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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Larissa Reissner - Hamburger Oktober 1923</TITLE>
<META NAME="BOOKTITLE" CONTENT ="Vorw&auml;rts und nicht vergessen, S.59 ff">
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<META NAME="Originalausgabe" CONTENT ="Gewehre im Oktober, Verlag Druck und Wissen, Berlin 1970">
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<META NAME="YEAR" CONTENT ="1973">
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Reissner</SMALL></A></TD>
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<H2> Larissa Reissner</H2>
<H1> <!-- #BeginEditable "Titel" -->Hamburger Oktober 1923<!-- #EndEditable --></H1>
<P><SMALL><!-- #BeginEditable "Quelle" -->(Quelle: Gewehre im Oktober,
Verlag Druck und Wissen, Berlin 1970)<!-- #EndEditable --> </SMALL></P>
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<P> <B> Die Barrikade</B><P>
In gro&szlig;en St&auml;dten vergeht ein Aufstand spurlos. Eine Revolution
mu&szlig; gro&szlig; und sieghaft sein, wenn die Spuren der Zerst&ouml;rungen,
ihre heroischen Wunden, die wei&szlig;en Trichter der Kugeln an den Mauern, die
mit den Pockennarben des Maschinengewehrfeuers bedeckt sind, sich einige Jahre
lang erhalten sollen. <P>
Nach zwei, drei Tagen, nach zwei, drei Wochen verschwindet zusammen mit den von
schmutzigen Regeng&uuml;ssen umsp&uuml;lten, mit einer Bajonettspitze von der
Mauer abgerissenen Fetzen der Plakate &#151; die kurze Erinnerung an den Stra&szlig;enkampf,
an das aufgew&uuml;hlte Pflaster, an die B&auml;ume, die, Br&uuml;cken gleich,
&uuml;ber die Fl&uuml;sse der Stra&szlig;en und die B&auml;che der Gassen hin&uuml;bergeworfen
waren. Hinter den Schuldigen schlagen die Gef&auml;ngnistore zu; aus den Fabriken
hinausgeworfen, sind die Teilnehmer an einem Aufstande gezwungen, in einer anderen
Stadt, in einem entfernten Viertel Arbeit zu suchen; nach der Niederlage verkriechen
sich die Arbeitslosen in fernen namenlosen Winkeln, die Frauen schweigen, die
Kinder leugnen, in ewiger Furcht vor den allzufreundlichen Fragen eines Spitzels,
und die Legende &uuml;ber die Tage des Aufstandes verweht, wird vergessen, &uuml;bert&ouml;nt
von dem L&auml;rm des wiederhergestellten Verkehrs, der wiederaufgenommenen Arbeit.
Die neue Arbeiterschicht in den Fabriken tritt an die verlassenen Werkb&auml;nke,
raunt sich eine Weile einige Namen und einige besonders gegl&uuml;ckte Sch&uuml;sse
zu, aber auch das vergeht. <P>
Der Arbeiter hat in den Grenzen eines b&uuml;rgerlichen Staates keine Geschichte;
die Liste seiner Helden f&uuml;hren das Standgericht und der Fabrikportier aus
dem reformistischen Gewerkschafts-Verband. Nachdem sie mit Waffen gesiegt hat,
sucht die Bourgeoisie das verha&szlig;te Andenken an die k&uuml;rzlich erlebte
Gefahr mit Vergessenheit zu ersticken. <P>
Seit dem Hamburger Aufstand ist bereits &uuml;ber ein Jahr vergangen. Aber seltsam
genug &#151; sein Andenken will nicht weichen, obwohl die Spuren der Barrikaden
sorgsam beseitigt sind und die Z&uuml;ge friedlich &uuml;ber die D&auml;mme und
Viadukte laufen, die der Verteidigung oder dem Angriff dienten; M&ouml;wen ruhen
auf ihnen. <P>
Drei standrechtliche Fleischmaschinen stecken die Teilnehmer der Stra&szlig;enk&auml;mpfe
in aller Eile in die Gef&auml;ngnisse; &Auml;rzte und Gef&auml;ngnisaufseher haben
schon l&auml;ngst die durch die Mi&szlig;handlungen bis zur Unkenntlichkeit entstellten
Leichname an die Verwandten abgeliefert. Aber die Erinnerung an den tollk&uuml;hnen
Oktober will trotzdem nicht dem Alltag weichen. Es gibt in der alten Hansestadt
Hamburg keine Kneipe, keine Arbeiterversammlung, keine proletarische Familie,
wo die Namen der Teilnehmer nicht mit Stolz genannt, wo nicht wenigstens von Beobachtern
mit unwillk&uuml;rlicher Achtung von den erstaunlichen Szenen in den Stra&szlig;en
der Vorst&auml;dte gesprochen wird. <P>
Die Erkl&auml;rung f&uuml;r diese Hartn&auml;ckigkeit, mit der das Proletariat
der Wasserkante die lebendige Erinnerung an die Oktobertage wachh&auml;lt, liegt
darin, da&szlig; der Hamburger Aufstand weder in milit&auml;rischer noch politischer
noch moralischer Hinsicht besiegt war. Es ist in den Massen nicht die tiefe Bitterkeit
einer Niederlage geblieben. <P>
Der anhaltende revolution&auml;re Proze&szlig;, der sie im Oktober auf die Barrikaden
warf, nahm am 24. kein Ende, als die gesamte Polizei und ausgew&auml;hlte Schwarzhundert-Garden
der Marine-Division und der Reichswehr mobilisiert wurden, und auch nicht am 26.,
als kompakte Massen der Polizei, tausendk&ouml;pfige Abteilungen der Kavallerie
und Infanterie, eine Menge von Panzerwagen endlich in die revolution&auml;ren
Vorst&auml;dte einbrachen, die schon einige Stunden vorher von den Arbeiter-Hundertschaften
freiwillig verlassen wurden. Im Gegenteil, die Bewegung, die in den Oktobertagen
zum Durchbruch kam, die sechzig Stunden &uuml;ber der Stadt herrschte, die den
Gegner an allen Punkten schlug, wo er es wagte, zum Angriff gegen die geschickt
angelegten Barrikaden &uuml;berzugehen; eine Bewegung, die den Arbeitern nur zehn
Tote und der Polizei und den Truppen Dutzende von Toten und Verwundeten kostete
- diese Bewegung hat ihre K&auml;mpfer in aller Ruhe und Ordnung zur&uuml;ckgezogen,
ihre Waffen gerettet und verborgen, die Verwundeten in eine sichere Unterkunft
geschafft, kurz, sie hat sich planm&auml;&szlig;ig zur&uuml;ckgezogen, sich in
illegale Schlupfwinkel verkrochen, um sich bei dem ersten Ruf der gesamtdeutschen
Revolution wieder zu erheben. <P>
Der Anfang der revolution&auml;ren Bewegung beginnt nicht im Oktober, sondern
im August des Vorjahres, als Hamburg zu einer Arena von hartn&auml;ckigen und
erbitterten K&auml;mpfen f&uuml;r den Arbeitslohn, f&uuml;r den achtst&uuml;ndigen
Arbeitstag, f&uuml;r die Entlohnung in Goldw&auml;hrung, f&uuml;r eine ganze Reihe
nicht nur &ouml;konomischer, sondern auch rein politischer Forderungen wurde:
Arbeiterregierung, Produktionskontrolle und so weiter. Diese gewerkschaftlichen
K&auml;mpfe waren begleitet von Streikausbr&uuml;chen und st&uuml;rmischen Eruptionen
des anwachsenden revolution&auml;ren Hasses: von der Demolierung von Lebensmittell&auml;den,
von der Verpr&uuml;gelung der Polizisten und Streikbrecher. Die Hamburger Arbeiterinnen
haben sich in diesen Monaten besonders ausgezeichnet; im allgemeinen sind die
Frauen einer gro&szlig;en Hafenstadt weitaus selbst&auml;ndiger und politisch
gereifter, als ihre Genossinnen in den meisten Industriezentren Deutschlands.
Sie waren es, die im August des Vorjahres ihre M&auml;nner hinderten, die Arbeit
in den streikenden Werften wiederaufzunehmen. Ihre lebendige Kette vermochten
weder Polizeibajonette, noch kleinm&uuml;tige Arbeiterhaufen, die bereit waren,
jede Bedingung der Arbeitgeber anzunehmen, von dem Elbtunnel zu verdr&auml;ngen
und zu durchbrechen. Einer dieser Zusammenst&ouml;&szlig;e endete mit der Entwaffnung
und Verpr&uuml;gelung einer Polizeiabteilung, zumal ihres Leutnants, der sie leitete
und daf&uuml;r im schmutzigen, kalten Elbwasser ein Bad nehmen mu&szlig;te. <P>
<!-- <IMG SRC="hh23.jpg" border=2 ALIGN=LEFT ALT="Barrikadenbrechender Panzer"> nicht auffindbar -->
Begonnen
im August, konnte diese Bewegung nicht mit einem Zusammenbruch enden &#151; wie
es die Bourgeoisie ausposaunt hat &#151; und auch nicht mit der &#171;gl&auml;nzenden&#187;
milit&auml;rischen Demonstration der Reichswehrkr&auml;fte vom 23. bis 26. Oktober.
Diese Bewegung konnte nur mit einem Sieg oder mit einer Niederlage der gesamten
Arbeiterklasse Deutschlands enden. In dieser Kontinuierlichkeit, in diesem steten
und anhaltenden Wachstum, das die Hamburger Genossen auszeichnet, liegt der grundlegende
Unterschied des bewaffneten Aufstandes von dem sogenannten politischen &#171;Putsch&#187;.
<P>
Der &#171;Putsch&#187; hat weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft; er ist
entweder ein endg&uuml;ltiger Sieg oder eine ebensolche nicht wieder gutzumachende
hoffnungslose Niederlage. Wenn eine Revolution stark ist und von einer starken,
kampff&auml;higen Partei geleitet wird, dann kann sie sich zur&uuml;ckziehen,
ihre Federn wieder spannen, sich auch nach dem verzweifeltsten Durchbruchsversuch
wieder zusammenrollen. Wenn das Proletariat schwach, politisch nicht trainiert,
nicht gest&auml;hlt ist, dann lebt es in der Hoffnung auf einen kurzen Sto&szlig;,
auf einen blutigen, scharfen Ausbruch, aber zu einer anhaltenden Spannung ist
es nicht f&auml;hig. Mag dieser kurze Sto&szlig; die gr&ouml;&szlig;te Anspannung,
die ungeheuerlichsten Opfer kosten - die schlecht zusammengef&uuml;gten lockeren
Massen werden zu allem bereit sein, wenn eine starke Hoffnung auf einen vollen,
endg&uuml;ltigen Sieg besteht. Wenn aber einem solchen Versuch, die Macht zu erobern,
aus diesem oder jenem Grunde ein Mi&szlig;erfolg folgt, dann zerfallen diese Massen,
l&ouml;sen sich aus jeder Organisation heraus, verst&auml;rken ihre Niederlage
durch eine w&uuml;tende Selbstkritik. Die regul&auml;ren Stammtruppen der politisch
gereiften Massen dagegen kehren nach einem Sturmangriff zu ihren alten Sch&uuml;tzengr&auml;ben
zur&uuml;ck, sie sind f&auml;hig, die langweilige, langsame Belagerungsarbeit,
die Minierarbeit des illegalen Kampfes und die allt&auml;glichen kleinen Scharm&uuml;tzel
wiederaufzunehmen. Der Hamburger Aufstand bietet - sowohl nach dem anhaltenden
ihm vorangegangenen politischen Proze&szlig;, als auch, und das ganz besonders,
nach der gl&auml;nzenden Arbeit, die in den Tagen und Wochen nach seiner Liquidation
geleistet wurde - ein klassisches Beispiel f&uuml;r einen echten revolution&auml;ren
Aufstand, der die interessanteste Strategie der Stra&szlig;enk&auml;mpfe und eines
einzigartigen, idealen R&uuml;ckzugs ausgearbeitet und in den Massen das Gef&uuml;hl
einer zweifellosen &Uuml;berlegenheit &uuml;ber den Feind, das Bewu&szlig;tsein
des moralischen Sieges zur&uuml;ckgelassen hat. <P>
Die Ergebnisse dieser Arbeit sind nicht zu &uuml;bersehen. Noch nie hat der Zerfall
der alten Gewerkschaftsorganisationen ein so gewaltiges Ausma&szlig; erreicht
wie gerade nach den Oktobertagen. Vom 25. Oktober 1923 bis 1. Januar 1924 sind
aus den Reihen der reformistischen Gewerkschaftsverb&auml;nde mehr als 30 000
alte, langj&auml;hrige Mitglieder ausgetreten. <P>
Wir werden weiter unten die traurige Rolle n&auml;her beleuchten, die die Gewerkschaftsb&uuml;rokratie
und ihr rechter Fl&uuml;gel in den Oktobertagen gespielt haben. Als Leibgarde
des Reformismus haben die Verb&auml;nde &#171;Vereinigung Republik&#187; und &#171;Vaterl&auml;ndische
Verteidigung&#187; offen die Funktionen der Polizei in den ruhigeren Stadtgebieten
&uuml;bernommen und es ihr auf diese Weise erm&ouml;glicht, ihre Kr&auml;fte auf
die Unterdr&uuml;ckung von Hamm und Schiffbek zu konzentrieren. Davon wird weiter
unten noch die Rede sein; wir wollen hier nur bemerken, da&szlig; alle diese kriegerischen
Taten der rechten F&uuml;hrer der Sozialdemokratie dazu gef&uuml;hrt haben, da&szlig;
vor den T&uuml;ren ihrer Registrationsb&uuml;ros sich Haufen von zerrissenen Mitgliedsb&uuml;chern
bildeten. <P>
Bergeweise lagen sie neben der Schwelle, und Hunderte von Arbeitern, die riskierten,
verhaftet oder von patrouillierender Reichswehr erschossen zu werden, st&uuml;rzten
zum Gewerkschaftshaus, um ihre Mitgliedsb&uuml;cher den B&uuml;rokraten in das
Verr&auml;tergesicht zu werfen. Eine Reihe der gr&ouml;&szlig;ten Gewerkschaften
der Wasserkante wie der &#171;Vereinigte Verband der Bauarbeiter&#187; kracht
nach dem Oktoberaufstand in allen Fugen. Ihre Mitglieder sind faktisch nicht daran
zu hindern, demonstrativ in Massen aus dem Verband auszutreten. <P>
Ich hatte Gelegenheit, an einer Versammlung eines der Zweige des Bauarbeiter-Verbandes
teilzunehmen, der beschlossen hatte, in einer St&auml;rke von achthundert Mann
aus dem Verband auszutreten und seine eigene Vereinigung zu gr&uuml;nden. Unter
den Anwesenden waren &auml;ltere, teils parteilose Arbeiter, Meister ihres Fachs,
die keinerlei Not litten, die ihre Mitgliedsbeitr&auml;ge seit Jahrzehnten regelm&auml;&szlig;ig
zahlten. <P>
In dieser Versammlung forderten alte Leute mit wuterstickter Stimme einen sofortigen
und vollst&auml;ndigen Bruch mit den &#171;Bonzen&#187;. Kein Kommunist h&auml;tte
die alte Partei mehr hassen, ihren Zusammenbruch st&auml;rker empfinden k&ouml;nnen.
Vergeblich versuchten Mitglieder der KPD, die Versammelten von der Absicht abzubringen,
einen &#171;eigenen Laden&#187; aufzumachen, bestanden darauf, die Gewerkschaften
von innen heraus, durch eine starke, ihren Einflu&szlig; st&auml;ndig verbreiternde
Opposition zu revolutionieren. Die Arbeiter verabscheuen die Gewerkschaft als
etwas, das nicht einen einzigen Arbeitergroschen, der in ihre Kasse gezahlt wird,
wert ist. <P>
Die Kommunistische Partei und die hinter ihr stehenden Massen haben sich nicht
nur innerlich, sondern auch &auml;u&szlig;erlich unendlich gefestigt. Ihre Aktivit&auml;t
ist nicht geschw&auml;cht, trotz der zahlreichen Verhaftungen (&uuml;brigens wurden
die meisten nicht w&auml;hrend des Aufstandes, sondern nachher, auf Grund von
freiwilligen Denunziationen seitens der Kleinb&uuml;rger vorgenommen). Im Gegenteil:
alle Mauern von Hamburg sind mit unausl&ouml;schlichen Aufschriften bedeckt. An
jeder Stra&szlig;enkreuzung, an jedem &ouml;ffentlichen Geb&auml;ude liest man
die Aufschrift: &#171;Die Kommunistische Partei lebt. Sie kann nicht verboten
werden!&#187; Mag der Reichstag f&uuml;r das &#171;Erm&auml;chtigungsgesetz&#187;
gestimmt haben; mag Seeckt die F&uuml;lle der Macht in seinen H&auml;nden haben,
mag die wei&szlig;e Diktatur die letzten Reste, die letzten kleinen Freiheiten
der Arbeitergesetzgebung vernichten &#151; dennoch sind alle W&auml;nde der Barakken,
wo die Arbeiter registriert werden, von oben bis unten wie mit Tapeten frisch
mit den kleinen kommunistischen Plakaten beklebt. Wie Schneeflocken wirbeln sie
in alle Versammlungen der SPD, fallen von den Galerien, kleben an den W&auml;nden
der Kneipen, an den Scheiben der Stra&szlig;en- und Untergrundbahnen. Die Frauen
der entfernten Viertel, deren ganze m&auml;nnliche Bev&ouml;lkerung &#171;unterwegs&#187;,
das hei&szlig;t geflohen ist, oder in Gef&auml;ngnissen sitzt, fordern die Zusendung
von Plakaten und Flugbl&auml;ttern. Und wenn sie sich &uuml;ber etwas beklagen,
so doch nur &uuml;ber das Fehlen einer billigen kommunistischen Zeitung. Alles
das ist einer Niederlage so wenig &auml;hnlich, da&szlig; die Richter der Kriegsgerichte,
unter dem Druck der drohenden schweigsamen Massen, die Urteile zu mildern versuchen.
Die Verurteilten gehen in die Festung oder in das Zuchthaus mit dem Stolz und
der Ruhe von Siegern, mit der unersch&uuml;tterlichen Gewi&szlig;heit, da&szlig;
die Revolution den Ablauf ihrer f&uuml;nf, sieben oder zehn Strafjahre unbedingt
unterbrechen wird; sie gehen mit einem herablassenden Spott f&uuml;r die Gesetze
des b&uuml;rgerlichen Staates, die feige Brutalit&auml;t seiner Polizei und die
Festigkeit seiner Gef&auml;ngnismauern. Dieser Glaube kann nicht t&auml;uschen.
<P>
Aber warum hat das ganze Land den Hamburger Aufstand nicht unterst&uuml;tzt? <P>
Ganz Deutschland war in den Oktobertagen in zwei einander gegen&uuml;berstehende
Lager gespalten, die auf das Angriffssignal warteten. Doch Sachsen war schon mit
der Polizei und der Reichswehr &uuml;berf&uuml;llt. Somit h&ouml;rte einer der
wichtigsten Sammelpl&auml;tze der Revolution auf zu existieren. Zahlreiche Gruppen
von Arbeitslosen f&uuml;llten noch die n&auml;chtlichen Stra&szlig;en von Dresden,
aber hinter ihnen, neben und vor ihnen stolzierten bewaffnete, herausfordernde
und freche Reichswehrtruppen. <P>
In diesem Augenblick w&auml;re ein Signal zum Kampf, in Sachsen gegeben, sicherlich
das Signal zum Massenterror gegen die s&auml;chsischen Arbeiter gewesen. <P>
Zur selben Zeit forderte in Hamburg eine Konferenz von Arbeitern der ungeheuren
Werften von Hamburg, L&uuml;beck, Stettin, Bremen und Wilhelmshaven die sofortige
Ausrufung des Generalstreiks; es gelang ihren Leitern nur mit gro&szlig;er M&uuml;he,
einen Aufschub des Generalstreiks auf einige Tage zu erzwingen; die Arbeiterkonferenz
in Chemnitz lehnte infolge des rechtssozialistischen Einflusses den Generalstreik
ab. Sachsen war schon erdrosselt, und das von den linken Sozialdemokraten im letzten
Augenblick verratene Proletariat wich instinktiv einem Zusammensto&szlig; aus,
der f&uuml;r die Revolution ung&uuml;nstig, vielleicht sogar verh&auml;ngnisvoll
sein konnte. <P>
Berlin! Wer Berlin in den Oktobertagen gesehen hat, der erinnert sich gewi&szlig;
an das merkw&uuml;rdige Gef&uuml;hl der Zwiesp&auml;ltigkeit, die den Grundzug
seiner revolution&auml;ren Spannung bildete. Frauen und Arbeitslose pr&auml;gten
das Gesicht der Stra&szlig;en. Aufgeweckte Jungen trieben sich vor den Schlangen
an den B&auml;cker- und Fleischerl&auml;den herum, dr&auml;ngten sich durch die
Gruppen verzweifelter Frauen und pfiffen die &#171;Internationale&#187;. Der Sturz
der Mark, die l&auml;cherlich geringen Unterst&uuml;tzungsgelder der Arbeitslosen,
Kriegsinvaliden und Kriegerwitwen, die wucherische Ausbeutung der Arbeit, die
unerschwinglichen Preise f&uuml;r alle Artikel des t&auml;glichen Bedarfs, der
Ruin der Kleinbourgeoisie, das schamlose Verhalten der &#171;gro&szlig;en Koalition&#187;,
der Aderla&szlig; an der Ruhr, die Repressalien der Franzosen, die Manipulation
der deutschen Kapitalisten, die die Presse ans Tageslicht gebracht hat, und die
ein blutiges, staubbedecktes Gespenst an der Ruhr heraufbeschworen - das alles
waren sichere Anzeichen der nahenden Revolution. Die Wagen der Reichen mieden
schon die Vorst&auml;dte, die Polizei war schon soweit, da&szlig; sie gegen die
Pl&uuml;nderer der Brotl&auml;den nicht mehr allzu scharf vorging; <P>
drau&szlig;en, vor der Stadt dr&ouml;hnte schon die Artillerie, die man den streikenden
Betrieben n&auml;her brachte; der L&auml;rm der Lastautos, voll beladen mit Polizei,
m&auml;&szlig;igte nicht den Zorn der Menge, die die M&auml;rkte und Schauk&auml;sten
der Zeitungen belagerte, sondern hetzte sie noch mehr auf. <P>
Und daneben - vollkommen passive Arbeitermassen, breite Schichten des verb&uuml;rgerlichten
Proletariats, die sich zur&uuml;ckhalten, sich an ihr St&uuml;ck Brot, an ihr
gem&uuml;tliches Heim, an ein Pfund Margarine klammern &#151; auch wenn sie f&uuml;r
diese Margarine noch so viele Stunden arbeiten m&uuml;ssen. <P>
Menschen, die bei sich zu Hause, bei einer Tasse schlechten Kaffees und mit dem
&#171;Vorw&auml;rts&#187; in der Hand ein paar Tage in aller Ruhe abwarten wollen
- bis die Schie&szlig;erei in den Stra&szlig;en aufh&ouml;rt, bis man die Toten
und Verwundeten fortschafft, die Barrikaden wegger&auml;umt hat, bis der Sieger,
wer es auch sei, ein Bolschewik, ein Ludendorff oder ein Seeckt, die Besiegten
in die Gef&auml;ngnisse gesteckt und den Platz der gesetzm&auml;&szlig;igen Regierung
eingenommen hat. <P>
In Berlin wie in Hamburg (Ausnahmen bilden nur einige ausschlie&szlig;lich von
Arbeitern bewohnte Stadtviertel) h&auml;tte das revolution&auml;re Proletariat
der Polizei und den Truppen des Generals Seeckt vollst&auml;ndig isoliert, ohne
jede aktive Hilfe seitens der breiten Massen, ohne Hoffnung auf Unterst&uuml;tzung
in den schwersten Augenblicken und vielleicht, ebenso wie in Hamburg, fast waffenlos
entgegentreten m&uuml;ssen. <P>
Nichtsdestoweniger f&uuml;hrte der in Hamburg unter den gleichen oder fast den
gleichen ung&uuml;nstigen Umst&auml;nden unternommene Aufstand nicht nur zu keiner
Niederlage; seine Ergebnisse waren im Gegenteil geradezu verbl&uuml;ffend. Es
ist wahr, hinter seinem R&uuml;cken stand das ganze Arbeiterdeutschland, das von
der Gegenrevolution im offenen Kampfe nicht geschlagen war und daher den heroischen
R&uuml;ckzug seines Hamburger Schrittmachers materiell und moralisch decken konnte.
<P>
Auf jeden Fall besteht die Arbeit einer sieghaften Partei nicht allein im fieberhaften
Auflauern der sogenannten zw&ouml;lften Stunde der Bourgeoisie, des historischen
Augenblicks, wenn der Zeiger der Zeit nach einem kurzen Augenblick des Schwankens
die ersten Sekunden der kommunistischen Aera mechanisch ausl&ouml;st. <P>
Es gibt ein altes deutsches M&auml;rchen von einem tapferen Ritter, der sein ganzes
Leben in einer verzauberten H&ouml;hle in der Erwartung zugebracht hat, da&szlig;
der langsam anschwellende, am Tropfstein sich bildende Wassertropfen ihm endlich
in den Mund f&auml;llt. Und immer hinderte ihn im letzten Augenblick irgendeine
Bagatelle, irgendein dummer Zwischenfall daran, den so sehns&uuml;chtig erwarteten
Tropfen aufzufangen, der dann zwecklos in den Sand fiel. Das Furchtbarste ist
nat&uuml;rlich nicht der Augenblick des Mi&szlig;erfolges selbst, sondern die
tote, leere Pause der entt&auml;uschten Erwartung zwischen der einen Flut und
der n&auml;chsten. <P>
In Hamburg wartete man nicht mit offenem Munde auf das Himmelsna&szlig;. Das,
was man hierzulande so wundervoll und kurz Aktion zu nennen pflegt, ist in eine
starke Kette fortw&auml;hrender K&auml;mpfe eingeschmiedet, mit den vorhergehenden
Gliedern verbunden und auf die Zukunft gest&uuml;tzt, deren jeder Tag - ob des
Erfolges oder der Niederlage &#151; unter dem Zeichen des Sieges steht, das die
Welt, wie die Faust eines Dampfhammers, zerbricht. <P>
Und au&szlig;erdem ereignete sich der Aufstand nicht in der Provinz Brandenburg,
nicht in Preu&szlig;en, nicht im Berlin des Parlaments, der Siegesallee und des
Generals Seeckt, sondern an der Wasserkante. <P>
<P>
<!-- #EndEditable --> <P></P>
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<P><SMALL>Pfad: &raquo;../lr&laquo;<BR>
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