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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<title>"Neue Rheinische Zeitung" - Programme der radikal-demokratischen Partei und der Linken
zu Frankfurt</title>
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<p align="center"><a href="me05_037.htm"><font size="2">Comit&eacute; de s&ucirc;ret&eacute;
g&eacute;n&eacute;ral</font></a> <font size="2">|</font> <a href="../me_nrz48.htm"><font size=
"2">Inhalt</font></a> <font size="2">|</font> <a href="me05_044.htm"><font size="2">Berliner
Vereinbarungsdebatten</font></a></p>
<small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 39-43<br>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971</small> <br>
<br>
<h1>Programme der radikal-demokratischen Partei und der Linken zu
Frankfurt</font></p>
<p><font size="2">["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 7 vom 7. Juni 1848]</font></p>
<p><b><a name="S39">&lt;39&gt;</a></b> **<i>K&ouml;ln</i>, 6. Juni. Wir haben unsern Lesern
gestern das "motivierte Manifest der radikal-demokratischen Partei in der konstituierenden
Nationalversammlung zu Frankfurt am Main" mitgeteilt. Unter der Rubrik Frankfurt finden sie
heute das Manifest der Linken. Beide Manifeste scheinen sich auf den ersten Blick kaum anders
zu unterscheiden als formell, indem die radikal-demokratische Partei einen unbeholfenen und die
Linke einen gewandten Redakteur besitzt. Bei genauerer Ansicht heben sich indes einige
wesentliche Unterscheidungspunkte hervor. Das radikale Manifest verlangt eine "<i>ohne
Zensus</i> und durch <i>direkte Wahlen</i>", das der Linken eine durch die <i>"freie Wahl
aller"</i> hervorgebrachte Nationalversammlung. Die <i>freie Wahl aller</i> schlie&szlig;t den
<i>Zensus</i> aus, keineswegs aber die <i>indirekte</i> Methode. Und wozu &uuml;berhaupt dieser
unbestimmte, vieldeutige Ausdruck?</p>
<p>Wir begegnen noch einmal dieser gr&ouml;&szlig;ern Weite und Biegsamkeit der Forderungen der
Linken, im Gegensatz zu den Forderungen der radikalen Partei. Die Linke verlangt "eine
vollziehende Zentralgewalt, <i>von</i> der Nationalversammlung auf Zeit gew&auml;hlt, und ihr
verantwortlich". Sie l&auml;&szlig;t unentschieden, ob diese Zentralgewalt <i>aus der Mitte der
Nationalversammlung</i> hervorgehen m&uuml;sse, wie das radikale Manifest ausdr&uuml;cklich
bestimmt.</p>
<p>Das Manifest der Linken fordert endlich sofortige Feststellung, Verk&uuml;ndigung und
Sicherstellung der Grundrechte des deutschen Volks allen m&ouml;glichen Eingriffen der
Einzelregierungen gegen&uuml;ber. Das radikale Manifest begn&uuml;gt sich nicht hiermit. Es
erkl&auml;rt,</p>
<p><font size="2">"die Versammlung vereinige jetzt noch alle Staatsgewalten des Gesamtstaates
in sich und habe die verschiedenen Gewalten und politischen Lebensformen, die sie zu
beschlie&szlig;en berufen sei, auch <i>sofort</i> in Wirksamkeit zu setzen und die innere und
&auml;u&szlig;ere Politik des Gesamtstaates zu handhaben".</font></p>
<p><b><a name="S40">&lt;40&gt;</a></b> Beide Manifeste stimmen darin &uuml;berein, da&szlig;
sie die "Konstituierung der Verfassung Deutschlands einzig und allein der Nationalversammlung"
&uuml;berlassen haben wollen und die Mitwirkung der Regierungen ausschlie&szlig;en. Beide
stimmen darin &uuml;berein, da&szlig; sie, "unbeschadet der von der Nationalversammlung zu
proklamierenden Volksrechte", den Einzelstaaten die Wahl der Verfassung freigeben, sei es der
konstitutionellen Monarchie, sei es der Republik. Beide stimmen endlich darin &uuml;berein,
da&szlig; sie Deutschland in einen Bundes- oder F&ouml;derativstaat verwandeln wollen.</p>
<p>Das radikale Manifest spricht wenigstens die <i>revolution&auml;re</i> Natur der
Nationalversammlung aus. Es nimmt die angemessene revolution&auml;re T&auml;tigkeit in
Anspruch. Das blo&szlig;e Bestehn einer <i>konstituierenden</i> Nationalversammlung, beweist es
nicht, da&szlig; keine Verfassung mehr <i>besteht</i>? Wenn aber keine Verfassung mehr besteht,
besteht keine Regierung mehr. Wenn keine Regierung mehr besteht, mu&szlig; die
Nationalversammlung selbst regieren. Ihr erstes Lebenszeichen mu&szlig;te ein Dekret in sechs
Worten sein: <i>"Der Bundestag ist f&uuml;r immer aufgel&ouml;st."</i></p>
<p>Eine konstituierende Nationalversammlung mu&szlig; vor allem eine <i>aktive</i>,
revolution&auml;r-aktive Versammlung sein. Die Versammlung in Frankfurt macht parlamentarische
Schul&uuml;bungen und l&auml;&szlig;t die Regierungen handeln. Gesetzt, es gel&auml;nge diesem
gelehrten Konzil nach allerreifster &Uuml;berlegung, die beste Tagesordnung und die beste
Verfassung auszukl&uuml;geln, was nutzt die beste Tagesordnung und die beste Verfassung, wenn
die Regierungen unterdes die Bajonette auf die Tagesordnung gesetzt?</p>
<p>Die deutsche Nationalversammlung, abgesehen davon, da&szlig; sie aus <i>indirekter</i> Wahl
hervorgegangen, leidet an einer eigent&uuml;mlich germanischen Krankheit. Sie residiert in
Frankfurt am Main, und Frankfurt am Main ist nur ein idealer Mittelpunkt, wie er der bisherigen
idealen, d.h. nur eingebildeten Einheit Deutschlands entsprach. Frankfurt am Main ist auch
keine gro&szlig;e Stadt mit einer gro&szlig;en revolution&auml;ren Bev&ouml;lkerung, die hinter
der Nationalversammlung steht, teils sch&uuml;tzend, teils vorw&auml;rts treibend. Zum
erstenmal in der Weltgeschichte residiert die konstituierende Versammlung einer gro&szlig;en
Nation in einer kleinen Stadt. Die bisherige deutsche Entwickelung brachte dies mit sich.
W&auml;hrend franz&ouml;sische und englische Nationalversammlungen auf einem feuerspeienden
Boden standen - Paris und London -, mu&szlig;te die deutsche Nationalversammlung sich
gl&uuml;cklich sch&auml;tzen, einen <i>neutralen</i> Boden zu finden, einen neutralen Boden, wo
sie in aller behaglichen Stille des Gem&uuml;ts &uuml;ber die beste Verfassung und die beste
Tagesordnung nachdenken kann. Dennoch bot ihr der augenblickliche Zustand Deutschlands
Gelegenheit, ihre ungl&uuml;ckliche materielle Situation zu &uuml;ber- <a name=
"S41"><b>&lt;41&gt;</b></a> winden. Sie brauchte nur &uuml;berall den reaktion&auml;ren
&Uuml;bergriffen &uuml;berlebter Regierungen diktatorisch entgegenzutreten, und sie eroberte
sich eine Macht in der Volksmeinung, an der alle Bajonette und Kolben zersplittert w&auml;ren.
Statt dessen &uuml;berl&auml;&szlig;t sie unter ihren Augen Mainz der Willk&uuml;r der
Soldateska und deutsche Ausl&auml;nder den Schikanen Frankfurter Pfahlb&uuml;rger. &lt;Siehe <a
href="me05_014.htm">"Die Frankfurter Versammlung"</a>&gt; Sie langweilt das deutsche Volk,
statt es mit sich fortzurei&szlig;en oder von ihm fortgerissen zu werden. Es existiert f&uuml;r
sie zwar ein <i>Publikum</i>, das einstweilen noch mit gutm&uuml;tigem Humor den burlesken
Bewegungen des wiedererwachten heiligen r&ouml;mischen deutschen Reichstagsgespenstes zusieht,
aber es existiert f&uuml;r sie kein <i>Volk</i>, das in ihrem Leben sein eignes Leben
wiederf&auml;nde. Weit entfernt, das Zentralorgan der revolution&auml;ren Bewegung zu sein, war
sie bisher nicht einmal ihr Echo.</p>
<p>Bildet die Nationalversammlung eine Zentralgewalt aus ihrem Scho&szlig;e, so ist bei ihrer
jetzigen Zusammensetzung und nachdem sie den g&uuml;nstigen Augenblick unbenutzt hat
vor&uuml;bergehen lassen, wenig Erquickliches von dieser provisorischen Regierung zu erwarten.
Bildet sie keine Zentralgewalt, so hat sie ihre eigne Abdankung unterschrieben und wird bei dem
schw&auml;chsten revolution&auml;ren Luftzug nach allen Seiten hin auseinanderstieben.</p>
<p>Das Programm der Linken, wie der radikalen Seite, hat das Verdienst, diese Notwendigkeit
begriffen zu haben. Beide Programme rufen auch mit Heine aus:</p>
<div style="margin-left: 12em">
<p><font size="2">"Bedenk' ich die Sache ganz genau,<br>
So brauchen wir gar keinen Kaiser",<br>
&lt;"Deutschland. Ein Winterm&auml;rchen", Kaput XVI&gt;</font></p>
</div>
<p>und die Schwierigkeit, "<i>wer</i> der Kaiser sein soll", die vielen guten Gr&uuml;nde, die
f&uuml;r einen Wahlkaiser und die ebenso guten Gr&uuml;nde, die f&uuml;r einen Erbkaiser
sprechen, werden auch die konservative Majorit&auml;t der Versammlung zwingen, den gordischen
Knoten zu durchhauen, indem sie <i>gar keinen Kaiser</i> w&auml;hlt.</p>
<p>Unbegreiflich ist es, wie die sogenannte radikal-demokratische Partei eine
<i>F&ouml;deration</i> von konstitutionellen Monarchien, F&uuml;rstent&uuml;mchen und
Republikchen, einen aus so heterogenen Elementen zusammengesetzten Bundesstaat mit einer
republikanischen Regierung an der Spitze - denn weiter ist doch wohl der von der Linken
akzeptierte Zentralausschu&szlig; nichts - als schlie&szlig;liche Verfassung Deutschlands hat
proklamieren k&ouml;nnen.</p>
<p>Kein Zweifel. Zun&auml;chst mu&szlig; die von der Nationalversammlung gew&auml;hlte
Zentralregierung Deutschlands <i>neben</i> den faktisch noch bestehenden Regierungen sich
erheben. Aber mit ihrer Existenz beginnt schon ihr Kampf mit den Einzelregierungen, und in
diesem Kampfe geht die Gesamtregierung mit <a name="S42"><b>&lt;42&gt;</b></a> der Einheit
Deutschlands unter oder die Einzelregierungen mit ihren konstitutionellen F&uuml;rsten oder
Winkelrepublikchen.</p>
<p>Wir stellen nicht das utopistische Verlangen, da&szlig; a priori &lt;von vornherein&gt; eine
<i>einige unteilbare deutsche Republik</i> proklamiert werde, aber wir verlangen von der
sogenannten radikal-demokratischen Partei, den Ausgangspunkt des Kampfes und der
revolution&auml;ren Bewegung nicht mit ihrem Zielpunkt zu verwechseln. Die deutsche Einheit wie
die deutsche Verfassung k&ouml;nnen nur als Resultat aus einer Bewegung hervorgehen, worin
ebensosehr die inneren Konflikte als der Krieg mit dem Osten zur Entscheidung treiben werden.
Die definitive Konstituierung kann nicht <i>dekretiert</i> werden; sie f&auml;llt zusammen mit
der Bewegung, die wir zu durchlaufen haben. Es handelt sich daher auch nicht um die
Verwirklichung dieser oder jener Meinung, dieser oder jener politischen Idee; es handelt sich
um die Einsicht in den Gang der Entwicklung. Die Nationalversammlung hat nur die zun&auml;chst
praktisch m&ouml;glichen Schritte zu tun.</p>
<p>Nichts konfuser als der Einfall des Redakteurs des demokratischen Manifestes, so sehr er uns
versichert, "jeder Mensch ist froh, seine Konfusion loszuwerden", als an dem
<i>nordamerikanischen F&ouml;derativstaat</i> sich das Ma&szlig; der deutschen Verfassung
nehmen zu wollen!</p>
<p>Die Vereinigten Staaten von Nordamerika, abgesehen davon, da&szlig; sie alle gleichartig
konstituiert sind, erstrecken sich &uuml;ber eine Fl&auml;che so gro&szlig; wie das
zivilisierte Europa. Nur in einer <i>europ&auml;ischen</i> F&ouml;deration k&ouml;nnten sie
eine Analogie finden. Und damit Deutschland sich mit andern L&auml;ndern f&ouml;deriert,
mu&szlig; es vor allem <i>ein</i> Land werden. In Deutschland ist der Kampf der Zentralisation
mit dem F&ouml;derativwesen der Kampf zwischen der modernen Kultur und dem Feudalismus.
Deutschland verfiel in ein verb&uuml;rgerlichtes Feudalwesen in demselben Augenblicke, wo sich
die gro&szlig;en Monarchien im Westen bildeten, aber es wurde auch von dem Weltmarkt
ausgeschlossen in demselben Augenblicke, wo dieser sich dem westlichen Europa er&ouml;ffnete.
Es verarmte, w&auml;hrend sie sich bereicherten. Es verbauerte, w&auml;hrend sie
gro&szlig;st&auml;dtisch wurden. Klopfte nicht Ru&szlig;land an die Pforten Deutschlands an,
die national&ouml;konomischen Verh&auml;ltnisse allein wurden es zur straffesten Zentralisation
zwingen. Selbst nur vom b&uuml;rgerlichen Standpunkt betrachtet, ist die widerspruchslose
Einheit Deutschlands die erste Bedingung, um es aus der bisherigen Misere zu erretten und den
Nationalreichtum zu erschaffen. Und wie nun gar die modernen sozialen Aufgaben l&ouml;sen auf
einem in 39 L&auml;ndchen zersplitterten Terrain?</p>
<p><b><a name="S43">&lt;43&gt;</a></b> Der Redakteur des demokratischen Programms hat
&uuml;brigens nicht n&ouml;tig, auf untergeordnete materielle &ouml;konomische
Verh&auml;ltnisse einzugehen. Er h&auml;lt sich in seiner Motivierung an den Begriff
F&ouml;deration. Die <i>F&ouml;deration</i> ist eine <i>Vereinigung Freier</i> und
<i>Gleicher</i>. <i>Also</i> mu&szlig; Deutschland ein <i>F&ouml;derativstaat</i> sein.
K&ouml;nnen sich die Deutschen nicht auch zu <i>einem</i> gro&szlig;en Staat f&ouml;derieren,
ohne gegen den Begriff von einer Vereinigung Freier und Gleicher zu s&uuml;ndigen?</p>
</body>
</html>