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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Karl Marx - Eine historische Parallele</TITLE>
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<FONT SIZE=2><P>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unver&auml;nderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 284-286.</P>
</FONT><H2>Karl Marx</H2>
<H1>Eine historische Parallele</H1>
<FONT SIZE=2><P>Geschrieben um den 18. M&auml;rz 1859.<BR>
Aus dem Englischen.</P>
</FONT><P><HR></P>
<FONT SIZE=2><P>["New-York Daily Tribune" Nr. 5598 vom 31. M&auml;rz 1859, Leitartikel]</P>
</FONT><B><P><A NAME="S284">&lt;284&gt;</A></B> Als Louis-Napoleon, dem weniger gl&uuml;cklichen Marino Faliero von Venedig nacheifernd, durch Eidbruch und Verrat, durch mittern&auml;chtliche Verschw&ouml;rung und die Verhaftung der unbestechlichen Mitglieder der Nationalversammlung aus ihren Betten heraus, unterst&uuml;tzt von einem &uuml;berw&auml;ltigenden Truppenaufgebot in den Stra&szlig;en von Paris, sich des Thrones bem&auml;chtigte, da frohlockten die regierenden F&uuml;rsten und der Adel Europas, die gro&szlig;en Grundbesitzer, Fabrikanten, Rentiers und B&ouml;rsenspekulanten fast ausnahmslos &uuml;ber seinen Erfolg als ihren eigenen. "Die Gewalttaten gehen auf seine Rechnung", so lachten sie sich allgemein ins F&auml;ustchen, "aber die Fr&uuml;chte kommen uns zugute. Louis-Napoleon herrscht in den Tuilerien, w&auml;hrend wir noch sicherer und despotischer auf unseren L&auml;ndereien, in unseren Fabriken, an der B&ouml;rse und in unseren Kontoren herrschen. Nieder mit allem Sozialismus! Vive l'Empereur! &lt;Es lebe der Kaiser!&gt;"</P>
<P>Neben der milit&auml;rischen Gewalt lie&szlig; der vom Gl&uuml;ck beg&uuml;nstigte Usurpator all seine K&uuml;nste spielen, um die Reichen und M&auml;chtigen, die Gesch&auml;ftst&uuml;chtigen und Spekulanten unter seiner Fahne zu sammeln. "Das Kaiserreich ist der Friede", verk&uuml;ndete er, und die Million&auml;re erhoben ihn beinahe zum Gott. "Unser sehr lieber Sohn in Jesu Christo", nannte ihn der Papst &lt;Pius IX.&gt; liebevoll, und der r&ouml;misch-katholische Klerus huldigte ihm (pro tempore) mit allen Zeichen des Vertrauens und der Ergebenheit. Die Aktien stiegen, Banken des Cr&eacute;dit mobilier schossen wie Pilze aus der Erde und florierten; mit einem Federstrich wurden durch neue Eisenbahnen, neuen Sklavenhandel und neue Spekulationen aller Art Millionengewinne gemacht. Die britische Aristokratie kehrte der Vergangenheit den R&uuml;cken, zog den Hut und entbot dem neuen Bonaparte ihren Gru&szlig;. Dieser stattete K&ouml;nigin Victoria einen Familienbesuch ab und wurde von der Londoner City gefeiert. Die eng- <A NAME="S285"><B>&lt;285&gt;</A></B> lische B&ouml;rse trank der franz&ouml;sischen zu, die Apostel der B&ouml;rsenspekulation begl&uuml;ckw&uuml;nschten sich und sch&uuml;ttelten sich die H&auml;nde, und man war davon &uuml;berzeugt, da&szlig; das Goldene Kalb endlich doch zum allm&auml;chtigen Gott erhoben war und da&szlig; sein Aaron der neue franz&ouml;sische Autokrat sei.</P>
<P>Sieben Jahre sind ins Land gegangen, und alles ist ver&auml;ndert Napoleon III. hat das Wort ausgesprochen, das nicht mehr ungesagt noch vergessen gemacht werden kann. Gleichg&uuml;ltig, ob er so blind in sein Verderben st&uuml;rzt wie es sein Vorg&auml;nger in Spanien und Ru&szlig;land tat, oder ob er durch das aufgebrachte, allgemeine Murren der F&uuml;rstlichkeiten und Bourgeoisien Europas dazu gezwungen wird, sich zeitweilig ihrem Willen zu beugen - der Zauber ist endg&uuml;ltig gebrochen. Sie wu&szlig;ten schon lange, da&szlig; er ein Halunke ist, aber sie haben ihn f&uuml;r einen n&uuml;tzlichen, f&uuml;gsamen, gehorsamen, dankbaren Halunken gehalten; doch jetzt sehen sie ihren Fehler ein und bereuen ihn. Die ganze Zeit &uuml;ber hat er sie ausgenutzt, w&auml;hrend sie ihn auszunutzen glaubten. Er liebt sie genauso wie er sein Essen oder seinen Wein liebt. Bisher haben sie ihm schon in gewisser Weise gedient, und nun m&uuml;ssen sie ihm auch in anderer Weise dienen oder seine Rache herausfordern. Wenn k&uuml;nftighin "das Kaiserreich der Friede ist", so ist es ein Friede am Mincio oder an der Donau - ein Friede, in dem seine Adler im Triumph am Po und an der Etsch, wenn nicht gar am Rhein und auch an der Elbe prunken; es ist ein Friede mit der eisernen Krone auf dem kaiserlichen Haupt, mit Italien als einer franz&ouml;sischen Satrapie und mit Gro&szlig;britannien, Preu&szlig;en und &Ouml;sterreich als blo&szlig;en Satelliten, die um das Zentralgestirn Frankreich, das Reich Karls des Gro&szlig;en, kreisen und von ihm ihr Licht empfangen,</P>
<P>Nat&uuml;rlich wird in den k&ouml;niglichen Pal&auml;sten mit den Z&auml;hnen geknirscht, aber nicht weniger in den H&auml;usern der Bankiers und der Handelsf&uuml;rsten. Denn das Jahr 1859 begann unter g&uuml;nstigen Anzeichen, die eine Restauration der goldenen Tage von 1836 und 1856 erwarten lie&szlig;en. Die langanhaltende Stagnation der Industrie hatte die Vorr&auml;te an Metallen, Waren und Fabrikaten ersch&ouml;pft. Die zahlreichen Bankrotte hatten die Atmosph&auml;re des Handels merklich gereinigt. Schiffe bekamen wieder einen Marktwert, Lagerh&auml;user sollten wieder gebaut und gef&uuml;llt werden. Aktien stiegen, und die Million&auml;re waren in ausgezeichneter Stimmung, kurz, nie hatte es gl&auml;nzendere Handelsaussichten, nie einen so heiteren, gl&uuml;ckverk&uuml;ndenden Himmel gegeben.</P>
<P>Und all das wird durch ein Wort ver&auml;ndert, und dieses Wort wird gesprochen vom Helden des coup d'&eacute;tat - dem Erkorenen des Dezembers - dem Retter der Gesellschaft. Es wird mutwillig, unverfroren, mit klarem Vorbedacht gegen&uuml;ber Herrn H&uuml;bner, dem &ouml;sterreichischen Gesandten, ge&auml;u&szlig;ert und deutet unverkennbar auf das beschlossene Vorhaben hin, mit Franz Joseph <A NAME="S286"><B>&lt;286&gt;</A></B> Streit zu suchen oder ihn durch Einsch&uuml;chterung verh&auml;ngnisvoller zu dem&uuml;tigen, als es drei verlorene Schlachten verm&ouml;chten. Obwohl offenbar dazu bestimmt, eine unmittelbare Wirkung an der B&ouml;rse im Interesse spekulativer B&ouml;rsengesch&auml;fte auszul&ouml;sen, verriet es den festen Vorsatz, die Landkarte Europas neu zu gestalten. &Ouml;sterreich m&uuml;sse sich aus all jenen nominell unabh&auml;ngigen italienischen Staaten zur&uuml;ckziehen, die es jetzt, kraft der Vertr&auml;ge mit ihren gef&uuml;gigen Herrschern, praktisch besetzt h&auml;lt, oder Frankreich und Sardinien w&uuml;rden Mailand besetzen und Mantua mit solch einer Armee bedrohen, wie sie General Bonaparte niemals in Italien befehligt hatte. Der Papst m&uuml;sse die Mi&szlig;br&auml;uche der klerikalen Herrschaft in seinen Staaten beseitigen - Mi&szlig;br&auml;uche, die bisher von franz&ouml;sischen Waffen verteidigt wurden - oder es den kleinen Despoten von Toskana, Parma, Modena usw. in ihrem &uuml;berst&uuml;rzten Wettrennen, Schutz in Wien zu finden, gleichtun. Die Rothschilds st&ouml;hnen &uuml;ber den Verlust ihrer elf Millionen Dollar, den sie durch die infolge der Drohung gegen&uuml;ber H&uuml;bner eingetretene Entwertung von Aktien erlitten, und sind absolut untr&ouml;stlich. Die Fabrikanten und H&auml;ndler erkennen voller Trauer, da&szlig; die erhoffte Ernte von 1859 wahrscheinlich einer "Todesernte" Platz machen wird. &Uuml;berall beklemmen Bef&uuml;rchtungen, Unzufriedenheit und Unwille die Herzen derer, auf denen der Thron des Dezembermannes noch vor wenigen Monaten so sicher ruhte.</P>
<P>Und das gest&uuml;rzte, zerbrochene G&ouml;tzenbild kann nie wieder auf sein Postament gesetzt werden. Louis-Napoleon kann vor dem Sturm, den er entfacht hat, zwar zur&uuml;ckweichen und wieder den Segen des Papstes und die Schmeicheleien der britischen K&ouml;nigin entgegennehmen, aber beides werden nur Lippenbekenntnisse sein. Jetzt erkennen auch sie, was die V&ouml;lker schon lange wissen: Er ist ein gewissenloser Spieler, ein verwegener Abenteurer, der ebenso gut mit k&ouml;niglichen Gebeinen wie mit allen anderen bei dem Spiel w&uuml;rfeln w&uuml;rde, da&szlig; ihm Gewinn verspricht. Sie wissen, da&szlig; er, nachdem er wie Macbeth durch Menschenblut zur Krone watete, es leichter findet, auf diesem Wege fortzuschreiten, als zu Frieden und Redlichkeit zur&uuml;ckzukehren. Von der Stunde an, zu der er &Ouml;sterreich herausforderte, haben sich die Potentaten von Louis Napoleon zur&uuml;ckgezogen. Der junge Kaiser von Ru&szlig;land mag seine Gr&uuml;nde daf&uuml;r haben, noch immer als sein Freund zu erscheinen, aber dieser Schein tr&uuml;gt. Der Napoleon I. von 1813 war der Prototyp f&uuml;r Napoleon III von 1859. Und dieser wird sich wahrscheinlich ebenso tief in sein Verh&auml;ngnis st&uuml;rzen wie jener.</P>
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