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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Karl Marx - Die Geistesgestoertheit des Koenigs von Preussen</TITLE>
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<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 604-608.</P>
</FONT><H2>Karl Marx</H2>
<H1>Die Geistesgest&ouml;rtheit des K&ouml;nigs von Preu&szlig;en</H1>
<FONT SIZE=2><P>Aus dem Englischen.</FONT>&nbsp;</P>
<P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P><A NAME="S604">["New-York Daily Tribune" Nr. 5465 vom 27. Oktober 1858]</P>
</FONT><B><P>&lt;604&gt;</A></B> Berlin, 12. Oktober 1858</P>
<P>Der K&ouml;nig hat heute Berlin en route &lt;in Richtung&gt; Tirol und Italien verlassen. Unter der schweigenden Menge, die ihn am Potsdamer Bahnhof abfahren sehen wollte, befanden sich nicht wenige, die 1840 seiner Kr&ouml;nung beigewohnt und seinen feierlichen Schwur anl&auml;&szlig;lich seines ersten &ouml;ffentlichen Auftretens als Volksredner geh&ouml;rt hatten, wonach er es niemals zulassen w&uuml;rde, "da&szlig; sich ein gallisches St&uuml;ck Papier zwischen ihn und sein Volk dr&auml;nge". Der gleiche Mann hatte das Mi&szlig;geschick, nicht nur ein "gallisches St&uuml;ck Papier" - welch romantische Bezeichnung f&uuml;r eine Verfassungsurkunde oder Konstitution! - auf seinen Eid zu nehmen, sondern selbst der Taufpate der preu&szlig;ischen Verfassung zu werden und in gewissem Sinne kraft dieses gleichen verderblichen "St&uuml;ck Papiers" entthront zu werden. Den Widerspruch, der zwischen dem Erla&szlig; des K&ouml;nigs an den Prinzen von Preu&szlig;en und dem Erla&szlig; des Prinzen an das Ministerium besteht, werden Sie bemerkt haben. Der K&ouml;nig erkl&auml;rt in seinem Erla&szlig;:</P>
<FONT SIZE=2><P>" ... ersuche Ich, bei dieser Meiner, immer noch fortdauernden Verhinderung, die Regierung Selbst zu f&uuml;hren, Ew. K&ouml;nigliche Hoheit und Liebden &lt;Liebden: in der "N.-Y. D. T." deutsch&gt;, so lange etc. ... die K&ouml;nigliche Gewalt in der alleinigen Verantwortlichkeit gegen Gott, nach bestem Wissen und Gewissen in Meinem Namen als Regent aus&uuml;ben ... zu wollen."</P>
</FONT><P>In seinem Gegenerla&szlig; sagt der Prinz:</P>
<FONT SIZE=2><P>"In Folge dieser Aufforderung Sr. Majest&auml;t und auf Grund des Artikels 56 der Verfassungs-Urkunde ... will Ich - als der dem Throne am n&auml;chsten stehende Agnat - hierdurch die Regentschaft des Landes &uuml;bernehmen ... Ich habe demnach, der Bestimmung im Artikel 56 der Verfassungs-Urkunde ... gem&auml;&szlig; ..., die beiden H&auml;user des Landtages der Monarchie ... zusammenberufen ... "</P>
</FONT><B><P><A NAME="S605">&lt;605&gt;</A></B> Im k&ouml;niglichen Erla&szlig; handelt der K&ouml;nig aus eigenem Antrieb und dankt aus eigenem freiem Willen vor&uuml;bergehend ab. Der Prinz jedoch beruft sich auf die "k&ouml;nigliche Aufforderung" und gleichzeitig auf den "Artikel 56 der Verfassung", der von der Voraussetzung ausgeht, da&szlig; der K&ouml;nig schwachsinnig oder in Gefangenschaft und daher nicht in der Lage sei, die Regentschaft selbst einzusetzen. In seinem Erla&szlig; fordert der K&ouml;nig den Regenten ferner auf, seine Macht "in der alleinigen Verantwortlichkeit gegen Gott" auszu&uuml;ben, w&auml;hrend der Prinz, indem er sich auf die Verfassung bezieht, alle Verantwortlichkeit dem bestehenden Ministerium &uuml;berl&auml;&szlig;t. Gem&auml;&szlig; dem vom Regenten zitierten Artikel mu&szlig; "derjenige vollj&auml;hrige Agnat, welcher der Krone am n&auml;chsten steht", unverz&uuml;glich die Kammern einberufen, die in einer gemeinsamen Sitzung &uuml;ber die "Notwendigkeit der Regentschaft" beschlie&szlig;en sollen. Um dem Landtag diese Macht aus den H&auml;nden zu nehmen, bestand man auf der freiwilligen Abdankung des K&ouml;nigs; um aber nicht v&ouml;llig von den Launen des K&ouml;nigs abh&auml;ngig zu werden, berief man sich auf die Verfassung. Der Anspruch des Regenten enth&auml;lt also eine schwache Stelle, da er zugestandenerma&szlig;en aus zwei Rechtstiteln herr&uuml;hrt, die einander ausschlie&szlig;en. Im Artikel 58 der Verfassung hei&szlig;t es:</P>
<FONT SIZE=2><P>" ... Bis zu dieser Eidesleistung" (des Regenten) "auf die Verfassung" (vor den vereinigten Kammern) "bleibt das bestehende gesamte Staatsministerium f&uuml;r alle Regierungshandlungen verantwortlich."</P>
</FONT><P>Wie ist das in Einklang zu bringen mit der "alleinigen Verantwortlichkeit gegen Gott"? Die Anerkennung des k&ouml;niglichen Erlasses ist ein Vorwand, weil der Landtag einberufen wird, und die Einberufung des Landtags ist ein Vorwand, weil er nicht &uuml;ber die "Notwendigkeit" der Regentschaft zu beschlie&szlig;en hat. Der Prinz von Preu&szlig;en, der es 1850 ablehnte, den Eid auf die Verfassung zu leisten, sieht sich jetzt schon auf Grund der ganzen Verh&auml;ltnisse in der unangenehmen Lage, diese Verfassung nicht nur anzuerkennen, sondern auch, sich auf sie berufen zu m&uuml;ssen. Man darf nicht vergessen, da&szlig; die Anh&auml;nger des Absolutismus, besonders in den Reihen der Armee, vom Herbst 1848 an bis zum Beginn des Jahres 1850 sich mit dem Plan getragen und ihn gelegentlich sogar offen bekannt hatten, den wankelm&uuml;tigen K&ouml;nig durch den n&uuml;chternen Prinzen zu ersetzen, den jedenfalls keine geistige Elastizit&auml;t hinderte, ein gewisses Ma&szlig; an Willensst&auml;rke zu besitzen, und der &uuml;berdies durch sein Verhalten in den M&auml;rztagen, seine Flucht nach England, den gegen ihn gerichteten Volksha&szlig; und schlie&szlig;lich durch seine Gro&szlig;taten im badischen Feldzug ganz der Mann zu sein schien, um eine starke Regierung in Preu&szlig;en zu garantieren, so wie es Franz Joseph an den s&uuml;dlichen <A NAME="S606"><B>&lt;606&gt;</A></B> und Hortenses Sohn Napoleon III,&gt; an den westlichen Grenzen des Hohenzollernreiches tun. Der Prinz hat seine Grunds&auml;tze tats&auml;chlich niemals ge&auml;ndert. Jedoch mu&szlig;ten ihn die Kr&auml;nkungen, denen er und noch mehr seine Frau, eine Verehrerin Goethes, ein gebildeter Geist, ein ehrgeiziger und stolzer Charakter, seitens der K&ouml;nigin und ihrer Kamarilla ausgesetzt waren, in eine gewisse oppositionelle Haltung dr&auml;ngen. Die Krankheit des K&ouml;nigs lie&szlig; ihm keine andere Wahl, als entweder die K&ouml;nigin regieren zu lassen oder selber die Verfassung anzuerkennen. &Uuml;berdies ist jetzt ein f&uuml;r diesen Mann charakteristischer Skrupel weggefallen, der 1850 auf seinem Gem&uuml;t lastete. Damals war er einfach der erste Offizier der preu&szlig;ischen Armee, und diese Armee schw&ouml;rt nur dem K&ouml;nig Treue, nicht aber der Verfassung. H&auml;tte er 1850 den Eid auf die Verfassung geleistet, dann h&auml;tte er die Armee gebunden, die er repr&auml;sentierte. Bei der jetzigen Lage der Dinge kann er den Eid leisten; wenn es ihm aber beliebt, kann er ganz einfach durch seinen R&uuml;cktritt seinem Sohn die M&ouml;glichkeit geben, die Verfassung mit Hilfe der Armee zu beseitigen. Gerade das Beispiel der Regierung seines Bruders w&auml;hrend der vergangenen acht Jahre h&auml;tte, falls es noch eines weiteren Arguments bedurfte, zur Gen&uuml;ge den Beweis erbracht, da&szlig; die Verfassung der k&ouml;niglichen Pr&auml;rogative nur imagin&auml;re Fesseln anlegte, w&auml;hrend sie sich gleichzeitig vom finanziellen Standpunkt als eine wahre Gottesgabe erwies. Man denke nur an die finanziellen Schwierigkeiten des K&ouml;nigs w&auml;hrend der Periode von 1842 bis 1848, an die vergeblichen Versuche, vermittels der Seehandlung Geld zu borgen, die kaltbl&uuml;tigen Weigerungen der Rothschilds, einige Millionen Dollars zu leihen, an die kleinen Anleihen, die der Vereinigte Landtag 1847 ablehnte, an die v&ouml;llige Ersch&ouml;pfung der &ouml;ffentlichen Finanzen und vergleiche dann auf der anderen Seite die finanziellen Erleichterungen, die schon 1850, im ersten Jahre der Verfassung, eintraten, als drei Budgets mit einem Defizit von 70.000.000 auf einmal im Handumdrehen von den Kammern gedeckt wurden. Wahrlich, ein gro&szlig;er Narr der, der auf solch einen Mechanismus zum Geldmachen verzichten w&uuml;rde! Was das Volk betrifft, so hat die preu&szlig;ische Verfassung der traditionellen Macht der B&uuml;rokratie nur den politischen Einflu&szlig; der Aristokratie hinzugef&uuml;gt, w&auml;hrend dagegen die Krone die M&ouml;glichkeit erhalten hat, eine Staatsschuld zu schaffen und das Jahresbudget um mehr als 100 Prozent zu
<P>Schon die Geschichte dieser Verfassung ist eines der au&szlig;ergew&ouml;hnlichsten Kapitel der modernen Geschichte. Zun&auml;chst war am 20. Mai 1848 vom Kabinett Camphausen ein Verfassungsentwurf angefertigt worden, den es der <A NAME="S607"><B>&lt;607&gt;</A></B> preu&szlig;ischen Nationalversammlung vorlegte. Die Hauptbesch&auml;ftigung dieser K&ouml;rperschaft bestand darin, den Regierungsvorschlag abzu&auml;ndern. Die Versammlung war noch mit dieser Arbeit besch&auml;ftigt, als sie durch pommersche Bajonette aufgel&ouml;st wurde. Am 5. Dezember 1848 oktroyierte der K&ouml;nig eine eigene Verfassung, die jedoch, da die Zeiten noch ziemlich revolution&auml;r waren, nur als provisorisches Beruhigungsmittel wirken sollte. Um sie zu revidieren, wurden die Kammern einberufen, deren T&auml;tigkeit genau in die Epoche der z&uuml;gellosesten Reaktion fiel. Diese Kammern preu&szlig;ischen Stils erinnerten ganz und gar an Ludwigs XVIII. Chambre introuvable. Der K&ouml;nig schwankte jedoch noch. Obwohl vers&uuml;&szlig;t, obwohl vor Loyalit&auml;t &uuml;berflie&szlig;end und mit mittelalterlichen Wappenbildern geschm&uuml;ckt, war das "St&uuml;ck Papier" noch immer nicht nach des K&ouml;nigs Geschmack. Der K&ouml;nig versuchte alles, um den Verfassungskr&auml;mern die Sache zu verleiden, w&auml;hrend die letzteren ebenso entschlossen waren, sich von keiner Dem&uuml;tigung unterkriegen zu lassen, vor keinem Zugest&auml;ndnis zur&uuml;ckzuschrecken, um ihr Ziel, eine nominelle Verfassung beliebigen Inhalts, zu erlangen, und m&uuml;&szlig;ten sie im Staube kriechen. Tats&auml;chlich hoben die k&ouml;niglichen Botschaften, die einander folgten wie die Salven eines Pelotonfeuers, nicht die Resolutionen der die Verfassung revidierenden Kammern auf, da ja die letzteren blo&szlig; eine passive Haltung einnahmen, sondern im Gegenteil die Vorschl&auml;ge, die fortlaufend von des K&ouml;nigs eigenen Ministern in seinem eigenen Namen gemacht wurden. Heute haben sie einen Paragraphen vorgeschlagen. Zwei Tage sp&auml;ter, nach seiner Annahme durch die Kammern, hat man etwas daran auszusetzen, und der K&ouml;nig macht seine Ab&auml;nderung zu einer conditio sine qua non &lt;unerl&auml;&szlig;liche Bedingung&gt;. Endlich entschlo&szlig; sich der K&ouml;nig, den dieses Spiel langweilte, in seiner Botschaft vom 7. Januar 1850 zu einem letzten und endg&uuml;ltigen Versuch, seine treuen Untertanen zu veranlassen, ihre konstitutionellen Bestrebungen als hoffnungslos aufzugeben. In einer eigens zu diesem Zweck abgefa&szlig;ten Botschaft schlug er eine ganze Reihe von Ab&auml;nderungsantr&auml;gen vor, von denen er annahm, da&szlig; sie nach menschlichem Daf&uuml;rhalten nicht einmal von diesen Kammern geschluckt werden k&ouml;nnten. Sie wurden dennoch geschluckt und noch dazu mit freundlicher Miene. So blieb denn nichts weiter &uuml;brig, als der Sache ein Ende zu machen und die Verfassung zu verk&uuml;nden. Der Eid hatte noch den Beigeschmack all der possenhaften Kniffe, die die Entstehung dieser Verfassung begleitet hatten. Der K&ouml;nig akzeptierte die Verfassung mit dem Vorbehalt, da&szlig; er "es m&ouml;glich finden w&uuml;rde, mit ihr zu regieren", und die Kammern akzeptierten diese zweideutige Erkl&auml;rung als einen Eid und nahmen <A NAME="S608"><B>&lt;608&gt;</A></B> sie f&uuml;r bare M&uuml;nze; die Masse des Volkes zeigte keinerlei Interesse f&uuml;r die ganze Sache.</P>
<P>Das ist die Geschichte dieser Verfassung. Von ihrem Inhalt beabsichtige ich, <A HREF="me12_613.htm">Ihnen in einem anderen Artikel</A> eine gedr&auml;ngte &Uuml;bersicht zu geben, da dieses "windige Nichts" durch eine sonderbare Verkettung von Umst&auml;nden zumindest zur offenkundigen Operationsbasis f&uuml;r die miteinander konkurrierenden offiziellen Parteien geworden ist, die in Preu&szlig;en wie &uuml;berall dazu auserkoren sind, die allgemeine Bewegung zu beginnen, die zu gegebener Zeit die B&uuml;hne betreten mu&szlig;.</P>
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