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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Karl Marx - Ueber Versuche, eine neue Oppositionspartei zu bilden</TITLE>
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<P><SMALL>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unver<65>nderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 387-391</SMALL>
<H2>Karl Marx</H2>
<H1>[&Uuml;ber Versuche,<BR>
eine neue Oppositionspartei zu gr&uuml;nden]</H1>
<FONT SIZE=2><P>Aus dem Englischen.</P>
</FONT><P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["New-York Daily Tribune" Nr. 3622 vom 25. November]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S387">&lt;387&gt;</A></B> London, Dienstag, 9. November 1852</P>
<P>In demselben Ma&szlig;e, wie sich die bis jetzt dominierenden Parteien aufl&ouml;sen und ihre individuellen Merkmale sich verwischen, macht sich selbstverst&auml;ndlich der Mangel einer neuen Oppositionspartei f&uuml;hlbar. Dieser Mangel dr&uuml;ckt sich auf verschiedene Weise aus.</P>
<P>Lord John Russell macht in seiner <A HREF="me08_383.htm#S385">schon erw&auml;hnten Rede</A> den Anfang. Er sagt, der Alarm, den Lord Derby geschlagen, sei zum Teil von den Ger&uuml;chten veranla&szlig;t, da&szlig; er, Lord J. Russell, sich "h&ouml;chst demokratische Ansichten" zu eigen gemacht habe.</P>
<FONT SIZE=2><P>"Ich brauche wohl nicht erst zu versichern, da&szlig; diese Ger&uuml;chte g&auml;nzlich unbegr&uuml;ndet sind und man sich auf keine solche Tatsache berufen kann."</P>
</FONT><P>Dennoch nennt er sich einen Demokraten und setzt dann die harmlose Bedeutung des Wortes auseinander:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Das Volk dieses Landes ist, mit anderen Worten, die Demokratie des Landes. Die Demokratie hat ein ebenso gutes Recht darauf, ihre Rechte zu genie&szlig;en, wie Monarchie und Adel. Die Demokratie hegt nicht die Absicht, irgendein Vorrecht der Krone anzutasten. Die Demokratie versucht auch nicht, die gesetzlichen Privilegien des Oberhauses zu schm&auml;lern. Was also ist diese Demokratie? Die Zunahme an Reichtum, die Zunahme an Verstandeskraft, die Entstehung aufgekl&auml;rterer Ansichten, die geeigneter sind, die Welt in aufgekl&auml;rter Weise zu regieren. Ich will aber noch weitergehen. Ich sage, da&szlig; sich angesichts dieser St&auml;rkung der Position der Demokratie <I>nicht mehr das alte System des Zwanges anwenden l&auml;&szlig;t, das mir einst nur zu vertraut gewesen</I>. Im Gegenteil, die Demokratie m&uuml;&szlig;te erhalten und ermutigt werden, und es m&uuml;&szlig;te dieser Macht und dieser Autorit&auml;t ein legitimes und gesetzliches Organ verliehen werden."</P>
</FONT><B><P><A NAME="S388">&lt;388&gt;</A></B> Der "Morning Herald" bemerkt dazu:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Lord John Russell hat einen Grundsatz, wenn er Minister ist, und einen, wenn er der Opposition angeh&ouml;rt. Ist er im Amt, so ist sein Grundsatz, nichts zu tun; ist er in der Opposition, so ist sein Grundsatz, alles zu versprechen."</P>
</FONT><P>Was in aller Welt kann der "Morning Herald" unter "nichts" verstehen, wenn er das eben zitierte Geschw&auml;tz Lord Russells "alles" nennt und den kleinen John Russell wegen seiner k&ouml;nigstreuen, lordsrespektierenden und bischoferhaltenden "Demokratie" mit dem Schicksal von Frost, Williams und Kompanie bedroht! Der Witz der Geschichte ist jedoch der: als Lord Derby im Oberhaus sich als den prominenten Gegner der "Demokratie" bezeichnet und von der Demokratie als der einzigen Partei spricht, gegen die es sich zu k&auml;mpfen lohne, da tritt der unvermeidliche John Russell auf und untersucht, was diese Demokratie eigentlich sei - eben jene Zunahme des Reichtums, die Zunahme der Verstandeskraft dieser Reichen und ihrer Anspr&uuml;che, die Regierung durch die &ouml;ffentliche Meinung und durch gesetzliche Organe zu beeinflussen. Danach ist die Demokratie nichts weiter als der Ausdruck der Anspr&uuml;che der Bourgeoisie, der industriellen und kommerziellen Mittelklasse. Lord Derby tritt als Gegner dieser Demokratie auf; Lord John Russell meldet sich als ihr Standartentr&auml;ger. Beide stimmen in dem unausgesprochenen Gest&auml;ndnis &uuml;berein, da&szlig; die alte Fehde innerhalb ihrer eigenen Klasse, der Aristokratie, f&uuml;r das Land nicht mehr von Interesse ist. Und Russell ist durchaus bereit, den Namen Whig fallenzulassen und sich Demokrat zu nennen, wenn dies die conditio sine qua non &lt;unerl&auml;&szlig;liche Bedingung&gt; daf&uuml;r sein soll, da&szlig; er seine Gegner verdr&auml;ngt. Die Whigs w&uuml;rden dann faktisch ihre bisherige Rolle weiterspielen und offiziell als die Diener der Bourgeoisie auftreten. So beschr&auml;nkt sich Russells Plan einer Reorganisation der Partei darauf, der Partei einen neuen Namen zu geben.</P>
<P>Auch Joseph Hume betrachtet die Bildung einer neuen "Volkspartei" als eine Notwendigkeit. Aber, sagt er, sie kann sich nicht bilden auf Grund eines neuen Pachtrechts und &auml;hnlicher Vorschl&auml;ge. "Dadurch k&ouml;nnte niemand auch nur 100 von den 654 Parlamentsmitgliedern vereinigen." Worin besteht nun Humes Allheilmittel?</P>
<FONT SIZE=2><P>"Die Liga oder Partei oder Union des Volkes mu&szlig; sich in einem Punkte einig sein - sagen wir in der Forderung der geheimen Abstimmung. Hat sie einmal diesen einen Punkt durchgesetzt, so mu&szlig; sie Schritt f&uuml;r Schritt zu andern &uuml;bergehen. Und die Bewegung, die sich zuerst auf einige wenige Mitglieder des Unterhauses beschr&auml;nken mu&szlig;, <A NAME="S389"><B>&lt;389&gt;</A></B> kann erst auf Erfolg rechnen, wenn das Volk drau&szlig;en sowie die W&auml;hler die Notwendigkeit einsehen, da&szlig; sie mithelfen und die kleine Volkspartei im Parlament unterst&uuml;tzen m&uuml;ssen."</P>
</FONT><P>Dieser selbe Hume war einer der M&auml;nner, die die Volks-Charte entworfen haben. Von der Volks-Charte mit ihren sechs Punkten zog er sich auf die "kleine Charte" der Finanz- und Parlamentsreformer mit ihren drei Punkten zur&uuml;ck, und jetzt beschr&auml;nkt er sich auf den einen Punkt der geheimen Abstimmung. Welchen Erfolg er selbst sich von dem neuen Allheilmittel verspricht, sagt er am Schlusse seines Briefes an den "Hull Advertiser":</P>
<FONT SIZE=2><P>"Sagen Sie selbst, wie viele Redaktionen es wagen werden, eine Partei zu unterst&uuml;tzen, die bei der jetzigen Zusammensetzung des Parlaments <I>nie zur Macht gelangen kann</I>?"</P>
</FONT><P>Da nun diese neue Partei nicht die Absicht hat, im Augenblick etwas an der Zusammensetzung des Parlaments zu &auml;ndern, sondern sich auf die Forderung der geheimen Abstimmung beschr&auml;nkt, so wird sie nach ihrem eigenen Eingest&auml;ndnis niemals zur Macht gelangen. Wo aber steckt der Nutzen der Gr&uuml;ndung einer Partei der <I>Impotenz</I>, der offen eingestandenen Impotenz?</P>
<P>Au&szlig;er Joseph Hume machen auch noch andere den Versuch, eine neue Partei zu gr&uuml;nden. Das ist die sogenannte <I>Nationalpartei</I>. Statt der Volks-Charte m&ouml;chte diese Partei das allgemeine Wahlrecht zu ihrem <I>ausschlie&szlig;lichen </I>Schibboleth machen und dadurch gerade jene Bedingungen au&szlig;er acht lassen, durch welche die Bewegung f&uuml;r das allgemeine Wahlrecht allein zu einer nationalen Bewegung werden und sich die Unterst&uuml;tzung des Volkes sichern kann. Ich werde auf diese Nationalpartei noch zur&uuml;ckkommen. Sie besteht aus ehemaligen Chartisten, die darauf aus sind, f&uuml;r <I>respektabel </I>gehalten zu werden, sowie aus Radikalen, d.h. Bourgeois-Ideologen, die sich der Chartistenbewegung bem&auml;chtigen wollen. Hinter ihnen stehen ob die "Nationalen" es gewahr werden oder nicht - die Parlaments- und Finanzreformer, die Leute der Manchesterschule, die sie vorw&auml;rtstreiben und sie als Vorhut ben&uuml;tzen.</P>
<P>Eines aber geht nur zu klar hervor aus all diesen elenden Kompromissen und diesem Abgleiten von der festen Position, aus all diesem Suchen nach schw&auml;chlich opportunen Man&ouml;vern, diesen Schwankungen und Quacksalbereien: Katilina steht vor den Toren der Stadt, ein entscheidender Kampf bereitet sich vor; die Opposition wei&szlig;, wie unpopul&auml;r sie ist und wie wenig Widerstand sie aufbringt, so da&szlig; alle Versuche, neue Verteidigungszentren zu schaffen, nur in einem Punkte &uuml;bereinstimmen: in der "Politik des Zur&uuml;ck- <A NAME="S390"><B>&lt;390&gt;</A></B> weichens". Die "Nationalpartei" zieht sich von der Charte auf das allgemeine Wahlrecht zur&uuml;ck, Joe Hume vom allgemeinen Wahlrecht auf die geheime Abstimmung, ein dritter von der geheimen Abstimmung auf die gerechtere Wahlkreiseinteilung und so fort, bis wir endlich bei Johnny Russell anlangen, der keinen anderen Kampfruf auszugeben vermag als den blo&szlig;en Namen der Demokratie. In Lord J. Russells Demokratie m&uuml;&szlig;ten eigentlich die "Nationalpartei", die Humesche "Volkspartei" und alle andern Scheinparteien kulminieren, wenn sie auch nur eine Spur von Lebensf&auml;higkeit in sich h&auml;tten.</P>
<P>Einerseits die politische Schlaffheit und Gleichg&uuml;ltigkeit als Folge einer Periode der materiellen Prosperit&auml;t, andererseits die &Uuml;berzeugung, da&szlig; die Tories Unheil im Schilde f&uuml;hren; einerseits die sichere Erwartung der Bourgeoisf&uuml;hrer, da&szlig; sie bald der Unterst&uuml;tzung des Volkes bed&uuml;rfen werden, dabei andererseits die Erfahrung, die einige der popul&auml;ren F&uuml;hrer lehrt, da&szlig; das Volk zu indolent ist, um im Augenblick seine eigene Bewegung selbst zu schaffen - alle diese Umst&auml;nde erzeugen das Ph&auml;nomen, da&szlig; die Parteien gegenseitige Ann&auml;herungsversuche machen und die verschiedenen nicht im Parlament vertretenen Gruppierungen der Opposition bestrebt sind, sich zusammenzutun, indem sie sich gegenseitig, von der radikalsten Fraktion bis zur wenigst radikalen, Konzessionen machen und schlie&szlig;lich wieder bei dem anlangen, was Lord J. Russell Demokratie zu nennen beliebt.</P>
<P>Zu den Versuchen, eine "Nationalpartei", wie sie sich selbst tituliert, zu gr&uuml;nden, bemerkt Ernest Jones ganz richtig:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Die Volles-Charte ist die umfassendste politische Reformbestrebung, die es gibt, und die Chartisten sind die einzige wahrhaft nationale, f&uuml;r politische und soziale Reformen eintretende Partei in Gro&szlig;britannien."</P>
</FONT><P>Und R. G. Gammage, eines der Mitglieder der Chartistenexekutive, wendet sich mit folgenden Worten an das Volk:</P>
<FONT SIZE=2><P>"W&uuml;rdet ihr denn die Mitarbeit der Bourgeoisie zur&uuml;ckweisen? Sicher nicht, wenn diese Mitarbeit euch unter anst&auml;ndigen, ehrenhaften Bedingungen angeboten wird. Was sind nun diese Bedingungen? Sie sind klar und einfach. Die Charte annehmen und, sobald sie angenommen ist, sich mit ihren Freunden vereinigen, die sich schon organisiert haben, um sie zu verwirklichen. Weigert ihr euch, das zu tun, so seid ihr entweder Gegner der Charte selbst, oder ihr pocht auf eure Klassen&uuml;berlegenheit und bildet euch ein, da&szlig; diese &Uuml;berlegenheit euch zur F&uuml;hrung berechtigt. Im ersteren Fall kann sich kein ehrlicher Chartist mit euch verbinden; im zweiten Fall sollte kein Arbeiter so weit die Achtung vor sich selbst verlieren, da&szlig; er sich eurem Klassen- <A NAME="S391"><B>&lt;391&gt;</A></B> vourteil beugt. Die Arbeiter sollen allein ihrer eigenen Macht vertrauen, dabei aber ehrliche Hilfe annehmen, von wem sie auch stamme; sie sollen aber immer so handeln, als ob ihr Ziel nur von ihren eignen Bem&uuml;hungen abhinge!"</P>
</FONT><P>Auch die Masse der Chartisten ist im Augenblick von der materiellen Produktion vollst&auml;ndig in Anspruch genommen. Der Kern der Partei wird aber allerorten organisiert, und die Verbindungen in England wie auch in Schottland werden wiederhergestellt. Sollte es zu einer kommerziellen und politischen Krise kommen, so wird man die Bedeutung der jetzigen lautlosen T&auml;tigkeit in den Hauptzentren des Chartismus in ganz Gro&szlig;britannien sp&uuml;ren.</P>
<I><P ALIGN="RIGHT">Karl Marx</P></I></BODY>
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