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<!DOCTYPE HTML PUBLIC "-//W3C//DTD HTML 3.2//EN">
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<title>"Neue Rheinische Zeitung" - Die Junirevolution (Der Verlauf des Aufstandes in
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Paris)</title>
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<link rel=stylesheet type="text/css" href="http://www.mlwerke.de/css/artikel.css">
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</head>
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< ALIGN="CENTER"P><a href="me05_138.htm"><font size="2">Die "Kölnische Zeitung"
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über die Junirevolution</font></a> <font size="2">|</font> <a href="../me_nrz48.htm"><font
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size="2">Inhalt</font></a> <font size="2">|</font> <a href="me05_154.htm"><font size=
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"2">Auswärtige deutsche Politik</font></a><br>
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<small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S.
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145-153<br>
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Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971</small> <br>
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<h1>Die Junirevolution<br>
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</font> [Der Verlauf des Aufstandes in Paris]</p>
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<p><font size="2">["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 31 vom 1. Juli 1848]</font></p>
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<p><b><a name="S145"><145></a></b> ** Allmählich kommt man dazu, die Junirevolution
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zu überschauen; die Berichte vervollständigen sich, die Tatsachen lassen sich von den
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Gerüchten wie von den Lügen scheiden, der Charakter des Aufstandes tritt immer klarer
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hervor. Und je mehr es einem gelingt, die Ereignisse der vier Junitage in ihrem Zusammenhange
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zu erfassen, desto mehr erstaunt man über die kolossalen Dimensionen des Aufstandes,
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über den heroischen Mut, die rasch improvisierte Organisation, die Einstimmigkeit der
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Insurgenten.</p>
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<p>Der Schlachtplan der Arbeiter, der von Kersausie, einem Freunde Paspails und ehemaligem
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Offizier, gemacht sein soll, war folgender:</p>
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<p>Die Insurgenten rückten in vier Kolonnen in konzentrischer Bewegung auf das Stadthaus
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zu.</p>
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<p>Die erste Kolonne, deren Operationsbasis die Vorstädte Montmartre, La Chapelle und La
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Villette waren, rückte von den Barrieren Poissonnière, Rochechouart, St. Denis und
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La Villette nach Süden, besetzte die Boulevards und näherte sich dem Stadthause durch
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die Straßen Montorgueil, St. Denis und St. Martin.</p>
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<p>Die zweite Kolonne, deren Basis die fast ganz von Arbeitern bewohnten und durch den Kanal
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St. Martin gedeckten Faubourgs du Temple und St. Antoine waren, rückte durch die
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Straßen du Temple und St. Antoine und über die Quais des nördlichen Seineufers
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sowie durch alle Parallelstraßen der dazwischenliegenden Stadtviertel auf dasselbe
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Zentrum vor.</p>
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<p>Die dritte Kolonne, mit dem Faubourg St. Marceau, rückte vor durch die Straße St.
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Victor und die Quais des südlichen Seineufers auf die Insel der Cité.</p>
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<p>Die vierte Kolonne, gestützt auf das Faubourg St. Jacques und die Gegend der
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medizinischen Schule, rückte vor durch die Straße Saint Jacques ebenfalls auf die
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Cité. Von hier aus drangen beide Kolonnen vereinigt durch das rechte Seineufer und
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nahmen das Stadthaus im Rücken und in der Flanke.</p>
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<p><b><a name="S146"><146></a></b> Der Plan stützte sich demnach mit Recht auf die
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ausschließlich von Arbeitern bewohnten Stadtteile, die die ganze östliche
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Hälfte von Paris in einem Halbkreis umgeben und je breiter werden, desto mehr man nach
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Osten kommt. Der Osten von Paris sollte erst von allen Feinden gesäubert werden, und dann
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wollte man auf beiden Seineufern gegen den Westen und dessen Zentren, die Tuilerien und die
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Nationalversammlung, rücken.</p>
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<p>Diese Kolonnen sollten von einer Menge fliegender Korps unterstützt werden, die neben
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und zwischen ihnen auf eigne Faust operierten, Barrikaden aufwarfen, die kleinen Straßen
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besetzten und die Verbindungen aufrechterhielten.</p>
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<p>Für den Fall eines Rückzugs waren die Operationsbasen stark verschanzt und
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kunstgerecht in furchtbare Festungen verwandelt; so das Clos St. Lazare, so das Faubourg und
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das Quartier St. Antoine und das Faubourg St. Jacques.</p>
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<p>Wenn dieser Plan einen Fehler hatte, so war es der, daß er die westliche Hälfte
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von Paris für den Anfang der Operationen ganz unberücksichtigt ließ. Hier
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liegen, zu beiden Seiten der Straße St. Honoré, an den Hallen und am Palais
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National mehrere zu Emeuten vorzüglich geeignete Viertel, die sehr enge und krumme
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Straßen haben und vorwiegend von Arbeitern bewohnt sind. Es war wichtig, hier einen
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fünften Herd der Insurrektion anzulegen und dadurch sowohl das Stadthaus abzuschneiden wie
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auch eine große Truppenmasse an diesem vorspringenden Bollwerk zu beschäftigen. Der
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Sieg des Aufstandes hing davon ab, daß man so bald wie möglich ins Zentrum von Paris
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vordrang, daß man die Eroberung des Stadthauses sicherstellte. Wir können nicht
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wissen, inwiefern es für Kersausie unmöglich war, hier die Insurrektion zu
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organisieren. Es ist aber eine Tatsache, daß noch nie ein Aufstand durchgedrungen ist,
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der sich nicht von vornherein dieses Zentrums von Paris, das an die Tuilerien stößt,
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zu bemächtigen wußte. Wir erinnern nur an den Aufstand beim Begräbnis des
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Generals Lamarque, der ebenfalls bis zur Straße Montorgueil vordrang, dann aber wieder
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zurückgedrängt wurde.</p>
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<p>Die Insurgenten rückten nach ihrem Plane vor. Sie begannen gleich durch zwei Hauptwerke
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ihr Terrain, das Paris der Arbeiter, von dem Paris der Bourgeois zu scheiden: durch die
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Barrikaden der Porte Saint Denis und die der Cité. Aus ersteren wurden sie
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verdrängt, die letzteren behaupteten sie. Der erste Tag, der 23., war ein bloßes
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Vorspiel. Der Plan der Insurgenten trat schon klar hervor (wie ihn die "Neue Rh[einische]
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Z[ei]t[un]g" auch von Anfang an ganz richtig aufgefaßt hat, s. Nr. 26, Extrabeilage
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<Siehe <a href="me05_112.htm">"Details über den 23. Juni"</a>>), namentlich nach den
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<a name="S147"><b><147></b></a> ersten Vorpostengefechten des Morgens. Der Boulevard St.
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Martin, der die Operationslinie der ersten Kolonne durchkreuzt, wurde der Schauplatz heftiger
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Kampfe, die hier mit dem teilweise durch die Lokalität bedingten Siege der "Ordnung"
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endigten.</p>
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<p>Die Zugänge der Cité wurden abgeschnitten, rechts durch ein fliegendes Korps,
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das in der Straße Planche-Mibray sich festsetzte, links durch die dritte und vierte
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Kolonne, die die drei südlichen Brücken der Cité besetzten und befestigten.
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Hier entspann sich ebenfalls ein sehr heftiger Kampf. Es gelang der "Ordnung", sich der
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Brücke St. Michel zu bemächtigen und bis zur Straße St. Jacques vorzudringen.
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Bis zum Abend, schmeichelte sie sich, war die Erneute unterdrückt.</p>
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<p>Wenn der Plan der Insurgenten schon deutlich hervorgetreten war, so war es der der "Ordnung"
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mehr. Ihr Plan bestand vorderhand nur darin, die Insurrektion mit allen Mitteln zu
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unterdrücken. Diese Absicht kündigte sie den Insurgenten mit Kanonenkugeln und
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Kartätschen an.</p>
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<p>Aber die Regierung glaubte, eine rohe Bande gewöhnlicher, planlos wirkender Emeutiers
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<Unruhestifter> gegenüber zu haben. Nachdem sie bis gegen Abend die
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Hauptstraßen frei gemacht hatten, erklärte sie, die Emeute sei besiegt, und besetzte
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die eroberten Stadtteile nur höchst nachlässig mit Truppen.</p>
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<p>Die Insurgenten wußten diese Nachlässigkeit vortrefflich zu benutzen, um nach den
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Vorpostengefechten vom 23. die große Schlacht einzuleiten. Es ist überhaupt
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wunderbar, wie rasch die Arbeiter sich den Operationsplan aneigneten, wie
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gleichmäßig sie einander in die Hände arbeiteten, wie geschickt sie das so
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verwickelte Terrain zu benutzen wußten. Dies wäre rein unerklärlich, wenn nicht
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die Arbeiter schon in den Nationalwerkstätten ziemlich militärisch organisiert und in
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Kompanien eingeteilt gewesen wären, so daß sie ihre industrielle Organisation nur
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auf ihre kriegerische Tätigkeit zu übertragen brauchten, um sogleich eine
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vollständig gegliederte Armee zu bilden.</p>
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<p>Am Morgen des 24. war das verlorene Terrain nicht nur gänzlich wieder besetzt, sondern
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noch neues hinzugenommen. Die Linie der Boulevards bis zum Boulevard du Temple blieb freilich
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von den Truppen besetzt und damit die erste Kolonne vom Zentrum abgeschnitten; dafür aber
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drang die zweite Kolonne vom Quartier St. Antoine vor, bis sie das Stadthaus fast umzingelt
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hatte. Sie schlug ihr Hauptquartier in der Kirche St. Gervais auf, 300 Schritt vom Stadthaus,
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sie eroberte das Kloster St. Merry und die umliegenden Straßen; sie drang bis weit
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über das Stadthaus hinaus und schnitt dieses, in Ver- <a name=
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"S148"><b><148></b></a> bindung mit den Kolonnen der Cité, fast gänzlich ab.
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Nur ein Zugang blieb offen: die Quais des rechten Ufers. Im Süden war das Faubourg St.
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Jacques wieder gänzlich besetzt, die Verbindungen mit der Cité hergestellt, die
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Cité verstärkt und der Übergang aufs rechte Ufer vorbereitet.</p>
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<p>Da war allerdings keine Zeit mehr zu verlieren; das Stadthaus, das revolutionäre
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Zentrum von Paris, war bedroht und mußte fallen, wenn nicht die entschiedensten
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Maßregeln ergriffen wurden.</p>
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<p><font size="2">["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 32 vom 2. Juli 1848]</font></p>
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<p>** Die erschrockene Nationalversammlung ernannte Cavaignac zum Diktator", und dieser, von
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Algier her an "energisches" Einschreiten gewöhnt, wußte was zu tun war.</p>
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<p>Sofort rückten 10 Bataillone den breiten Quai de l'École entlang nach dem
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Stadthause zu. Sie schnitten die Verbindungen der Insurgenten der Cité mit dem rechten
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Ufer ab, stellten das Stadthaus sicher und erlaubten sogar Angriffe auf die Barrikaden, die das
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Stadthaus umgaben.</p>
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<p>Die Straße Planche-Mibray und ihre Verlängerung, die Straße Saint Martin,
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wurde gereinigt und durch Kavallerie fortwährend rein gehalten. Die gegenüberliegende
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Brücke Notre-Dame, die nach der Cité führt, wurde durch schweres Geschütz
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gefegt, und nun rückte Cavaignac direkt auf die Cité los, um dort "energisch" zu
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verfahren. Der Hauptposten der Insurgenten, die "Belle Jardinière" <"Schöne
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Gärtnerin", bekanntes Kleiderhaus>, wurde erst durch Kanonenkugeln zerschossen, dann
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durch Raketen in Brand gesteckt; die Rue de la Cité wurde ebenfalls durch Kanonenkugeln
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erobert; drei Brücken nach dem linken Ufer wurden mit Sturm genommen und die Insurgenten
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auf dem linken Ufer entschieden zurückgedrängt. Inzwischen befreiten die 14
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Bataillone, die auf dem Grèveplatz und den Quais standen, das schon belagerte Stadthaus,
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und die Kirche Saint Gervais wurde aus einem Hauptquartier auf einen verlornen Vorposten der
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Insurgenten reduziert.</p>
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<p>Die Straße St. Jacques wurde nicht nur von der Cité her mit Artillerie
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angegriffen, sondern auch vom linken Ufer her in die Flanke genommen. Der General Damesme drang
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längs dem Luxembourg nach der Sorbonne vor, eroberte das Lateinische Viertel und sandte
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seine Kolonnen gegen das Panthéon. Der Platz des Panthéons war in eine furchtbare
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Festung verwandelt. Die Straße St. Jacques war längst genommen, als die "Ordnung"
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hier immer noch ein unangreifbares Bollwerk fand. Kanonen und Bajonettangriffe waren <a name=
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"S149"><b><149></b></a> vergebens gewesen, als endlich Ermüdung, Mangel an Munition
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und die von den Bourgeois angedrohte Brandstiftung die von allen Seiten umringten 1.500
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Arbeiter zwangen, sich zu ergeben. Um dieselbe Zeit fiel der Platz Maubert nach langer, tapfrer
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Gegenwehr in die Hände der "Ordnung", und die Insurgenten, aus ihren festesten Positionen
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verdrängt, wurden genötigt, das ganze linke Seineufer aufzugeben.</p>
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<p>Inzwischen wurde die Stellung der Truppen und Nationalgarden auf den Boulevards des rechten
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Seineufers ebenfalls benutzt, um nach beiden Seiten hin zu wirken. Lamoricière, der hier
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kommandierte, ließ die Straßen der Faubourgs St. Denis und St. Martin, den
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Boulevard du Temple und die halbe Templestraße durch schweres Geschütz und durch
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rasche Truppenangriffe fegen. Er konnte sich rühmen, bis abends glänzende Erfolge
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erkämpft zu haben: Er hatte die erste Kolonne im Clos St. Lazare abgeschnitten und zur
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Hälfte umzingelt, die zweite zurückgedrängt und durch sein Vordringen auf den
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Boulevards einen Keil in sie hineingetrieben.</p>
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<p>Wodurch hatte Cavaignac diese Vorteile erobert?</p>
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<p>Erstens durch die ungeheure Übermacht, die er gegen die Insurgenten entwickeln konnte.
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Er hatte am 24. nicht nur die 20.000 Mann Garnison von Paris, die 20.000 bis 25.000 Mann
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Mobilgarde und die 60.000 bis 80.000 Mann disponible Nationalgarde zu seiner Verfügung,
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sondern auch die Nationalgarde der ganzen Umgegend von Paris und mancher entfernteren Stadt
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(20.000 bis 30.000 Mann), und ferner 20.000 bis 30.000 Mann Truppen, die aus den umliegenden
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Garnisonen schleunigst herbeigerufen waren. Am 24. morgens standen ihm schon weit über
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100.000 Mann zur Verfügung, die bis abends sich noch um die Hälfte vermehrten. Und
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die Insurgenten waren höchstens 40.000 bis 50.000 Mann stark!</p>
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<p>Zweitens durch die brutalen Mittel, die er anwandte. Bisher war nur <i>einmal</i> in den
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Straßen von Paris mit Kanonen geschossen worden - im Vendemiaire 1795, als Napoleon die
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Insurgenten in der Rue Saint Honoré mit Kartätschen auseinanderjagte. Aber gegen
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Barrikaden, gegen Häuser war noch nie Artillerie angewandt und noch viel weniger Granaten
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und Brandraketen. Das Volk war noch nicht darauf vorbereitet; es war wehrlos dagegen, und das
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einzige Gegenmittel, das Brennen, widerstrebte seinem noblen Gefühl. Das Volk hatte bisher
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keine Ahnung von solch einer algierschen Kriegführung mitten in Paris gehabt. Darum wich
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es zurück, und sein erstes Zurückweichen entschied seine Niederlage.</p>
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<p>Am 25. rückte Cavaignac mit noch weit größeren Kräften vor. Die
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Insurgenten waren auf ein einziges Viertel beschränkt, auf die Faubourgs Saint Antoine und
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du Temple; außerdem besaßen sie noch zwei vorgeschobne <a name=
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"S150"><b><150></b></a> Posten, das Clos St. Lazare und einen Teil des Viertels St.
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Antoine bis zur Brücke von Damiette.</p>
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<p>Cavaignac, der wieder 20.000 bis 30.000 Mann Verstärkungen nebst bedeutenden
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Artillerieparks an sich gezogen hatte, ließ zuerst die abgesonderten Vorposten der
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Insurgenten angreifen, namentlich das Clos St. Lazare. Hier waren die Insurgenten wie in einer
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Zitadelle verschanzt. Nach zwölfstündigem Kanonieren und Granatenwerfen gelang es
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Lamoricière endlich, die Insurgenten aus ihren Stellungen zu vertreiben und das Clos zu
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besetzen; es gelang ihm jedoch erst, nachdem er einen Flankenangriff von den Straßen
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Rochechouart und Poissonnière her möglich gemacht und nachdem er die Barrikaden den
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ersten Tag mit 40, den zweiten mit noch mehr Geschützen hatte zusammenschießen
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lassen.</p>
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<p>Ein andrer Teil seiner Kolonne drang durch das Faubourg Saint Martin in das Faubourg du
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Temple, erreichte aber keinen großen Erfolg; ein dritter rückte die Boulevards
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hinunter nach der Bastille zu, kam aber ebenfalls nicht weit, da hier eine Reihe der
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furchtbarsten Barrikaden erst nach langem Widerstand einer heftigen Kanonade erlag. Hier wurden
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die Häuser furchtbar zerstört.</p>
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<p>Die Kolonne Duviviers, die vom Stadthause her angriff, trieb die Insurgenten unter
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fortwährendem Kanonenfeuer immer weiter zurück. Die Kirche St. Gervais wurde
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genommen, die Straße Saint Antoine bis weit vom Stadthause gesäubert und durch
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mehrere den Quai und seine Parallelstraßen entlangrückende Kolonnen wurde die
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Brücke Damiette genommen, vermittelst welcher die Insurgenten des Viertels St. Antoine
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sich an die der Inseln St. Louis und Cité anlehnten. Das Viertel Saint Antoine war
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flankiert, und den Insurgenten blieb nur noch der Rückzug ins Faubourg, den sie unter
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heftigen Gefechten mit einer über die Quais bis zur Mündung des Kanals St. Martin und
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von da längs dem Kanal auf dem Boulevard Bourdon vorrückenden Kolonne
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bewerkstelligten. Einige wenige Abgeschnittene wurden massakriert, nur wenige wurden als
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Gefangene eingebracht.</p>
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<p>Durch diese Operation war das Viertel St. Antoine und der Bastillenplatz erobert. Gegen
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Abend gelang es der Kolonne Lamoricières, den Boulevard Beaumarchais ganz zu erobern und
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auf dem Bastillenplatze ihre Vereinigung mit den Truppen Duviviers zu bewerkstelligen.</p>
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<p>Die Eroberung der Brücke von Damiette erlaubte Duvivier, die Insurgenten von der Insel
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St. Louis und der ehemaligen Insel Louvier zu vertreiben. Er tat dies mit einem
|
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|
anerkennenswerten Aufwand von algierischer Barbarei. In wenig Stadtteilen wurde das schwere
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|
Geschütz mit so verwüstendem Erfolg angewandt wie gerade auf der Insel St. Louis.
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Doch was machte <a name="S151"><b><151></b></a> das? Die Insurgenten waren vertrieben
|
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|
oder massakriert, und die "Ordnung" triumphierte unter den blutbefleckten Trümmern.</p>
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<p>Auf dem linken Seineufer war noch ein Posten zu erobern. Die Austerlitzer Brücke, die
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östlich vom Kanal St. Martin das Faubourg St. Antoine mit dem linken Seineufer verbindet,
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war stark verbarrikadiert und auf dem linken Ufer, wo sie auf dem Platz Valhubert vor dem
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Pflanzengarten mündet, mit einem starken Brückenkopf versehen. Dieser
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||
|
Brückenkopf, nach dem Fall des Panthéons und des Platzes Maubert die letzte Schanze
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der Insurgenten auf dem linken Ufer, wurde nach hartnäckiger Verteidigung genommen.</p>
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<p>Für den nächsten Tag, den 26., bleibt den Insurgenten also nur ihre letzte
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|
Festung, das Faubourg St. Antoine und ein Teil des Faubourgs du Temple. Beide Faubourgs sind
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nicht sehr zu Straßenkämpfen geeignet; sie haben ziemlich breite und fast ganz grade
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Straßen, die der Artillerie einen trefflichen Spielraum lassen. Von der westlichen Seite
|
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|
sind sie durch den Kanal St. Martin vortrefflich gedeckt, von der nördlichen dagegen ganz
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|
offen. Hier gehen fünf bis sechs ganz grade und breite Straßen mitten ins Herz des
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||
|
Faubourg Saint Antoine hinab.</p>
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<p>Die Hauptbefestigungen waren am Bastillenplatz und in der wichtigsten Straße des
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||
|
ganzen Viertels, der Straße des Faubourg St. Antoine, angebracht. Barrikaden von
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|
merkwürdiger Stärke waren hier errichtet, teils von den großen Pflasterquadern
|
||
|
gemauert, teils von Balken zusammengezimmert. Sie bildeten einen Winkel nach innen zu, teils um
|
||
|
die Wirkung der Kanonenkugeln zu schwächen, teils um eine größere, ein
|
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|
Kreuzfeuer eröffnende Verteidigungsfront darzubieten. In den Häusern waren die
|
||
|
Brandmauern durchbrochen und so jedesmal eine ganze Reihe in Verbindung miteinander gesetzt, so
|
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|
daß die Insurgenten nach dem Bedürfnis des Augenblicks ein Tirailleurfeuer auf die
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Truppen eröffnen oder sich hinter ihre Barrikaden zurückziehen konnten. Die
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||
|
Brücken und Quais am Kanal sowie die Parallelstraßen des Kanals waren ebenfalls
|
||
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stark verschanzt. Kurz, die beiden noch besetzten Faubourgs glichen einer vollständigen
|
||
|
Festung, in der die Truppen jeden Zollbreit Landes blutig erkämpfen mußten.</p>
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|
<p>Am 26. morgens sollte der Kampf von neuem beginnen. Cavaignac hatte aber wenig Lust, seine
|
||
|
Truppen in dieses Gewirre von Barrikaden hineinzuschicken. Er drohte mit einem Bombardement.
|
||
|
Die Mörser und Haubitzen waren aufgefahren. Man unterhandelte. Währenddessen
|
||
|
ließ Cavaignac die nächsten Häuser unterminieren - was freilich wegen der
|
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|
Kürze der Zeit und wegen des eine der Angriffslinien deckenden Kanals nur in sehr
|
||
|
beschränktem Maße geschehen konnte - und von den schon besetzten Häusern aus <a
|
||
|
name="S152"><b><152></b></a> ebenfalls innere Kommunikationen mit den anstoßenden
|
||
|
Häusern durch Öffnungen in den Brandmauern herstellen.</p>
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||
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<p>Die Unterhandlungen zerschlugen sich; der Kampf begann wieder. Cavaignac ließ den
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General Perrot vom Faubourg du Temple her, den General Lamoricière vom Bastillenplatz
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her angreifen. Auf beiden Punkten wurde stark gegen die Barrikaden kanoniert. Perrot drang
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ziemlich rasch vor, nahm den Rest des Faubourgs du Temple und kam an einigen Stellen sogar bis
|
||
|
ins Faubourg St. Antoine. Lamoricière kam langsamer vorwärts. Seinen Kanonen
|
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widerstanden die ersten Barrikaden, obwohl die ersten Häuser der Vorstadt durch seine
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Granaten in Brand geschossen wurden. Er unterhandelte nochmals. Mit der Uhr in der Hand wartet
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er auf die Minute, wo er das Vergnügen haben wird, das bevölkertste Viertel von Paris
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in Grund und Boden zu schießen. Da endlich kapituliert ein Teil der Insurgenten,
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während der andere, in seinen Flanken angegriffen, sich nach kurzem Kampf aus der Stadt
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zurückzieht.</p>
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<p>Das war das Ende des Barrikadenkampfes vom Juni. Draußen vor der Stadt fielen noch
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Tirailleurgefechte vor, die aber ohne alle Bedeutung waren. Die flüchtigen Insurgenten
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wurden in der Umgegend versprengt und werden von Kavallerie einzeln eingefangen.</p>
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<p>Wir haben diese rein militärische Darstellung des Kampfes gegeben, um unsern Lesern zu
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beweisen, mit welcher heldenmütigen Tapferkeit, mit welcher Übereinstimmung, mit
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welcher Disziplin und welchem militärischen Geschick die Pariser Arbeiter sich schlugen.
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Ihrer 40.000 schlugen sich vier Tage lang gegen eine vierfache Übermacht, und nur ein Haar
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fehlte, so waren sie Sieger. Nur ein Haar und sie faßten Fuß im Zentrum von Paris,
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sie nahmen das Stadthaus, sie setzten eine provisorische Regierung ein und verdoppelten ihre
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Anzahl, sowohl aus den eroberten Stadtteilen wie aus den Mobilgarden, die damals nur eines
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Anstoßes bedurften, um überzugehn.</p>
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<p>Deutsche Blätter behaupten, dies sei die entscheidende Schlacht zwischen der roten und
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der trikoloren Republik, zwischen Arbeitern und Bourgeois gewesen. Wir sind überzeugt,
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daß diese Schlacht <i>nichts</i> entscheidet als den Zerfall der Sieger in sich selbst.
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Im übrigen beweist der Verlauf der ganzen Sache, daß die Arbeiter in gar nicht
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langer Frist siegen müssen, selbst wenn wir die Sache rein militärisch betrachten.
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Wenn 40.000 Pariser Arbeiter schon so Gewaltiges ausrichteten gegen die vierfache
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Überzahl, was wird erst die Gesamtmasse der Pariser Arbeiter zustande bringen, wenn sie
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einstimmig und im Zusammenhange wirkt!</p>
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<p><i>Kersausie</i> ist gefangen und in diesem Augenblick wohl schon erschossen.
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Erschießen können ihn die Bourgeois, aber ihm nicht den Ruhm nehmen, <a name=
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"S153"><b><153></b></a> daß <i>er zuerst den Straßenkampf organisiert
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hat</i>. Erschießen können sie ihn, aber keine Macht der Erde wird verhindern,
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daß seine Erfindungen in Zukunft bei allen Straßenkämpfen benutzt werden.
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Erschießen können sie ihn, aber nicht verhindern, daß sein Name als der des
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<i>ersten Barrikadenfeldherrn</i> in der Geschichte fortdauert.</p>
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<p><font size="2">Geschrieben von Friedrich Engels.</font></p>
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