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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<title>Karl Marx/Friedrich Engels - Rezessionen aus der "Neuen Rheinischen Zeitung.
Politisch-oekonomische Revue". Zweites Heft, Februar 1850</title>
</head>
<body link="#0000FF" vlink="#800080" bgcolor="#FFFFAF">
<p><font size="2">Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 7, 5.
Auflage 1973, unver&auml;nderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S.
198-212.</font></p>
<p><small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 7, S.
198-212<br>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960</small></p>
<h2>Karl Marx/Friedrich Engels</h2>
<h1 align="center">[Rezensionen aus der<br>
"Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-&ouml;konomische Revue".<br>
Zweites Heft, Februar 1850]</h1>
<hr>
<p align="center">I</p>
<p align="center"><i>G. Fr. Daumer, "Die Religion des neuen Weltalters.<br></i>Versuch einer
combinatorisch-aphoristischen Grundlegung",<br>
2 Bde., Hamburg 1850</p>
<p><b><font size="2"><a name="S198" id="S198">&lt;198&gt;</a></font></b> <font size="2">"Ein
sonst sehr freisinniger f&uuml;rs Neue gar nicht unempf&auml;nglicher Mann zu
<i>N&uuml;rnberg</i> warf auf das demokratische Treiben einen ungeheuren Ha&szlig;. Den Ronge
verehrte er und hatte sein Bild im Zimmer hangen. Als er aber h&ouml;rte, da&szlig; sich derselbe
zu den Demokraten halte, h&auml;ngte er das Bild in den Abtritt. Er sagte einmal: O wenn wir doch
unter der russischen Knute lebten, wie gl&uuml;cklich w&uuml;rde ich mich f&uuml;hlen! Er ist
w&auml;hrend der Unruhen gestorben, und ich vermute, da&szlig; ihn, wiewohl er schon alt war,
blo&szlig; der Unmut und Gram &uuml;ber den Gang der Dinge ins Grab gebracht." II. Bd. pag. 321,
322.</font></p>
<p>Wenn dieser beklagenswerte N&uuml;rnberger Spie&szlig;b&uuml;rger statt zu sterben, seine
Gedankensp&auml;ne aus dem "Correspondenten von und f&uuml;r Deutschland", aus Schiller und
Goethe, aus alten Schulb&uuml;chern und neuen Leihbibliotheksmaterialien zusammengestoppelt
h&auml;tte, h&auml;tte er sich den Tod erspart und Herrn Daumer seine sauer erarbeiteten zwei
B&auml;nde "combinatorisch-aphoristischer Grundlegung". Uns w&auml;re dann freilich nicht die
erbauliche Gelegenheit geworden, mit der "Religion des neuen Weltalters" gleichzeitig ihren
ersten M&auml;rtyrer kennenzulernen.</p>
<p>Das Werk des Herrn Daumer teilt sich in zwei Teile, einen "vorl&auml;ufigen" und einen
"eigentlichen". In dem vorl&auml;ufigen Teil spricht der treue Eckart der deutschen Philosophie
seine tiefe Bek&uuml;mmernis dar&uuml;ber aus, da&szlig; selbst die denkenden und gebildeten
Deutschen seit zwei Jahren sich haben verleiten lassen, die unsch&auml;tzbaren Errungenschaften
des Gedankens aufzugeben f&uuml;r die blo&szlig; "&auml;u&szlig;erliche" revolution&auml;re
T&auml;tigkeit. Er h&auml;lt den jetzigen Moment f&uuml;r geeignet, nochmals an das bessere
Gef&uuml;hl der Nation zu appellieren; <a name="S199" id="S199"><b>&lt;199&gt;</b></a> er weist
darauf hin, was es auf sich habe, die ganze deutsche Bildung, durch die allein der deutsche
B&uuml;rger noch etwas war, so leichtfertig fahrenzulassen. Er stellt den ganzen Inhalt der
deutschen Bildung in den kr&auml;ftigsten Kernspr&uuml;chen zusammen, die das Schatzk&auml;stlein
seiner Belesenheit bietet, und kompromittiert dadurch diese deutsche Bildung nicht minder als die
deutsche Philosophie. Seine Blumenlese der erhabensten Produkte deutschen Geistes &uuml;bertrifft
an Plattheit und Trivialit&auml;t selbst das ordin&auml;rste Lesebuch f&uuml;r T&ouml;chter
gebildeter St&auml;nde. Von den spie&szlig;b&uuml;rgerlichen Ausf&auml;llen Goethes und Schillers
gegen die erste franz&ouml;sische Revolution, von dem klassischen: "Gef&auml;hrlich ist's, den
Leu zu wecken" an bis auf die neueste Literatur herab jagt der Hohepriester der neuen Religion
emsig jeder Stelle nach, worin der deutsche Zopf mit schl&auml;frigem Mi&szlig;behagen sich gegen
die ihm widerw&auml;rtige geschichtliche Bewegung steift. Autorit&auml;ten von der Force eines
Friedrich Raumer, Berthold Auerbach, Lochner, Moriz Carri&egrave;re, Alfred Mei&szlig;ner, Krug,
Dingelstedt, Ronge, "N&uuml;rnberger Bote", Max Waldau, Sternberg, German M&auml;urer, Louise
Aston, Eckermann, Noack, "Bl&auml;tter f&uuml;r literarische Unterhaltung", A. Kunze, Ghillany,
Th. Mundt, Saphir, Gutzkow, eine "geborne Gatterer" etc. sind die S&auml;ulen, auf welchen der
Tempel der neuen Religion ruht. Die revolution&auml;re Bewegung, wogegen hier ein so
vielstimmiges Anathema ausgesprochen wird, beschr&auml;nkt sich f&uuml;r Herrn Daumer einerseits
auf die banalste Kannengie&szlig;erei, wie sie in N&uuml;rnberg unter den Auspizien des
"Correspondenten von und f&uuml;r Deutschland" an der Tagesordnung ist, und andrerseits auf
P&ouml;belexzesse, von denen Herr Daumer die abenteuerlichste Vorstellung hegt. Die Quellen,
woraus hier gesch&ouml;pft wird, reihen sich den obigen w&uuml;rdig an: Neben dem
mehrerw&auml;hnten N&uuml;rnberger "Correspondenten" figurieren die "Bamberger Zeitung", die
M&uuml;nchner "Landbotin", die Augsburger "Allgemeine Zeitung" usw. Dieselbe
spie&szlig;b&uuml;rgerliche Gemeinheit, die den Proletarier stets nur als w&uuml;sten,
verkommenen Lumpen kennt und sich bei den Pariser Junimassacres von 1848, wo &uuml;ber 3.000
dieser "Lumpen" niedergemetzelt wurden, zufrieden die H&auml;nde reibt, dieselbe Gemeinheit
entr&uuml;stet sich &uuml;ber den Spott, dem die gem&uuml;tlichen Vereine gegen Tierqu&auml;lerei
erlegen sind.</p>
<p><font size="2">"Die schauderhaften Qualen", ruft Herr Daumer pag. 293, I. Bd. aus, "die das
ungl&uuml;ckliche Tier unter der grausamen Tyrannenhand des Menschen erduldet, sind diesen
Barbaren ein 'Dreck', um den man sich nicht bek&uuml;mmern soll!"</font></p>
<p>Der ganze moderne Klassenkampf erscheint Herrn Daumer nur als ein Kampf der "Roheit" gegen die
"Bildung". Statt ihn aus den historischen Bedingungen dieser Klassen zu erkl&auml;ren, findet er
seine Ursache im w&uuml;hlerischen <a name="S200" id="S200"><b>&lt;200&gt;</b></a> Treiben
einiger B&ouml;swilligen, die die niedern Begierden des P&ouml;bels gegen die gebildeten
St&auml;nde aufhetzen.</p>
<p><font size="2">"Dieser demokratische Reformatismus ... reizt den Neid, den Grimm, die Raubgier
der untern Klassen der Gesellschaft gegen die h&ouml;heren auf; ein saubres Mittel, den Menschen
edler und besser zu machen und eine h&ouml;here Kulturstufe zu gr&uuml;nden." I. Bd. pag.
288/289.</font></p>
<p>Herr Daumer kennt nicht einmal die K&auml;mpfe "der unteren Klassen der Gesellschaft gegen die
h&ouml;heren", die es gekostet hat, selbst nur eine N&uuml;rnberger "Kulturstufe"
herbeizuf&uuml;hren und einen Molochsf&auml;nger &agrave; la Daumer m&ouml;glich zu machen.</p>
<p>Der zweite "eigentliche" Teil enth&auml;lt nun die positive Seite der neuen Religion. Hier
spricht sich der ganze &Auml;rger des deutschen Philosophen &uuml;ber die Vergessenheit [aus],
worin seine K&auml;mpfe gegen das Christentum geraten sind, &uuml;ber die Gleichg&uuml;ltigkeit
des Volks gegen die Religion, den einzigen der Betrachtung des Philosophen w&uuml;rdigen
Gegenstand. Um sein durch die Konkurrenz beseitigtes Handwerk wieder zu Ehren zu bringen, bleibt
unserm Weltweisen nichts andres &uuml;brig, nachdem er gegen die alte Religion hinl&auml;nglich
angebellt hat, als eine neue Religion zu erfinden. Diese neue Religion aber beschr&auml;nkt sich,
im angemessenen Verfolg des ersten Teils, auf eine fortgesetzte Blumenlese der Sentenzen,
Stammbuchverse und versus memoriales &lt;Gedenkverse&gt; der deutschen
Spie&szlig;b&uuml;rgerbildung. Die Suren des neuen Koran sind nichts als eine Reihe von Phrasen,
in denen die bestehenden deutschen Verh&auml;ltnisse moralisch besch&ouml;nigt und poetisch
verbr&auml;mt werden. Phrasen, die darum nicht minder mit der alten Religion verwachsen sind,
weil sie die unmittelbar religi&ouml;se Form abgestreift haben.</p>
<p><font size="2">"Ganz neue Weltzust&auml;nde und Weltverh&auml;ltnisse k&ouml;nnen nur durch
neue Religionen entstehn. Zu Beispielen und Beweisen dessen, was Religionen verm&ouml;gen,
k&ouml;nnen das Christentum und der Islam, zu einem sehr einleuchtenden und f&uuml;hlbaren Belege
der Ohnmacht und Resultatlosigkeit, an der die abstrakte, ausschlie&szlig;liche Politik leidet,
die im Jahr 1848 ins Werk gesetzten Bewegungen dienen." I. Bd. pag. 313.</font></p>
<p>In diesem inhaltsvollen Satz tritt uns gleich die ganze Flachheit und Unwissenheit des
deutschen "Denkers" entgegen, der die kleinen deutschen und speziell bayrischen
"M&auml;rzerrungenschaften" f&uuml;r die europ&auml;ische Bewegung von 1848 und 49 ansieht und
der von den ersten selbst noch sehr oberfl&auml;chlichen Eruptionen einer sich allm&auml;hlich
herausarbeitenden und konzentrierenden gro&szlig;en Revolution verlangt, da&szlig; sie schon
"ganz neue Weltzust&auml;nde und <a name="S201" id="S201"><b>&lt;201&gt;</b></a>
Weltverh&auml;ltnisse hervorbringen sollen. Der ganze verwickelte soziale Kampf, der zwischen
Paris und Debreczin, Berlin und Palermo in den letzten zwei Jahren zu seinen ersten
Tirailleurgefechten kam, beschr&auml;nkt sich f&uuml;r den Weltweisen Daumer darauf, da&szlig;
"im Januar 1849 die Hoffnungen der kontitutionellen Vereine von Erlangen in unabsehbare Ferne
ger&uuml;ckt sind" (I. pag. 312), und auf die Furcht vor einem neuen Kampf, der Herrn Daumer noch
einmal in seinen Besch&auml;ftigungen mit Hafis, Mohammed und Berthold Auerbach unangenehm
aufscheuchen k&ouml;nnte.</p>
<p>Dieselbe schamlose Seichtigkeit macht es Herrn Daumer m&ouml;glich, total zu ignorieren,
da&szlig; dem Christentum das vollst&auml;ndige Zusammenbrechen der antiken "Weltzust&auml;nde"
vorherging, dessen blo&szlig;er Ausdruck das Christentum war; da&szlig; "ganz neue
Weltzust&auml;nde" nicht durch das Christentum von innen heraus entstanden, sondern erst dann,
als die Hunnen und Germanen "&auml;u&szlig;erlich" &uuml;ber die Leiche des r&ouml;mischen Reichs
herfielen; da&szlig; nach der germanischen Invasion nicht die "neuen Weltzust&auml;nde" sich nach
dem Christentum richteten, sondern das Christentum mit jeder neuen Phase dieser Weltzust&auml;nde
sich ebenfalls ver&auml;nderte. Herr Daumer m&ouml;ge uns &uuml;brigens ein Exempel angeben, wo
mit einer neuen Religion die alten Weltzust&auml;nde sich ver&auml;nderten, ohne da&szlig;
zugleich die gewaltigsten "&auml;u&szlig;erlichen" und abstrakt politischen Konvulsionen
eintraten.</p>
<p>Es ist klar, da&szlig; mit jeder gro&szlig;en historischen Umw&auml;lzung der
gesellschaftlichen Zust&auml;nde auch zugleich die Anschauungen und Vorstellungen der Menschen
und damit ihre religi&ouml;sen Vorstellungen umgew&auml;lzt werden. Der Unterschied der
gegenw&auml;rtigen Umw&auml;lzung von allen fr&uuml;heren besteht aber gerade darin, da&szlig;
man endlich hinter das Geheimnis dieses historischen Umw&auml;lzungsprozesses gekommen ist und
daher, statt sich diesen praktischen, "&auml;u&szlig;erlichen" Proze&szlig; unter der
&uuml;berschwenglichen Form einer neuen Religion abermals zu verhimmeln, alle Religion
abstreift.</p>
<p>Nach den sanften Sittenlehren der neuen Weltweisheit, die insofern sogar &uuml;ber Knigge
stehn, da&szlig; sie nicht nur &uuml;ber den Umgang mit Menschen, sondern auch &uuml;ber den
Umgang mit Tieren das N&ouml;tige enthalten - nach den Spr&uuml;chen Salomonis kommt das Hohelied
des neuen Salomo.</p>
<p><font size="2">"<i>Natur</i> und <i>Weib</i> sind das wahrhaft G&ouml;ttliche im Unterschiede
von <i>Mensch</i> und <i>Mann</i> ... Hingebung des Menschlichen an das Nat&uuml;rliche, des
M&auml;nnlichen an das Weibliche ist die echte, die allein wahre Demut und
Selbstent&auml;u&szlig;erung, die h&ouml;chste, ja einzige Tugend und Fr&ouml;mmigkeit, die es
gibt." II. Bd. p. 257.</font></p>
<p>Wir sehen hier, wie die seichte Unwissenheit des spekulierenden Religionsstifters sich in eine
sehr prononcierte Feigheit verwandelt. Herr Daumer <a name="S202" id=
"S202"><b>&lt;202&gt;</b></a> fl&uuml;chtet sich vor der geschichtlichen Trag&ouml;die, die ihm
drohend zu nahe r&uuml;ckt, in die angebliche Natur, d.h. in die bl&ouml;de Bauernidylle, und
predigt den Kultus des Weibes, um seine eigene weibische Resignation zu bem&auml;nteln.</p>
<p>Der Naturkultus des Herrn Daumer ist &uuml;brigens eigner Art. Es ist ihm gelungen, selbst
gegen&uuml;ber dem Christentum reaktion&auml;r aufzutreten. Er versucht die alte vorchristliche
Naturreligion in modernisierter Form herzustellen. Dabei bringt er es freilich nur zu einer
christlich-germanisch-patriarchalischen Naturfaselei, die sich z.B. folgenderma&szlig;en
ausspricht:</p>
<div style="margin-left: 4em">
<p><font size="2">"S&uuml;&szlig;e, heilige Natur,<br>
La&szlig; mich geh'n auf deiner Spur,<br>
Leite mich an deiner Hand,<br>
Wie ein Kind am G&auml;ngelband!"</font></p>
</div>
<p><font size="2">"Dergleichen ist aus der Mode gekommen; aber nicht zum Vorteil der Bildung, des
Fortschritts und der menschlichen Gl&uuml;ckseligkeit." II. Bd. p. 157.</font></p>
<p>Der Naturkultus beschr&auml;nkt sich, wie wir sehen, auf die sonnt&auml;glichen
Spazierg&auml;nge des Kleinst&auml;dters, der seine kindliche Verwunderung dar&uuml;ber zu
erkennen gibt, da&szlig; der Kuckuck seine Eier in fremde Nester legt (II. Bd. p. 40), da&szlig;
die Tr&auml;nen die Bestimmung haben, die Oberfl&auml;che des Auges feucht zu erhalten (II. Bd.
p. 73) etc., und der schlie&szlig;lich seinen Kindern mit heiligen Schauern Klopstocks
Fr&uuml;hlingsode vordeklamiert (II. Bd. p. 23 ff.). Von der modernen Naturwissenschaft, die in
Verbindung mit der modernen Industrie die ganze Natur revolutioniert und neben andern Kindereien
auch dem kindischen Verhalten der Menschen zur Natur ein Ende macht, ist nat&uuml;rlich keine
Rede. Daf&uuml;r erhalten wir geheimnisvolle Andeutungen und erstaunte Philisterahnungen
&uuml;ber Nostradamus' Prophezeiungen, das zweite Gesicht der Schotten und den animalischen
Magnetismus. Es w&auml;re &uuml;brigens zu w&uuml;nschen, da&szlig; die tr&auml;ge
Bauernwirtschaft Bayerns, der Boden, worauf die Pfaffen und die Daumers gleichm&auml;&szlig;ig
wachsen, endlich einmal durch modernen Ackerbau und moderne Maschinen umgew&uuml;hlt
w&uuml;rde.</p>
<p>Mit dem Kultus des Weibes verh&auml;lt es sich gerade wie mit dem Naturkultus. Es versteht
sich von selbst, da&szlig; Herr Daumer nicht ein Wort von der gegenw&auml;rtigen
gesellschaftlichen Stellung der Frauen sagt, da&szlig; es sich im Gegenteil blo&szlig; um das
Weib als solches handelt. Er sucht die Frauen &uuml;ber ihre b&uuml;rgerliche Misere dadurch zu
tr&ouml;sten, da&szlig; er ihnen einen ebenso leeren wie geheimnisvoll tuenden Phrasenkultus
widmet. So beruhigt er sie damit, da&szlig; ihre Talente mit der Ehe aufh&ouml;ren, da sie dann
mit den Kindern zu tun haben (II. Bd. p. 237), da&szlig; sie die F&auml;higkeit besitzen, selbst
bis ins sechzigste Jahr Kinder zu stillen (II. Bd. p. 251) usw. Herr Daumer nennt dies "Hin-
<a name="S203" id="S203"><b>&lt;203&gt;</b></a> gebung des M&auml;nnlichen an das Weibliche". Um
nun die ben&ouml;tigten idealen Frauengestalten f&uuml;r seine m&auml;nnliche Hingebung in seinem
Vaterlande zu finden, ist er gezwungen, zu verschiedenen aristokratischen Damen des vorigen
Jahrhunderts seine Zuflucht zu nehmen. Der Frauenkultus reduziert sich also wieder auf das
gedr&uuml;ckte Literatenverh&auml;ltnis zu verehrten G&ouml;nnerinnen - Wilhelm Meister.</p>
<p>Die "Bildung", &uuml;ber deren Verfall Herr Daumer Jeremiaden anstimmt, ist die Bildung der
Zeit, in der N&uuml;rnberg als freie Reichsstadt florierte, in der die N&uuml;rnberger Industrie,
jenes Zwitterding zwischen Kunst und Handwerk, eine bedeutende Rolle spielte, die Bildung des
deutschen Kleinb&uuml;rgertums, die mit diesem Kleinb&uuml;rgertum zugrunde geht. Wenn der
Untergang fr&uuml;herer Klassen, wie des Rittertums, zu gro&szlig;artigen tragischen Kunstwerken
Stoff bieten konnte, so bringt es das Spie&szlig;b&uuml;rgertum ganz angemessen nicht weiter als
zu ohnm&auml;chtigen &Auml;u&szlig;erungen einer fanatischen Bosheit und zu einer Sammlung Sancho
Panzascher Sinnspr&uuml;che und Weisheitsregeln. Herr Daumer ist die trockne, alles Humors bare
Fortsetzung von Hans Sachs. Die deutsche Philosophie, die H&auml;nde ringend und wehklagend am
Sterbebette ihres N&auml;hrvaters, des deutschen Spie&szlig;b&uuml;rgertums, das ist das
r&uuml;hrende Bild, das uns die "Religion des neuen Weltalters" entrollt.</p>
<p align="center">II</p>
<p align="center"><i>Ludwig Simon von Trier,<br>
"Ein Word des Rechts f&uuml;r alle Reichsverfassungsk&auml;mpfer<br>
an die deutschen Geschwornen"</i>,<br>
Frankfurt a. M. 1849</p>
<p><font size="2">"Wir hatten gegen die Erblichkeit des Reichsoberhaupts gestimmt; wir enthielten
uns des andern Tages der Wahl. Als aber das ganze Werk, hervorgegangen aus dem Willen der
Mehrheit einer nach allgemeinem Stimmrecht gew&auml;hlten Versammlung, fertig dastand,
erkl&auml;rten wir, uns zu unterwerfen. H&auml;tten wir dies nicht getan, so h&auml;tten wir
bewiesen, da&szlig; wir <i>in eine b&uuml;rgerliche Gesellschaft &uuml;berhaupt nicht
hineinpa&szlig;ten</i>." p. 43.</font></p>
<p>Nach Herrn L. Simon "von Trier" pa&szlig;ten also schon die &auml;u&szlig;ersten Mitglieder
der Frankfurter Versammlung nicht mehr "in eine b&uuml;rgerliche Gesellschaft &uuml;berhaupt
hinein". Herr L. Simon "von Trier" scheint sich also die Grenzen der b&uuml;rgerlichen
Gesellschaft &uuml;berhaupt noch enger vorzustellen als die Grenzen der Paulskirche.</p>
<p><b><a name="S204" id="S204">&lt;204&gt;</a></b> &Uuml;brigens besa&szlig; Herr Simon den
richtigen Takt, in seinem Selbstbekenntnis vom 11. April 1849 das Geheimnis sowohl seiner
fr&uuml;heren Opposition wie seiner sp&auml;teren Bekehrung zu enth&uuml;llen.</p>
<p><font size="2">"Aus den tr&uuml;ben Gew&auml;ssern der vorm&auml;rzlichen Diplomatie sind
kalte Nebel aufgestiegen. Diese Nebel werden sich als Wolken zusammenziehn, und wir werden ein
verderbenschwangres Gewitter haben, welches zun&auml;chst in den Turm der Kirche einzuschlagen
droht, in der wir sitzen. Wachen und sorgen Sie f&uuml;r einen Blitzableiter, welcher den Blitz
von Ihnen <i>ableitet!</i>"</font></p>
<p>D.h., meine Herren, es handelt sich jetzt um unsre Haut!</p>
<p>Die Bettelantr&auml;ge, die j&auml;mmerlichen Kompromisse, die die Frankfurter Linke in der
Kaiserfrage und nach der besch&auml;mten R&uuml;ckkehr der Kaiserdeputation der Majorit&auml;t
anbot, um sie nur in der Versammlung zu behalten, die schmutzigen Vereinbarungsversuche, die sie
damals nach allen Seiten hin machte, erhalten in folgenden Worten des Herrn Simon ihre
h&ouml;here Weihe:</p>
<p><font size="2">"Das Wort Vereinbarung ist durch die Ereignisse des verflossenen Jahres zum
Gegenstand eines sehr bedenklichen Spottes geworden. Man darf davon kaum mehr sprechen, ohne
ausgelacht zu werden. Und dennoch ist von zwei F&auml;llen nur einer m&ouml;glich: Entweder die
Menschen vereinbaren sich, oder sie st&uuml;rzen aufeinander los wie die wilden Tiere." p.
43.</font></p>
<p>D.h. entweder die Parteien fechten ihren Kampf aus, oder sie schieben ihn auf durch eine
beliebigen Kompromi&szlig;. Letzteres ist jedenfalls "gebildeter" und humaner. Herr Simon
er&ouml;ffnet sich &uuml;brigens durch seine obige Theorie eine unendliche Reihe von
Vereinbarungen, durch die er in jeder "b&uuml;rgerlichen Gesellschaft" m&ouml;glich bleiben
wird,</p>
<p>Die selige Reichsverfassung wird in folgender philosophischer Deduktion gerechtfertigt:</p>
<p><font size="2">"Die Reichsverfassung war so recht eigentlich der Ausdruck des ohne neue
Gewaltanstrengungen m&ouml;glichen ... Sie war der lebendige (!) Ausdruck der demokratischen
Monarchie, somit eines prinzipiellen Widerspruchs. Aber es hat schon vieles tats&auml;chlich
bestanden, was sich prinzipiell widersprach, und grade aus dem tats&auml;chlichen Bestehn
prinzipieller Widerspr&uuml;che entwickelt sich das fernere Leben." p. 44.</font></p>
<p>Man sieht, die Anwendung der Hegelschen Dialektik bleibt immer noch etwas schwieriger als das
Zitieren Schillerscher Verschen. Die Reichsverfassung, wollte sie trotz ihres "prinzipiellen
Widerspruchs" "tats&auml;chlich" bestehn, h&auml;tte wenigstens den Widerspruch "prinzipiell"
aussprechen m&uuml;ssen, der "tats&auml;chlich" bestand. "Tats&auml;chlich" stand auf der einen
Seite Preu&szlig;en und &Ouml;streich, der milit&auml;rische Absolutismus, auf der andern Seite
das deut- <a name="S205" id="S205"><b>&lt;205&gt;</b></a> tsche Volk, geprellt um die
Fr&uuml;chte seiner M&auml;rzaufst&auml;nde, geprellt zum gro&szlig;en Teil durch sein albernes
Vertrauen in die erb&auml;rmliche Frankfurter Versammlung, und auf dem Punkt, endlich einen neuen
Kampf gegen den milit&auml;rischen Absolutismus zu wagen. Dieser tats&auml;chliche Widerspruch
konnte nur durch einen tats&auml;chlichen Kampf gel&ouml;st werden. Sprach die Reichsverfassung
diesen Widerspruch aus? Nicht im entferntesten. Sie sprach den Widerspruch aus, wie er im
M&auml;rz 1848 bestanden hatte, ehe Preu&szlig;en und &Ouml;streich wieder zu Kr&auml;ften
gekommen waren, ehe die Opposition durch partielle Niederlagen zersplittert, geschw&auml;cht,
entwaffnet war. Sie sprach weiter nichts aus als die kindische Selbstt&auml;uschung der Herren
aus der Paulskirche, die sich einbildeten, im M&auml;rz 1849 noch der preu&szlig;ischen und
&ouml;streichischen Regierung Gesetze vorschreiben und sich f&uuml;r alle Zukunft die ebenso
eintr&auml;gliche wie gefahrlose Stellung deutscher Reichsbarrots sichern zu k&ouml;nnen.</p>
<p>Herr Simon gratuliert sich und seinen Kollegen sodann, da&szlig; sie in ihrer interessierten
Verblendung &uuml;ber die Reichsverfassung durch nichts wankend zu machen waren:</p>
<p><font size="2">"Gesteht es besch&auml;mt, ihr Abtr&uuml;nnigen von Gotha, da&szlig; wir mitten
im Drange der Leidenschaften jeder Versuchung widerstanden, unser Wort treulich gehalten und auch
nicht ein Jota an dem gemeinsamen Werk ge&auml;ndert haben!" p. 67.</font></p>
<p>Er weist dann hin auf ihre Heldentaten in bezug auf W&uuml;rttemberg und die Pfalz und auf
ihren Stuttgarter Beschlu&szlig; vom 8. Juni, wo sie Baden unter den Schutz des Reichs stellten,
obwohl schon damals wesentlich das Reich unter dem Schutz Badens stand, und ihre Beschl&uuml;sse
nur bewiesen, da&szlig; sie entschlossen waren, von ihrer Feigheit "auch nicht ein Jota"
abzugehen und eine Illusion gewaltsam festzuhalten, an die sie selbst nicht mehr glaubten.</p>
<p>Den Vorwurf, "die Reichsverfassung sei nur die Maske zur Republik gewesen", weist Herr Simon
h&ouml;chst sinnreich zur&uuml;ck wie folgt:</p>
<p><font size="2">"Nur wenn der Kampf gegen alle Regierungen ohne Ausnahme bis zu Ende h&auml;tte
durchgef&uuml;hrt werden m&uuml;ssen, ... und wer sagt euch denn, da&szlig; der Kampf gegen alle
Regierungen ohne Ausnahme bis zu Ende h&auml;tte durchgef&uuml;hrt werden m&uuml;ssen? Wer kann
sie alle berechnen, die m&ouml;glichen Wechself&auml;lle des Kampfes und Kriegsgl&uuml;cks, und
wenn einmal die feindseligen Br&uuml;der (Regierungen und Volk) nach blutigem Ringen sich
ermattet und entscheidungslos gegen&uuml;bergestanden h&auml;tten und der Geist des Friedens und
der Vers&ouml;hnung w&auml;re &uuml;ber sie gekommen, hatten wir die Fahne der Reichsverfassung,
unter welcher sie sich die Bruderh&auml;nde zur Vers&ouml;hnung h&auml;tten reichen k&ouml;nnen.
auch nur im mindesten besch&auml;digt? Schaut um euch! Hand aufs Herz! Greift aufrichtig in euer
inneres Gewissen, und ihr werdet, ihr m&uuml;&szlig;t antworten: Nein, nein und abermals nein!"
p. 70.</font></p>
<p><b><a name="S206" id="S206">&lt;206&gt;</a></b> Das ist der wahre K&ouml;cher der
Beredsamkeit, aus dem Herr Simon jene Pfeile holte, die er in der Paulskirche mit so
erstaunlichem Effekt verscho&szlig;! - Trotz seiner Plattheit hat dieses r&uuml;hrende Pathos
doch sein Interesse. Es beweist, wie die Herren Frankfurter in Stuttgart ruhig sa&szlig;en und
harrten, bis die feindlichen Parteien sich m&uuml;de gek&auml;mpft h&auml;tten, um dann im
richtigen Moment zwischen die Ermatteten hinzutreten und ihnen die Vers&ouml;hnungspanazee, die
Reichsverfassung, anzubieten. Und wie sehr Herr Simon hier seinen Kollegen aus der Seele spricht,
geht daraus hervor, da&szlig; diese Herren noch jetzt zu Bern bei Wirt Benz in der
Ke&szlig;lergasse forttagen und nur darauf warten, da&szlig; ein neuer Kampf losbreche, damit
sie, wenn die Parteien "ermattet und entscheidungslos gegen&uuml;berstehn", zwischen sie treten
k&ouml;nnen und ihnen zur Vereinbarung die Reichsverfassung darbieten, diesen vollendeten
Ausdruck der Ermattung und Entscheidungslosigkeit.</p>
<p><font size="2">"Aber ich sage euch trotz alledem, und so wehe es tut, fern vom Vaterlande,
fern von der Heimat, fern von bejahrten Eltern die einsamen Wege des Exils zu wandeln, ich
tausche mein reines Gewissen nicht um die Gewissensbisse der Abtr&uuml;nnigen und die schlaflosen
N&auml;chte der Herrscher, und wenn man mir das &Uuml;berma&szlig; aller irdischen
Gl&uuml;cksg&uuml;ter b&ouml;te"! p. 71.</font></p>
<p>Wenn es nur m&ouml;glich w&auml;re, diese Herren ins Exil zu schicken! Aber tragen sie nicht
in ihren Koffern das Vaterland nach sich in der Gestalt der Frankfurter stenographischen
Berichte, aus welchen ihnen ein Strom unverf&auml;lschtester Heimatluft und die F&uuml;lle der
sch&ouml;nsten Selbstgenugtuung entgegenrauscht?</p>
<p>Wenn &uuml;brigens Herr Simon behauptet, ein Wort f&uuml;r die
Reichsverfassungs<i>k&auml;mpfer</i> einzulegen, so begeht er einen frommen Betrug. Die
Reichsverfassungsk&auml;mpfer hatten sein "Wort des Rechts" nicht n&ouml;tig. Sie haben sich
besser und energischer verteidigt. Aber Herr Simon mu&szlig; sie vorschieben, um zu
verh&uuml;llen, da&szlig; er im Interesse der nach allen Seiten hin kompromittierten Frankfurter,
im Interesse der Reichsverfassungsmacher, im Interesse seiner selbst eine oratio pro domo
&lt;Rede in eigener Sache&gt; zu halten f&uuml;r unumg&auml;nglich h&auml;lt.</p><a name="III"
id="III"></a>
<p align="center">III</p>
<p align="center"><i>Guizot, "Pourquoi la r&eacute;volution d'Angleterre a-t-elle
r&eacute;ussi?<br></i>Discours sur l'histoire de la r&eacute;volution d'Angleterre",<br>
&lt;<i>Guizot, "Warum hatte die Revolution in England Erfolg?</i><br>
Vortrag zur Geschichte der englischen Revolution"&gt;,<br>
Paris 1850</p>
<p><b><a name="S207" id="S207">&lt;207&gt;</a></b> Das Pamphlet des Herrn Guizot bezweckt
nachzuweisen, warum Louis-Philippe und die Politik Guizots am 24. Februar 1848 eigentlich nicht
h&auml;tten gest&uuml;rzt werden d&uuml;rfen und wie der verwerfliche Charakter der Franzosen die
Schuld tr&auml;gt, da&szlig; die Julimonarchie von 1830 nach achtzehnj&auml;hrigem m&uuml;hsamen
Bestehn schm&auml;hlich zusammenbrach und nicht jene Dauer erhielt, deren sich die englische
Monarchie seit 1688 erfreute.</p>
<p>Man sieht aus diesem Pamphlet, wie selbst die t&uuml;chtigsten Leute des ancien r&eacute;gime
&lt;alten regimes&gt;, wie selbst Leute, denen in ihrer Weise historisches Talent keineswegs
abzusprechen ist, durch das fatale Februarereignis so vollst&auml;ndig in Verwirrung gebracht
worden sind, da&szlig; ihnen alles geschichtliche Verst&auml;ndnis, da&szlig; ihnen sogar das
Verst&auml;ndnis ihrer eignen fr&uuml;heren Handlungsweise abhanden gekommen ist. Statt durch die
Februarrevolution zur Einsicht der g&auml;nzlich verschiedenen historischen Verh&auml;ltnisse,
der g&auml;nzlich verschiedenen Stellung der Klassen der Gesellschaft in der franz&ouml;sischen
Monarchie von 1830 und der englischen von 1688 getrieben zu werden, l&ouml;st Herr Guizot den
ganzen Unterschied auf in einige moralische Phrasen und beteuert am Schlu&szlig;, da&szlig; die
am 24. Februar gest&uuml;rzte Politik, "wie sie die Staaten erhalte, so allein die Revolutionen
bew&auml;ltige".</p>
<p>Bestimmt formuliert lautet die Frage, die Herr Guizot beantworten will: Warum hat sich die
b&uuml;rgerliche Gesellschaft in England l&auml;nger in der Form der konstitutionellen Monarchie
entwickelt als in Frankreich?</p>
<p>Zur Charakteristik der Bekanntschaft des Herrn Guizot mit dem Gang der b&uuml;rgerlichen
Entwicklung in England kann folgende Stelle dienen:</p>
<p><font size="2">"Unter der Regierung Georgs I. und Georgs II. nahm der &ouml;ffentliche Geist
eine andere Richtung: Die ausw&auml;rtige Politik h&ouml;rte auf, ihre Hauptangelegenheit zu
sein; die innere Administration, die Aufrechterhaltung des Friedens, die Fragen der Finanzen, der
Kolonien, des Handels, die Entwicklung und die K&auml;mpfe des parlamentarischen Regimes wurden
zur vorherrschenden Besch&auml;ftigung der Regierung und des Publikums." p. 168.</font></p>
<p>Herr Guizot findet in der Regierung Wilhelms III. nur zwei erw&auml;hnenswerte Momente: die
Erhaltung des Gleichgewichts zwischen Parlament und <a name="S208" id=
"S208"><b>&lt;208&gt;</b></a> Krone und die Erhaltung des europ&auml;ischen Gleichgewichts durch
den Kampf gegen Ludwig XIV. Unter der hannoverschen Dynastie nimmt dann pl&ouml;tzlich "der
&ouml;ffentliche Geist eine andre Richtung", man wei&szlig; nicht wie und warum. Man sieht hier,
wie Herr Guizot die allergew&ouml;hnlichsten Phrasen der franz&ouml;sischen parlamentarischen
Debatte auf die englische Geschichte &uuml;bertr&auml;gt und sie damit erkl&auml;rt zu haben
glaubt. Gerade so bildete sich Herr Guizot als Minister ebenfalls ein, das Gleichgewicht zwischen
Parlament und Krone und das europ&auml;ische Gleichgewicht auf seinen Schultern zu balancieren,
w&auml;hrend er in Wirklichkeit nichts anderes tat, als den ganzen franz&ouml;sischen Staat und
die ganze franz&ouml;sische Gesellschaft St&uuml;ck f&uuml;r St&uuml;ck an die Finanzjuden der
Pariser B&ouml;rse zu verschachern.</p>
<p>Davon, da&szlig; die Kriege gegen Ludwig XIV. reine Konkurrenzkriege zur Vernichtung des
franz&ouml;sischen Handels und der franz&ouml;sischen Seemacht waren, da&szlig; unter Wilhelm
III. die Herrschaft der Finanzbourgeoisie durch die Errichtung der Bank und die Einf&uuml;hrung
der Staatsschuld ihre erste Sanktion erhielt, da&szlig; der Manufakturbourgeoisie durch die
konsequente Durchf&uuml;hrung des Schutzzollsystems ein neuer Aufschwung gegeben wurde, davon
h&auml;lt Herr Guizot zu sprechen nicht der M&uuml;he wert. F&uuml;r ihn haben nur die
politischen Phrasen Bedeutung. Er erw&auml;hnt nicht einmal, da&szlig; unter der K&ouml;nigin
Anna die herrschenden Parteien nur dadurch sich und die konstitutionelle Monarchie erhalten
konnten, da&szlig; sie durch einen Gewaltstreich die Dauer der Parlamente auf sieben Jahre
verl&auml;ngerten und so den Einflu&szlig; des Volks auf die Regierung fast ganz
vernichteten.</p>
<p>Unter der hannoverschen Dynastie war England bereits so weit, da&szlig; es den Konkurrenzkrieg
gegen Frankreich in der modernen Form f&uuml;hren konnte. England selbst bek&auml;mpfte
Frankreich nur noch in Amerika und Ostindien, w&auml;hrend es auf dem Kontinent sich damit
begn&uuml;gte, fremde F&uuml;rsten wie Friedrich II. zum Kriege gegen Frankreich zu besolden. Und
wenn so der ausw&auml;rtige Krieg eine andere Form annimmt, so sagt Herr Guizot: "Die
ausw&auml;rtige Politik h&ouml;rt auf, Hauptangelegenheit zu sein", und an ihre Stelle tritt "die
Aufrechterhaltung des Friedens". Inwiefern "die Entwicklung und die K&auml;mpfe des
parlamentarischen Regimes zur vorherrschenden Besch&auml;ftigung der Regierung und des Publikums
wurden", dar&uuml;ber vergleiche man die Bestechungsgeschichten unter dem Ministerium Walpole,
die allerdings den unter Herrn Guizot an die Tagesordnung gekommenen Skandalen auf ein Haar
&auml;hnlich sehn.</p>
<p>Warum die englische Revolution einen gedeihlicheren Fortgang nahm als die franz&ouml;sische,
das erkl&auml;rt sich Herr Guizot besonders aus zwei Ursachen: zuerst daraus, da&szlig; die
englische Revolution einen durchaus religi&ouml;sen Charak- <a name="S209" id=
"S209"><b>&lt;209&gt;</b></a> ter hatte, also keineswegs mit allen Traditionen der Vergangenheit
brach, und zweitens daraus, da&szlig; sie von vornherein nicht zerst&ouml;rend, sondern
konservativ auftrat, da&szlig; das Parlament die alten bestehenden Gesetze gegen die
&Uuml;bergriffe der Krone verteidigte.</p>
<p>Was den ersten Punkt angeht, so vergi&szlig;t Herr Guizot, da&szlig; die Freigeisterei, die
ihn bei der franz&ouml;sischen Revolution so gewaltig schaudern macht, aus keinem andern Lande
nach Frankreich importiert wurde als grade aus England. Locke war ihr Vater, und in Shaftesbury
und Bolingbroke nahm sie schon jene geistreiche Form an, die sp&auml;ter in Frankreich eine so
gl&auml;nzende Entwicklung fand. Wir kommen so zu dem seltsamen Resultat, da&szlig; dieselbe
Freigeisterei, an der die franz&ouml;sische Revolution nach Herrn Guizot scheiterte, eins der
wesentlichsten Produkte der religi&ouml;sen englischen Revolution war.</p>
<p>In Beziehung auf den zweiten Punkt vergi&szlig;t Herr Guizot g&auml;nzlich, da&szlig; die
franz&ouml;sische Revolution ebenso konservativ, noch viel konservativer anfing als die
englische. Der Absolutismus, besonders wie er zuletzt in Frankreich auftrat, war auch hier eine
Neuerung, und gegen diese Neuerung erhoben sich die Parlamente und verteidigten die alten
Gesetze, die us et coutumes &lt;Sitten und Br&auml;uche&gt; der alten st&auml;ndischen Monarchie.
Und wenn der erste Schritt der franz&ouml;sischen Revolution die Wiederbelebung der seit Heinrich
IV. und Ludwig XIII. entschlafenen Generalst&auml;nde war, so hat die englische Revolution
dagegen kein Faktum von gleich klassischem Konservatismus aufzuweisen.</p>
<p>Nach Herrn Guizot war das Hauptresultat der englischen Revolution dies, da&szlig; der
K&ouml;nig in die Unm&ouml;glichkeit versetzt wurde, gegen den Willen des Parlaments und des
Hauses der Gemeinen im Parlament zu regieren. Die ganze Revolution besteht nun darin, da&szlig;
im Anfang beide Seiten, Krone und Parlament, ihre Schranken &uuml;berschreiten und zu weit gehn,
bis sie dann endlich unter Wilhelm III. das richtige Gleichgewicht finden und sich
neutralisieren, Da&szlig; die Unterwerfung des K&ouml;nigtums unter das Parlament seine
Unterwerfung unter die Herrschaft einer Klasse ist, findet Herr Guizot &uuml;berfl&uuml;ssig zu
erw&auml;hnen. Er braucht darum auch nicht weiter darauf einzugehn, wie diese Klasse sich die
n&ouml;tige Macht erwarb, um endlich die Krone zu ihrer Dienerin zu machen. Es handelt sich bei
ihm in dem ganzen Kampf zwischen Karl I. und dem Parlament nur um rein politische Vorrechte. Wozu
das Parlament und die in ihm vertreten Klasse diese Vorrechte brauchte, davon erf&auml;hrt man
kein Wort. Ebensowenig spricht Herr Guizot von den direkten Eingriffen Karls I. in die freie
Konkurrenz, die den Handel und die Industrie Englands mehr und mehr unm&ouml;glich machten, oder
von der Abh&auml;ngigkeit vom Parlament, in die Karl I. <a name="S210" id=
"S210"><b>&lt;210&gt;</b></a> durch seine fortw&auml;hrende Finanznot um so tiefer geriet, je
mehr er dem Parlament zu trotzen versuchte. Die ganze Revolution ist ihm daher nur
erkl&auml;rlich durch den b&ouml;sen Willen und den religi&ouml;sen Fanatismus einzelner
Ruhest&ouml;rer, die sich nicht mit einer gem&auml;&szlig;igten Freiheit begn&uuml;gen konnten.
&Uuml;ber den Zusammenhang der religi&ouml;sen Bewegung mit der Entwicklung der b&uuml;rgerlichen
Gesellschaft wei&szlig; Herr Guizot ebensowenig Aufkl&auml;rung zu geben. Die Republik ist
nat&uuml;rlich ebenfalls das blo&szlig;e Werk einiger Ehrgeiziger, Fanatiker und
B&ouml;swilliger. Da&szlig; um dieselbe Zeit in Lissabon, in Neapel und Messina ebenfalls
Versuche zur Einf&uuml;hrung der Republik, und zwar, wie in England, ebenfalls im Hinblick auf
Holland gemacht wurden, ist eine Tatsache, die gar nicht erw&auml;hnt wird. Obwohl Herr Guizot
die franz&ouml;sische Revolution nie aus den Augen verliert, kommt er nicht einmal zu dem
einfachen Schlu&szlig;, da&szlig; der &Uuml;bergang von der absoluten zur konstitutionellen
Monarchie &uuml;berall erst nach heftigen K&auml;mpfen und nach dem Durchgang durch die Republik
zustande kommt und da&szlig; selbst dann die alte Dynastie als unbrauchbar einer usurpatorischen
Seitenlinie Platz machen mu&szlig;. &Uuml;ber den Sturz der englischen Restaurationsmonarchie
wei&szlig; er daher nur die trivialsten Gemeinpl&auml;tze zu sagen. Er f&uuml;hrt nicht einmal
die n&auml;chsten Ursachen an: die Furcht der durch die Reformation geschaffenen neuen
gro&szlig;en Grundbesitzer vor der Herstellung des Katholizismus, bei der sie nat&uuml;rlich ihre
s&auml;mtlichen geraubten ehemaligen Kircheng&uuml;ter h&auml;tten wieder herausgeben
m&uuml;ssen, d.h., bei der sieben Zehntel der gesamten Bodenfl&auml;che von England den Besitzer
gewechselt h&auml;tten; die Scheu der handeltreibenden und industriellen Bourgeoisie vor dem
Katholizismus, der keineswegs in ihren Commerce pa&szlig;te; die Nonchalance, mit der die Stuarts
zu ihrem eignen und ihres Hofadels Vorteil die ganze englische Industrie, nebst dem Handel an die
Regierung Frankreichs, d.h. des einzigen Landes verkaufte, das damals den Engl&auml;ndern eine
gef&auml;hrliche und in vieler Beziehung siegreiche Konkurrenz machte, usw. Da Herr Guizot also
&uuml;berall die wichtigsten Momente ausl&auml;&szlig;t, so bleibt ihm nichts &uuml;brig als eine
h&ouml;chst ungen&uuml;gende und banale Erz&auml;hlung der blo&szlig; politischen Ereignisse.</p>
<p>Das gro&szlig;e R&auml;tsel f&uuml;r Herrn Guizot, das er sich nur durch den &uuml;berlegenen
Verstand der Engl&auml;nder zu entziffern wei&szlig;, das R&auml;tsel des konservativen
Charakters der englischen Revolution, es ist die fortw&auml;hrende Allianz, worin sich die
Bourgeoisie mit dem gr&ouml;&szlig;ten Teil der gro&szlig;en Grundbesitzer befindet, eine
Allianz, welche die englische Revolution wesentlich von der franz&ouml;sischen unterscheidet, die
den gro&szlig;en Grundbesitz durch die Parzellierung vernichtete. Diese mit der Bourgeoisie
verbundene Klasse gro&szlig;er Grundbesitzer, die &uuml;brigens schon unter Heinrich VIII.
entstanden war, befand sich nicht, wie der franz&ouml;sische feudale Grundbesitz 1789, im
Widerspruch, sondern viel- <a name="S211" id="S211"><b>&lt;211&gt;</b></a> mehr in
vollst&auml;ndigem Einklang mit den Lebensbedingungen der Bourgeoisie. Ihr Grundbesitz war in der
Tat kein feudales, sondern b&uuml;rgerliches Eigentum. Sie stellten einerseits der industriellen
Bourgeoisie die zum Betrieb der Manufaktur n&ouml;tige Bev&ouml;lkerung zur Verf&uuml;gung, und
waren andrerseits imstande, dem Ackerbau diejenige Entwicklung zu geben, die dem Stande der
Industrie und des Handels entsprach. Daher ihre gemeinsamen Interessen mit der Bourgeoisie, daher
ihre Allianz mit ihr.</p>
<p>Mit der Konsolidierung der konstitutionellen Monarchie in England h&ouml;rt f&uuml;r Herrn
Guizot die englische Geschichte auf. Alles Folgende beschr&auml;nkt sich f&uuml;r ihn auf ein
angenehmes Wechselspiel zwischen Tories und Whigs, d.h. f&uuml;r ihn auf die gro&szlig;e Debatte
zwischen Herrn Guizot und Herrn Thiers. In der Wirklichkeit dagegen beginnt erst mit der
Konsolidierung der konstitutionellen Monarchie die gro&szlig;artige Entwicklung und
Umw&auml;lzung der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft in England. Wo Herr Guizot nur sanfte Ruhe und
idyllischen Frieden sieht, entwickelten sich in der Wirklichkeit die gewaltigsten Konflikte, die
einschneidendsten Revolutionen. Zuerst bildete sich unter der konstitutionellen Monarchie die
Manufaktur zu einer bisher unbekannten Ausdehnung fort, um dann der gro&szlig;en Industrie, der
Dampfmaschine und den riesenm&auml;&szlig;igen Fabriken Platz zu machen. Ganze Klassen der
Bev&ouml;lkerung verschwinden, neue treten an ihre Stelle, mit neuen Lebensbedingungen und neuen
Bed&uuml;rfnissen. Eine neue, kolossalere Bourgeoisie entsteht; w&auml;hrend die alte Bourgeoisie
mit der franz&ouml;sischen Revolution k&auml;mpft, erobert sich die neue den Weltmarkt. Sie wird
so allm&auml;chtig, da&szlig; sie schon, ehe die Reformbill ihr direkt politische Macht in die
Hand gibt, ihre Gegner zwingt, fast nur in <i>ihrem</i> Interesse und nach <i>ihren</i>
Bed&uuml;rfnissen Gesetze zu erlassen. Sie erobert sich direkte Vertretung im Parlament und
benutzt sie zur Vernichtung der letzten Reste reeller Macht, die dem Grundbesitz geblieben sind.
Sie ist, endlich, in diesem Augenblick damit besch&auml;ftigt, das sch&ouml;ne Geb&auml;ude der
englischen Verfassung, vor dem Herr Guizot bewundernd stehnbleibt, von Grund aus zu
demolieren.</p>
<p>Und w&auml;hrend Herr Guizot den Engl&auml;ndern sein Kompliment dar&uuml;ber macht, da&szlig;
bei ihnen die verwerflichen Ausw&uuml;chse des franz&ouml;sischen gesellschaftlichen Lebens, der
Republikanismus und Sozialismus, die Grunds&auml;ulen der alleinseligmachenden Monarchie nicht
ersch&uuml;ttert haben, w&auml;hrenddem sind in England die Klassengegens&auml;tze in der
Gesellschaft zu einer H&ouml;he entwickelt wie in keinem andern Lande, steht hier einer
Bourgeoisie mit Reichtum und Produktivkr&auml;ften ohnegleichen ein Proletariat gegen&uuml;ber,
das an Macht und Konzentration ebenfalls ohnegleichen ist. Die Anerkennung, die Herr Guizot
England zollt, l&auml;uft also schlie&szlig;lich darauf hinaus, da&szlig; hier unter <a name=
"S212" id="S212"><b>&lt;212&gt;</b></a> dem Schutz der konstitutionellen Monarchie sich bei
weitem mehr und bei weitem radikalere Elemente einer gesellschaftlichen Revolution entwickelt
haben als in allen andern L&auml;ndern der Welt zusammengenommen.</p>
<p>Wo die F&auml;den der englischen Entwicklung in einen Knotenpunkt zusammenlaufen, den er
selbst zum Schein nicht mehr durch die blo&szlig; politische Phrase durchhauen kann, nimmt Herr
Guizot seine Zuflucht zur religi&ouml;sen Phrase, zur bewaffneten Intervention Gottes. So kommt
z.B. der Geist Gottes pl&ouml;tzlich &uuml;ber die Armee und verhindert Cromwell, sich zum
K&ouml;nige auszurufen etc. etc. Vor seinem Gewissen rettet sich Guizot durch Gott, vor dem
profanen Publikum durch den Stil.</p>
<p>In der Tat, nicht blo&szlig; les rois s'en vont &lt;die K&ouml;nige verschwinden&gt; sondern
auch les capacit&eacute;s de la bourgeoisie s'en vont &lt;die Kapazit&auml;ten der Bourgeoisie
gehen unter&gt;.</p>
</body>
</html>