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<TITLE>John Reed: 10 Tage die die Welt erschütterten</TITLE>
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IX. SIEG
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ÆBefehl Nr. 1
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A n d i e S o l d a t e n d e r P u l k o w o e r T r u p p e n a b t e i
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l u n g !
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13. November 1917, 9:38 morgens.
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Nach schwerem Kampf hat die Pulkowoer Truppenabteilung einen vollen Sieg
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über die konterrevolutionären Streitkräfte errungen; diese
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haben sich aus ihren Stellungen in Unordnung zurückgezogen, um unter
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dem Schutze von Zarskoje Selo nach Gattschina und Pawlowsk zurückzugehen.
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Unsere Vorposten haben die nordöstliche Grenze von Zarskoje Selo und
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den Alexandrowskaja-Bahnhof besetzt. Die Truppenabteilung von Kolpino
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kämpfte links. Die Abteilung von Krasnoje Selo rechts von uns. Die Abteilung
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von Pulkowo hat Befehl, Zarskoje Selo zu besetzen und seine Zugänge,
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im Besonderen auf der Gatschinaer Seite zu befestigen. Sie soll bis nach
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Pawlowsk vorstoßen und den Ort einnehmen, seine Südseite befestigen
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und die Eisenbahn bis Dno in ihre Hände bringen. Alle Maßnahmen
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sind zu treffen, um die eroberten Stellungen zu befestigen - Aushebung von
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Schützengräben und Durchführung anderer Befestigungsarbeiten.
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Die engste Fühlung mit den Truppenabteilungen von Kolpino und Krasnoje
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Selo sowie mit dem Petrograder Stab ist aufrechtzuerhalten.
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Der Oberbefehlshaber
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aller gegen die konterrevolutionären Kerenskitruppen
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kämpfenden Streitkräfte
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Oberstleutnant <I>Murawjow</I>."
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Dienstag morgen. Aber wie war das möglich? Noch vor zwei Tagen war die
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Umgebung von Petrograd voll von führerlos umherirrenden Truppen, ohne
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Lebensmittel, ohne Artillerie, ohne Plan. Welche geheimnisvolle Macht hatte
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die desorganisierte und undisziplinierte Masse von Rotgardisten und Soldaten
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ohne Offiziere in eine Armee zu verwandeln vermocht, die, den Anordnungen
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ihrer selbstgewählten Führer folgend, sich als fähig erwiesen
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hat, den wütenden Ansturm von Kanonen und Kosakenkavallerie nicht nur
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auszuhalten, sondern siegreich abzuschlagen? Die Geschichte lehrt, daß
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revolutionäre Völker seit je der militärischen Routine zu
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trotzen wußten. Die in Lumpen gehüllten Armeen der Französischen
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Revolution sind noch nicht vergessen - nicht Valmy und die Linien von
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Weißenburg. Gegen die Sowjetkräfte standen Offiziersschüler,
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Kosaken, die Landeigentümer, der Adel, die Schwarzhunderter. Das hieß:
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Rückkehr des Zaren, Ochrana und sibirische Ketten, die ungeheure und
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schreckliche Bedrohung durch die Deutschen. Der Sieg, das war das Ende aller
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Bedrückung, der Beginn eines neuen, glücklichen Zeitalters!
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Als Sonntagnacht die Kommissare des Revolutionären Militärkomitees
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verzweifelt aus dem Felde zurückkehrten, wählte die Petrograder
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Garnison ihren Stab: ein Fünferkomitee, drei Soldaten und zwei Offiziere,
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sämtlich zuverlässige Revolutionäre. Das Oberkommando erhielt
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der Expatriot Murawjow - ein fähiger Offizier, der aber nicht aus den
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Augen gelassen werden durfte. In Kolpino, Obuchowo, Pulkowo und Krasnoje
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Selo wurden provisorische Truppenkörper gebildet, die die in der Umgebung
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umherirrenden Haufen - ein Durcheinander von Soldaten, Matrosen und Rotgardisten,
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Splitter von Infanterie-, Kavallerie und Artillerieregimentern und einige
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wenige Panzerwagen - an sich zogen und die zu stattlicher Größe
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anwuchsen. Als es tagte, machten sich Vorposten von Kerenskis Kosaken bemerkbar.
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Vereinzeltes Gewehrfeuer, Aufforderungen, die Waffen zu strecken. Dann erhob
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sich über die öde Fläche das Tosen der Schlacht, verdrängte
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die Stille des kalten Morgens und dröhnte in den Ohren der noch verstreuten
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Soldaten, die wartend um ihre Feuer lagerten. So fing es an. Sie eilten,
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am Kampfe teilzunehmen, und die die Chausseen sich entlangwälzenden
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Arbeiterkolonnen beschleunigten ihren Schritt. Und so sammelten sich ganz
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automatisch an allen Angriffspunkten in ihrer Kampfbegeisterung kaum zu haltende
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Menschenmassen, von den Kommissaren empfangen und den strategischen
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Notwendigkeiten entsprechend auf die Stellungen verteilt oder mit
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Armierungsarbeiten beauftragt. Sie wußten: Das hier war ihre Schlacht,
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hier kämpften sie für ihre eigene Welt, die Offiziere hatten sie
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sich selbst gewählt, und damit war aus dem zusammenhanglosen Hin und
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Her der unzähligen Einzelwillen ein einziger Wille geworden. Von allen,
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die Augenzeugen der Kämpfe gewesen sind, habe ich dasselbe gehört:
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wie die Matrosen schossen, bis ihnen die Patronen ausgingen, und dann
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vorwärtsstürmten; wie die unausgebildeten Arbeiter die wütenden
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Angriffe der Kosaken zurückschlugen, sie von ihren Pferden reißend;
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wie in der Dunkelheit unübersehbare Volksmassen sich um die Schlacht
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sammelten und dann, einer Sturmflut gleich, plötzlich über den
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Feind herbrausten. Schon vor Montagmitternacht war der Widerstand der Kosaken
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gebrochen. Sie flohen, ihre Artillerie zurücklassend, und die Armee
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des Proletariats stieß in breiter Front vorwärts und rollte nach
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Zarskoje hinein, noch ehe der Feind Zeit hatte, die große
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Regierungsfunkstation zu zerstören, von der aus nun die Kommissare des
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Smolny der Welt den Sieg des Proletariats verkündeten.
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ÆA n a l l e S o w j e t s d e r A r b e i t e r - u n d S o l d a
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t e n d e p u t i e r t e n
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In blutigen Kämpfen sind am 12. November in der Nähe von Zarskoje
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Selo die konterrevolutionären Truppen Kerenskis und Kornilows von der
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revolutionären Armee geschlagen worden. Im Namen der revolutionären
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Regierung befehle ich allen Regimentern die Aufnahme der Offensive gegen
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den Feind der revolutionären Demokratie, die Durchführung umfassender
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Maßnahmen zur Verhaftung Kerenskis und die entschiedene Ablehnung aller
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Abenteuer, die die Eroberungen der Revolution und den Sieg des Proletariats
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gefährden könnten.
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Es lebe die Revolutionäre Armee!
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<I>Murawjow</I>."
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Nachrichten aus den Provinzen...
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In Sewastopol hat der lokale Sowjet die Macht übernommen. Eine große
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Versammlung von Matrosen der im Hafen liegenden Kriegsschiffe hat die Offiziere
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gezwungen, sich der Revolution anzuschließen. In Nishni-Nowgorod ist
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die Macht in die Hände der Sowjets übergegangen. Aus Kasan liegen
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Berichte über Straßenkämpfe vor: Offiziersschüler und
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eine Brigade Artillerie gegen die bolschewistische Garnison.
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In Moskau sind erneut heftige Kämpfe ausgebrochen. Die
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Offiziersschüler und Weißgardisten halten das Stadtzentrum und
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den Kreml besetzt, von allen Seiten hart bedrängt durch die Truppen
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des Revolutionären Militärkomitees. Die Sowjetartillerie ist am
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Skobelewplatz aufgefahren, die Stadtduma, die Präfektur und das Hotel
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Metropol bombardierend. Das Pflaster der Twerskaja und Nikitskaja ist aufgerissen
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worden und zum Bau von Schützengräben und Barrikaden verwendet.
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Die großen Bank- und Handelsviertel durchfegt ein Hagel von
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Maschinengewehrfeuer. Es gibt weder Licht noch Telefon. Die
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Bourgeoisbevölkerung haust in den Kellern! Das letzte Bulletin besagte,
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daß das Revolutionäre Militärkomitee von dem Komitee für
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die öffentliche Sicherheit die sofortige Übergabe gefordert hat
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und im Falle der Weigerung mit der Bombardierung des Kreml droht. ÆWas,
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den Kreml bombardieren?" kreischten die guten Durchschnittsbürger.
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ÆDas wagen sie nicht!" Überall flammte der Bürgerkrieg. Von
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Wologda bis Tschita im fernen Sibirien, von Psowsk bis Sewastopol am Schwarzen
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Meer - in den Städten, in den kleinsten Dörfern. Tausende von Fabriken,
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Bauerngemeinden, Regimenter, Armeen, Schiffe auf hoher See entsandten ihre
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Grüße nach Petrograd, grüßten die Regierung des Volkes.
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Die Kosakenregierung in Nowotscherkassk telegrafierte An die Kerenskiregierung:
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<I>ÆDie Regierung der Kosakentruppen richtet an die Provisorische Regierung
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und an die Mitglieder des Rates der Russischen Republik die Einladung, wenn
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irgend möglich, nach Nowotscherkassk zu kommen, um dort mit ihr zusammen
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den Kampf gegen die Bolschewiki zu organisieren..."</I>
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In Finnland spitzten sich die Dinge gleichfalls zu. Der Sowjet in Helsingfors
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und der Zentrobalt (das Zentralkomitee der Baltischen Flotte) proklamierten
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zusammen den Belagerungszustand und erklärten, daß alle Versuche
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einer Intervention gegen die Bolschewiki und jede bewaffnete Auflehnung gegen
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ihre Befehle erbarmungslos unterdrückt werden würden. Zur selben
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Zeit proklamierte der finnische Eisenbahnerverband einen Generalstreik, um
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die Durchführung der Gesetze zu erzwingen, die der von Kerenski
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aufgelöste sozialistische Landtag im Juni 1917 beschlossen hatte...
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Am Morgen in aller Frühe ging ich nach dem Smolny. Ich schlenderte den
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am äußeren Torweg beginnenden langen holzgepflasterten Fußweg
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hinab und sah die ersten schüchternen Schneeflocken aus dem von keinem
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Hauch bewegten Himmel herniederflattern. ÆSchnee!" rief der am Tor
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wachestehende Soldat vergnügt. ÆDas ist gesund!" Im Innern schienen
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mir die endlosen dunklen Gänge und die kahlen Zimmer im ersten Moment
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völlig verödet. Nicht eine Menschenseele war zu sehen. Bald aber
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traf ein tiefer, unruhiger Laut mein Ohr, und näher zusehend, bemerkte
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ich längs der Wand am Boden hingestreckt schlafende Männer. Arbeiter
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und Soldaten, rauhe, schmutzige Gestalten, noch über und über
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kotbeschmiert und bespritzt, allein oder in Haufen, als wären sie tot.
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Einige waren verwundet und notdürftig mit blutdurchtränkten Lappen
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verbunden. Überall lagen Gewehre und Patronengürtel....Die siegreiche
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proletarische Armee! In der oberen Etage, am Büffet, lagen sie so dicht,
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daß man kaum treten konnte. Die Luft war entsetzlich. Durch die
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beschlagenen Fenster strömte fahles Licht. Auf dem Büffet standen
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ein übel zugerichteter Samowar und zahlreiche Gläser mit Teeresten.
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Daneben lag ein Exemplar des letzten Bulletins des Revolutionären
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Militärkomitees, auf dessen Rückseite eine ungelenke Hand etwas
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geschrieben hatte. Eine Gedenkschrift irgendeines Soldaten für seine
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gefallenen Kameraden, verfaßt unmittelbar, bevor er auf den Boden zum
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Schlafen niedersank. Die Schriftzüge waren verwischt, als wären
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Tränen daraufgefallen....
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Alexej Winogradow
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D. Moskwin
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S. Stolbikow
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A.Woskressenski
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D.Leonski
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D.Preobrashenski
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W.Laidanski
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M.Bertschikow
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Eingezogen zur Armee am 15. November 1916. Von ihnen am Leben nur noch drei:
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Michail Bertschikow
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Alexej Woskressenski
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Dmitri Leonski
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Schlaft nun, ihr kühnen Adler,
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ihr Kämpfer voll Heldentum.
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Ihr habt euch, Brüder, erworben,
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Frieden und ewigen Ruhm."
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Das Revolutionäre Militärkomitee allein arbeitete noch, es durfte
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nicht schlafen. Der aus dem inneren Zimmer kommende Skrypnik erzählte,
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daß Goz verhaftet worden sei, aber ebenso wie Awxentjew entschieden
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bestreite, die Proklamation des Komitees zur Rettung des Vaterlandes und
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der Revolution unterzeichnet zu haben; das Komitee zur Rettung des Vaterlandes
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und der Revolution selbst habe den Aufruf an die Garnison abgelehnt. Unter
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den Regimentern der Stadt, berichtete Skrypnik, herrschte noch immer
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Unentschlossenheit; das Wolynski-Regiment hatte sich geweigert, gegen Kerenski
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zu marschieren.
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Eine Anzahl Æneutraler" Truppen, mit Tschernow an ihrer Spitze, seien
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in Gattschina bemüht, Kerenski von dem Angriff auf Petrograd abzuhalten.
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Skrypnik lachte. ÆHeute kann es keine ,Neutralen' mehr geben", sagte
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er. ÆWir haben gesiegt! Mehr als sechzig Delegierte sind von der Front
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angekommen, mit Zusicherungen der Hilfe von sämtlichen Armeen, ausgenommen
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die Truppen von der rumänischen Front, von denen wir bisher keine Nachricht
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haben. Die Armeekomitees haben alle Nachrichten aus Petrograd aufgehalten,
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wir haben jedoch jetzt einen regelmäßigen Verbindungsdienst
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eingerichtet..."
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Unten im vorderen Saal kam gerade Kamenew herein, todmüde von der
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nächtlichen Konferenz für die Bildung einer neuen Regierung, aber
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froh. ÆDie Sozialrevolutionäre sind schon geneigt, uns in die
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neue Regierung hereinzunehmen", erzählte er. ÆDie Rechten schrecken
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die Revolutionstribunale, sie verlangen, daß wir dieselben auflösen
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sollen, bevor man weitergehe...Wir haben den Vorschlag des Wikshel, eine
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einheitliche sozialistische Regierung zu bilden, angenommen, und sie arbeiten
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jetzt in dieser Richtung. Sie sehen, das alles ist das Ergebnis unseres Sieges.
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Wären wir unterlegen, so würden sie um keinen Preis etwas von uns
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wissen wollen; jetzt sind alle in irgendeiner Hinsicht für die
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Verständigung mit den Sowjets... Was wir brauchen, ist ein wirklich
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entscheidender Sieg. Kerenski möchte einen Waffenstillstand, er wird
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sich ergeben müssen..."
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<P>
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So war die Stimmung der bolschewistischen Führer. Einem ausländischen
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Journalisten, der Trotzki fragte, was er der Welt mitzuteilen habe, erwiderte
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Trotzki: ÆDie einzig mögliche Feststellung ist in diesem Moment
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die, die wir durch den Mund unserer Geschütze machen!" Die Siegerstimmung
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war jedoch nicht ohne eine Unterströmung ernsthafter Besorgnis, verursacht
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durch die Frage der Finanzen. Anstatt die Banken den Befehlen des
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Revolutionären Militärkomitees gemäß zu öffnen,
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hatte der Verband der Bankangestellten eine Versammlung abgehalten und den
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Streik proklamiert. Der Smolny hatte von der Staatsbank die Auszahlung von
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fünfunddreißig Millionen Rubel gefordert, der Kassierer hatte
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rundweg abgelehnt und zahlte Geld nur an die Vertreter der Provisorischen
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|
Regierung aus. Die Staatsbank war eine gefährliche politische Waffe
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in den Händen der Reaktionäre; als zum Beispiel der Wikshel Geld
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verlangte, um den Angestellten der Staatsbahnen die Gehälter auszuzahlen,
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wurde ihm bedeutet, daß er sich an den Smolny wenden solle...
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<P>
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Ich war in der Staatsbank, um den neuen Kommissar zu sehen, einen rothaarigen
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ukrainischen Bolschewik, Petrowitsch mit Namen. Er gab sich die
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größte Mühe, Ordnung in das Chaos zu bringen, das die streikenden
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Beamten hinterlassen hatten. In sämtlichen Büros des riesigen
|
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|
Gebäudes saßen Freiwillige, Arbeiter, Soldaten und Matrosen,
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|
schwitzend, die Zunge vorstreckend vor Anstrengung, bemüht, sich in
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||
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den großen Hauptbüchern zurechtzufinden... Das Dumagebäude
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war überfüllt. Es gab noch vereinzelte Ausfälle gegen die
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||
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neue Regierung, aber sie waren selten. Das Zentrale Bodenkomitee hatte einen
|
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|
Aufruf an die Bauern gerichtet mit der Aufforderung, das von dem
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|
Sowjetkongreß beschlossene Landdekret nicht anzuerkennen, weil es
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|
Verwirrung und Bürgerkrieg zur Folge haben würde. Der
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|
Bürgermeister Schrejder prophezeite, daß infolge des bolschewistischen
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|
Aufruhrs die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung auf unabsehbare Zeit
|
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vertagt werden müßten. Zwei Fragen waren es, die hier alle Köpfe
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beherrschten, erschreckt durch die Wildheit des Bürgerkrieges: 1. Einhalt
|
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|
dem Blutvergießen, 2. Bildung einer neuen Regierung. Von der
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||
|
ÆVernichtung der Bolschewiki" war überhaupt nicht mehr die Rede
|
||
|
und sehr wenig von ihrem Ausschluß bei der Bildung der Regierung, abgesehen
|
||
|
von den Volkssozialisten und den Bauernsowjets. Sogar das Zentrale Armeekomitee
|
||
|
beim Stab, der erbittertste Gegner des Smolny, telefonierte aus Mogiljow:
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||
|
ÆFalls für die Bildung einer neuen Regierung eine Verständigung
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|
mit den Bolschewiki notwendig, sind wir einverstanden, sie als Minderheit
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|
in die Regierung aufzunehmen." Die ÆPrawda" druckte, mit einem ironischen
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|
Hinweis auf Kerenskis ÆMenschlichkeit", dessen Telegramm an das Komitee
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zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution ab:
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<P>
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ÆIn Übereinstimmung mit den Vorschlägen des Komitees zur
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|
Rettung des Vaterlandes und der Revolution und aller um dasselbe gruppierten
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|
demokratischen Organisationen habe ich die militärischen Aktionen gegen
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||
|
die Rebellen eingestellt. Ein Delegierter des Komitees wurde abgeschickt,
|
||
|
damit er Verhandlungen eröffnet. Trefft alle Maßnahmen, um zweckloses
|
||
|
Blutvergießen zu vermeiden." Der Wikshel schickte ein Telegramm durch
|
||
|
ganz Rußland: ÆDie Konferenz des Verbandes der Eisenbahner, an
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||
|
der von beiden gegnerischen Parteien Vertreter teilnehmen, die die Notwendigkeit
|
||
|
einer Verständigung einsehen, protestiert energisch gegen die Anwendung
|
||
|
des politischen Terrors im Bürgerkrieg, im besonderen zwischen verschiedenen
|
||
|
Parteien der revolutionären Demokratie, und sie erklärt, daß
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||
|
der politische Terror, gleichgültig in welcher Form, im Widerspruch
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||
|
steht zu dem Gedanken der Verhandlungen über die Bildung einer neuen
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||
|
Regierung..."
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||
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<P>
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||
|
Von der Konferenz wurden Delegierte an die Front nach Gattschina geschickt.
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||
|
In der Konferenz selbst schien die endgültige Regelung aller Dinge sicher.
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||
|
Es war beschlossen worden, einen Provisorischen Rat der Volksbeauftragten
|
||
|
zu wählen, der sich aus etwa vierhundert Mitgliedern zusammensetzen
|
||
|
sollte, von denen fünfundsiebzig auf den Smolny, fünfundsiebzig
|
||
|
auf das alte Zentralexekutivkomitee und der Rest auf die Stadtdumas, die
|
||
|
Gewerkschaften, die Bodenkomitees und politischen Parteien entfallen sollten.
|
||
|
<P>
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|
Tschernow war als der neue Ministerpräsident genannt. Lenin und Trotzki
|
||
|
sollten, so gingen die Gerüchte, ausgeschlossen sein...
|
||
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<P>
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|
Gegen Mittag war ich wieder am Smolny. Ich sprach den Führer eines
|
||
|
Sanitätsautos, der zur revolutionären Front fuhr. Ob er mich mitnehmen
|
||
|
könnte? Selbstverständlich! Er war ein Freiwilliger, ein Student,
|
||
|
und während wir in schnellem Tempo die Straße entlangrollten,
|
||
|
schrie er mir von Zeit zu Zeit in scheußlichem Deutsch etwas über
|
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|
die Schulter zu: ÆAlso gut! Wir nach die Kasernen zu essen gehen!"
|
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|
Ich begriff schließlich, daß in einigen Kasernen
|
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|
Frühstück ausgegeben wurde. In der Kirotschnaja bogen wir in einen
|
||
|
Von Militärgebäuden umgebenen riesigen Hof. Über eine dunkle
|
||
|
Treppe gelangte man in einen niedrigen, von einem einzigen Fenster erleuchteten
|
||
|
Raum. Dort saßen an einem langen Holztisch gegen zwanzig Soldaten,
|
||
|
die unter lautem Schwatzen und vielem Gelächter mit hölzernen
|
||
|
Löffeln aus einem großen zinnenen Waschtrog Schtschi (Kohlsuppe)
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||
|
aßen. ÆWir grüßen das Bataillonskomitee des 6.
|
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Reserve-Pionierbataillons!" rief mein Begleiter und stellte mich als einen
|
||
|
amerikanischen Sozialisten vor. Alle erhoben sich, mir die Hand zu drücken,
|
||
|
und einer umarmte und küßte mich herzlich. Man besorgte mir einen
|
||
|
Holzlöffel, und ich nahm am Tische Platz. Bald kam ein neuer Kessel
|
||
|
mit Kascha, ein riesiger Laib Schwarzbrot und natürlich der unvermeidliche
|
||
|
Tee. Ich wurde mit Fragen über Amerika bestürmt: Ob es wahr sei,
|
||
|
daß in diesem freien Lande Leute ihre Stimmen für <I>Geld</I>
|
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verkauften? Wenn das so sei, wie setzten die Menschen dann ihre eigenen
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Wünsche durch? Was ist das mit dem ÆTammany" ? Traf es zu, daß
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in dem freien Amerika eine Handvoll Leute eine ganze Stadt beherrschen und
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zu ihrem Vorteil ausbeuten konnte? Warum das Volk dies dulde? In Rußland
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wäre derartiges nicht einmal unter dem Zaren möglich gewesen.
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Bestechung hat es hier wohl immer gegeben; aber eine ganze Stadt zu kaufen
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- und das in einem freien Lande! Ob denn die Menschen gar kein
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revolutionäres Fühlen hätten? Ich gab mir Mühe, ihnen
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klarzumachen, daß man bei uns im Lande bemüht sei, diese Dinge
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auf legalem Wege zu ändern. ÆNatürlich", nickte ein junger
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Unteroffizier, der Baklanow gerufen wurde und französisch sprach.
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ÆAber Sie haben bei sich doch eine hochentwickelte Kapitalistenklasse.
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Sind da nicht auch die Parlamente und die Gerichte in der Hand der Kapitalisten?
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Wie kann das Volk hoffen, auch nur das geringste auf legalem Weg ändern
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zu können? Ich will mich ja gern überzeugen lassen, denn ich kenne
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ja Ihr Land nicht; bis jetzt aber ist mir dies alles unverständlich."
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Als ich ihnen sagte, daß ich nach Zarskoje Selo wollte, erklärte
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Baklanow plötzlich, daß er mitgehen würde. ÆIch auch,
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ich auch", schallte es in der ganzen Runde, und alle beschlossen, sofort
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nach Zarskoje zu gehen. Indem klopfte es, und in der sich öffnenden
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Tür wurde die Gestalt des Obersten sichtbar. Niemand erhob sich, aber
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alle grüßten freundlich. ÆIst es erlaubt, einzutreten?"
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- ÆProssim! Prossim!" (Bitte! Bitte!) antworteten die Soldaten herzlich.
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Er trat ein, eine hochgewachsene, vornehme Erscheinung in einem
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goldbetreßten Ziegenfellmantel. ÆWenn ich nicht irre, sprachen
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Sie eben davon, nach Zarskoje zu gehen, Genossen", sagte er. ÆDürfte
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ich mich Ihnen wohl anschließen?" Baklanow überlegte. ÆIch
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glaube nicht, daß es hier heute etwas zu tun geben wird", antwortete
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er. ÆGewiß, Genosse, Sie sind willkommen." Der Oberst dankte
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und nahm Platz, sich ein Glas Tee eingießend. Mit leiser Stimme, um
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den Oberst nicht zu verletzen, erklärte mir Baklanow: ÆIch bin
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der Vorsitzende des Komitees. Die Führung des Bataillons liegt
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vollständig in unseren Händen. Bei militärischen Aktionen
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hat der Oberst das Kommando in unserem Auftrag, und dann ist seinen Befehlen
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nachzukommen; aber er ist uns verantwortlich. In der Kaserne darf er ohne
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unsere Erlaubnis nichts unternehmen. Man könnte ihn unsern Exekutivoffizier
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nennen." Wir erhielten Waffen: Revolver und Gewehre - Æes könnte
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sein, daß wir einige Kosaken treffen, und da ist es immerhin besser"
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-, und dann kletterten wir alle in das Sanitätsauto, nahmen drei
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mächtige Bündel Zeitungen für die Front mit und ratterten
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den Litejny- und den Sagorodny-Prospekt hinunter. Neben mir saß ein
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Jüngling mit den Achselstücken eines Leutnants, der sämtliche
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europäische Sprachen mit der gleichen Fertigkeit zu sprechen schien.
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Er war Mitglied des Bataillonskomitees. ÆIch bin kein Bolschewik",
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versicherte er mir mit Nachdruck. ÆIch stamme aus einer sehr alten
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adligen Familie. Meiner politischen Überzeugung nach könnte man
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mich zu den Kadetten rechnen..." ÆAber wieso-?" begann ich verblüfft.
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ÆIch gehöre allerdings dem Komitee an. Ich mache aus meiner
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politischen Überzeugung kein Hehl, aber die anderen machen sich nichts
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daraus, weil sie wissen, daß ich mich dem Willen der Mehrheit
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füge...Ich habe es jedoch abgelehnt, an dem gegenwärtigen
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Bürgerkrieg irgendwie aktiv teilzunehmen, ich mag gegen meine russischen
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Brüder nicht kämpfen..." ÆProvokateur! Kornilowmann!" riefen
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ihm die anderen mit lustigem Spott zu, ihm auf die Schulter klopfend. Durch
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die steinernen Bögen des Moskauer Tores mit seinen goldenen Schriftzeichen,
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gewichtigen kaiserlichen Adlern und den Namen aller früheren Zaren ging
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es in flotter Fahrt die weite, schnurgerade, im ersten Schneefall grau daliegende
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Hauptchaussee entlang. Sie war voller Rotgardisten, die zu Fuß der
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Front zustolperten, schreiend und singend. Andere kamen von dort, blaß
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und kotbespritzt. Die meisten von ihnen schienen noch Knaben zu sein. Frauen
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mit Spaten, einige mit Gewehren und Patronengürteln, andere das
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Rote-Kreuz-Abzeichen am Arm - die gebeugten, von Arbeitsqual zermürbten
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Frauen aus den Proletariervierteln! Hin und wieder im Gleichschritt marschierende
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Soldatentrupps, die mit gutmütigem Spott den Rotgardisten Platz machten.
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Grimmig dreinschauende Matrosen und dazwischen Kinder mit großen
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Bündeln, die ihren Vätern und Müttern das Essen zur Front
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brachten. All diese kamen und gingen und stampften durch den Schneematsch,
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der das Kopfsteinpflaster der Straße zentimeterhoch bedeckte. Wir
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passierten Geschütze, die mit ihren Munitionskarren südwärts
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polterten, Lastwagen voller Bewaffneter, Krankenautos mit Verwundeten, die
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aus der Richtung des Schlachtfeldes kamen, und einmal einen langsam und knarrend
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dahinziehenden Bauernwagen, in dem ein bleicher Knabe lag, der einen
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Bauchschuß erhalten hatte und ununterbrochen schrie. Rechts und links
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in den Feldern arbeitende Frauen und alte Männer, die
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Schützengräben aushoben und Drahtverhaue errichteten.
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<P>
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Hinter uns, gegen Norden, zerstoben die Wolken. Fahl drang die Sonne durch,
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und jenseits des flachen und sumpfigen Geländes erglänzte Petrograd.
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Rechts weiße, vergoldete und buntfarbene Kuppeln und Türme, links
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hochragende, teilweise schwarzen Rauch ausstoßende Schornsteine und
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darüber hinaus, am fernen Horizont, Finnland. Zu beiden Seiten unseres
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Weges waren Kirchen und Klöster. Dann und wann sahen wir einen Mönch,
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der in tiefem Schweigen der proletarischen Armee nachschaute. In Pulkowo
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teilte sich der Weg, und wir hielten dort inmitten einer riesigen Menschenmenge,
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die aus drei Richtungen immer neuen Zuzug erhielt; Freunde sahen sich wieder,
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aufgeregt, einander beglückwünschend und Einzelheiten aus der Schlacht
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erzählend. Eine Reihe Häuser an den Querstraßen trugen arge
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Spuren der Schießerei, und der Erdboden war in weitem Umkreis zertrampelt.
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Ein wilder Kampf hatte hier gewütet... In der Nähe irrten reiterlose
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Kosakenpferde hungrig umher, denn das Gras der Ebene war seit langem verdorrt.
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Rechts vor uns versuchte ein Rotgardist eines dieser Pferde zu reiten, wurde
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aber, zum großen Vergnügen der zuschauenden Menge, immer wieder
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abgeworfen. Der linke Weg, Die Rückzugsstraße der fliehenden
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Kosakenreste, führte auf einen kleinen Hügel zu einem Dörfchen,
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von dem aus man einen herrlichen Ausblick auf die ungeheure Ebene hatte,
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die grau, einer unbewegten Wasserfläche gleich, dalag. Weit hinten links
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sah man den kleinen Hügel von Krasnoje Selo, das Paradefeld des Sommerlagers
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der kaiserlichen Garde. In der Mitte unterbrachen die flache Eintönigkeit
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einige ummauerte Klöster, vereinzelte Fabriken und eine Anzahl großer
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Gebäude inmitten ungepflegter Gärten - Asyle und Waisenhäuser...
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<P>
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ÆHier", sagte plötzlich der Fahrer, als wir einen kahlen Hügel
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passierten, Æhier war es, wo Wera Sluzkaja der Tod ereilte. - Ja, das
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bolschewistische Dumamitglied. Heute in aller Frühe ist es geschehen.
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Sie war in einem Automobil, mit Salkind und einem anderen Mann. Es war
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Waffenruhe, und sie wollten zu den Schützengräben an der Front.
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Sie plauderten und lachten, als plötzlich von dem Panzerzuge aus, in
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dem sich Kerenski selber befand, das Automobil bemerkt und eine Granate
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abgefeuert wurde. Die Granate traf Wera Sluzkaja und tötete sie..."
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So kamen wir nach Zarskoje, das von Helden der proletarischen Armee wimmelte,
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die stolz ihre Siegesfreude zur Schau trugen. Im Palast, den inzwischen der
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Sowjet bezogen hatte, herrschte geschäftiges Treiben. Rotgardisten und
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Matrosen bevölkerten die Höfe, Wachen standen an den Toren, und
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ein Strom von Kurieren und Kommissaren drängte hinein und heraus. Im
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Sowjetsaal war ein Samowar aufgestellt, und fünfzig oder noch mehr Arbeiter,
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Soldaten, Matrosen und Offiziere standen dort, Tee trinkend und laut miteinander
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redend. In einer Ecke versuchten zwei Arbeiter, mit ungelenken Händen
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einen Vervielfältigungsapparat in Betrieb zu setzen. Am Tisch in der
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Mitte des Saales beugte sich der hochaufgeschossene Dybenko über eine
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Karte, mit roten und blauen Stiften die Stellungen der Truppen einzeichnend.
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In seiner freien Hand hielt er, wie gewöhnlich, einen riesigen Revolver.
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Gleich darauf setzte er sich an eine Schreibmaschine und begann, mit einem
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Finger zu tippen. Alle Augenblicke hielt er inne, um in verliebter Weise
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mit seinem Revolver zu spielen. An der Wand stand ein Diwan, auf dem ein
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junger Arbeiter lag. Über ihn beugten sich zwei Rotgardisten, sonst
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schien niemand auf ihn zu achten. Er hatte einen Brustschuß, und aus
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der Wunde brach mit jedem Herzschlag ein Strom frischen Blutes hervor. Seine
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Augen waren geschlossen, sein junges, bärtiges Gesicht war
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grünlich-weiß. Noch atmete er, kaum merklich und langsam, dabei
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ununterbrochen flüsternd: ÆMir budet! Mir budet!" (Der Friede
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kommt! Der Friede kommt!) Dybenko blickte auf, als wir hereintraten. ÆAh",
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sagte er zu Baklanow. ÆGenosse, würden Sie bitte zum Kommandanten
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gehen und dessen Posten übernehmen? Warten Sie, ich werde ihnen ein
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Beglaubigungsschreiben mitgeben." Er ging an die Schreibmaschine und tippte
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mühselig, Buchstabe für Buchstabe. Der neugebackene Kommandant
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von Zarskoje Selo und ich gingen zum Jekaterinapalast, Baklanow sehr aufgeregt
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und wichtig. In dem mir schon bekannten vornehmen weißen Saal
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stöberten einige Rotgardisten neugierig herum, in der Nähe des
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Fensters sah ich meinen alten Bekannten, den Oberst, der nervös seinen
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Schnurrbart kaute. Er begrüßte mich wie einen verschollenen Bruder.
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An einem Tisch, in der Nähe der Tür, saß der Franzose aus
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Bessarabien. Die Bolschewiki hatten ihm befohlen, zu bleiben und seine Arbeit
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fortzusetzen. ÆWas sollte ich tun?" flüsterte er. ÆLeute
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wie ich können in einem solchen Krieg weder auf der einen noch auf der
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anderen Seite kämpfen, wenn wir auch instinktiv die Diktatur des
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Pöbels verabscheuen....Wenn ich nur nicht so fern von meiner Mutter
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wäre, die in Bessarabien geblieben ist!"
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<P>
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Baklanow übernahm von dem Kommandanten formell das Büro. ÆHier
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sind die Schlüssel zum Pult", sagte der Oberst nervös. Ein Rotgardist
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unterbrach ihn. ÆWo ist das Geld?" fragte er rauh. Der Oberst schien
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überrascht. ÆGeld? Geld? Ach, Sie meinen die Kasse. Hier ist sie.
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Genau so, wie ich sie vorfand, als ich sie vor drei Tagen übernahm.
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- Schlüssel?" Der Oberst zuckte die Schultern. ÆIch habe keine
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Schlüssel." Der Rotgardist lachte spöttisch. ÆSehr bequem",
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sagte er. ÆWir wollen die Kasse aufmachen", schlug Baklanow vor.
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ÆBring eine Axt! Hier ist ein amerikanischer Genosse. Laß ihn
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die Kasse aufschlagen, und er soll dann niederschreiben, was er vorfand."
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Ich schlug zu. Die Kasse war leer. ÆVerhaften", tobte der Rotgardist.
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||
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ÆEr ist ein Kerenskimann. Er hat das Geld gestohlen und es Kerenski
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gegeben." Baklanow wehrte ab. ÆAch nein", sagte er. ÆEr ist
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unschuldig. Es waren die Kornilowleute, die vor ihm da waren." ÆTeufel!"
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||
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schrie der Rotgardist. ÆEr ist ein Kerenskimann, sage ich euch. Wenn
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||
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du ihn nicht verhaften willst, werden wir es tun. Wir werden ihn nach Petrograd
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mitnehmen und in die Peter-Pauls-Festung stecken, wo er hingehört!"
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Die andren Rotgardisten brüllten Beifall. Ein kläglicher Blick
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des Obersten traf uns, als er abgeführt wurde... Unten stand vor dem
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Sowjetpalast ein Lastauto, im Begriff, zur Front abzufahren. Ein halbes Dutzend
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Rotgardisten, einige Matrosen und ein oder zwei Soldaten, unter dem Kommando
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eines hochgewachsenen Arbeiters, kletterten hinauf und riefen mir zu, mit
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ihnen zu fahren. Rotgardisten, schwerbepackt, mit einer Last kleiner, gerippter
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eisener Handgranaten, schwankten heran und warfen die Handgranaten in das
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Auto. Die Granaten waren mit Grubit gefüllt, das, wie sie mir sagten,
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eine zehnmal größere Explosivkraft hat und fünfmal empfindlicher
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ist als Dynamit. Ein dreizölliges Geschütz wurde geladen und mittels
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Drähten und Seilen hinten am Auto befestigt. Wir fuhren los, in schnellstem
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Tempo natürlich. Der schwere Wagen schaukelte hin und her. Das
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Geschütz hinter uns tanzte abwechselnd auf dem einen und dem anderen
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Rad. Die Grubitgranaten rollten von rechts nach links und von vorn nach hinten,
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über unsere Füße und sprangen krachend an den Wänden
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des Wagens empor. Der lange Rotgardist, der sich Wladimir Nikolajewitsch
|
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nannte, bestürmte mich mit Fragen über Amerika. ÆWarum ist
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Amerika in den Krieg eingetreten? Sind die amerikanischen Arbeiter bereit,
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die Kapitalisten zu stürzen? Wie ist gegenwärtig die Situation
|
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in der Angelegenheit Mooney? Wird Berkman nach San Franzisko ausgeliefert
|
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werden?" und viele andere noch, die zu beantworten nicht leicht war. Um den
|
||
|
Lärm des Autos zu übertönen, mußten wir laut schreien,
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||
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während wir uns aneinander festhielten und mit den hin- und herrollenden
|
||
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Granaten um die Wette tanzten. Von Zeit zu Zeit versuchte eine Patrouille
|
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uns anzuhalten. Soldaten stellten sich uns in den Weg, mit erhobenem Gewehr
|
||
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und schreiend: ÆStoi! Stoi!" (Halt! Halt!) Wir ließen sie schreien.
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||
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ÆDer Teufel soll euch holen!" schimpften die Rotgardisten. ÆWir
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halten nicht für all und jeden! Wir sind Rotgardisten!" Und weiter donnerten
|
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|
wir, während mir Wladimir Nikolajewitsch, mit seiner ganzen Lungenkraft
|
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schreiend, seine Ansichten über die Internationalisierung des Panamakanals
|
||
|
und ähnliche Dinge entwickelte. Nach zirka acht Kilometer Fahrt sahen
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||
|
wir einen uns entgegenkommenden Trupp Matrosen und fuhren langsamer. ÆWo
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||
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ist die Front, Brüder?" Der an der Spitze marschierende Matrose blieb
|
||
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stehen und kratzte sich den Kopf. ÆHeute morgen", sagte er, Æwar
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||
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sie etwa einen halben Kilometer weiter die Straße hinunter. Aber jetzt
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ist das verfluchte Ding sonstwo. Wir sind marschiert und marschiert und
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||
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können die Front nicht finden." Sie kletterten zu uns in den Wagen,
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||
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und wir setzten unseren Weg fort. Etwa einen Kilometer weiter spitzte Wladimir
|
||
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Nikolajewitsch die Ohren und rief dem Chauffeur zu, zu halten. ÆEs
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||
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wird geschossen!" sagte er. ÆHört ihr?" Einen Moment Totenstille,
|
||
|
und dann etwas weiter nach vorn und linker Hand von uns in schneller Folge
|
||
|
drei Schüsse. Der Weg war hier von dichtem Gehölz eingefaßt.
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Aufgeregt fuhren wir langsam weiter, nur im Flüsterton sprechend, bis
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||
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unser Auto in der Nähe der Stelle anlangte, von wo das Schießen
|
||
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gekommen war. Herunterspringend, verteilten wir uns, die Gewehre
|
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|
schußbereit, und drangen in das Gehölz ein. Inzwischen banden
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zwei Genossen die Kanone los und brachten sie, so gut es ging, in unsere
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||
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Richtung in Stellung. Im Walde war Totenstille. Die Bäume waren kahl,
|
||
|
und ihre Stämme erglänzten fahl im Widerschein der untergehenden
|
||
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Herbstsonne. Nichts regte sich, nur der gefrorene Boden knirschte unter unseren
|
||
|
Füßen. War es ein Hinterhalt? Unruhig gingen wir weiter, bis der
|
||
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Wald sich lichtete, und blieben stehen. Vor uns auf einer Lichtung saßen
|
||
|
drei Soldaten um ein Feuer, in voller Sorglosigkeit. Wladimir Nikolajewitsch
|
||
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ging auf sie zu. ÆGuten Tag, Genossen!" grüßte er. Die Kanone
|
||
|
hinter ihm, die zwanzig Gewehre und der Lastwagen voller Grubitgranaten -
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||
|
all das schien an einem Haar zu hängen. Die Soldaten sprangen auf.
|
||
|
ÆWas bedeutete das Schießen hier eben?" Einer der Soldaten
|
||
|
antwortete, wieder beruhigt: ÆNichts weiter, wir haben nur eben ein
|
||
|
paar Kaninchen geschossen..."
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||
|
<P>
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||
|
Wir ratterten weiter, nach Romanowo zu. An der ersten Wegkreuzung stellten
|
||
|
sich uns zwei Soldaten mit erhobenen Gewehren entgegen. Wir fuhren langsamer
|
||
|
und hielten. ÆEure Ausweise, Genossen!" Die Rotgardisten erhoben ein
|
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|
wildes Geschrei. ÆWir sind Rotgardisten. Wir brauchen keine Ausweise...
|
||
|
Weiter! Laßt sie schreien!" Einer der Matrosen widersprach jedoch.
|
||
|
ÆDas ist nicht richtig, Genossen. Wir müssen revolutionäre
|
||
|
Disziplin halten. Stellt euch vor, Konterrevolutionäre kämen hier
|
||
|
in einem Auto dahergefahren und erklärten einfach, sie brauchten keine
|
||
|
Ausweise.- Die Genossen kennen euch doch nicht." Eine Debatte entspann sich,
|
||
|
und einer nach dem anderen traten die Matrosen und Soldaten der Auffassung
|
||
|
des Matrosen bei, der zuerst gesprochen hatte. Zu guter Letzt holten auch
|
||
|
die Rotgardisten ihre schmuddligen ÆBumagi" (Papiere) hervor. Alle
|
||
|
waren sie von gleichem Aussehen, bis auf meinen, den ich vom revolutionären
|
||
|
Stab im Smolny hatte. Die Posten erklärten mir, daß ich mit ihnen
|
||
|
gehen müsse. Die Rotgardisten widersprachen lebhaft, aber der schon
|
||
|
erwähnte Matrose nahm noch einmal das Wort: ÆIch weiß, daß
|
||
|
dieser Genosse gut und zuverlässig ist", sagte er, Æaber die Befehle
|
||
|
des Komitees müssen unbedingt respektiert werden. Das eben ist
|
||
|
revolutionäre Disziplin!" Um den Streit zu beenden, kletterte ich
|
||
|
schließlich von dem Wagen hinunter. Er fuhr weiter, und die Genossen
|
||
|
winkten mir zu, bis ich sie nicht mehr sehen konnte. Die Soldaten berieten
|
||
|
eine Weile miteinander und führten mich dann zu einer Mauer, an die
|
||
|
sie mich stellten - und plötzlich begriff ich: Sie wollten mich
|
||
|
erschießen! In allen drei Richtungen war kein Mensch zu sehen. Nur
|
||
|
ein dünner Rauchfaden, der von dem Schornstein eines alleinstehenden
|
||
|
Holzhauses aufstieg, zeugte von Lebewesen. ES mochte ein halber Kilometer
|
||
|
bis dahin sein, den Weg hinunter. Die beiden Soldaten gingen ein Stück
|
||
|
in den Weg hinein. Ich lief verzweifelt hinter ihnen her. ÆAber Genossen!
|
||
|
Seht doch! Hier ist der Stempel des Revolutionären Militärkomitees!"
|
||
|
Sie starrten dumm auf meinen Ausweis und blickten dann einander an. ÆEr
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||
|
ist nicht wie die anderen, Bruder", sagte der eine eigensinnig. ÆWir
|
||
|
können nicht lesen." Ich nahm ihn beim Arm. ÆKommt", sagte ich.
|
||
|
ÆLaßt uns dort nach dem Hause gehen. Da ist sicher jemand, der
|
||
|
lesen kann." Sie zögerten. ÆNein", sagte der eine. Der andere
|
||
|
musterte mich. ÆWarum nicht? Es ist immerhin eine große Sünde,
|
||
|
einen unschuldigen Menschen zu töten." Wir gingen nach dem Hause und
|
||
|
klopften an die Tür. Eine kleine untersetzte Frau öffnete und schreckte
|
||
|
entsetzt zurück, stammelnd: ÆIch kann ihnen gar nichts sagen."
|
||
|
Einer meiner Wächter hielt ihr meinen Ausweis unter die Nase. Sie kreischte.
|
||
|
ÆSie sollen nur lesen, Genossin." Zögernd nahm sie das Papier
|
||
|
und las dann laut und fließend: ÆDer Inhaber dieses Ausweises,
|
||
|
John Reed, ist ein Internationalist und ein Vertreter der amerikanischen
|
||
|
Sozialdemokratie." Nachdem wir wieder draußen waren, hielten die Soldaten
|
||
|
eine neue Beratung ab. ÆWir müssen Sie zum Regimentskomitee bringen",
|
||
|
erklärten sie mir. Wir stampften in der schnell sinkenden Dämmerung
|
||
|
den schmutzigen Weg entlang. Verschiedene Male begegneten uns Soldatentrupps,
|
||
|
die stehenblieben und mich drohend umringten, meinen Ausweis von Hand zu
|
||
|
Hand reichend und heftig streitend, ob ich erschossen werden müsse oder
|
||
|
nicht. Es war schon finster, als wir die Kaserne des 2.
|
||
|
Zarskoselski-Schützenregiment erreichten, niedrige, langgestreckte
|
||
|
Gebäude, die eng aneinandergedrängt längs der Hauptstraße
|
||
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standen. Am Eingang wieder Soldaten, in nachlässiger Haltung, die meine
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||
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Wächter mit Fragen bestürmten. ÆEin Spion? Ein Provokateur?"
|
||
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Wir stiegen eine Wendeltreppe hinauf und kamen an einen großen kahlen
|
||
|
Raum, mit einem riesigen Ofen in der Mitte und Reihen von Lagerstätten
|
||
|
am Boden, wo gegen tausend Soldaten Karten spielten, sangen, plauderten oder
|
||
|
schliefen. Im Dache war ein mächtiges Loch, das von einer kerenskischen
|
||
|
Granate herrührte. Ich blieb am Eingang stehen. Durch die Gruppe lief
|
||
|
ein plötzliches Schweigen. Alles wandte sich nach uns um und starrte
|
||
|
mich an. Dann begannen die Soldaten auf uns einzudringen, langsam erst, dann
|
||
|
immer schneller, schreiend, mit haßerfüllten Gesichtern. ÆHalt,
|
||
|
halt, Genossen!" schrie einer meiner Wärter. ÆDas Komitee! Das
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||
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Komitee!" Die Menge stand, mich umringend, murrend. Ein hagerer junger Mensch,
|
||
|
mit einer roten Armbinde, drängte sich vor. ÆWer ist das?" fragte
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||
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er rauh. Die Wächter erstatteten ihm Bericht. ÆGeben Sie mir den
|
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|
Ausweis!" Er las ihn aufmerksam, mich mit durchdringendem Blick musternd.
|
||
|
Dann flog ein Lächeln über sein Gesicht, und e gab mir seinen Ausweis
|
||
|
zurück. ÆGenossen! Dies ist ein amerikanischer Genosse!" Und zu
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mir gewendet: ÆIch bin der Vorsitzende des Komitees. Ich heiße
|
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Sie in unserem Regiment willkommen.." Bei den Soldaten erst ein erstauntes
|
||
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Gemurmel, das rasch zu herzlichen Begrüßungen anwuchs. Alle
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drängten vorwärts, mir die Hand zu drücken. ÆSie haben
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sicher noch nicht gegessen? Wir sind hier schon fertig. Aber Sie können
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in den Offiziersklub gehen. Da sind auch Leute, die ihre Sprache sprechen."
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Er führte mich über den Hof zum Eingang eines anderen Gebäudes.
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Ein vornehm auftretender junger Mensch, den Achselstücken nach ein Leutnant,
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ging gerade nach oben. Der Vorsitzende stellte mich vor, und sich mit einem
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Händedruck verabschiedend, ging er wieder zurück. ÆStepan
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Georgijewitsch Morowski, zu ihren Diensten", sagte der Leutnant in tadellosem
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Französisch. Von der reichgeschmückten Vorhalle führte eine
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von funkelnden Kronleuchtern erleuchtete Treppe nach oben .In der zweiten
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Etage Billard- und Kartensäle, eine Bibliothek. Wir betraten den Speisesaal,
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wo an einem in der Mitte stehenden Tisch gegen zwanzig Offiziere saßen,
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in Galauniform, mit gold- und silberknaufigen Degen und mit den Bändern
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und Kreuzen ihrer kaiserlichen Orden geschmückt. Alle erhoben sich
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höflich, als ich eintrat, und mir wurde ein Platz neben dem Obersten
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offeriert. Gewandte Burschen servierten das Essen. Die Atmosphäre
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unterschied sich in nichts von der eines beliebigen europäischen
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Offizierskasinos. Wo war hier die Revolution? ÆSie sind keine Bolschewiki?"
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fragte ich Morowski. Ein Lächeln lief durch die Runde; aber ich sah
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auch einen oder zwei einen flüchtigen Blick auf die Ordonnanzen werfen.
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ÆNein", erwiderte mein Freund. ÆIm Regiment ist nur ein
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bolschewistischer Offizier, und der ist heute abend in Petrograd. Der Oberst
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ist Menschewik, der Hauptmann Cherlow gehört der Kadettenpartei an,
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und ich selber gehöre zu den rechten Sozialrevolutionären. Die
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Offiziere der Armee sind wohl meist keine Bolschewiki; aber sie sind
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überzeugte Demokraten, und sie halten es für ihre Pflicht, den
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Soldatenmassen zu folgen." Nach dem Essen wurde eine Karte hereingebracht,
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die der Oberst auf dem Tisch ausbreitete. Alles drängte sich heran,
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um zu sehen. ÆHier", sagte der Oberst, auf eine Bleistiftlinie weisend,
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Æbefanden sich unsere Stellungen heute morgen. Wladimir Kirillowitsch,
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wo ist jetzt Ihre Kompanie?" Hauptmann Cherlow zeigte: ÆWir haben laut
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Befehl die Stellungen längs dieses Weges bezogen. Karsawin hat mich
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um fünf Uhr abgelöst." In diesem Augenblick wurde die Tür
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geöffnet, und der Vorsitzende des Regimentskomitees und ein anderer
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Soldat traten ein. Sie gesellten sich zu der Gruppe hinter dem Obersten und
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betrachteten die Karte. ÆGut!" sagte der Oberst. ÆDie Kosaken
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haben sich in unserem Abschnitt um zehn Kilometer zurückgezogen. Ein
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weiteres Vorrücken scheint mir in diesem Moment nicht nötig. Meine
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Herren, halten Sie heute nacht die gegenwärtige Linie und befestigen
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sie die Stellung mittels..." ÆWenn ich bitten darf", unterbrach hier
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der Vorsitzende des Regimentskomitees. ÆDie Befehle lauten: ,Im
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schnellstmöglichen Tempo vorrücken, die Kosaken morgen in aller
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Frühe nördlich von Gattschina angreifen, sie vernichtend schlagen.'
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Bitte, treffen Sie die entsprechenden Maßregeln." Ein kurzes Schweigen
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folgte. Der Oberst wandte sich von neuem der Karte zu. ÆSehr gut",
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sagte er in verändertem Tonfall. ÆStepan Georgijewitsch, wollen
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Sie bitte..." Und rasch einige blaue Linien zeichnend, gab er seine Befehle,
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während ein Unteroffizier stenografierte. Der Unteroffizier ging dann
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hinaus, um zehn Minuten später eine maschinenschriftliche Ausfertigung
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des Befehls nebst einer Kopie hereinzubringen. Der Vorsitzende des Komitees
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studierte die Karte anhand der Kopie des Befehls. ÆIn Ordnung", sagte
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er, sich erhebend. Er faltete die Kopie zusammen und steckte sie in die Tasche.
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Dann unterzeichnete er den Befehl, holte aus seiner Tasche einen Stempel,
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drückte ihn neben die Unterschrift und überreichte den Befehl dem
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Obersten. Hier fühlte ich wieder die Revolution.
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Mit dem Auto des Regimentsstabes kehrte ich nach Zarskoje in den Sowjetpalast
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zurück. Immer noch strömten Arbeiter, Soldaten und Matrosen hinein
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und heraus, immer noch das Gewimmel von Lastautos, Panzerwagen, eine Kanone
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vor der Tür und der frohe Lärm des ungewohnten Sieges. Ein halbes
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Dutzend Rotgardisten drängte sich durch die Menge, in ihrer Mitte ein
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Priester. Das sei Vater Iwan, sagten sie, der die Kosaken bei ihrem Einmarsch
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in die Stadt gesegnet habe. Später hörte ich, daß man ihn
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erschossen hat. Eben kam Dybenko heraus, nach allen Seiten rasch Befehle
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erteilend. In der Hand hielt er seinen großen Revolver. Ein Automobil
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stand da, mit ratterndem Motor. Dybenko schwang sich auf den hinteren Sitz,
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ohne Begleitung, und sauste davon - nach Gattschina, um Kerenski einen Schlag
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zu versetzen. Gegen abend hatte er die Stadtgrenze erreicht und ging zu Fuß
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weiter. Was er mit den Kosaken besprochen hat, weiß niemand. Tatsache
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aber ist, daß der General Krasnow mit seinem Stabe und einige tausend
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Kosaken die Waffen streckte und Kerenski den Rat gab, dasselbe zu tun. Hier
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die Aussage des Generals Krasnow am Morgen des 14. November in bezug auf
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Kerenski: ÆGattschina, 14. November 1917. Heute morgen gegen 3 Uhr
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wurde ich zum Obersten Befehlshaber (Kerenski) beordert. Er war
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äußerst aufgeregt und nervös. ,General', sagte er mir,,Sie
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haben mich verraten. Ihre Kosaken erklären kategorisch, daß sie
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mich verhaften und an die Matrosen ausliefern wollen.' ,Jawohl', antwortete
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ich,,davon ist tatsächlich die Rede, und mir ist auch bekannt, daß
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sie nirgendwo Freunde haben.'
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,Aber die Offiziere sagen dasselbe.' ,Stimmt, gerade die Offiziere sind mit
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ihnen besonders unzufrieden.'
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,Was soll ich tun? Mich erschießen?' ,Wenn Sie ein Ehrenmann sind,
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so werden Sie unverzüglich mit einer weißen Fahne nach Petrograd
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zum Revolutionären Militärkomitee gehen und als Chef der Provisorischen
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Regierung in Verhandlungen eintreten.' ,Gut, ich werde das tun, General.'
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,Ich werde Ihnen eine Schutzwache mitgeben und einen Matrosen bitten, Sie
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zu begleiten.' ,Nein, nein, nur keinen Matrosen. Es heißt, daß
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Dybenko hier sein soll. Ist das wahr?' ;Dybenko? Ich weiß nicht, wer
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das ist.' ,Mein Feind.' ,Da kann man nichts tun. Wenn man einen hohen Einsatz
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wagt, muß man alle Möglichkeiten nützen.' ,Jawohl, ich werde
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heute nacht gehen!' ,Heute nacht? Das würde als Flucht gedeutet werden.
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Gehen Sie in aller Ruhe und ganz öffentlich, so daß jeder sehen
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kann, daß Sie nicht davonlaufen.' ;Sie haben recht. Aber Sie müssen
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mir eine Begleitung geben, auf die ich mich verlassen kann.' ,Gut.' Ich ging
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hinaus und rief den Kosaken Russakow vom 10. Don-Regiment. Ich gab ihm Befehl,
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zehn Kosaken auszusuchen, die den Obersten Befehlshaber begleiten sollten.
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Eine halbe Stunde später berichteten die Kosaken, Kerenski sei nicht
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in seinem Quartier, er sei davongelaufen. Ich alarmierte sofort alles und
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befahl, nach ihm zu suchen, in der Annahme, daß er Gattschina noch
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nicht verlassen haben könnte, er wurde jedoch nicht gefunden..."
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So war Kerenski also allein geflohen, allein, als Matrose verkleidet; er
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verlor auf diese Weise das letzte bißchen Popularität, das ihm
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unter den russischen Massen geblieben war...
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Zurück nach Petrograd fuhr ich in einem Lastauto, das voller Rotgardisten
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war. Der Fahrer, ein Arbeiter, hatte mir einen Platz neben sich eingeräumt.
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Wir hatten kein Leuchtöl, und so fuhr unser Wagen unbeleuchtet. Auf
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der Chaussee drängten sich die Soldaten der proletarischen Armee,
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heimwärts marschierende, und herausströmende frische Reserven.
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Riesige Lastautos, Artilleriekolonnen, Wagen tauchten aus der Nacht auf,
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gleichfalls ohne Licht. Wir ratterten ungestüm los, mit plötzlichem
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Ruck bald nach rechts, bald nach links ausweichend, um Zusammenstöße
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zu vermeiden, unter den wilden Verwünschungen der Fußgänger.
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Am Horizont schimmerten die Lichter der Hauptstadt, als wäre die weite,
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kahle Ebene mit Juwelen übersät. Der alte Arbeiter am Steuer hielt
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das Lenkrad nur noch mit einer Hand, während er mit der anderen voll
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überschwenglicher Freude auf die in der Ferne leuchtende Hauptstadt
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wies. ÆMein!" rief er mit glänzenden Augen. ÆGanz gehört
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es jetzt mir! Mein Petrograd!"
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