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<TITLE>Karl Marx - Die Adre&szlig;debatte im Parlament</TITLE>
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<P ALIGN="CENTER"><A HREF="../me_ak62.htm"><FONT SIZE=2>Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1862</FONT></A></P>
<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unver&auml;nderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 468-471.</P>
<P>1. Korrektur.<BR>
Erstellt am 25.10.1998.</P>
</FONT><H2>Karl Marx </H2>
<H1>Die Adre&szlig;debatte im Parlament </H1>
<P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["Die Presse" Nr. 42 vom 12. Februar 1862] </P>
</FONT><B><P><A NAME="S468">|468|</A></B> London, 7. Februar 1862 </P>
<P>Die Er&ouml;ffnung des Parlaments war eine glanzlose Zeremonie. Die Abwesenheit der K&ouml;nigin und die Verlesung der Thronrede durch den Lord Chancellor |Gladstone| verbannten jeden theatralischen Effekt. Die Thronrede selbst ist kurz, ohne schlagend zu sein. Sie rekapituliert die faits accomplis |vollendeten Tatsachen| der ausw&auml;rtigen Politik und verweist zur Beurteilung derselben auf die dem Parlament vorgelegten Dokumente. Eine einzige Phrase erregte eine gewisse Sensation, die Phrase, worin die K&ouml;nigin "trusts" (hofft, glaubt), da&szlig; "kein Grund vorhanden ist, eine St&ouml;rung des Friedens in Europa zu bef&uuml;rchten". Diese Phrase besagt in der Tat, da&szlig; der europ&auml;ische Friede der Dom&auml;ne der Hoffnung und des Glaubens angeh&ouml;rt. </P>
<P>Die Herren, welche die Antwort auf die Thronrede in beiden H&auml;usern vorschlugen, waren, der parlamentarischen Praxis gem&auml;&szlig;, schon vor drei Wochen von den Ministern zu diesem Gesch&auml;ft beordert. Ihre Antwort besteht gesch&auml;ftsm&auml;&szlig;ig in einem breiten Echo der Thronrede und in Lobhudeleien, welche die Minister sich selbst im Namen des Parlaments erteilen. Als im Jahre 1811 Sir<I> Francis Burdett</I> den offiziellen Antragstellern der Adresse zuvorkam und die Gelegenheit ergriff, die Thronrede schneidender Kritik zu unterwerfen, schien Magna Charta selbst gef&auml;hrdet. Seit der Zeit hat sich keine solche Ungeheuerlichkeit mehr ereignet. </P>
<P>Das Interesse der Thronrede-Debatte beschr&auml;nkt sich daher auf die "Winke" der offiziellen Oppositionsklubs und die "Gegenwinke" der Minister. Diesmal jedoch war das Interesse mehr akademisch als politisch. Es handelte sich um die beste Leichenrede auf Prinz Albert, der w&auml;hrend <A NAME="S469"><B>|469|</A></B> seines Lebens das Joch der englischen Oligarchie keineswegs leicht fand. Nach der vox populi |Volkes Stimme| haben Derby und Disraeli die akademische Palme davongetragen, der erste als Naturredner, der andere als Kunstredner. </P>
<P>Der gesch&auml;ftliche" Teil der Debatte drehte sich um die<I> Vereinigten Staaten, Mexiko</I> und<I> Marokko</I>. </P>
<P>Mit Bezug auf die<I> Vereinigten Staaten</I> belobten die<I> Outs</I> (die au&szlig;er Amt) die Politik der<I> Ins</I> (der beati possidentes |gl&uuml;cklich Besitzenden|).<I> Derby</I>, der konservative Chef im Hause der Lords, und<I> Disraeli</I>, der konservative Chef im Unterhause, machten nicht dem Kabinett, sondern einander Opposition.<I> </P>
<P>Derby</I> machte zun&auml;chst seiner Verstimmung &uuml;ber den Mangel einer <A HREF="me15_454.htm">"pressure from without"</A> Luft. Er "bewundere", sagte er, die stoische und w&uuml;rdevolle Haltung der Fabriksarbeiter. Was jedoch die Fabriksherren betreffe, so m&uuml;sse er sie von seinem Lob ausschlie&szlig;en. Ihnen sei die amerikanische St&ouml;rung au&szlig;erordentlich gelegen gekommen, da &Uuml;berproduktion und &Uuml;berf&uuml;hrung aller M&auml;rkte ihnen unter allen Umst&auml;nden Einschr&auml;nkung des Handels geboten habe.<I> </P>
<P>Derby</I> griff ferner heftig die Unionsregierung an, "die sich und ihr Volk der w&uuml;rdelosesten Erniedrigung ausgesetzt" und nicht als "gentlemen" gehandelt, weil sie nicht die Initiative ergriffen und nicht freiwillig Mason, Slidell und Compagnie auslieferten und Bu&szlig;e taten. Sein Sekundant im Unterhaus, Herr<I> Disraeli</I>, begriff sofort, wie sehr Derbys Ausfall die Ministerial-Hoffnungen der Konservativen besch&auml;dige. Er erkl&auml;rte daher auch umgekehrt: </P>
<FONT SIZE=2><P>"Wenn ich die gro&szlig;en Schwierigkeiten betrachte, womit die Staatsm&auml;nner von Nordamerika zu k&auml;mpfen hatten, mu&szlig; ich meine Meinung dahin aussprechen, da&szlig; sie denselben m&auml;nnlich und mutig entgegengetreten sind." </P>
</FONT><P>Andererseits - mit der ihm gew&ouml;hnlichen Konsequenz - protestierte<I> Derby</I> gegen die "neuen Lehren" vom Seerecht. England habe von jeher die Kriegf&uuml;hrenden-Rechte gegen die Pr&auml;tensionen der Neutralen behauptet. Lord Clarendon habe zwar 1856 zu Paris eine "gef&auml;hrliche" Konzession gemacht. Gl&uuml;cklicherweise sei dieselbe von der Krone noch nicht ratifiziert, so da&szlig; "sie den Zustand des internationalen Rechts nicht &auml;ndere". Herr<I> Disraeli</I>, offenbar hier im Einverst&auml;ndnis mit dem Ministerium, vermied dagegen jede Ber&uuml;hrung dieses Punktes. </P>
<P>Derby billigt die Nichtinterventions-Politik der Minister. Noch sei die Zeit zur Anerkennung der s&uuml;dlichen Konf&ouml;deration nicht gekommen, aber <A NAME="S470"><B>|470|</A></B> er verlangt authentische Dokumente zur Beurteilung, "wie weit die Blockade effektiv und daher gesetzlich bindend sei". Lord<I> John Russell</I> erkl&auml;rte dagegen, die Unionsregierung habe eine hinreichende Schiffzahl zur Blockierung verwendet, selbe aber nicht &uuml;berall konsequent durchgef&uuml;hrt. Herr<I> Disraeli</I> will sich kein Urteil &uuml;ber die Natur der Blockade erlauben, verlangt aber ministerielle Papiere zur Aufkl&auml;rung. Er warnt um so mehr vor jeder voreiligen Anerkennung der Konf&ouml;deration, als England sich in diesem Augenblicke kompromittiere durch Bedrohung eines amerikanischen Staates (Mexikos), dessen Unabh&auml;ngigkeit es selbst zuerst anerkannte. </P>
<P>Nach den<I> Vereinigten Staaten</I> kam<I> Mexiko</I> an die Reihe. Kein Parlamentsmitglied verurteilte einen Krieg ohne Kriegserkl&auml;rung, aber die Einmischung in die inneren Verh&auml;ltnisse eines Landes unter dem Schibboleth der "Nichtinterventions-Politik" und die Koalition Englands mit Frankreich und Spanien, um ein halb wehrloses Land niederzuschrecken. Die<I> Outs</I> deuteten in der Tat nur an, da&szlig; sie sich Mexiko als Vorwand zu Parteiman&ouml;vern vorbehalten.<I> Derby</I> verlangt Dokumente sowohl &uuml;ber die Konvention zwischen den drei M&auml;chten als &uuml;ber die Weise ihrer Ausf&uuml;hrung. Er billigt die Konvention, weil - nach seiner Ansicht - der richtige Weg f&uuml;r jede der kontrahierenden Parteien darin bestanden habe, ihre Anspr&uuml;che<I> unabh&auml;ngig</I> von der andern geltend zu machen. Gewisse &ouml;ffentliche Ger&uuml;chte lie&szlig;en ihn bef&uuml;rchten, da&szlig; wenigstens eine der M&auml;chte - Spanien - Operationen &uuml;ber die Grenze des Vertrages hinaus bezwecke. Als ob Derby in der Tat der Gro&szlig;macht Spanien die Keckheit zutraute,<I> gegen</I> den Willen Englands und Frankreichs zu handeln! Lord<I> John Russell</I> antwortete: Die drei M&auml;chte verfolgten<I> dasselbe</I> Ziel und w&uuml;rden &auml;ngstlich vermeiden, die Mexikaner an der Regelung ihrer eigenen Regierungsangelegenheiten zu verhindern. </P>
<P>Herr<I> Disraeli</I> im Unterhaus enth&auml;lt sich jedes Urteils vor der Pr&uuml;fung der vorgelegten Dokumente. Indes findet er "die Ank&uuml;ndigung der Regierung<I> verd&auml;chtig</I>". Die Unabh&auml;ngigkeit Mexikos ward von England zuerst anerkannt. Diese Anerkennung erinnert an eine denkw&uuml;rdige Politik - die Anti-Heilige-Allianz-Politik - und an einen denkw&uuml;rdigen Mann,<I> Canning</I>. Welch sonderbarer Anla&szlig; denn trieb England, den ersten Schlag gegen diese Unabh&auml;ngigkeit zu f&uuml;hren? Zudem habe die Intervention in sehr kurzer Zeit ihren Vorwand gewechselt. Urspr&uuml;nglich handelte es sich um Genugtuung f&uuml;r Unbill gegen englische Untertanen. Jetzt munkelt man von Einf&uuml;hrung neuer Regierungsprinzipien und der Errichtung einer neuen Dynastie. Lord<I> Palmerston</I> verweist auf die vorgelegten Papiere, auf die Konvention, die den Alliierten "Unterjochung" Mexikos und Aufb&uuml;rdung <A NAME="S471"><B>|471|</A></B> einer dem Volke unliebsamen Regierungsform untersage. Zugleich aber &ouml;ffnet er einen diplomatischen Schlupfwinkel. Er habe vom H&ouml;rensagen, da&szlig; eine Partei in Mexiko die Verwandlung der Republik in Monarchie w&uuml;nsche. Er kenne die St&auml;rke dieser Partei nicht. Er "w&uuml;nsche seinerseits nur, da&szlig; in Mexiko<I> irgendeine Form von Regierung</I> errichtet werde, womit fremde Regierungen unterhandeln k&ouml;nnen". Er w&uuml;nscht also, eine "neue" Regierungsform zu errichten. Er erkl&auml;rt die<I> Nichtexistenz der gegenw&auml;rtigen Regierung</I>. Er vindiziert der Allianz von England, Frankreich und Spanien die Pr&auml;rogative der Heiligen Allianz, &uuml;ber die Existenz oder Nichtexistenz fremder Regierungen zu entscheiden. "Das ist das &Auml;u&szlig;erste", f&uuml;gte er bescheiden hinzu, "was die Regierung Gro&szlig;britanniens zu erreichen trachtet." Weiter nichts! </P>
<P>Die letzte "offene Frage" der ausw&auml;rtigen Politik betraf<I> Marokko</I>. Die englische Regierung hat eine Konvention mit Marokko geschlossen, um es zur Abzahlung seiner Schuld an Spanien zu bef&auml;higen, einer Schuld, die Spanien ohne Englands Erlaubnis Marokko nie aufb&uuml;rden konnte. Gewisse Personen, scheint es, haben Marokko Geld zu seinen Terminzahlungen an Spanien vorgeschossen, diesem so den Vorwand zur weitern Besetzung Tetuans und Erneuerung des Krieges abschneidend. Die englische Regierung hat in einer oder der andern Weise diesen Personen die Zinsen f&uuml;r ihr Anlehen garantiert und &uuml;bernimmt ihrerseits als Garantie die Verwaltung der Zollh&auml;user Marokkos. Derby fand diese Manier, die Unabh&auml;ngigkeit Marokkos zu sichern, "rather strange" (gewisserma&szlig;en befremdlich), entlockte den Ministern aber keine Antwort. Herr<I> Disraeli</I> ging im Unterhaus weiter auf die Transaktion ein, die "gewisserma&szlig;en unkonstitutionell" sei, indem die Minister hinter dem R&uuml;cken des Parlaments England neue Geldverpflichtungen aufb&uuml;rdeten.<I> Palmerston</I> verwies ihn einfach auf die vorgelegten "Dokumente". </P>
<P>Innere Angelegenheiten wurden kaum ber&uuml;hrt. Derby warnte nur vor "aufregenden" Streitfragen, wie Parlamentsreform, aus R&uuml;cksicht "auf den Gem&uuml;tszustand der K&ouml;nigin". Er ist bereit, der englischen Arbeiterklasse den Tribut seiner Bewunderung regelm&auml;&szlig;ig zu zollen, unter der Bedingung, da&szlig; sie ihren Ausschlu&szlig; von der Volksrepr&auml;sentation mit demselben enthaltsamen Stoizismus ertr&auml;gt wie die amerikanische Blockade. </P>
<P>Man w&uuml;rde irren, wollte man aus der idyllischen Er&ouml;ffnung des Parlaments auf eine idyllische Zukunft schlie&szlig;en. Umgekehrt! Aufl&ouml;sung des Parlaments oder Aufl&ouml;sung des Ministeriums lautet der Wahlspruch der diesj&auml;hrigen Session. Es wird sich sp&auml;ter Gelegenheit zur Begr&uuml;ndung dieser Alternative Finden. </P>
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