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<!DOCTYPE HTML PUBLIC "-//W3C//DTD HTML 3.2//EN">
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<title>Friedrich Engels - Der deutsche Bauernkrieg - II</title>
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<body bgcolor="#FFFFFC">
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<p><small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 7,S. 342-358<br>
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Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960</small></p>
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<p align="center"><a href="me07_330.htm"><font size="2">I - [Die ökonomische Lage und der
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soziale Schichtenabu Deutschlands]</font></a> <font size="2">|</font> <a href=
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"me07_327.htm"><font size="2">Inhalt</font></a> <font size="2">|</font> <a href=
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"me07_359.htm"><font size="2">III - [Vorläufer des großen Bauernkrieges zwischen 1476
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und 1517]</font></a></p>
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<p align="center"><font size="5">II</font></p>
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<p align="center"><font size="5">[Die großen oppositionellen Gruppierungen und ihre
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Ideologien - Luther und Münzer]</font></p>
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<p><b><a name="S342"><342></a></b> Die Gruppierung der damals so mannigfaltigen Stände
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zu größeren Ganzen wurde schon durch die Dezentralisation und die lokale und
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provinzielle Selbständigkeit, durch die industrielle und kommerzielle Entfremdung der
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Provinzen voneinander, durch die schlechten Kommunikationen fast unmöglich gemacht. Diese
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Gruppierung bildet sich erst heraus mit der allgemeinen Verbreitung revolutionärer
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religiös-politischer Ideen in der Reformation. Die verschiedenen Stände, die sich
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diesen Ideen anschließen oder entgegenstellen, konzentrieren, freilich nur sehr mühsam
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und annähernd, die Nation in drei große Lager, in das katholische oder
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reaktionäre, das lutherische bürgerlich-reformierende und das revolutionäre. Wenn
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wir auch in dieser großen Zerklüftung der Nation wenig Konsequenz entdecken, wenn wir
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in den ersten beiden Lagern zum Teil dieselben Elemente finden, so erklärt sich dies aus dem
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Zustand der Auflösung, in dem sich die meisten, aus dem Mittelalter überlieferten
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offiziellen Stände befanden, und aus der Dezentralisation, die denselben Ständen an
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verschiedenen Orten momentan entgegengesetzte Richtungen anwies. Wir haben in den letzten Jahren
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so häufig ganz ähnliche Fakta in Deutschland zu sehen Gelegenheit gehabt, daß uns
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eine solche scheinbare Durcheinanderwürfelung der Stände und Klassen unter den viel
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verwickelteren Verhältnissen des 16. Jahrhunderts nicht wundern kann.</p>
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<p>Die deutsche Ideologie sieht, trotz der neuesten Erfahrungen, in den Kämpfen, denen das
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Mittelalter erlag, noch immer weiter nichts als heftige theologische Zänkereien. Hätten
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die Leute jener Zeit sich nur über die himmlischen Dinge verständigen können, so
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wäre, nach der Ansicht unsrer vaterländischen Geschichtskenner und Staatsweisen, gar
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kein Grund vorhanden gewesen, über die Dinge dieser Welt zu streiten. Diese Ideologen sind
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leichtgläubig genug, alle Illusionen für bare Münze zu nehmen, die sich eine
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Epoche über sich selbst macht oder die die Ideologen einer Zeit sich über diese Zeit
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machen. Dieselbe Klasse von Leuten sieht z.B. in der Revolution <a name=
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"S343"></a><b><343></b> von 1789 nur eine etwas hitzige Debatte über die Vorzüge
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der konstitutionellen vor der absoluten Monarchie, in der Julirevolution eine praktische
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Kontroverse über die Unhaltbarkeit des Rechts "von Gottes Gnaden", in der Februarrevolution
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den Versuch zur Lösung der Frage "Republik oder Monarchie?" usw. Von den
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<i>Klassenkämpfen</i>, die in diesen Erschütterungen ausgefochten werden und deren
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bloßer Ausdruck die jedesmal auf die Fahne geschriebene politische Phrase ist, von diesen
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Klassenkämpfen haben selbst heute noch unsre Ideologen kaum eine Ahnung, obwohl die Kunde
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davon vernehmlich genug nicht nur vorn Auslande herüber, sondern auch aus dem Murren und
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Grollen vieler tausend einheimischen Proletarier herauf erschallt.</p>
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<p>Auch in den sogenannten Religionskriegen des sechzehnten Jahrhunderts handelte es sich vor
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allem um sehr positive materielle Klasseninteressen, und diese Kriege waren Klassenkämpfe,
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ebensogut wie die späteren inneren Kollisionen in England und Frankreich. Wenn diese
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Klassenkämpfe damals religiöse Schibboleths trugen, wenn die Interessen,
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Bedürfnisse und Forderungen der einzelnen Klassen sich unter einer religiösen Decke
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verbargen, so ändert dies nichts an der Sache und erklärt sich leicht aus den
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Zeitverhältnissen.</p>
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<p>Das Mittelalter hatte sich ganz aus dem Rohen entwickelt. Über die alte Zivilisation, die
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alte Philosophie, Politik und Jurisprudenz hatte es reinen Tisch gemacht, um in allem wieder von
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vorn anzufangen. Das einzige, das es aus der untergegangenen alten Welt übernommen hatte,
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war das Christentum und eine Anzahl halbzerstörter, ihrer ganzen Zivilisation entkleideter
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Städte. Die Folge davon war, daß, wie auf allen ursprünglichen
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Entwicklungsstufen, die Pfaffen das Monopol der intellektuellen Bildung erhielten und damit die
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Bildung selbst einen wesentlich theologischen Charakter bekam. Unter den Händen der Pfaffen
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blieben Politik und Jurisprudenz, wie alle übrigen Wissenschaften, bloße Zweige der
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Theologie und wurden nach denselben Prinzipien behandelt, die in dieser Geltung hatten. Die
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Dogmen der Kirche waren zu gleicher Zeit politische Axiome, und Bibelstellen hatten in jedem
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Gerichtshof Gesetzeskraft. Selbst als ein eigner Juristenstand sich bildete, blieb die
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Jurisprudenz noch lange unter der Vormundschaft der Theologie. Und diese Oberherrlichkeit der
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Theologie auf dem ganzen Gebiet der intellektuellen Tätigkeit war zugleich die notwendige
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Folge von der Stellung der Kirche als der allgemeinsten Zusammenfassung und Sanktion der
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bestehenden Feudalherrschaft.</p>
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<p>Es ist klar, daß hiermit alle allgemein ausgesprochenen Angriffe auf den Feudalismus,
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vor allem Angriffe auf die Kirche, alle revolutionären, gesellschaftlichen und politischen
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Doktrinen zugleich und vorwiegend theologische <a name="S344"></a><b><344></b> Ketzereien
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sein mußten. Damit die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse angetastet werden
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konnten, mußte ihnen der Heiligenschein abgestreift werden.</p>
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<p>Die revolutionäre Opposition gegen die Feudalität geht durch das ganze Mittelalter.
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Sie tritt auf, je nach den Zeitverhältnissen, als Mystik, als offene Ketzerei, als
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bewaffneter Aufstand. Was die Mystik angeht, so weiß man, wie abhängig die
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Reformatoren des 16. Jahrhunderts von ihr waren; auch Münzer hat viel aus ihr genommen Die
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Ketzereien waren teils der Ausdruck der Reaktion der patriarchalischen Alpenhirten gegen die zu
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ihnen vordringende Feudalität (die Waldenser; teils der Opposition der dem Feudalismus
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entwachsenen Städte gegen ihn (die Albigenser, Arnold von Brescia etc.); teils direkter
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Insurrektionen der Bauern (John Ball, der Meister aus Ungarn <Jakob>, in der Pikardie
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etc.). Die patriarchalische Ketzerei der Waldenser können wir hier, ganz wie die
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Insurrektion der Schweizer, als einen nach Form und Inhalt reaktionären Versuch der
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Absperrung gegen die geschichtliche Bewegung, und von nur lokaler Bedeutung, beiseite lassen. In
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den beiden übrigen Formen der mittelalterlichen Ketzerei finden wir schon im zwölften
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Jahrhundert die Vorläufer des großen Gegensatzes zwischen bürgerlicher und
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bäurisch-plebejischer Opposition, an dem der Bauernkrieg zugrunde ging. Dieser Gegensatz
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zieht sich durchs ganze spätere Mittelalter.</p>
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<p>Die Ketzerei der Städte - und sie ist die eigentlich offizielle Ketzerei des Mittelalters
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- wandte sich hauptsächlich gegen die Pfaffen, deren Reichtümer und politische Stellung
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sie angriff. Wie jetzt die Bourgeoisie ein gouvernement à bon marché, eine
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wohlfeile Regierung fordert, so verlangten die mittelalterlichen Bürger zunächst eine
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eglise à bon marché, eine wohlfeile Kirche. Der Form nach reaktionär, wie jede
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Ketzerei, die in der Fortentwicklung der Kirche und der Dogmen nur eine Entartung sehen kann,
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forderte die bürgerliche Ketzerei Herstellung der urchristlichen einfachen Kirchenverfassung
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und Aufhebung des exklusiven Priesterstandes. Diese wohlfeile Einrichtung beseitigte die
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Mönche, die Prälaten, den römischen Hof, kurz alles, was in der Kirche kostspielig
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war. Die Städte, selbst Republiken, wenn auch unter dem Schutz von Monarchen, sprachen durch
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ihre Angriffe gegen das Papsttum zum ersten Male in allgemeiner Form aus, daß die normale
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Form der Herrschaft des Bürgertums die Republik ist. Ihre Feindschaft gegen eine Reihe von
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Dogmen und Kirchengesetzen erklärt sich teils aus dem Gesagten, teils aus ihren sonstigen
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Lebensverhältnissen. Warum sie z.B. so heftig gegen das Zölibat auftraten, darüber
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gibt niemand besser Aufschluß als Boccaccio. <a name="S345"></a><b><345></b> Arnold
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von Brescia in Italien und Deutschland, die Albigenser in Südfrankreich, John Wycliffe in
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England, Hus und die Calixtiner in Böhmen waren die Hauptrepräsentanten dieser
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Richtung. Daß die Opposition gegen den Feudalismus hier nur als Opposition gegen die
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<i>geistliche</i> Feudalität auftritt, erklärt sich sehr einfach daraus, daß die
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Städte überall schon anerkannter Stand waren und die weltliche Feudalität mit
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ihren Privilegien, mit den Waffen oder in den ständischen Versammlungen hinreichend
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bekämpfen konnten.</p>
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<p>Auch hier sehen wir schon, sowohl in Südfrankreich wie in England und Böhmen,
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daß der größte Teil des niederen Adels sich den Städten im Kampf gegen die
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Pfaffen und in der Ketzerei anschließt - eine Erscheinung, die sich aus der
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Abhängigkeit des niederen Adels von den Städten und aus der Gemeinsamkeit der
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Interessen beider gegenüber den Fürsten und Prälaten erklärt und die wir im
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Bauernkrieg wiederfinden werden.</p>
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<p>Einen ganz verschiedenen Charakter hatte die Ketzerei, die der direkte Ausdruck der
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bäurischen und plebejischen Bedürfnisse war und sich fast immer an einen Aufstand
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anschloß. Sie teilte zwar alle Forderungen der bürgerlichen Ketzerei in betreff der
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Pfaffen, des Papsttums und der Herstellung der urchristlichen Kirchenverfassung, aber sie ging
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zugleich unendlich weiter. Sie verlangte die Herstellung des urchristlichen
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Gleichheitsverhältnisses unter den Mitgliedern der Gemeinde und seine Anerkennung als Norm
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auch für die bürgerliche Welt. Sie zog von der "Gleichheit der Kinder Gottes" den
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Schluß auf die bürgerliche Gleichheit und selbst teilweise schon auf die Gleichheit
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des Vermögens. Gleichstellung des Adels mit den Bauern, der Patrizier und bevorrechteten
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Bürger mit den Plebejern, Abschaffung der Frondienste, Grundzinsen, Steuern, Privilegien und
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wenigstens der schreiendsten Vermögensunterschiede waren Forderungen, die mit mehr oder
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weniger Bestimmtheit aufgestellt und als notwendige Konsequenzen der urchristlichen Doktrin
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behauptet wurden. Diese bäurisch-plebejische Ketzerei, in der Blütezeit des
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Feudalismus, z.B. bei den Albigensern, kaum noch zu trennen von der bürgerlichen, entwickelt
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sich zu einer scharf geschiedenen Parteiansicht im 14. und 15. Jahrhundert, wo sie
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gewöhnlich ganz selbständig neben der bürgerlichen Ketzerei auftritt. So John
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Ball, der Prediger des Wat-Tylerschen Aufstandes in England neben der Wycliffeschen Bewegung, so
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die Taboriten neben Calixtinern in Böhmen. Bei den Taboriten tritt sogar schon die
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republikanische Tendenz unter theokratischer Verbrämung hervor, die am Ende des 15. und
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Anfang des 16. Jahrhunderts durch die Vertreter der Plebejer in Deutschland weiter ausgebildet
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wurde.</p>
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<p>An diese Form der Ketzerei schließt sich die Schwärmerei mystizisieren- <a name=
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"S346"></a><b><346></b> der Sekten, der Geißler, Lollards etc., die in Zeiten der
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Unterdrückung die revolutionäre Tradition fortpflanzen.</p>
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<p>Die Plebejer waren damals die einzige Klasse, die ganz außerhalb der offiziell
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bestehenden Gesellschaft stand. Sie befand sich außerhalb des feudalen und außerhalb
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des bürgerlichen Verbandes. Sie hatte weder Privilegien noch Eigentum; sie hatte nicht
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einmal, wie die Bauern und Kleinbürger, einen mit drückenden Lasten beschwerten Besitz.
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Sie war in jeder Beziehung besitzlos und rechtlos; ihre Lebensbedingungen kamen direkt nicht
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einmal in Berührung mit den bestehenden Institutionen, von denen sie vollständig
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ignoriert wurden. Sie war das lebendige Symptom der Auflösung der feudalen und
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zunftbürgerlichen Gesellschaft und zugleich der erste Vorläufer der
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modern-bürgerlichen Gesellschaft.</p>
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<p>Aus dieser Stellung erklärt es sich, warum die plebejische Fraktion schon damals nicht
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bei der bloßen Bekämpfung des Feudalismus und der privilegierten Pfahlbürgerei
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stehenbleiben konnte, warum sie, wenigstens in der Phantasie, selbst über die kaum
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empordämmernde modern-bürgerliche Gesellschaft hinausgreifen, warum sie, die
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vollständig besitzlose Fraktion, schon Institutionen, Anschauungen und Vorstellungen in
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Frage stellen mußte, welche allen auf Klassengegensätzen beruhenden
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Gesellschaftsformen gemeinsam sind. Die chiliastischen Schwärmereien des ersten Christentums
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boten hierzu einen bequemen Anknüpfungspunkt. Aber zugleich konnte dies Hinausgehen nicht
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nur über die Gegenwart, sondern selbst über die Zukunft, nur ein gewaltsames,
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phantastisches sein und mußte beim ersten Versuch der praktischen Anwendung
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zurückfallen in die beschränkten Grenzen, die die damaligen Verhältnisse allein
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zuließen. Der Angriff auf das Privateigentum, die Forderung der Gütergemeinschaft,
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mußte sich auflösen in eine rohe Organisation der Wohltätigkeit; die vage
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christliche Gleichheit konnte höchstens auf die bürgerliche "Gleichheit vor dem Gesetz"
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hinauslaufen; die Beseitigung aller Obrigkeit verwandelt sich schließlich in die
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Herstellung vom Volke gewählter republikanischer Regierungen. Die Antizipation des
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Kommunismus durch die Phantasie wurde in der Wirklichkeit eine Antizipation der modernen
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bürgerlichen Verhältnisse.</p>
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<p>Diese gewaltsame, aber dennoch aus der Lebenslage der plebejischen Fraktion sehr
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erklärliche Antizipation auf die spätere Geschichte finden wir zuerst in
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<i>Deutschland</i>, bei <i>Thomas Münzer</i> und seiner Partei. Bei den Taboriten hatte
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allerdings eine Art chiliastischer Gütergemeinschaft bestanden, aber nur als rein
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militärische Maßregel. Erst bei Münzer sind diese kommunistischen Anklänge
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Ausdruck der Bestrebungen einer wirklichen Gesellschaftsfraktion, erst bei ihm sind sie mit einer
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gewissen Bestimmtheit formuliert, und seit ihm <a name="S347"></a><b><347></b> finden wir
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sie in jeder großen Volkserschütterung wieder, bis sie allmählich mit der
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modernen proletarischen Bewegung zusammenfließen; geradeso wie im Mittelalter die
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Kämpfe der freien Bauern gegen die sie mehr und mehr umstrickende Feudalherrschaft
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zusammenfließen mit den Kämpfen der Leibeigenen und Hörigen um den
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vollständigen Bruch der Feudalherrschaft.</p>
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<p>Während sich in dem ersten der drei großen Lager, im
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<i>konservativ-katholischen</i>, alle Elemente zusammenfanden, die an der Erhaltung des
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Bestehenden interessiert waren, also die Reichsgewalt, die geistlichen und ein Teil der
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weltlichen Fürsten, der reichere Adel, die Prälaten und das städtische Patriziat,
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sammeln sich um das Banner der <i>bürgerlich-gemaßigten lutherischen</i> Reform die
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besitzenden Elemente der Opposition, die Masse des niederen Adels, die Bürgerschaft und
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selbst ein Teil der weltlichen Fürsten, der sich durch Konfiskation der geistlichen
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Güter zu bereichern hoffte und die Gelegenheit zur Erringung größerer
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Unabhängigkeit vom Reich benutzen wollte. Die Bauern und Plebejer endlich schlossen sich zur
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<i>revolutionären</i> Partei zusammen, deren Forderungen und Doktrinen am schärfsten
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durch Münzer ausgesprochen wurden.</p>
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<p>Luther und Münzer repräsentieren nach ihrer Doktrin wie nach ihrem Charakter und
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ihrem Auftreten jeder seine Partei vollständig.</p>
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<p><i>Luther</i> hat in den Jahren 1517 bis 1525 ganz dieselben Wandlungen durchgemacht, die die
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modernen deutschen Konstitutionellen von 1846 bis 1849 durchmachten und die jede bürgerliche
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Partei durchmacht, welche, einen Moment an die Spitze der Bewegung gestellt, in dieser Bewegung
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selbst von der hinter ihr stehenden plebejischen oder proletarischen Partei überflügelt
|
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wird.</p>
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<p>Als Luther 1517 zuerst gegen die Dogmen und die Verfassung der katholischen Kirche auftrat,
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hatte seine Opposition durchaus noch keinen bestimmten Charakter. Ohne über die Forderungen
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der früheren bürgerlichen Ketzerei hinauszugehn, schloß sie keine einzige
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weitergehende Richtung aus und konnte es nicht. Im ersten Moment mußten alle
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oppositionellen Elemente vereinigt, mußte die entschiedenste revolutionäre Energie
|
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|
angewandt, mußte die Gesamtmasse der bisherigen Ketzerei gegenüber der katholischen
|
||
|
Rechtgläubigkeit vertreten werden. Geradeso waren unsere liberalen Bourgeois noch 1847
|
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|
revolutionär, nannten sich Sozialisten und Kommunisten und schwärmten für die
|
||
|
Emanzipation der Arbeiterklasse. Die kräftige Bauernnatur Luthers machte sich in dieser
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|
ersten Periode seines Auftretens in der ungestümsten Weise Luft.</p>
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<p><font size="2">"Wenn ihr" (der römischen Pfaffen) "rasend Wüten einen Fortgang haben
|
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|
sollte, mich es wäre schier kein besserer Rat und Arznei, ihm zu steuern, denn daß
|
||
|
<a name="S348"></a><b><348></b> Könige und Fürsten mit Gewalt dazutäten,
|
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|
sich rüsteten und diese schädlichen Leute, so alle Welt vergiften, angriffen und einmal
|
||
|
des Spiels ein Ende machten, <i>mit Waffen, nicht mit Worten</i>. So wir Diebe mit Schwert,
|
||
|
Mörder mit Strang <Bei Zimmermann: Diebe mit Strang, Mörder mit Schwert>, Ketzer
|
||
|
mit Feuer strafen, warum greifen wir nicht vielmehr an diese schädlichen Lehrer des
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||
|
Verderbens, als Päpste, Kardinäle, Bischöfe und das [ganze] Geschwärm der
|
||
|
römischen Sodoma mit <i>allerlei Waffen und waschen unsere Hände in ihrem
|
||
|
Blut?</i>"</font></p>
|
||
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|
||
|
<p>Aber dieser erste revolutionäre Feuereifer dauerte nicht lange. Der Blitz schlug ein, den
|
||
|
Luther geschleudert hatte. Das ganze deutsche Volk geriet in Bewegung. Auf der einen Seite sahen
|
||
|
Bauern und Plebejer in seinen Aufrufen wider die Pfaffen, in seiner Predigt von der christlichen
|
||
|
Freiheit das Signal zur Erhebung; auf der andern schlossen sich die gemäßigteren
|
||
|
Bürger und ein großer Teil des niederen Adels ihm an, wurden selbst Fürsten vom
|
||
|
Strom mit fortgerissen. Die einen glaubten den Tag gekommen, wo sie mit allen ihren
|
||
|
Unterdrückern Abrechnung halten könnten, die andern wollten nur die Macht der Pfaffen,
|
||
|
die Abhängigkeit von Rom, die katholische Hierarchie brechen und sich aus der Konfiskation
|
||
|
des Kirchengutes bereichern. Die Parteien sonderten sich und fanden ihre Repräsentanten.
|
||
|
Luther mußte zwischen ihnen wählen. Er, der Schützling des Kurfürsten von
|
||
|
Sachsen, der angesehene Professor von Wittenberg, der über Nacht mächtig und
|
||
|
berühmt gewordene, mit einem Zirkel von abhängigen Kreaturen und Schmeichlern umgebene
|
||
|
große Mann zauderte keinen Augenblick. Er ließ die populären Elemente der
|
||
|
Bewegung fallen und schloß sich der bürgerlichen, adligen und fürstlichen Seite
|
||
|
an. Die Aufrufe zum Vertilgungskampfe gegen Rom verstummten; Luther predigte jetzt die
|
||
|
<i>friedliche Entwicklung</i> und den <i>passiven Widerstand</i> (vgl. z.B. "An den Adel
|
||
|
teutscher Nation", 1520 etc.). Auf Huttens Einladung, zu ihm und Sickingen auf die Ebernburg, den
|
||
|
Mittelpunkt der Adelsverschwörung gegen Pfaffen und Fürsten, zu kommen, antwortete
|
||
|
Luther:</p>
|
||
|
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||
|
<p><font size="2">"Ich möchte nicht, daß man das Evangelium <i>mit Gewalt und
|
||
|
Blutvergießen verfechte</i>. Durch das Wort ist die Welt überwunden worden, durch das
|
||
|
Wort ist die Kirche erhalten, durch das Wort wird sie auch wieder in den Stand kommen, und der
|
||
|
Antichrist, wie er Seines ohne Gewalt bekommen, wird ohne Gewalt fallen."</font></p>
|
||
|
|
||
|
<p>Von dieser Wendung, oder vielmehr von dieser bestimmteren Feststellung der Richtung Luthers,
|
||
|
begann jenes Markten und Feilschen um die beizubehaltenden oder zu reformierenden Institutionen
|
||
|
und Dogmen, jenes widerwärtige Diplomatisieren, Konzedieren, Intrigieren und Vereinbaren,
|
||
|
<a name="S349"></a><b><349></b> dessen Resultat die Augsburgische Konfession war, die
|
||
|
schließlich erhandelte Verfassung der reformierten Bürgerkirche. Es ist ganz derselbe
|
||
|
Schacher, der sich neuerdings in deutschen Nationalversammlungen, Vereinbarungsversammlungen,
|
||
|
Revisionskammern und Erfurter Parlamenten in politischer Form bis zum Ekel wiederholt hat. Der
|
||
|
spießbürgerliche Charakter der offiziellen Reformation trat in diesen Verhandlungen
|
||
|
aufs offenste hervor.</p>
|
||
|
|
||
|
<p>Daß Luther, als nunmehr erklärter Repräsentant der bürgerlichen Reform,
|
||
|
den gesetzlichen Fortschritt predigte, hatte seine guten Gründe. Die Masse der Städte
|
||
|
war der gemäßigten Reform zugefallen; der niedere Adel schloß sich ihr mehr und
|
||
|
mehr an, ein Teil der Fürsten fiel zu, ein anderer schwankte. Ihr Erfolg war so gut wie
|
||
|
gesichert, wenigstens in einem großen Teile von Deutschland. Bei fortgesetzter friedlicher
|
||
|
Entwicklung konnten die übrigen Gegenden auf die Dauer dem Andrang der gemäßigten
|
||
|
Opposition nicht widerstehn. Jede gewaltsame Erschütterung aber mußte die
|
||
|
gemäßigte Partei in Konflikt bringen mit der extremen, plebejischen und Bauernpartei,
|
||
|
mußte die Fürsten, den Adel und manche Städte der Bewegung entfremden und
|
||
|
ließ nur die Chance entweder der Überflügelung der bürgerlichen Partei durch
|
||
|
die Bauern und Plebejer oder der Unterdrückung sämtlicher Bewegungsparteien durch die
|
||
|
katholische Restauration. Und wie die bürgerlichen Parteien, sobald sie die geringsten Siege
|
||
|
erfochten haben, vermittelst des gesetzlichen Fortschritts zwischen der Scylla der Revolution und
|
||
|
der Charybdis der Restauration durchzulavieren suchen, davon haben wir in der letzten Zeit
|
||
|
Exempel genug gehabt.</p>
|
||
|
|
||
|
<p>Wie unter den allgemein gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen der damaligen
|
||
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Zeit die Resultate jeder Veränderung notwendig den Fürsten zugute kommen und ihre Macht
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vermehren mußten, so mußte die bürgerliche Reform, je schärfer sie sich von
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den plebejischen und bäurischen Elementen schied, immer mehr unter die Kontrolle der
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reformierten Fürsten geraten. Luther selbst wurde mehr und mehr ihr Knecht, und das Volk
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wußte sehr gut, was es tat, wenn es sagte, er sei ein Fürstendiener geworden wie die
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andern, und wenn es ihn in Orlamünde mit Steinwürfen verfolgte.</p>
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<p>Als der Bauernkrieg losbrach, und zwar in Gegenden, wo Fürsten und Adel
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größtenteils katholisch waren, suchte Luther eine vermittelnde Stellung einzunehmen.
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Er griff die Regierungen entschieden an. Sie seien schuld am Aufstand durch ihre
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Bedrückungen; nicht die Bauern setzten sich wider sie, sondern Gott selbst. Der Aufstand sei
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freilich auch ungöttlich und wider das Evangelium, hieß es auf der andern Seite.
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Schließlich riet er beiden Parteien, nachzugeben und sich gütlich zu vertragen.</p>
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<p><b><a name="S350"><350></a></b> Aber der Aufstand, trotz dieser wohlmeinenden
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Vermittlungsvorschläge, dehnte sich rasch aus, ergriff sogar protestantische, von
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lutherischen Fürsten, Herren und Städten beherrschte Gegenden und wuchs der
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bürgerlichen, "besonnenen" Reform rasch über den Kopf. In Luthers nächster
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Nähe, in Thüringen, schlug die entschiedenste Fraktion der Insurgenten unter
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Münzer ihr Hauptquartier auf. Noch ein paar Erfolge, und ganz Deutschland stand in Flammen,
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Luther war umzingelt, vielleicht als Verräter durch die Spieße gejagt, und die
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bürgerliche Reform weggeschwemmt von der Sturmflut der bäurisch-plebejischen
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Revolution. Da galt kein Besinnen mehr. Gegenüber der Revolution wurden alle alten
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Feindschaften vergessen; im Vergleich mit den Rotten der Bauern waren die Diener der
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römischen Sodoma unschuldige Lämmer, sanftmütige Kinder Gottes; und Bürger
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und Fürsten, Adel und Pfaffen, Luther und Papst verbanden sich "wider die mörderischen
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und räuberischen Rotten der Bauern".</p>
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<p><font size="2">"Man soll sie zerschmeißen, <i>würgen</i> und <i>stechen</i>,
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<i>heimlich</i> und <i>öffentlich,</i> wer da kann, wie man einen <i>tollen Hund</i>
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totschlagen muß!" schrie Luther. "Darum, liebe Herren, loset hie, rettet da, steche,
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schlage, würge sie, wer da kann, bleibst du darüber tot, wohl dir, seligeren Tod kannst
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du nimmermehr überkommen."</font></p>
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<p>Man solle nur keine falsche Barmherzigkeit mit den Bauern haben. Die mengen sich selber unter
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die Aufrührischen, die sich derer erbarmen, welcher sich Gott nicht erbarmt, sondern welche
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er gestraft und verderbet haben will. Nachher werden die Bauern selber Gott danken lernen, wenn
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sie die eine Kuh hergeben müssen, auf daß sie die andre in Frieden genießen
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können; und die Fürsten werden durch den Aufruhr erkennen, wes Geistes der Pöbel
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sei, der nur mit Gewalt zu regieren.</p>
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<p><font size="2">"Der weise Mann sagt: Cibus, onus et virga asino <Der Esel braucht Futter,
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Bürde und Stockschläge> - in einen Bauern gehört Haberstroh, sie hören
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nicht das Wort und sind unsinnig, so müssen sie die virgam, die Büchse, hören, und
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geschieht ihnen recht. Bitten sollen wir für sie, daß sie gehorchen; wo nicht, so
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gilt's hier nicht viel Erbarmens. <i>Lasset nur die Büchsen unter</i> sie <i>sausen</i>, sie
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machen's sonst tausendmal ärger."</font></p>
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<p>Geradeso sprachen unsere weiland sozialistischen und philanthropischen Bourgeois, als das
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Proletariat nach den Märztagen seinen Anteil an den Früchten des Siegs reklamieren
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kam.</p>
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<p>Luther hatte der plebejischen Bewegung ein mächtiges Werkzeug in die Hand gegeben durch
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die Übersetzung der Bibel. In der Bibel hatte er dem feudalisierten Christentum der Zeit das
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bescheidene Christentum der ersten <a name="S351"></a><b><351></b> Jahrhunderte, der
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zerfallenden feudalen Gesellschaft das Abbild einer Gesellschaft entgegengehalten, die nichts von
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der weitschichtigen, kunstmäßigen Feudalhierarchie wußte. Die Bauern hatten dies
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Werkzeug gegen Fürsten, Adel, Pfaffen, nach allen Seiten hin benutzt. Jetzt kehrte Luther es
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gegen sie und stellte aus der Bibel einen wahren Dithyrambus auf die von Gott eingesetzte
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Obrigkeit zusammen, wie ihn kein Tellerlecker der absoluten Monarchie je zustande gebracht hat.
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Das Fürstentum von Gottes Gnaden, der passive Gehorsam, selbst die Leibeigenschaft wurde mit
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der Bibel sanktioniert. Nicht nur der Bauernaufstand, auch die ganze Auflehnung Luthers selbst
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gegen die geistliche und weltliche Autorität war hierin verleugnet; nicht nur die
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populäre Bewegung, auch die bürgerliche war damit an die Fürsten verraten.</p>
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<p>Brauchen wir die Bourgeois zu nennen, die auch von dieser Verleugnung ihrer eignen
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Vergangenheit uns kürzlich wieder Beispiele gegeben haben?</p>
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<p>Stellen wir nun dem bürgerlichen Reformator Luther den plebejischen Revolutionär
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<i>Münzer</i> gegenüber.</p>
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<p><i>Thomas Münzer</i> war geboren zu <i>Stolberg</i> am Harz, um das Jahr 1498. Sein Vater
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soll, ein Opfer der Willkür der Stolbergschen Grafen, am Galgen gestorben sein. Schon in
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seinem fünfzehnten Jahre stiftete Münzer auf der Schule zu Halle einen geheimen Bund
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gegen den Erzbischof von Magdeburg und die römische Kirche überhaupt. Seine
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Gelehrsamkeit in der damaligen Theologie verschaffte ihm früh den Doktorgrad und eine Stelle
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als Kaplan in einem Nonnenkloster zu Halle. Hier behandelte er schon Dogmen und Ritus der Kirche
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mit der größten Verachtung, bei der Messe ließ er die Worte der Wandlung ganz
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aus und aß, wie Luther von ihm erzählt, die Herrgötter ungeweiht. Sein
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Hauptstudium waren die mittelalterlichen Mystiker, besonders die chiliastischen Schriften
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Joachims des Calabresen. Das Tausendjährige Reich, das Strafgericht über die entartete
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Kirche und die verderbte Welt, das dieser verkündete und ausmalte, schien Münzer mit
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der Reformation und der allgemeinen Aufregung der Zeit nahe herbeigekommen. Er predigte in der
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Umgegend mit großem Beifall. 1520 ging er als erster evangelischer Prediger nach Zwickau.
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Hier fand er eine jener schwärmerischen chiliastischen Sekten vor, die in vielen Gegenden im
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stillen fortexistierten, hinter deren momentaner Demut und Zurückgezogenheit sich die
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fortwuchernde Opposition der untersten Gesellschaftsschichten gegen die bestehenden Zustände
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verborgen hatte und die jetzt mit der wachsenden Agitation immer offener und beharrlicher ans
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Tageslicht hervortraten. Es war die Sekte der Wiedertäufer, an deren Spitze Niklas
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<i>Storch</i> stand. Sie predigten das Nahen des Jüngsten Gerichts und des
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Tausendjährigen Reichs; sie <a name="S352"></a><b><352></b> hatten "Gesichte,
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Verzückungen und den Geist der Weissagung". Bald kamen sie in Konflikt mit dem Zwickauer
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Rat; Münzer verteidigte sie, obwohl er sich ihnen nie unbedingt anschloß, sondern sie
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vielmehr unter seinen Einfluß bekam. Der Rat schritt energisch gegen sie ein; sie
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mußten die Stadt verlassen, und Münzer mit ihnen. Es war Ende 1521.</p>
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<p>Er ging nach Prag und suchte, an die Reste der hussitischen Bewegung anknüpfend, hier
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Boden zu gewinnen; aber seine Proklamation hatte nur den Erfolg, daß er auch aus
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Böhmen wieder fliehen mußte. 1522 wurde er Prediger zu Allstedt in Thüringen.
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Hier begann er damit, den Kultus zu reformieren. Noch ehe Luther so weit zu gehen wagte, schaffte
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er die lateinische Sprache total ab und ließ die ganze Bibel, nicht bloß die
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vorgeschriebenen sonntäglichen Evangelien und Episteln verlesen. Zu gleicher Zeit
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organisierte er die Propaganda in der Umgegend. Von allen Seiten lief das Volk ihm zu, und bald
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wurde Allstedt das Zentrum der populären Antipfaffenbewegung von ganz Thüringen.</p>
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<p>Noch war Münzer vor allem Theologe; noch richtete er seine Angriffe fast
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ausschließlich gegen die Pfaffen. Aber er predigte nicht, wie Luther damals schon, die
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ruhige Debatte und den friedlichen Fortschritt, er setzte die früheren gewaltsamen Predigten
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Luthers fort und rief die sächsischen Fürsten und das Volk auf zum bewaffneten
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Einschreiten gegen die römischen Pfaffen.</p>
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<p><font size="2">"Sagt doch Christus, ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das
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Schwert. Was sollt ihr" (die sächsischen Fürsten) "aber mit demselben machen? Nichts
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anders, denn die Bösen, die das Evangelium verhindern, wegtun und absondern, wollt ihr
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anders Diener Gottes sein. Christus hat mit großem Ernst befohlen, Luc. 19,27, nehmt meine
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Feinde und würget sie vor meinen Augen ... Gebet uns keine schalen Fratzen vor, daß
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die Kraft Gottes es tun soll ohne euer Zutun des Schwertes, es möchte euch sonst in der
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Scheide verrosten. Die, welche Gottes Offenbarung zuwider sind, soll man wegtun, ohne alle Gnade,
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wie Hiskias, Cyrus, Josias, Daniel und Elias die Baalspfaffen verstöret haben, anders mag
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die christliche Kirche zu ihrem Ursprung nicht wieder kommen. Man muß das Unkraut ausraufen
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aus dem Weingarten Gottes in der Zeit der Ernte. Gott hat 5. Mose 7 gesagt, ihr sollt euch nicht
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erbarmen über die Abgöttischen, zerbrecht ihre Altäre, zerschmeißt ihre
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Bilder und verbrennet sie, auf daß ich nicht mit euch zürne."</font></p>
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<p>Aber diese Aufforderungen an die Fürsten blieben ohne Erfolg, während gleichzeitig
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unter dem Volk die revolutionäre Aufregung von Tag zu Tag wuchs. Münzer, dessen Ideen
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immer schärfer ausgebildet, immer kühner wurden, trennte sich jetzt entschieden von der
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bürgerlichen Reformation und trat von nun an zugleich direkt als politischer Agitator
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auf.</p>
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<p><b><a name="S353"><353></a></b> Seine theologisch- philosophische Doktrin griff alle
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Hauptpunkte nicht nur des Katholizismus, sondern des Christentums überhaupt an. Er lehrte
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unter christlichen Formen einen Pantheismus, der mit der modernen spekulativen Anschauungsweise
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eine merkwürdige Ähnlichkeit hat und stellenweise sogar an Atheismus anstreift. Er
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verwarf die Bibel sowohl als ausschließliche wie als unfehlbare Offenbarung. Die
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eigentliche, die lebendige Offenbarung sei die Vernunft, eine Offenbarung, die zu allen Zeiten
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und bei allen Völkern existiert habe und noch existiere. Der Vernunft die Bibel
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entgegenhalten, heiße den Geist durch den Buchstaben töten. Denn der Heilige Geist,
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von dem die Bibel spreche, sei nichts außer uns Existierendes; der Heilige Geist ist sei
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eben die Vernunft. Der Glaube sei nichts anderes als das Lebendigwerden der Vernunft im Menschen,
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und daher könnten auch die Heiden den Glauben haben. Durch diesen Glauben, durch die
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lebendig gewordene Vernunft werde der Mensch vergöttlicht und selig. Der Himmel sei daher
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nichts Jenseitiges, er sei in diesem Leben zu suchen, und der Beruf der Gläubigen sei,
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diesen Himmel, das Reich Gottes, hier auf der Erde herzustellen. Wie keinen jenseitigen Himmel,
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so gebe es auch keine jenseitige Hölle oder Verdammnis. Ebenso gebe es keinen Teufel als die
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bösen Lüste und Begierden der Menschen. Christus sei ein Mensch gewesen wie wir, ein
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Prophet und Lehrer, und sein Abendmahl sei ein einfaches Gedächtnismahl, worin Brot und Wein
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ohne weitere mystische Zutat genossen werde.</p>
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<p>Diese Lehren predigte Münzer meist versteckt unter denselben christlichen Redeweisen,
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unter denen sich die neuere Philosophie eine Zeitlang verstecken mußte. Aber der
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erzketzerische Grundgedanke blickt überall aus seinen Schriften hervor, und man sieht
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daß es ihm mit dem biblischen Deckmantel weit weniger ernst war als manchem Schüler
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Hegels in neuerer Zeit. Und doch liegen drei hundert Jahre zwischen Münzer und der modernen
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Philosophie.</p>
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<p>Seine politische Doktrin schloß sich genau an diese revolutionäre religiöse
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Anschauungsweise an und griff ebensoweit über die unmittelbar vorliegenden
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gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse hinaus wie seine Theologie über die
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geltenden Vorstellungen seiner Zeit. Wie Münzers Religionsphilosophie an den Atheismus, so
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streifte sein politisches Programm an den Kommunismus, und mehr als eine moderne kommunistische
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Sekte hatte noch am Vorabend der Februarrevolution über kein reichhaltigeres theoretisches
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Arsenal zu verfügen als die "Münzerschen" des sechzehnten Jahrhunderts. Dies Programm,
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weniger die Zusammenfassung der Forderungen der damaligen Plebejer als die geniale Antizipation
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der Emanzipationsbedingungen der kaum sich entwickelnden proletarischen Elemente unter diesen
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Plebejern - dies Programm forderte die sofortige Herstellung des Reiches Gottes, des prophe-
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<a name="S354"></a><b><354></b> zeiten Tausendjährigen Reichs auf Erden, durch
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Zurückführung der Kirche auf ihren Ursprung und Beseitigung aller Institutionen, die
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mit dieser angeblich urchristlichen, in Wirklichkeit aber sehr neuen Kirche in Widerspruch
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standen. Unter dem Reich Gottes verstand Münzer aber nichts anderes als einen
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Gesellschaftszustand, in dem keine Klassenunterschiede, kein Privateigentum und keine den
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Gesellschaftsmitgliedern gegenüber selbständige, fremde Staatsgewalt mehr bestehen.
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Sämtliche bestehende Gewalten, sofern sie nicht sich fügen und der Revolution
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anschließen wollten, sollten gestürzt, alle Arbeiten und alle Güter gemeinsam und
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die vollständigste Gleichheit durchgeführt werden. Ein Bund sollte gestiftet werden, um
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|
dies durchzusetzen, nicht nur über ganz Deutschland, sondern über die ganze
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Christenheit; Fürsten und Herren sollten eingeladen werden, sich anzuschließen; wo
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nicht, sollte der Bund sie bei der ersten Gelegenheit mit den Waffen in der Hand stürzen
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oder töten.</p>
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<p>Münzer setzte sich gleich daran, diesen Bund zu organisieren. Seine Predigten nahmen
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einen noch heftigeren, revolutionäreren Charakter an; neben den Angriffen auf die Pfaffen
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donnerte er mit gleicher Leidenschaft gegen die Fürsten, den Adel, das Patriziat, schilderte
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er in glühenden Farben den bestehenden Druck und hielt dagegen sein Phantasiebild des
|
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Tausendjährigen Reichs der sozial-republikanischen Gleichheit. Zugleich veröffentlichte
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er ein revolutionäres Pamphlet nach dem andern und sandte Emissäre nach allen 3
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Richtungen aus, während er selbst den Bund in Allstedt und der Umgegend organisierte.</p>
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<p>Die erste Frucht dieser Propaganda war die Zerstörung der Marienkapelle zu Mellerbach bei
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Allstedt, nach dem Gebot: "Ihre Altäre sollt ihr zerreißen, ihre Säulen
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zerbrechen und ihre Götzen mit Feuer verbrennen, denn ihr seid ein heilig Volk" (Deut. 7, 6
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<Deuteronomium (5. Buch Mose) 7,5-6>). Die sächsischen Fürsten kamen selbst nach
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|
Allstedt, um den Aufruhr zu stillen, und ließen Münzer aufs Schloß rufen. Dort
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|
hielt er eine Predigt, wie sie deren von Luther, "dem sanftlebenden Fleisch zu Wittenberg", wie
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Münzer ihn nannte, nicht gewohnt waren. Er bestand darauf, daß die gottlosen Regenten,
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||
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besonders Pfaffen und Mönche, die das Evangelium als Ketzerei behandeln, getötet werden
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müßten, und berief sich dafür aufs Neue Testament. Die Gottlosen hätten kein
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Recht zu leben, es sei denn durch die Gnade der Auserwählten. Wenn die Fürsten die
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Gottlosen nicht vertilgen, so werde Gott ihnen das Schwert nehmen, <i>denn die ganze Gemeinde
|
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habe die Gewalt des Schwerts</i>. Die Grundsuppe < alter Kraftausdruck; Inbegriff alles
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Schlechten> des Wuchers, der <a name="S355"></a><b><355></b> Dieberei und Räuberei
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seien die Fürsten und Herren; sie nehmen alle Kreaturen zum Eigentum, die Fische im Wasser,
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die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden. Und dann predigen sie gar noch den Armen
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das Gebot: Du sollst nicht stehlen, sie selber aber nehmen, wo sie's finden, schinden und schaben
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den Bauer und den Handwerker; wo aber dieser am Allergeringsten sich vergreife, so müsse er
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hängen, und zu dem allen sage dann der Doktor Lügner: Amen.</p>
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<p><font size="2">"Die Herren machen das selber, daß ihnen der arme Mann feind wird. Die
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Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun, wie kann es in die Länge gut werden? Ach,
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liebe Herren, wie hübsch wird der Herr unter die alten Töpfe schmeißen mit einer
|
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eisernen Stange! So ich das sage, werde ich aufrührisch sein. Wohl hin!" (Vgl. Zimmermann,
|
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|
"Bauernkrieg", II, S. 75)</font></p>
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|
<p>Münzer ließ die Predigt drucken; sein Drucker in Allstedt wurde zur Strafe vom
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Herzog Johann von Sachsen gezwungen, das Land zu verlassen, und ihm selbst wurde für alle
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|
seine Schriften die Zensur der herzoglichen Regierung zu Weimar auferlegt. Aber diesen Befehl
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achtete er nicht. Er ließ gleich darauf eine höchst aufregende Schrift in der
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|
Reichsstadt Mühlhausen drucken, worin er das Volk aufforderte,</p>
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|
<p><font size="2">"das Loch weit zu machen, auf daß alle Welt sehen und greifen möge,
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||
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wer unsre großen Hansen sind, die Gott also lästerlich zum gemalten Männlein
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gemacht haben", und die er mit den Worten beschloß: "Die ganze Welt muß einen
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großen Stoß aushalten; es wird ein solch Spiel angehn, daß die Gottlosen vom
|
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|
Stuhl gestürzt, die Niedrigen aber erhöhet werden."</font></p>
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|
<p>Als Motto schrieb "Thomas Münzer mit dem Hammer" auf den Titel:</p>
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<p><font size="2">"Nimm wahr, ich habe meine Worte in deinen Mund gesetzt, ich habe dich heute
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über die Leute und über die Reiche gesetzt <(<i>1895</i>) fehlt: ich habe die heute
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|
über die Leute und über die Reiche gesetzt>, auf daß du auswurzlest,
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zerbrechest, zerstreuest und verstürzest, und bauest und pflanzest. Eine eiserne Mauer wider
|
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|
die Könige, Fürsten, Pfaffen und wider das Volk ist dargestellt. Die mögen
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streiten, der Sieg ist wunderlich zum Untergang der starken gottlosen Tyrannen."</font></p>
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|
<p>Der Bruch Münzers mit Luther und seiner Partei war schon lange vorhanden. Luther hatte
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|
manche Kirchenreformen selbst annehmen müssen, die Münzer, ohne ihn zu fragen,
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eingeführt hatte. Er beobachtete Münzers Tätigkeit mit dem ärgerlichen
|
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|
Mißtrauen des gemäßigten Reformers gegen energischere, weitertreibende Partei.
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||
|
Schon im Frühjahr 1524 hatte Münzer an Melanchthon, dieses Urbild des
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||
|
philiströsen, hektischen Stubenhockers, geschrieben, er und Luther verständen die
|
||
|
Bewegung gar nicht. Sie suchten sie <a name="S356"></a><b><356></b> im biblischen
|
||
|
Buchstabenglauben zu ersticken, ihre ganze Doktrin sei wurmstichig.</p>
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<p><font size="2">"Lieben Brüder, laßt euer Warten und Zaudern, es ist Zeit, der
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|
Sommer ist vor der Tür. Wollet nicht Freundschaft halten mit den Gottlosen, sie hindern,
|
||
|
daß das Wort nicht wirke in voller Kraft. Schmeichelt nicht euren Fürsten, sonst
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werdet ihr selbst mit ihnen verderben. Ihr zarten Schriftgelehrten, seid nicht unwillig, ich kann
|
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|
es nicht anders machen."</font></p>
|
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<p>Luther fordert Münzer mehr als einmal zur Disputation heraus; aber dieser, bereit, den
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Kampf jeden Augenblick vor dem Volk aufzunehmen, hatte nicht die geringste Lust, sich in eine
|
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|
theologische Zänkerei vor dem parteiischen Publikum der Wittenberger Universität
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einzulassen. Er wollte "das Zeugnis des Geistes nicht ausschließlich auf die hohe Schule
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bringen". Wenn Luther aufrichtig sei, so solle er seinen Einfluß dahin verwenden, daß
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die Schikanen gegen Münzers Drucker und das Gebot der Zensur aufhöre, damit der Kampf
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ungehindert in der Presse ausgefochten werden könne.</p>
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<p>Jetzt, nach der erwähnten revolutionären Broschüre Münzers, trat Luther
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öffentlich als Denunziant gegen ihn auf. In seinem gedruckten "Brief an die Fürsten zu
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|
Sachsen wider den aufrührerischen Geist" erklärte er Münzer für ein Werkzeug
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||
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des Satans und forderte die Fürsten auf, einzuschreiten und die Anstifter des Aufruhrs zum
|
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|
Lande hinauszujagen, da sie sich nicht begnügen, ihre schlimmen Lehren zu predigen, sondern
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zum Aufstand und zur gewaltsamen Widersetzlichkeit gegen die Obrigkeit aufrufen.</p>
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<p>Am 1. August mußte Münzer sich vor den Fürsten auf dem Schloß zu Weimar
|
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gegen die Anklage aufrührerischer Umtriebe verantworten. Es lagen höchst
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|
kompromittierende Tatsachen gegen ihn vor; man war seinem geheimen Bund auf die Spur gekommen,
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man hatte in den Verbindungen der Bergknappen und Bauern seine Hand entdeckt. Man bedrohte ihn
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mit Verbannung. Kaum nach Allstedt zurück, erfuhr er, daß Herzog Georg von Sachsen
|
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seine Auslieferung verlangte; Bundesbriefe von seiner Handschrift waren aufgefangen worden, worin
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||
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er Georgs Untertanen zu bewaffnetem Widerstand gegen die Feinde des Evangeliums aufforderte. Der
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|
Rat hätte ihn ausgeliefert, wenn er nicht die Stadt verlassen hätte.</p>
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<p>Inzwischen hatte die steigende Agitation unter Bauern und Plebejern die Münzersche
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Propaganda ungemein erleichtert. Für diese Propaganda hatte er an den Wiedertäufern
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|
unschätzbare Agenten gewonnen. Diese Sekte, ohne bestimmte positive Dogmen, zusammengehalten
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||
|
nur durch ihre gemeinsame Opposition gegen alle herrschenden Klassen und durch das gemeinsame
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Symbol der Wiedertaufe, asketisch-streng im Lebenswandel, unermüdlich, fanatisch und
|
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unerschrocken in der Agitation, hatte sich mehr und mehr um <a name="S357"></a><b><357></b>
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||
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Münzer gruppiert. Durch die Verfolgungen von jedem festen Wohnsitz ausgeschlossen, streifte
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sie über ganz Deutschland und verkündete überall die neue Lehre, in der
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||
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Münzer ihnen ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche klargemacht hatte.
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Unzählige wurden gefoltert, verbrannt oder sonst hingerichtet, aber der Mut und die Ausdauer
|
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dieser Emissäre war unerschütterlich, und der Erfolg ihrer Tätigkeit, bei der
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schnell wachsenden Aufregung des Volks, war unermeßlich. Daher fand Münzer bei seiner
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Flucht aus Thüringen den Boden überall vorbereitet, er mochte sich hinwenden, wohin er
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wollte.</p>
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<p>Bei Nürnberg, wohin Münzer zuerst ging, war kaum einen Monat vorher ein
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Bauernaufstand im Keime erstickt worden. Münzer agitierte hier im stillen; bald traten Leute
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auf, die seine kühnsten theologischen Sätze von der Unverbindlichkeit der Bibel und der
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Nichtigkeit der Sakramente verteidigten, Christus für einen bloßen Menschen und die
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Gewalt der weltlichen Obrigkeit für ungöttlich erklärten. "Da sieht man den Satan
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umgehn, den Geist aus Allstedt!" rief Luther. Hier in Nürnberg ließ Münzer seine
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Antwort an Luther drucken. Er klagte ihn geradezu an, daß er den Fürsten heuchle und
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die reaktionäre Partei mit seiner Halbheit unterstütze. Aber das Volk werde trotzdem
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frei werden, und dem Doktor Luther werde es dann gehen wie einem gefangenen Fuchs. - Die Schrift
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wurde von Rats wegen mit Beschlag belegt, und Münzer mußte Nürnberg
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verlassen.</p>
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<p>Er ging jetzt durch Schwaben nach dem Elsaß, der Schweiz und zurück nach dem oberen
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Schwarzwald, wo schon seit einigen Monaten der Aufstand ausgebrochen war, beschleunigt zum
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großen Teil durch seine wiedertäuferischen Emissäre. Diese Propagandareise
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Münzers hat offenbar zur Organisation der Volkspartei, zur klaren Feststellung ihrer
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Forderungen und zum endlichen allgemeinen Ausbruch des Aufstandes im April 1525 wesentlich
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beigetragen. Die doppelte Wirksamkeit Münzers, einerseits für das Volk, dem er in der
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ihm damals allein verständlichen Sprache des religiösen Prophetismus zuredete, und
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andrerseits für die Eingeweihten, gegen die er sich offen über seine schließliche
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Tendenz aussprechen konnte, tritt hier besonders deutlich hervor. Hatte er schon früher in
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Thüringen einen Kreis der entschiedensten Leute, nicht nur aus dem Volk, sondern auch aus
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der niedrigen Geistlichkeit, um sich versammelt und an die Spitze der geheimen Verbindung
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gestellt, so wird er hier der Mittelpunkt der ganzen revolutionären Bewegung von
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Südwestdeutschland, so organisiert er die Verbindung von Sachsen und Thüringen
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über Franken und Schwaben bis nach dem Elsaß und der Schweizer Grenze und zählt
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die süddeutschen Agitatoren, wie Hubmaier in Waldshut, Konrad Grebel von Zürich, Franz
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Rabmann zu Grießen, Schappeler zu Mem- <a name="S358"></a><b><358></b> mingen, Jakob
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Wehe zu Leipheim, Doktor Mantel in Stuttgart, meist revolutionäre Pfarrer, unter seine
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Schüler und unter die Häupter des Bundes. Er selbst hielt sich meist in Grießen
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an der Schaffhausener Grenze auf und durchstreifte von da den Hegau, Klettgau etc. Die blutigen
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Verfolgungen, die die beunruhigten Fürsten und Herren überall gegen diese neue
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plebejische Ketzerei unternahmen, trugen nicht wenig dazu bei, den rebellischen Geist zu
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schüren und die Verbindung fester zusammenzuschließen. So agitierte Münzer gegen
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fünf Monate in Oberdeutschland und ging um die Zeit, wo der Ausbruch der Verschwörung
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herannahte, wieder nach Thüringen zurück, wo er den Aufstand selbst leiten wollte und
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wo wir ihn wiederfinden werden.</p>
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<p>Wir werden sehen, wie treu der Charakter und das Auftreten der beiden Parteichefs die Haltung
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ihrer Parteien selbst widerspiegeln; wie die Unentschiedenheit, die Furcht vor der ernsthaft
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werdenden Bewegung selbst, die feige Fürstendienerei Luthers ganz der zaudernden,
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zweideutigen Politik der Bürgerschaft entsprach und wie die revolutionäre Energie und
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Entschlossenheit Münzers in der entwickeltsten Fraktion der Plebejer und Bauern sich
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reproduzieren. Der Unterschied ist nur, daß, während Luther sich begnügte, die
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Vorstellungen und Wünsche der Majorität seiner Klasse auszusprechen und sich damit eine
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höchst wohlfeile Popularität bei ihr zu erwerben, Münzer im Gegenteil weit
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über die unmittelbaren Vorstellungen und Ansprüche der Plebejer und Bauern hinausging
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und sich aus der Elite der vorgefundenen revolutionären Elemente erst eine Partei bildete,
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die übrigens, soweit sie auf der Höhe seiner Ideen stand und seine Energie teilte,
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immer nur eine kleine Minorität der insurgierten Masse blieb.</p>
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