausfl&uuml;chte des britischen Kabinetts -<BR>
Nesselrodes letzte Note - <BR>
Die ostindische Frage</H1>
<FONT SIZE=2><P>Aus dem Englischen.</P>
</FONT><P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["New-York Daily Tribune" Nr. 3825 vom 25. Juli 1853]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S195">&lt;195&gt;</A></B> London, Dienstag, 12. Juli 1853</P>
<P>Die parlamentarische Farce vom vergangenen Donnerstag wurde am Freitag, dem 8. d.M., fortgesetzt und zu Ende gef&uuml;hrt. Lord Palmerston verlangte nicht nur, da&szlig; Herr Layard seinen Antrag bis Montag vertage, sondern da&szlig; er ihn ganz zur&uuml;ckziehe. "Dem Montag sollte es so wie dem Freitag ergehen." Herr Bright ergriff die Gelegenheit, Lord Aberdeen zu seiner vorsichtigen Politik zu gratulieren und ihn im allgemeinen seines unbedingten Vertrauens zu versichern.</P>
<P>Der "Morning Advertiser" bemerkt hierzu:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Wenn das Kabinett die Friedensgesellschaft selber w&auml;re, so h&auml;tte es nicht mehr tun k&ouml;nnen, als der gute Aberdeen tat, um Ru&szlig;land zu ermutigen, Frankreich zu entmutigen, die T&uuml;rkei zu gef&auml;hrden und England zu diskreditieren. Herrn Brights Rede sollte eine Art Manchester-Manifest zugunsten der 'Zitterer' &lt;Spottname f&uuml;r Qu&auml;ker, hier: im Sinne von Pazifisten&gt; im Kabinett bedeuten."</P>
</FONT><P>Die Bem&uuml;hungen der Minister, die beabsichtigte Interpellation Layards aus der Welt zu schaffen, entsprangen der wohlbegr&uuml;ndeten Furcht, die inneren Zwistigkeiten im Kabinett der &Ouml;ffentlichkeit nicht l&auml;nger verheimlichen zu k&ouml;nnen. Die T&uuml;rkei mu&szlig; in St&uuml;cke zerfallen, damit die Koalition beisammenbleibt. Au&szlig;er Lord Aberdeen sind noch die Minister Lord Clarendon, der Herzog von Argyll, Lord Granville, Herr Sidney Herbert, Herr Cardwell und der "radikale" Sir William Molesworth den russischen R&auml;nken g&uuml;nstig gesinnt. Lord Aberdeen soll schon mit seiner Entlassung gedroht haben. Die "kraftvolle" Partei Palmerstons (civis Romanus sum) bedurfte nur eines solchen Vorwands, um nachzugeben. Man beschlo&szlig;, an die H&ouml;fe <A NAME="S196"><B>&lt;196&gt;</A></B> von Konstantinopel und St. Petersburg gleichlautende Noten zu schicken, worin empfohlen wird,</P>
<FONT SIZE=2><P>"da&szlig; die vom Zaren f&uuml;r die griechisch-orthodoxen Christen verlangten Privilegien auch allen anderen Christen in den t&uuml;rkischen Besitzungen zugesichert werden sollten, und zwar durch einen Garantievertrag, dessen Partner die Gro&szlig;m&auml;chte sein sollten."</P>
</FONT><P>Genau denselben Vorschlag hatte man jedoch dem F&uuml;rsten Menschikow schon am Abend vor seiner Abreise aus Konstantinopel gemacht, und er war, wie jedermann wei&szlig;, ohne Erfolg geblieben. Er ist daher geradezu l&auml;cherlich, von einer Wiederholung irgendein Resultat zu erwarten, um so mehr, da jetzt kein Zweifel mehr besteht, da&szlig; Ru&szlig;land ausdr&uuml;cklich den Abschlu&szlig; eines Vertrages mit den Gro&szlig;m&auml;chten anstrebt, das hei&szlig;t mit &Ouml;sterreich und Preu&szlig;en, der auf keinen Widerstand mehr st&ouml;&szlig;t. Graf Buol, der &ouml;sterreichische Ministerpr&auml;sident, ist der Schwager des Barons von Meyendorf, des russischen Gesandten, und handelt in v&ouml;lliger &Uuml;bereinstimmung mit Ru&szlig;land. An demselben Tage, wo die beiden Koalitionsparteien, die schl&auml;frige und die "kraftvolle", die obenerw&auml;hnte Resolution fa&szlig;ten, ver&ouml;ffentlichte die "Patrie" folgendes</P>
<FONT SIZE=2><P>"Der neue &ouml;sterreichische Internuntius in Konstantinopel, Herr v. Bruck, deb&uuml;tierte damit, von der Pforte die Bezahlung von f&uuml;nf Millionen Piaster als Indemnit&auml;t und ihre Einwilligung zur &Uuml;bergabe der H&auml;fen Kleck und Suttorina zu verlangen. Diese Forderung wurde als eine Unterst&uuml;tzung Ru&szlig;lands angesehen."</P>
</FONT><P>Das ist nicht die einzige Unterst&uuml;tzung, die &Ouml;sterreich den russischen Interessen in Konstantinopel angedeihen l&auml;&szlig;t. Man erinnert sich aus dem Jahre 1848, da&szlig; die F&uuml;rsten immer f&uuml;r ein "Mi&szlig;verst&auml;ndnis" sorgten, wenn sie auf ihr Volk schie&szlig;en wollten. Der T&uuml;rkei gegen&uuml;ber wird jetzt dieselbe Kriegslist angewandt. Der &ouml;sterreichische Konsul in Smyrna veranla&szlig;te, da&szlig; ein Ungar aus einem englischen Kaffeehause gewaltsam an Bord eines &ouml;sterreichischen Schiffes verschleppt wurde; als die Emigranten diesen Gewaltakt damit beantworteten, da&szlig; sie einen &ouml;sterreichischen Offizier t&ouml;teten und einen anderen verwundeten, verlangte Herr v. Bruck binnen 24 Stunden Satisfaktion von der Pforte. Gleichzeitig mit dieser Nachricht gibt die "Morning Post" vom Sonnabend ein Ger&uuml;cht wieder, wonach die &Ouml;sterreicher in Bosnien einmarschiert seien. Als die Koalitionsminister gestern in den Sitzungen beider H&auml;user nach der Glaubw&uuml;rdigkeit dieses Ger&uuml;chts befragt wurden, waren sie selbstverst&auml;ndlich "noch nicht informiert". Russell allein wagte die Vermutung, da&szlig; das Ger&uuml;cht vielleicht blo&szlig; auf die Tatsache zur&uuml;ckzuf&uuml;hren sei, da&szlig; die &Ouml;sterreicher Truppen in Peterwardein zusammengezogen h&auml;tten. So erf&uuml;llt sich die Prophezeiung des Herrn von Tatischtschew <A NAME="S197"><B>&lt;197&gt;</A></B> aus dem Jahre 1828, da&szlig; &Ouml;sterreich, sobald die Dinge erst zur Entscheidung k&auml;men, gierig nach seinem Anteil an der Beute haschen w&uuml;rde.</P>
<P>Eine vom 26. vorigen Monats datierte Depesche aus Konstantinopel besagt:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Da sich Ger&uuml;chte verbreiteten, da&szlig; die ganze russische Flotte Sewastopol verlassen habe und nach dem Bosporus steure, hat der Sultan bei den Gesandten von England und Frankreich angefragt, ob die vereinigten Flotten bereit seien, die Dardanellen zu passieren, falls die Russen vor dem Bosporus eine Demonstration unternehmen sollten. Beide antworteten bejahend. Ein t&uuml;rkischer Dampfer, der englische und franz&ouml;sische Offiziere an Bord hat, wurde eben vom Bosporus nach dem Schwarzen Meer zur Rekognoszierung ausgesandt,"</P>
</FONT><P>Das erste, was die Russen nach ihrem Einmarsch in die F&uuml;rstent&uuml;mer taten, war das Verbot der Ver&ouml;ffentlichung des vom Sultan erlassenen Fermans, der die Privilegien der Christen aller Art best&auml;tigte, und die Unterdr&uuml;ckung einer deutschen, in Bukarest erscheinenden Zeitung, die es gewagt hatte, einen Artikel &uuml;ber die orientalische Frage zu ver&ouml;ffentlichen. Zugleich erpre&szlig;ten sie von der t&uuml;rkischen Regierung die erste j&auml;hrliche Tributzahlung, die bei ihrer fr&uuml;heren Okkupation der Moldau und Walachei 1848/49 durch Ru&szlig;land festgesetzt worden war. Seit 1828 hat das russische Protektorat die F&uuml;rstent&uuml;mer 150 Millionen Piaster gekostet, au&szlig;er den ungeheuren Verlusten, die durch Pl&uuml;nderung und Verw&uuml;stung verursacht wurden. England trug die Kosten der Kriege Ru&szlig;lands gegen Frankreich, Frankreich zahlte die Kosten des Krieges, den Ru&szlig;land gegen Persien f&uuml;hrte, Persien zahlte die Kosten des Krieges, den Ru&szlig;land gegen die T&uuml;rkei f&uuml;hrte, die T&uuml;rkei und England zahlten die Kosten des Krieges, den Ru&szlig;land gegen Polen f&uuml;hrte; Ungarn und die Donauf&uuml;rstent&uuml;mer m&uuml;ssen nun Ru&szlig;lands Krieg gegen die T&uuml;rkei bezahlen.</P>
<P>Das wichtigste Tagesereignis ist die neue Zirkularnote des Grafen Nesselrode aus St. Petersburg vom 20. Juni 1853. Er erkl&auml;rt darin, da&szlig; die russischen Armeen die Donauf&uuml;rstent&uuml;mer nicht eher r&auml;umen werden, bis der Sultan allen Forderungen des Zaren nachgegeben und die englischen und franz&ouml;sischen Flotten die t&uuml;rkischen Gew&auml;sser verlassen h&auml;tten. Diese Note klingt wie eine direkte Verh&ouml;hnung Englands und Frankreichs. In ihr hei&szlig;t es:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Die Position, welche die beiden Seem&auml;chte eingenommen haben, stellt eine maritime Besetzung dar, welche uns dazu berechtigt, das Gleichgewicht der gegenseitigen Situation durch Ergreifung einer milit&auml;rischen Position herzustellen."</P>
</FONT><P>Man beachte, da&szlig; die Besikabai 150 Meilen von Konstantinopel entfernt ist. Der Zar beansprucht f&uuml;r sich das Recht, t&uuml;rkisches Territorium zu besetzen, verbietet aber gleichzeitig England und Frankreich, von neutralen <A NAME="S198"><B>&lt;198&gt;</A></B> Gew&auml;ssern ohne seine besondere Erlaubnis Besitz zu ergreifen. Er ist selber voll des Lobes &uuml;ber seine gro&szlig;m&uuml;tige Nachsicht, mit der er der Pforte die Freiheit l&auml;&szlig;t, sich die Form zu w&auml;hlen, wie sie auf ihre Souver&auml;nit&auml;t verzichten will: "ob durch eine Konvention, einen Sened oder irgendeinen andern gegenseitigen Akt oder sogar nur durch die Unterzeichnung einer einfachen Note". Er ist &uuml;berzeugt, da&szlig; das "unparteiische Europa" es begreifen werde, da&szlig; der Vertrag von Kainardschi, der Ru&szlig;land das Recht gibt, eine einzige griechische Kapelle in Stambul zu besch&uuml;tzen, es eo ipso &lt;eben dadurch&gt; zum Rom des Orients mache. Er bedauert, da&szlig; der Westen den harmlosen Charakter eines russischen religi&ouml;sen Protektorats in fremden L&auml;ndern nicht verstehe, und belegt seine Beflissenheit, die Unverletzlichkeit der T&uuml;rkei zu erhalten, mit historischen Tatsachen. "Welch m&auml;&szlig;igen Gebrauch hat er z.B. 1829 von dem Siege von Adrianopel gemacht", wo ihn nur der j&auml;mmerliche Zustand seiner Armee und die Drohung des englischen Admirals, mit oder ohne Erlaubnis jeden K&uuml;stenplatz am Schwarzen Meer zu bombardieren, daran hinderte, unm&auml;&szlig;ig zu sein, und wo er alles, was er erreichte, nur der "Langmut" der westlichen Kabinette und der perfiden Zerst&ouml;rung der t&uuml;rkischen Flotte bei Navarino zu verdanken hatte.</P>
<FONT SIZE=2><P>"1833 habe er allein in Europa die T&uuml;rkei vor einer unvermeidlichen Zerst&uuml;cklung gerettet.</P>
</FONT><P>1833 schlo&szlig; der Zar in dem bekannten Vertrag von Hunkiar Iskelessi <I>ein Defensivb&uuml;ndnis </I>mit der T&uuml;rkei, das fremden Flotten verbat, sich Konstantinopel zu n&auml;hern, und das die T&uuml;rkei nur deshalb vor der Zerst&uuml;cklung rettete, damit sie Ru&szlig;land ganz erhalten bliebe.</P>
<FONT SIZE=2><P>"1839 ergriff er bei den anderen M&auml;chten die Initiative f&uuml;r Vorschl&auml;ge, welche gemeinschaftlich ausgef&uuml;hrt, den Sultan davor bewahrt haben, seinen Thron einem neuen arabischen Reiche weichen zu sehen."</P>
</FONT><P>Das hei&szlig;t, 1839 lie&szlig; er die anderen M&auml;chte die Initiative zur Zerst&ouml;rung der &auml;gyptischen Flotte ergreifen und veranla&szlig;te, da&szlig; der einzige Mann zur Ohnmacht verdammt wurde, der imstande gewesen w&auml;re, aus der T&uuml;rkei eine t&ouml;dliche Gefahr f&uuml;r Ru&szlig;land zu machen und einen "Paradeturban" durch einen wirklichen Kopf zu ersetzen</P>
<FONT SIZE=2><P>"Das Fundamentalprinzip der Politik unseres erhabenen Kaisers ist es immer gewesen, so lange als m&ouml;glich den Status quo im Orient aufrechtzuerhalten."</P>
</FONT><P>Das ist richtig. Der Zar hat stets eifrig daf&uuml;r gesorgt, da&szlig; die Aufl&ouml;sung des t&uuml;rkischen Staates sich ausschlie&szlig;lich unter russischer Vormundschaft vollziehe.</P>
<B><P><A NAME="S199">&lt;199&gt;</A></B> Er mu&szlig; zugegeben werden: Ein h&ouml;hnischeres Schriftst&uuml;ck ist wohl bis zum heutigen Tage noch nie den Westm&auml;chten vom Osten her ins Gesicht geschleudert worden. Aber sein Verfasser ist Nesselrode, dessen Name nicht umsonst zugleich Nessel und Zuchtrute &lt;Wortspiel: Nessel (deutsch), rod (englisch) = Rute&gt; bedeutet. F&uuml;rwahr, es ist ein Dokument daf&uuml;r, da&szlig; Europa sich unter die Zuchtrute der Konterrevolution beugt. Die Revolution&auml;re k&ouml;nnen dem Zaren zu diesem Meisterwerk gratulieren. Wenn dies der R&uuml;ckzug Europas ist, so ist es kein einfacher R&uuml;ckzug nach einer gew&ouml;hnlichen Niederlage, sondern ein R&uuml;ckzug durch die Furcae Caudinae.</P>
<P>Aber w&auml;hrend die englische K&ouml;nigin in diesem Augenblick russische F&uuml;rstinnen feiert, w&auml;hrend die aufgekl&auml;rte englische Bourgeoisie und Aristokratie dem&uuml;tig zu F&uuml;&szlig;en des barbarischen Autokraten liegt, protestiert allein das englische Proletariat gegen die Unf&auml;higkeit und die W&uuml;rdelosigkeit der herrschenden Klassen. Am 7. Juli hielt die Manchesterschule eine gro&szlig;e Friedensversammlung in der Odd-Fellows-Hall in Halifax ab. Crossley, Mitglied des Parlaments f&uuml;r Halifax, und all die anderen "gro&szlig;en M&auml;nner" der Schule waren speziell zu dieser Versammlung aus der "Stadt" &lt;London&gt; herbeigeeilt. Der Saal war &uuml;berf&uuml;llt, und viele Tausende konnten keinen Einla&szlig; finden. Ernest Jones (dessen Agitation in den Fabrikbezirken pr&auml;chtige Fortschritte macht, wie man aus der gro&szlig;en Zahl der chartistischen Petitionen im Parlament und aus den Angriffen der provinzialen Bourgeoispresse entnehmen kann) war gerade in Durham. Die Chartisten von Halifax, wo Jones schon zweimal vorgeschlagen und durch H&auml;ndeheben zum Kandidaten f&uuml;rs Unterhaus erw&auml;hlt worden ist, riefen ihn telegraphisch herbei, und er erschien gerade noch rechtzeitig in der Versammlung. Die Herren von der Manchesterschule glaubten sich schon ihres Sieges sicher und hofften, eine Resolution durchzubringen, die ihrem guten Aberdeen die Unterst&uuml;tzung der Fabrikbezirke zusichern sollte, als Ernest Jones sich erhob und ein Amendement einbrachte, das das Volk zum <I>Krieg </I>aufrief und in dem er erkl&auml;rte, der Friede sei ein Verbrechen, solange nicht die Freiheit errungen. Eine heftige Diskussion fand statt, aber die Resolution von Ernest Jones siegte mit gro&szlig;er Majorit&auml;t.</P>
<P>Die Artikel der Indienbill werden nacheinander angenommen; die Debatte hierzu weist kaum irgendwelche bemerkenswerten Z&uuml;ge auf, ausgenommen die Inkonsequenz der sogenannten Indienreformer. Da ist z.B. Mylord Jocelyn, Mitglied des Parlaments, der seine periodischen Enth&uuml;llungen indischer &Uuml;belst&auml;nde und der Mi&szlig;wirtschaft der Ostindischen Kompanie zu einer Art Lebensunterhalt gemacht hat. Was glauben Sie wohl, worauf sein <A NAME="S200"><B>&lt;200&gt;</A></B> Antrag hinauslief? Auf eine Verl&auml;ngerung der Charte der Ostindischen Kompanie auf zehn Jahre. Gl&uuml;cklicherweise hat er sich nur. allein damit blo&szlig;gestellt. Ein weiterer berufsm&auml;&szlig;iger "Reformer" ist Herr Jos[eph] Hume, dem es w&auml;hrend seiner langen parlamentarischen Laufbahn gelungen ist, die Opposition in eine besondere Form der Unterst&uuml;tzung des Kabinetts zu verwandeln. Er schlug vor, nicht die Anzahl der Direktoren der Ostindischen Kompanie von 24 auf 18 zu reduzieren. Das einzige vern&uuml;nftige Amendement, dem jetzt zugestimmt wurde, war das des Herrn Bright, in der die von der Regierung ernannten Direktoren von der Qualifikation durch den Besitz von Ostindienaktien befreit werden, die von den durch den Aufsichtsrat gew&auml;hlten Direktoren eingef&uuml;hrt worden war. Lesen Sie die von der Gesellschaft zugunsten von Reformen in Ostindien ver&ouml;ffentlichten Schriften, und Sie werden ein &auml;hnliches Gef&uuml;hl versp&uuml;ren, als wenn Sie von einer einzigen gro&szlig;en Anklageschrift gegen Bonaparte h&ouml;ren, die von Legitimisten, Orleanisten, Blauen und Roten Republikanern und sogar entt&auml;uschten Bonapartisten gemeinsam zusammengestellt wurde. Das einzige Verdienst dieser Schriften war bis jetzt, die &Ouml;ffentlichkeit ganz allgemein auf die Zust&auml;nde in Indien aufmerksam gemacht zu haben, und bei ihrer augenblicklichen Form eklektischer Opposition k&ouml;nnen sie nicht weiter gehen. W&auml;hrend sie z.B. einerseits das Treiben der englischen Aristokratie in Indien angreifen, protestieren sie andrerseits gegen die Vernichtung der indischen Aristokratie, d.h. der einheimischen F&uuml;rsten.</P>
<P>Nachdem die britischen Eindringlinge einmal indischen Boden betreten hatten und entschlossen waren, ihn zu behaupten, blieb kein anderer Weg, als die Macht der einheimischen F&uuml;rsten mit Gewalt oder durch Intrigen zu brechen. Da sich die Engl&auml;nder ihnen gegen&uuml;ber in einer &auml;hnlichen Situation befanden wie die alten R&ouml;mer in bezug auf ihre Verb&uuml;ndeten, folgten sie den Spuren r&ouml;mischer Politik. "Es war", so schreibt ein englischer Autor, "eine Methode, die Verb&uuml;ndeten zu m&auml;sten, wie wir Ochsen m&auml;sten, bis sie verschlungen werden k&ouml;nnen." Nachdem sie ihre Verb&uuml;ndeten nach dem Vorbild des alten Roms f&uuml;r sich eingenommen hatte, rechnete die Ostindische Kompanie mit ihnen auf die moderne Art der Change alley ab. Um sich ihrer Verpflichtungen zu entledigen, die sie der Kompanie gegen&uuml;ber eingegangen waren, mu&szlig;ten die einheimischen F&uuml;rsten riesige Summen zu Wucherzinsen von Engl&auml;ndern bergen. Wenn ihre Notlage den h&ouml;chsten Punkt erreicht hatte, wurde der Gl&auml;ubiger unerbittlich, "die Schraube wurde angezogen", und die F&uuml;rsten waren gezwungen, entweder ihre Territorien "freiwillig" der Kompanie abzutreten oder einen Krieg zu beginnen; im ersten Falle werden sie zu Pension&auml;ren ihrer Usurpatoren; im andern Falle <A NAME="S201"><B>&lt;201&gt;</A></B> werden sie als Verr&auml;ter ihres Thrones beraubt. Im gegenw&auml;rtigen Zeitpunkt nehmen die einheimischen F&uuml;rstenstaaten eine Fl&auml;che von 699.961 Quadratmeilen mit einer Bev&ouml;lkerung von 52.941.263 Seelen ein; aber das sind schon keine Verb&uuml;ndeten mehr, sondern auf Grund mannigfaltiger Bedingungen und unter den verschiedenartigen Formen des Subsidien- und des Schutzsystems nur die Vasallen der britischen Regierung. Diese Systeme haben eins gemeinsam: Sie verweigern gern den Eingeborenenstaaten das Recht auf selbst&auml;ndige Verteidigung, auf Aufrechterhaltung diplomatischer Beziehungen und auf die Regelung von Streitfragen untereinander ohne Einmischung des Generalgouverneurs. Sie alle m&uuml;ssen einen Tribut zahlen, entweder in Bargeld oder in Form von Truppenkontingenten, die von britischen Offizieren befehligt werden. Die endg&uuml;ltige Eingliederung oder Annexion dieser F&uuml;rstenstaaten ist im Augenblick Thema einer heftigen Kontroverse zwischen den Reformern, die eine solche Annexion als Verbrechen verurteilen, und den Gesch&auml;ftsleuten, die sie als Notwendigkeit rechtfertigen.</P>
<P>Meiner Meinung nach ist die Fragestellung selbst v&ouml;llig ungenau. Was die einheimischen F&uuml;rstenstaaten betrifft, so haben sie tats&auml;chlich in dem Augenblick zu bestehen aufgeh&ouml;rt, als sie zu Vasallen der Kompanie wurden oder unter ihren Schutz gestellt wurden. Wenn man das Nationaleinkommen eines Landes unter zwei Regierungen aufteilt, l&auml;hmt man notwendigerweise die Hilfsquellen der einen und die Verwaltung von beiden. Unter dem gegenw&auml;rtigen System erliegen die einheimischen F&uuml;rstenstaaten einem doppelten Alpdruck: dem ihrer eignen Verwaltung und dem der Tribute und unm&auml;&szlig;igen Milit&auml;rdienstleistungen, die ihnen von der Kompanie auferlegt werden. Die Bedingungen, unter denen sie ihre scheinbare Unabh&auml;ngigkeit aufrechterhalten d&uuml;rfen, sind gleichzeitig die Bedingungen, die zu ihrem andauernden Verfall und zu einer v&ouml;lligen Unf&auml;higkeit, ihre Lage zu verbessern, f&uuml;hren. Organische Schw&auml;che ist das Grundgesetz ihres Daseins wie bei jedem Organismus, der nur existiert, weil man ihn duldet. Die Frage dreht sich also nicht um die Aufrechterhaltung der einheimischen <I>Staaten</I>, sondern der einheimischen <I>F&uuml;rsten </I>und ihrer H&ouml;fe. Und ist es nicht seltsam, da&szlig; dieselben M&auml;nner, die "den barbarischen Prunk der Krone und der Aristokratie Englands" verurteilen, heute Tr&auml;nen vergie&szlig;en &uuml;ber den Sturz indischer Nabobs, Radschas und Dschagirdare, die in der &uuml;berwiegenden Mehrzahl sich nicht einmal ihres alten Geschlechts r&uuml;hmen k&ouml;nnen, da sie im allgemeinen Usurpatoren j&uuml;ngsten Datums sind, die durch englisches Intrigenspiel auf den Thron gebracht wurden! Auf der ganzen Welt gibt es keinen l&auml;cherlicheren, unsinnigeren und kindischeren Despotismus als den jener <I>Schachsenans</I> und <I>Schachriars </I>aus "Tausendundeiner Nacht". Der Herzog von <A NAME="S202"><B>&lt;202&gt;</A></B> Wellington, Sir J[ohn] Malcolm, Sir Henry Russell, Lord Ellenborough, General Briggs und andere Autorit&auml;ten haben sich f&uuml;r die Erhaltung des Status quo ausgesprochen. Doch mit welcher Begr&uuml;ndung? Weil die indischen Truppen unter englischem Kommando Besch&auml;ftigung in den kleinen Kriegsunternehmen gegen ihre eigenen Landsleute haben m&uuml;ssen, um zu verhindern, da&szlig; sie ihre Kraft gegen ihre europ&auml;ischen Herren kehren; weil das Bestehen unabh&auml;ngiger Staaten den englischen Truppen ab und zu Besch&auml;ftigung gibt; weil die Erbf&uuml;rsten die unterw&uuml;rfigsten Werkzeuge des englischen Despotismus sind und den Aufstieg jener k&uuml;hnen milit&auml;rischen Abenteurer hemmen, an denen Indien reich ist und immer reich sein wird; weil die unabh&auml;ngigen Territorien einen Zufluchtsort f&uuml;r alle unzufriedenen und wagemutigen Geister des indischen Volkes bieten. Wenn ich all diese Argumente beiseite lasse, die so beredt davon zeugen, da&szlig; die einheimischen F&uuml;rsten die Pfeiler des heutigen scheu&szlig;lichen englischen Herrschaftssystems und das gr&ouml;&szlig;te Hindernis f&uuml;r den Fortschritt Indiens sind, komme ich auf Sir Thomas Munro und Lord Elphinstone zu sprechen, die zumindest M&auml;nner von ausgezeichneter Denkungsart und von wirklichem Mitgef&uuml;hl f&uuml;r das indische Volk waren. Sie waren der Meinung, da&szlig; es ohne eine einheimische Aristokratie keine Lebenskraft in irgendeiner anderen Klasse der Gesellschaft geben kann und da&szlig; der Sturz jener Aristokratie ein ganzes Volk nicht erh&ouml;hen, sondern erniedrigen wird. Sie m&ouml;gen recht haben, solange man in Betracht zieht, da&szlig; unter der unmittelbaren Herrschaft der Engl&auml;nder die indische Bev&ouml;lkerung systematisch von allen h&ouml;heren Milit&auml;r- und Zivil&auml;mtern ausgeschlossen wird. Wo es keine gro&szlig;en M&auml;nner auf Grund eigener Leistung geben kann, mu&szlig; es gro&szlig;e M&auml;nner auf Grund von Geburt geben, um einem unterworfenen Volk wenigstens etwas eigene Gr&ouml;&szlig;e zu lassen. Dieser Ausschlu&szlig; der einheimischen Bev&ouml;lkerung von
<P>Die einheimischen F&uuml;rsten selbst verschwinden schnell durch das Aussterben ihrer Geschlechter. Doch seit Beginn dieses Jahrhunderts hat die britische Regierung die Politik verfolgt, ihnen zu gestatten, <I>Erben durch <A NAME="S203"></I><B>&lt;203&gt;</A></B> <I>Adoption </I>zu schaffen, oder ihre frei gewordenen Herrschaftssitze mit Marionetten englischer Sch&ouml;pfung zu besetzen. Der bekannte Generalgouverneur Lord Dalhousie war der erste, der offen gegen dieses System protestierte. W&uuml;rde dem nat&uuml;rlichen Lauf der Dinge nicht k&uuml;nstlich Einhalt geboten, bed&uuml;rfte es weder Kriege noch Geldausgaben, um die einheimischen F&uuml;rsten hinwegzufegen.</P>
<P>Was die <I>auf Pension gesetzten F&uuml;rsten </I>angeht, so sind die 2.468.969 Pfd.St., die ihnen f&uuml;r ihren Unterhalt von der britischen Regierung aus dem indischen Nationaleinkommen zugeteilt werden, eine &auml;u&szlig;erst schwere B&uuml;rde f&uuml;r ein Volk, das von Reis lebt und das der Mittel zur Befriedigung der notwendigsten Lebensbed&uuml;rfnisse beraubt ist. Wenn diese F&uuml;rsten f&uuml;r irgend etwas gut sind, so daf&uuml;r, ein K&ouml;nigtum in seiner tiefsten Stufe von Erniedrigung und L&auml;cherlichkeit zur Schau zu stellen. Nehmen Sie z.B. den Gro&szlig;mogul &lt;Mohammmed Bahadur Schah II.&gt;, den Nachfahren Timur Tamerlans. Er erh&auml;lt 120.000 Pfd.St. im Jahr. Seine Macht reicht nicht &uuml;ber die Mauern seines Palastes hinaus, in dem sich die k&ouml;nigliche Idiotenbrut, sich selbst &uuml;berlassen, wie die Kaninchen stark vermehrt. Sogar die Polizei in Delhi wird von Engl&auml;ndern gestellt und steht au&szlig;erhalb seiner Kontrolle. Da sitzt er auf seinem Thron, ein verhutzeltes, gelbes altes M&auml;nnchen, theatralisch aufgeputzt, in goldbestickter Kleidung wie die der Tanzm&auml;dchen von Hindustan. Bei gewissen Staatsaktionen stellt sich die mit Flitter beh&auml;ngte Marionette zur Schau, um die Herzen seiner "Untertanen" zu erfreuen. An seinen Empfangstagen m&uuml;ssen die Ausl&auml;nder ein Eintrittsgeld in Form von Guineen zahlen wie bei irgendeinem anderen Gaukler, der sich &ouml;ffentlich zur Schau stellt; w&auml;hrend er seinerseits ihnen Turbane, Diamanten usw. als Geschenke &uuml;berreicht. Wenn man sie allerdings n&auml;her betrachtet, entdeckt man, da&szlig; die k&ouml;niglichen Diamanten nichts weiter als gew&ouml;hnliche Glasst&uuml;ckchen sind, die grob bemalt und so plump wie m&ouml;glich Edelsteine imitieren und so erb&auml;rmlich zusammengef&uuml;gt sind, da&szlig; sie in der Hand wie Pfefferkuchen zerbrechen.</P>
<P>Wir m&uuml;ssen zugehen, da&szlig; die englischen Wucherer im Verein mit der englischen Aristokratie sich auf die Kunst der Erniedrigung k&ouml;niglicher Hoheiten verstehen, wenn sie sie im Mutterlande auf die Nichtigkeit des Konstitutionalismus und au&szlig;erhalb auf das abgeschlossene Dasein der Etikette beschr&auml;nken. Und dennoch sind die Radikalen gerade &uuml;ber dieses Schauspiel erbittert!</P>
<I><P ALIGN="RIGHT">Karl Marx</P>
</I>
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