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<TITLE>Larissa Reissner - Ullstein</TITLE>
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<META NAME="BOOKTITLE" CONTENT ="Vorwärts und nicht vergessen, S.186 ff">
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<META NAME="Originalausgabe" CONTENT ="Eine Reise durch die deutsche Republik, Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1926">
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Reissner</SMALL></A></TD>
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<H2> Larissa Reissner</H2>
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<H1> <!-- #BeginEditable "Titel" -->Ullstein<!-- #EndEditable --></H1>
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<P><SMALL><!-- #BeginEditable "Quelle" -->(Quelle: Eine Reise durch
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die deutsche Republik, Neuer Deutscher Verlag, Berlin 1926)<!-- #EndEditable -->
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<P>
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<!-- #BeginEditable "Text" -->
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<P> Niemand holt sie vom Telegraphenamt: die Nachrichten kommen von selbst. Gleich
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wilden Schwalben schießen sie in den Raum des Redakteurs und fallen fix
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und fertig, schon in die menschliche Sprache übersetzt, auf schmalen Papierstreifen
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auf den Tisch. Zehn Apparate empfangen sie ununterbrochen. Ein dunkles Kloster
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mit hundert Zellen. Hundert Telephonzellen. In jeder Zelle sitzt ein Einsiedler,
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der den Gott der Sensationen mit wilder Stimme um Gaben anruft. <P>
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«Hier Berlin, "B. Z.". Hier Ullstein. Hallo! Bitte lauter!» <P>
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Wie Arbeitslose auf der Bank einer Anlage, schlummern die Kuriere. Wie Passagiere
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in Erwartung eines Zuges, der stets kommt, immer abgeht und niemals steht. Der
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Zug von Neuigkeiten, den Erdball umkreisend. Viele warten schon seit gestern.
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Die Kabeltelegramme aus Amerika sind schon da, voller kapriziöser Börsenzahlen
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dieser liebenswürdigen Abenteuerinnen, die so geschickt über die Grenze
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huschen - nur mit dem leichten Gepäck jener gefälschten Neuigkeiten
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beladen, die dem Herzen eines Zeitungsmannes so teuer sind. <P>
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O, das Ullstein-Haus ist groß genug, um alle diese fremden Gäste unterzubringen.
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4500 Zimmer, sechs Etagen, endlose Treppen, dutzende eigener Druckereien - es
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sind gewiß Deutschlands beste Mühlen, die die täglichen Lügen-
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und Wahrheitsernten ausgezeichnet vermahlen: sechs Tageszeitungen backen das tägliche
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Brot für die millionenköpfige Bevölkerung von Berlin, für
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alle seine Bevölkerungsschichten, für alle Geschlechter und Alter, für
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ganz Deutschland und für jede seiner Städte im besonderen. Köln
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hat einen anderen Geschmack als Berlin; das Leibgericht von Dresden wird in Frankfurt
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keine Abnehmer finden. Hamburg braucht Knackwürste mit Porter, Dresden —
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Eisbein mit Kohl, der Südländer — etwas Nahrhaftes und Umfangreiches.
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<P>
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Im Hause Ullstein pflegt niemand zu Fuß zu gehen. Nur Nichtstuer benutzen
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die Treppen. Der Lift ist das einzige Beförderungsmittel. Durch alle Stockwerke
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fliegen seine offenen Käfige. Die Lifttür ist abgeschafft, gehört
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ins Museum. Die Menschen stürzen hinein und hinaus. Korrekturen, Manuskripte,
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Telegramme haben das Turnen lernen müssen. Schwerfällige asthmatische
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Leitartikel fliegen mit der Behendigkeit von Zirkusakrobaten an den Drahtseilen
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entlang. Seit der alte Ullstein seine erste Bude in der Kochstraße - eine
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kleine Druckerei -eingerichtet hat, wächst sein Unternehmen ununterbrochen
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an. Nachdem es eine gewisse Vollkommenheitsstufe erreicht hatte, blieb es stehen
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und begann seinen alten Leib aufzufressen. Wenn die Produktion eines Tages nicht
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den Mut hat, ihre alten Organisationsformen zu zertrümmern und in ihrem eigenen
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Magen zu verdauen, verfällt sie einem elastischeren und stärkeren Konkurrenten,
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und wird von diesem zum Frühstück verspeist. <P>
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<P>
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<I> «Berliner Morgenpost». </I><P><I>
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</I> Diese alte Berliner Kleinbürgerzeitung ist auch auf einem Friedhof gewachsen,
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aber es waren nicht die Gräber ihrer eigenen überalterten Formen, sondern
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der ganzen von Bismarck vernichteten sozialdemokratischen Presse. Ullstein hatte
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es damals verstanden, auf den öden Zeitungsmarkt mit der vom Sozialistengesetz
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geschlagenen Bresche Hunderttausende von Exemplaren seines gemäßigten
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Blättchens zu werfen. Es war eine Zeitung, die auf die breitesten Massen
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der Klein-Bourgeoisie zugeschnitten war. <P>
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Wie oft haben seit jener Zeit die Arbeitsmethoden gewechselt! Vom Handsatz zum
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Maschinensatz, von der Handzeichnung zur Photographie, von der blutlosen verschwommenen
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Photographie zur künstlerischen Illustration. Jeder technischen Revolution
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folgte eine kurze Krankheit des ganzen Unternehmens, wie nach einer Impfung. Dann
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— ein wilder Sprung vorwärts, phänomenaler Profit: hunderttausende
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neuer Abonnenten, neue Bauten, Werkstätten, Angestellten, Lastwagen, Telephons.
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In den letzten Nachkriegsjahren hat sich schon wieder eine neue Appendizitis gebildet:
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die alten Maschinen für den Guß von Matrizen, englische Maschinen,
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die mit Gas arbeiten und die stets voller flüssigem Blei gehalten werden
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müssen. Statt ihrer sind jetzt deutsche eingeführt: sie fressen einfach
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Kohle und können zu jeder Zeit aufgefüllt werden. <P>
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Ein Betrieb kennt keine Dankbarkeit, er vergißt die früheren Verdienste
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sofort. Die alte Maschinenabteilung hat ihr Leben ausgehaucht. Sie ist leer und
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kalt, und in ihren blinden Scheiben spiegeln sich die Flammen der Feuerungen der
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Rivalin. Das muntere Klirren der Matrizen und Feilen klingt in die verlassenen
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Räume. <P>
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Einstmals brachte man nur eine <I> Morgenzeitung </I> heraus und fürchtete,
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sie mit einer Abendausgabe zu ergänzen, weil man glaubte, dadurch die Auflage
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zu verringern. Heute schickt Ullstein eine Menge Zeitungen auf die Straße,
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die alle verschieden gekleidet sind, verschiedene Mundarten sprechen, stets zu
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anderer Zeit herauskommen und einander nicht stören. <P>
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Des morgens - die «Vossische», sie ist für Börsen und Banken
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berechnet. Die Leute kauen ihre Butterbrote, trinken Bier, - die «Vossische»
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spricht auf sie ein. Sie steigt mit ihnen ins Auto, saust zwischen Restaurant
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und Börse, Büro und Bank, und wickelt flugs ihre Geschäfte ab.
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Es ist eine kluge, vorsichtige, ausgezeichnet unterrichtete Zeitung. Jeder Spekulant
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erkauft sich mit 15 Pfennigen die Hoffnung, von dieser alten Dame einen guten
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Tip zu bekommen. <P>
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<P>
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<I> «Die Praktische Berlinerin». </I><P><I>
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</I> Während die Männer in der Stadt sind, klopft Ullsteins «Praktische
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Berlinerin» an die Wohnungstüren der Frauen; auch «Die Dame»
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oder Ullsteins «Blatt der Hausfrau» wissen sich Eingang zu verschaffen.
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Das ist eine mustergültige Technik. Damit diese Hausiererinnen von Haus zu
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Haus laufen, Appetite reizen, der Hausfrau die allerbilligste Kaffeekanne, ein
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Morgenkleid zu 3 Mark 70, ein «herrschaftliches» Schlafzimmer oder ein
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Mittel gegen Schwangerschaft empfehlen können, - mußte die Druckereitechnik
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ein wahres Wunder vollbringen, dazu mußte sich das menschliche Genie auf
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ein neues höheres Niveau aufschwingen. Die Maschine druckt nicht nur alle
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96 Seiten des Textes und den Umschlag, sondern sie wirft die vollständig
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fertige Nummer auf den Tisch. Im Laufe einer Stunde verfertigt sie 3500 Exemplare.
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Was kann man noch über die Ullstein-Schnittmuster, die «Modewelt»
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usw. usw. sagen? Ehe noch das Gehirn der Frau erkannt hat, was sie eigentlich
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wünscht, haben Ullsteins Zuschneider ihre Träume schon längst erraten
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und in praktischen Schnittmustern ihr ins Haus geschickt. Die Geister der künftigen
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Mantos, Blusen und Dessous haben die ersehnte, ideale, wenn einstweilen auch nur
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papierne Gestalt angenommen. <P>
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Es gibt Pferde, die rechnen können, Hunde, die sich in Geographie auskennen.
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Aber daß die Maschine diese erstaunliche Intelligenz erlangen kann, hätte
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niemand gedacht. Die mechanische Olympia Hoffmanns verstand Romanzen zu singen
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und zu knixen - eine Bagatelle! Bei Ullstein sitzt ein Arbeiter vor seiner Setzmaschine,
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drückt auf eine Taste, die zweite, die dritte, und in wenigen Sekunden springt
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eine fertige Zeile aus Blei auf den Tisch. Und wenn die Buchstaben ihren Zweck
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erfüllt haben, werden sie demobilisiert - sie kehren in das Nichts zurück,
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aus dem sie hervorgegangen sind. Die Maschine besorgt das selbst. <P>
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<P>
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<P>
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<I> «B. Z. am Mittag». </I><P><I>
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</I> Mittags begibt sich die jüngste Tochter des alten Ullstein auf die Straße.
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Diese Zeitung ist eine Eidechse, eine Fliege, ein aufdringliches, flinkes und
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jedermann zugängliches Geschöpf. Man kann sie fast umsonst haben. Sie
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besitzt keine eigenen Meinungen, überhaupt kein individuelles Gesicht. Es
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ist eine kleine Pfütze, in der sich die ganze Welt spiegelt. Ihre Sprache
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ist sehr verständlich, kurz und primitiv, - in zwei Minuten kann man alles
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erfahren, was die große Presse heute denkt und sagt. <I> Man </I> braucht
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diese Nachrichten überhaupt nicht zu kauen: sie sind schon durchgekaut, mit
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der erforderlichen Portion Speichel versehen - restlos verdaulich. Man braucht
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nur zu schlucken, und man ist informiert. Der Mensch, der zum Denken keine Zeit
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hat und sich die Nachrichten nicht selbst zusammensuchen will, kann diesen minderwertigen
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Vermittler, dieses Echo der Großstädte, dieses <I> Straßengrammophon
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</I> nicht mehr vermissen. <P>
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Die Geburtsstätte der «B. Z.» ist das Abflußrohr aller Zeitungen,
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und sie lebt nur eine halbe Stunde. Man erwartet ihr Erscheinen mit nervöser
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Gier. Millionen Menschen sehen auf die Uhr und warten auf das Rendezvous mit der
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«B. Z.». Aber keine Zeitung wird so schnell vergessen, so verächtlich
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fortgeworfen, in Autobussen und Cafés liegen gelassen. Und jeden Tag ersteht
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die Straßenaphrodite von neuem -aus dem Abschaum der Meinungen, um sich
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Millionen in die Arme zu werfen. <P>
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12 Uhr 10. Die Börse notiert die ersten Kurse. <P>
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12 Uhr 12. Das letzte Telegramm in die Setzerei geschickt. <P>
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12 Uhr 15. Die Redaktion nimmt kein Material mehr an. <P>
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12 Uhr 16. Die Rotationsmaschine legt ihren funkelnden Matrizenpanzer an. <P>
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12 Uhr 17. Der diensttuende Mechaniker schaltet den Strom ein. <P>
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Die größten Rotationsmaschinen des Kontinents beginnen ihre Arbeit.
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<P>
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Eine Flut von Seiten und Spalten. In diesem Strom ist das Wort nur ein Bazillus.
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Die ersten gefallenen Nummern kommen zum Vorschein. Schon laufen sie in die Welt,
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- jedes Blatt findet irgendeinen Leser, jede Ladung ist für irgend jemanden
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bestimmt. Die Attacke ist in vollem Gange, ungeheure Bündel von Papier, gigantische
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Lügenkokons gebären Millionen Eintagsfliegen. <P>
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Diese Pressefabrik ist wie eine Festung. Ihre tiefen Höfe gleichen Gefängnishöfen.
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Granitberge isolieren sie von der Stadt. Eine Festung muß für den Fall
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einer Belagerung mit Wasser und Brot versorgt sein. Ullstein besitzt eine von
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der Stadt unabhängige Kraftquelle, die groß genug ist, seine belagerten
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Maschinen acht Tage lang mit Elektrizität zu versorgen. Man kann nie wissen:
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Streik oder Aufstand. Die gepanzerten Türen werden fest verriegelt, und drei
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Minuten nach dem Alarmsignal schickt das Kraftwerk tausende Streikbrecher-Pferdekräfte
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zu den Maschinen. <P>
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Kein einziger Angestellter kann unbemerkt heraus oder herein. Die Portiers sind
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auf Menschen und Sachen dressiert. Aber 12 Uhr 18 Minuten, also acht Minuten nach
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der Annahme der letzten dringenden Depesche, öffnen sich alle Türen
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und Tore. Die Zeitungsfabrik schickt ihre Produktion auf die Straße. Breite
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Rohre spucken Zeitungsbündel direkt auf die Lastwagen. Motorräder zittern
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ungeduldig, Radfahrer halten ihre offenen Säcke hin, Boten, die die Zeitungsladungen
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nach dem Bahnhof und in die Provinz begleiten, brechen .ihr Frühstück
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ab. Des Sonnabends werden 4000 Zentner verladen - zwanzig Postzüge allein
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für die Mittagszeitung. Rechnet man alle Verlagswerke zusammen, so macht
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das 75 Postwaggons. Und die ganze Menge muß in 45 Minuten verladen sein.
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<P>
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Die Zeitung überholt die Zeit. Die Zeitung überholt den Uhrzeiger. Der
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Mensch schläft die Hälfte seines Lebens. Er stiehlt sich selbst die
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Nachtstunden. Die Zeitung hat den Höchstrekord geschlagen und stößt
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nun auf ein unüberwindliches Hindernis: es sind Barrikaden aus schlafenden
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Menschen. Aber in den Großstädten, auf dem blanken Asphalt ist alles
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relativ. Mag die Morgenröte ihre Beine in einen Pyjama stekken - die Umhüllung
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von kräuselnden Morgenwolken ist unmodern. Europa ist wie Grönland,
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wie das Polarmeer. Der elektrische Tag dauert 24 Stunden. <P>
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Halb sechs Uhr morgens eilen die Zeitungsverkäufer davon und «machen»
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den Morgen. Die Provinzausgabe der «Vossischen Zeitung» ohne die letzten
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Telegramme wird nachts gedruckt und versandt; in Berlin wird sie schon abends
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8 Uhr 40 Min. verkauft: ein Stück Morgen, ein Stück von der Zukunft
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mit den Ergebnissen der letzten Fußballkämpfe, mit den Familiennamen
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der Verunglückten und unter das Auto Geratenen, mit den englischen Parlamentsdebatten
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- alles das für 15 Pfennige! <P>
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Ullstein ist eine jener Großmächte, die jede in das menschliche Bewußtsein
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importierte Banalität mit Zöllen belegt. Das Ullstein-Haus ist ein Hafenplatz,
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|
ein Grenzpunkt, an dem Riesenladungen von Phrasen ausgeladen werden, von Redensarten,
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|
die wie Gummisohlen am Bewußtsem kleben, von Witzen, die flach wie ein Plattfuß
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|
sind, von stinkenden Anekdoten und neu frisierten politischen Parolen. <P>
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<P>
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<I> Die «Illustrierte». </I><P><I>
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</I> Ein Meisterwerk dieser Art ist zweifellos die unvergleichliche <I> «Berliner
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Illustrierte Zeitung» - </I> das verbreitetste Journal des modernen Deutschland.
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Die Auflage? 1600000 Exemplare. Die Nachfrage wird immer größer. In
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einem halben Jahre werden die zwei Millionen vermutlich erreicht sein. Das Fundament
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des Ullstein-Hauses ist die Propaganda der Banalität. Im Grunde genommen,
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|
ist es eine Null, ein Überhaupt-Nichts, ein Minus, 32 Seiten geistiges Abführmittel.
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|
Ein Loch im Boudoir eines berühmten Filmstars, ein Spalt, durch den jeder
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|
sehen kann, wie schöne Frauen von Spitzbergen bis zum Kap der guten Hoffnung
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baden. Ein Romanfragment von einer Primitivität und Geschwindigkeit, daß
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|
man ihn in der Toilette lesen kann. Natürlich - Reklame. Prinzenhochzeit.
|
|||
|
Dann wieder Reklame. Zehn Seiten Reklame. <P>
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|||
|
Die «Illustrierte» war <I> niemals </I> ein Feind Sowjetrußlands.
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|
Vielleicht war sie es, die die deutschen Arbeiter besser über die Sowjet-Union
|
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|
unterrichtete, als alle anderen Presse-Organe. Sie bringt alles, was neu, interessant,
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|
unerwartet ist. Rußland eine Sensation. Die «Illustrierte» bringt
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|
Rußland. Seine Straßen, Demonstrationen, Führer, Menschenmengen,
|
|||
|
Kinderhäuser, Armee. <P>
|
|||
|
Der praktische, nüchterne Händler ist eher geneigt, an die Dauerhaftigkeit
|
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|
einer solchen Regierung zu glauben, die schon besteht, als eine solche, die einstweilen
|
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|
nur in den Köpfen der Bewohner des Kurfürstendamms und der Tauentzienstraße
|
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|
herumspukt. Wenn die Bolschewisten sich noch fünf Jahre halten, dann wird
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|
Ullstein die weißen Emigranten ebenso behandeln, wie die ehemalige deutsche
|
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|
Regierung die russischen Studenten nach 1905 behandelt hat: jeder, der die gesetzliche
|
|||
|
Regierung - auch wenn es eine Sowjet-Regierung ist - unterminiert, ist und bleibt
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|
ein Revolutionär, ein Bombenanarchist und überhaupt ein Gauner. Aber
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|
Ullstein erscheint es einstweilen geratener, sich nach allen Seiten hin zu sichern:
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|||
|
das im allgemeinen sowjetfreundliche Haus gewährte dem weißgardistischen
|
|||
|
<I> «Rul» </I> in einem entlegenen Winkel ein bescheidenes Obdach. <P>
|
|||
|
Aber auch die Freundschaft hat ihre Grenzen, wenn die ganze Presse ein einmütiges
|
|||
|
Geschrei gegen die Bolschewisten erhebt. Dann kann auch Ullstein nicht schweigen.
|
|||
|
Nachdem er ein ganzes Jahr lang eine kommunistenfreundliche Information gebracht
|
|||
|
hat, fährt er plötzlich seine schwersten Geschütze auf, die sein
|
|||
|
verdammendes Urteil l 600 000mal wiederholen, lauter verkünden, als es Moses
|
|||
|
von dem alten jüdischen Berge fertiggebracht hat. <P>
|
|||
|
<P>
|
|||
|
<I> «Das neue Verbrechen der bolschewistischen Justiz!» </I> «Drei
|
|||
|
deutsche Studenten zum Tode verurteilt!» Und es sind nicht «drei Studenten»,
|
|||
|
sondern 3 mal 1 600 000 Studenten und 3 mal <I> l 600 000 </I> «bolschewistische
|
|||
|
Mörder». Das ist gewiß kein Minus mehr, sondern ein sozialer Hebel
|
|||
|
von einer Kraft und Leistungsfähigkeit, wie es in Europa nur wenige gibt.
|
|||
|
<P>
|
|||
|
Die «Illustrierte» bringt ihre kurzen, ätzenden, klebrigen, politischen
|
|||
|
Formeln nicht in Form von Leitartikeln oder Kurven, - sie tätowiert sie auf
|
|||
|
die seidenweiche Haut einer Variete-Sängerin, stickt sie auf die Wäsche
|
|||
|
der berühmten Tänzerin, druckt sie auf die Etikette von Parfüms,
|
|||
|
die als Mittel gegen üblen Achselgeruch empfohlen werden. So wird die Parole
|
|||
|
eingeätzt, gestickt, gedruckt: «Krieg dem Bolschewismus». «Gegen
|
|||
|
die Weltrevolution!» «Krieg den Mördern des unschuldigen blonden,
|
|||
|
kurzsichtigen Kindermann mit seiner Reiseapotheke!» <P>
|
|||
|
Wie die Ullstein-Parole auch sein mag - für oder gegen USSR., für oder
|
|||
|
gegen die chinesische Revolution, für oder gegen den Pakt - die Geschosse
|
|||
|
dieser Parolen erreichen ihren Zweck. <P>
|
|||
|
<P>
|
|||
|
<I> «Sport». </I><P><I>
|
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|
</I> Die Motor- und Segelboote der «B. Z.» durchfurchen Seen und Meere,
|
|||
|
die Rennpferde der «B. Z.» nehmen alle Hindernisse, der Favorit der
|
|||
|
«B. Z.» schlägt dem berühmten amerikanischen Boxer die Nase
|
|||
|
ein, das Motorrad der «B. Z.» stellt einen neuen Schnelligkeitsrekord
|
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|
auf. Hunde-Ausstellung, Tennis, Wettschwimmen, prämierte Zugtiere. Mit allergrößter
|
|||
|
Aufmerksamkeit verfolgt Europa alle diese Dinge. Jede Zeitung, die etwas auf sich
|
|||
|
hält, bringt täglich eine Seite Sport. Die Champions kennt man weit
|
|||
|
besser, als die bedeutendsten Politiker. Ullstein war vielleicht der erste, der
|
|||
|
diese Goldgrube entdeckt hat, der Sportfachleute heranzog zu einer Zeit, als die
|
|||
|
anderen Zeitungen ihre Rennberichte von «Brandschaden-Reportern» schreiben
|
|||
|
ließen. Nach allen Rennställen, nach allen Totalisatoren Europas schickte
|
|||
|
er seine Spezialkorrespondenten. <P>
|
|||
|
<P>
|
|||
|
<I> «Der Querschnitt». </I><P><I>
|
|||
|
</I> Von Kunst versteht Ullstein nichts. Für diese Finessen, für die
|
|||
|
Redaktion des «Querschnitt», der für ein paar hundert ästhetische
|
|||
|
Abonnenten bestimmt ist, engagiert er sich einen kunstsinnigen Mann, der sich
|
|||
|
in allen Porzellanarten der Welt und sämtlichen Schnupftabakdosen des 18.
|
|||
|
Jahrhunderts ganz genau auskennt. Diese Zeitschrift ist gewissermaßen eine
|
|||
|
Lilie, der man den Duft jener Mistgrube nicht anmerkt, auf der die «B. Z.»
|
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oder die «Illustrierte» gedeihen. Diese Ästhetenzeitschrift treibt
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wie eine Lotosblume auf dem Meer der Ullstein-Millionen herum, - sie schwärmt
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für Negerplastik und amerikanische Kultur. Auch sehr nackte, sehr künstlerische,
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für den Kenner berechnete Gestalten finden sich da. Der alte Ullstein schimpft,
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wenn er alle diese Finessen sieht. Aber allen anderen übrigen Redakteuren,
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den Verfertigern der üblen Massenware, ist es aufs strengste untersagt, sich
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in die Angelegenheiten der Ästheten einzumischen. Mit denen ist zwar kein
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Geschäft zu machen, aber dafür locken sie Leute mit Geschmack und guter
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Position, es macht sich gut, wenn man im Vorzimmer eine klassische Venus stehen
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hat. <P>
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<P>
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<I> «Der heitere Fridolin». </I><P><I>
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</I> Bei der Herstellung von Waren wie «Der heitere Fridolin» dagegen
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braucht der alte Ullstein keine Helfershelfer. Auf diesem Gebiet ist er selbst
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Meister und Fachmann. Keiner weiß so gut wie er, wieviel Backpulver, Margarine
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und Sirup in diese kleinen Groschenheftchen mit dem radfahrenden Hunde auf dem
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Titelblatt hineingehört, um die kindliche Phantasie in der gewünschten
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Weise zu banalisieren. Diese Heftchen finden einen reißenden Absatz: 350
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000 Exemplare, d. h. 700 000 Exemplare im Monat. Es ist ein Gemisch von Sherlock
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Holmes, Zirkus, Chronik der Verbrechen und Sentimentalität. Die Helden: ein
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Polizeihund mit der Seele eines Lesers von Sonntagsbeilagen der «Vossischen
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Zeitung». <P>
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<I> Ullstein-Romane. </I><P><I>
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</I> Vor dem Kriege kostete ein Bändchen von 250 Seiten mit einer Hochzeit
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vor dem Altar oder edlem Selbstmord am Schluß 1Mark. Heute -2 Mark. Niemals
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wird ein «Unsterblicher» so gelesen werden, wie diese anonymen Autoren.
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Tolstoj, Goethe? Sie können sich mit einem Herrn Weber nicht messen, der
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«Ja, ja die Liebe» geschrieben hat. Der alte gute Ullstein macht es
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mit der Literatur wie das Kamel mit der Dattel. Nachdem sie einmal heruntergeschluckt
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ist, zwingt er seinen Leser so oft wie möglich wiederzukäuen. Alle Ullstein-Romane
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werden sofort nach Erscheinen von den größten Kino-Fabriken in Deutschland
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verfilmt. Der Ladenverkäuferin, der Lehrerin, einem Postbeamten muß
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der Glaube an das Glück erhalten werden. Der Kleinbürger muß davon
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überzeugt sein, daß jeder ehrliche Mensch ohne Blutvergießen,
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ohne Gewaltakte alles erreichen kann — eine Villa, ein Auto, einen eigenen
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Laden. Lesen genügt nicht. Man muß, es mit eigenen Augen gesehen haben.
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Und Ullstein zeigt es. Jeder kann hingehen und sich davon überzeugen, wie
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die ehrliche Alice sich mit Ordnungsliebe, einiger Kenntnis in der Buchhaltung
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und ihrem netten Frätzchen den Weg durch die Finanzwelt bahnen kann. Sie
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wird nämlich von Stinnes geheiratet. Aber dieser Stinnes ist jung und fast
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ebenso süß, wie der Verkäufer in der Konfektionsabteilung von
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Wertheim. Andre Leute arbeiten hundert Jahre und sterben als Milliardäre.
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Seht, wie sie beerdigt worden sind! Es lohnt sich, ein ganzes Leben lang gewissenhaft
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seine Pflicht zu erfüllen, um mit einem so glänzenden Pomp begraben
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zu werden. Ganz zu schweigen von Arbeitern und kleinen Angestellten, die immer
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das große Los ziehen und die Töchter ihrer Brotherren heiraten. Wozu
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Revolution? Wozu Politik? Millionen von europäischen Arbeitern leben in der
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Hoffnung auf Rußland. Millionen der SPD-Arbeiter klammern sich insgeheim
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an diesen Traum: irgendwann, zu einer bestimmten, vom Schicksal vorgezeichneten
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Stunde wird der russische Rotarmist die Grenze überschreiten und das tun,
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was der deutsche Proletarier zu tun sich nicht getraut. Die Arbeiter schicken
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ihre Delegierten nach Rußland. Der Kleinbourgeois, der Ullstein-Leser läuft
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ins Kino und sieht sich dort das gelobte Land an. <P>
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Gewiß, Ullstein steht nicht allein da. Mit ihm konkurrieren und ihn übertrumpfen
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vielleicht solche Zeitungsfabrikanten wie der <I> Scherl-Verlag, </I> der in Deutschland
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seiner Zeit den Typus der «parteilosen» Zeitungen geschaffen hat und
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der jetzt in den Händen Hugenbergs liegt, eines ehemaligen Direktors der
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Firma Krupp. Nachdem Hugenberg alles an sich gerissen, was dem Zeitungskönig
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gehörte, verwandelte er diese alten «parteilosen» Zeitungen, die
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das Leib- und Magenblatt eines jeden deutschen Durchschnitts-Bürgers waren,
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zum Sprachrohr der aktivsten und wütendsten Gegenrevolution. Ihnen folgen
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Mosse und viele andere Monopolisten des Zeitungs- und Buchmarktes. Es gibt viele
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Ullsteine . . . <P>
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Die Dienste, die diese Fabriken der bürgerlichen Ideologie zur Zeit des Krieges
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der Regierung erwiesen haben, sind nicht hoch genug zu veranschlagen. In alle
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Poren des sozialen Organismus, in alle Zellen seines Gehirns wußten sie
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einzudringen und ein besonderes Gift jeder dieser Zellen einzuimpfen. Viele Nägel
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haben Ullstein, Mosse und Hugenberg in den großen hölzernen Hindenburg
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eingeschlagen. Legionen von Menschen haben sich unter der Einwirkung dieser literarischen
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Narkotika niedermetzeln lassen. Und niemals wäre es der Regierung ohne die
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Zeitungstrusts gelungen, die Massen der Kleinbourgeoisie um jene Millionen zu
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schröpfen, die für die Kriegsanleihe drauf gegangen sind. <P>
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<!-- <IMG SRC="ullstein.jpg" ALIGN=MIDDLE border=2 ALT="Polizei vor dem Verlagshaus der 'Roten Fahne'"> nicht auffindbar -->
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Verknüpfte Dateien: <!-- #BeginEditable "Verk%FCpfungen" -->»<A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">../css/format.css</A>«,
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<!-- <20><A href="ullstein.jpg">ullstein.jpg</A><3E> nicht auffindbar -->
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</SMALL>
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<HR size="1">
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<TABLE width="100%" border="0" align="center" cellspacing=0 cellpadding=0>
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<TR>
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<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle><A HREF="../index.htm"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center">|</TD>
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<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle><A HREF="default.htm"><SMALL>Larissa
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Reissner</SMALL></A></TD>
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</TR>
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</TABLE>
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</BODY>
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