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<TITLE>Rosa Luxemburg - Sozialreform oder Revolution?</TITLE>
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<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle><A HREF="../index.shtml.html"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle><A HREF="default.htm"><SMALL>Rosa Luxemburg</SMALL></A></TD>
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</TR>
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<H2>Rosa Luxemburg</H2>
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<H1> Sozialreform oder Revolution?</H1>
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<p>Berlin 1899</p>
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<p>Inhalt:</p>
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<p><a href="lue.htm#Vorwort">Vorwort </a></p>
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<p><B>Erster Teil </B></p>
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<p><a href="lue.htm#1_1">1. Die opportunistische Methode</a><BR>
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<a href="lue.htm#1_2">2. Anpassung des
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Kapitalismus</a><BR>
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<a href="lue.htm#1_3">3.
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Einführung des Sozialismus durch soziale Reformen</a><BR>
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<a href="lue.htm#1_4">4. Zollpolitik und Militarismus</a><BR>
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<a href="lue.htm#1_5">5. Praktische Konsequenzen und allgemeiner Charakter des Revisionismus</a></p>
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<p><B>Zweiter Teil</B></p>
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<p><a href="lue.htm#2_1">1. Die ökonomische
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Entwicklung und der Sozialismus</a><BR>
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<a href="lue.htm#2_2">2. Gewerkschaften, Genossenschaften und politische Demokratie</a><BR>
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<a href="lue.htm#2_3">3. Die Eroberung der
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politischen Macht</a><BR>
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<a href="lue.htm#2_4">4. Der Zusammenbruch</a><BR>
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<a href="lue.htm#2_5">5. Der Opportunismus in Theorie
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und Praxis </a></p>
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<H3 align="center"><A name="Vorwort">Vorwort</A></H3>
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<p>Der Titel der vorliegenden Schrift kann auf den ersten Blick überraschen. Sozialreform
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oder Revolution? Kann denn die Sozialdemokratie gegen die Sozialreform sein? Oder kann sie
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die soziale Revolution, die Umwälzung der bestehenden Ordnung, die ihr Endziel bildet,
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der Sozialreform entgegenstellen? Allerdings nicht. Für die Sozialdemokratie bildet der
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alltägliche praktische Kampf um soziale Reformen, um die Besserung der Lage des
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arbeitenden Volkes noch auf dem Boden des Bestehenden, um die demokratischen Einrichtungen
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vielmehr den einzigen Weg, den proletarischen Klassenkampf zu leiten und auf das Endziel,
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auf die Ergreifung der politischen Macht und Aufhebung des Lohnsystems hinzuarbeiten. Für
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die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein
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unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die
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soziale Umwälzung aber der Zweck ist.</p>
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<p>Eine Entgegenstellung dieser beiden Momente der Arbeiterbewegung finden wir erst in der
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Theorie von Ed. Bernstein, wie er sie in seinen Aufsätzen: »Probleme des
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Sozialismus«, in der 'Neuen Zeit' 1897/98 und namentlich in seinem Buche: »Voraussetzungen des Sozialismus« dargelegt hat. Diese ganze Theorie läuft
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praktisch auf nichts anderes als auf den Rat hinaus, die soziale Umwälzung, das Endziel
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der Sozialdemokratie, aufzugeben und die Sozialreform umgekehrt aus einem Mittel des
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Klassenkampfes zu seinem Zwecke zu machen. Bernstein selbst hat am treffendsten und am
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schärfsten seine Ansichten formuliert, indem er schrieb: »Das Endziel, was es immer sei,
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ist mir Nichts, die Bewegung Alles«.</p>
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<p>Da aber das sozialistische Endziel das einzige entscheidende Moment ist, das die
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sozialdemokratische Bewegung von der bürgerlichen Demokratie und dem bürgerlichen
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Radikalismus unterscheidet, das die ganze Arbeiterbewegung aus einer müßigen Flickarbeit
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zur Rettung der kapitalistischen Ordnung in einen Klassenkampf gegen diese Ordnung, um die
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Aufhebung dieser Ordnung verwandelt, so ist die Frage »Sozialreform oder
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Revolution?« im Bernsteinschen Sinne für die Sozialdemokratie zugleich die Frage:
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Sein oder Nichtsein? In der Auseinandersetzung mit Bernstein und seinen Anhängern,
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darüber muß sich jedermann in der Partei klar werden, handelt es sich nicht um diese
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oder jene Kampfweise, nicht um diese oder jene Taktik, sondern um die ganze Existenz der
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sozialdemokratischen Bewegung.</p>
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<p>(Bei flüchtiger Betrachtung der Bernsteinschen Theorie kann dies als eine
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Übertreibung erscheinen. Spricht denn Bernstein nicht auf Schritt und Tritt von der
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Sozialdemokratie und ihren Zielen, wiederholt er nicht selbst mehrmals und ausdrücklich,
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daß auch er das sozialistische Endziel, nur in einer anderen Form, anstrebe, betont er
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nicht mit Nachdruck, daß er die heutige Praxis der Sozialdemokratie fast gänzlich
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anerkenne? Freilich ist das alles wahr. Ebenso wahr ist es aber, daß seit jeher in der
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Entwicklung der Theorie und in der Politik jede neue Richtung in ihren Anfängen an die
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alte, auch wenn sie im inneren Kern zu ihr in direktem Gegensatz steht, sich anlehnt, daß
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sie sich zuerst den Formen anpaßt, die sie vorfindet, die Sprache spricht, die vor ihr
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gesprochen wurde. Mit der Zeit erst tritt der neue Kern aus der alten Hülle hervor, und
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die neue Richtung findet eigene Formen, eigene Sprache.</p>
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<p>Von einer Opposition gegen den wissenschaftlichen Sozialismus erwarten, daß sie von
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Anfang an ihr inneres Wesen selbst klar und deutlich bis zur letzten Konsequenz
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ausspricht, daß sie die theoretische Grundlage der Sozialdemokratie offen und schroff
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ableugnet, hieße die Macht des wissenschaftlichen Sozialismus unterschätzen. Wer heute
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als Sozialist gelten, zugleich aber der Marxschen Lehre, dem riesenhaftesten Produkte des
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menschlichen Geistes in diesem Jahrhundert, den Krieg erklären will, muß mit einer
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unbewußten Huldigung an sie beginnen, indem er sich vor allem selbst zum Anhänger dieser
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Lehre bekennt und in ihr selbst Stützpunkte für ihre Bekämpfung sucht, die letztere
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bloß als ihre Fortentwicklung hinstellt. Unbeirrt durch diese äußeren Formen muß man
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deshalb den in der Bernsteinschen Theorie steckenden Kern herausschälen, und dies ist
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gerade eine dringende Notwendigkeit für die breiten Schichten der industriellen
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Proletarier in unserer Partei.</p>
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<p>Es kann keine gröbere Beleidigung, keine ärgere Schmähung gegen die Arbeiterschaft
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ausgesprochen werden, als die Behauptung: theoretische Auseinandersetzungen seien
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lediglich Sache der »Akademiker«. Schon Lassalle hat einst gesagt: Erst, wenn
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Wissenschaft und Arbeiter, diese entgegengesetzten Pole der Gesellschaft, sich vereinigen,
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werden sie alle Kulturhindernisse in ihren ehernen Armen erdrücken. Die ganze Macht der
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modernen Arbeiterbewegung beruht auf der theoretischen Erkenntnis.)A</p>
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<p>Doppelt wichtig ist aber diese Erkenntnis für die Arbeiter im gegebenen Falle, weil es
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sich hier gerade um sie und ihren Einfluß in der Bewegung handelt, weil es ihre eigene
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Haut ist, die hier zu Markte getragen wird. Die durch Bernstein theoretisch formulierte
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opportunistische Strömung in der Partei ist nichts anderes, als eine unbewußte
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Bestrebung, den zur Partei herübergekommenen kleinbürgerlichen Elementen die Oberhand zu
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sichern, in ihrem Geiste die Praxis und die Ziele der Partei umzumodeln. Die Frage von der
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Sozialreform und der Revolution, vom Endziel und der Bewegung ist von anderer Seite die
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Frage vom kleinbürgerlichen oder proletarischen Charakter der Arbeiterbewegung.</p>
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<p>(Deshalb liegt es gerade im Interesse der proletarischen Masse der Partei, sich mit der
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gegenwärtigen theoretischen Auseinandersetzung mit dem Opportunismus aufs lebhafteste und
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aufs eingehendste zu befassen. Solange die theoretische Erkenntnis bloß das Privilegium
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einer Handvoll »Akademiker« in der Partei bleibt, droht ihr immer die Gefahr,
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auf Abwege zu geraten. Erst wenn die große Arbeitermasse selbst die scharfe zuverlässige
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Waffe des wissenschaftlichen Sozialismus in die Hand genommen hat, dann werden alle
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kleinbürgerlichen Anwandlungen, alle opportunistischen Strömungen im Sande verlaufen.
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Dann ist auch die Bewegung auf sicheren, festen Boden gestellt. »Die Menge tut es.«)A
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Berlin, 18. April 1899 - Rosa Luxemburg</p>
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<p>Von der Schrift »Sozialreform oder Revolution?« liegen zwei verschiedene
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Ausgaben vor, die von der Verfasserin selbst bearbeitet wurden, eine aus dem Jahre 1900,
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die andere aus dem Jahre 1908. Sie weichen in Einzelheiten voneinander ab. Hauptsächlich
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handelt es sich dabei um zwei Dinge. In der zweiten Auflage wurden verschiedene
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Änderungen vorgenommen, die sich aus neuen praktischen Erfahrungen ergaben, so z.B. in
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der Frage der Wirtschaftskrise. Ausgelassen wurden in der zweiten Auflage alle die
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Stellen, in denen der Ausschluß der Reformisten gefordert oder auf ihn angespielt wurde.
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Als Rosa Luxemburg ein Jahrzehnt nach Beginn der Bernsteindebatte und nach der Eroberung
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wichtigster Parteipositionen durch die Opportunisten die Broschüre wieder herausgab,
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hatte die Auschlußforderung jeden Sinn verloren. </p>
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<p>Hier ist die 1. Auflage zugrunde gelegt. Die späteren Auslassungen sind durch Klammern
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( ) angedeutet. Die Ergänzungen der 2. Auflage sind in Anmerkungen beigefügt.
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Stilistische Verbesserungen und kleine Überarbeitungen wurden aus der zweiten Auflage
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ohne weiteres übernommen. </p>
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<H3 align="center"><A name="1_1"><B>Erster Teil</B></A><BR>
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1. Die opportunistische Methode</H3>
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<p>Wenn Theorien Spiegelbilder der Erscheinungen der Außenwelt im menschlichen Hirn sind,
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so muß man angesichts der Theorie von Eduard Bernstein hinzufügen - manchmal auf den
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Kopf gestellte Spiegelbilder. Eine Theorie von der Einführung des Sozialismus durch
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Sozialreformen - nach dem endgültigen Einschlafen der deutschen Sozialreform, von der
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Kontrolle der Gewerkschaften über den Produktionsprozeß - nach der Niederlage der
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englischen Maschinenbauer, von der sozialdemokratischen Parlamentsmehrheit - nach der
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sächsischen Verfassungsrevision und den Attentaten auf das allgemeine
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Reichstagswahlrecht! Allein der Schwerpunkt der Bernsteinschen Ausführungen liegt unseres
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Erachtens nicht in seinen Ansichten über die praktischen Aufgaben der Sozialdemokratie,
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sondern in dem, was er über den Gang der objektiven Entwicklung der kapitalistischen
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Gesellschaft sagt, womit jene Ansichten freilich im engsten Zusammenhange stehen.</p>
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<p>Nach Bernstein wird ein allgemeiner Zusammenbruch des Kapitalismus mit dessen
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Entwicklung immer unwahrscheinlicher, weil das kapitalistische System einerseits immer
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mehr Anpassungsfähigkeit zeigt, andererseits die Produktion sich immer mehr
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differenziert. Die Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus äußert sich nach Bernstein
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erstens in dem Verschwinden der allgemeinen Krisen, dank der Entwicklung des
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Kreditsystems, der Unternehmerorganisationen und des Verkehrs sowie des
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Nachrichtendienstes, zweitens in der Zähigkeit des Mittelstandes infolge der beständigen
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Differenzierung der Produktionszweige sowie der Hebung großer Schichten des Proletariats
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in den Mittelstand, drittens endlich in der ökonomischen und politischen Hebung der Lage
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des Proletariats infolge des Gewerkschaftskampfes.</p>
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<p>Für den praktischen Kampf der Sozialdemokratie ergibt sich daraus die allgemeine
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Weisung, daß sie ihre Tätigkeit nicht auf die Besitzergreifung der politischen
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Staatsmacht, sondern auf die Hebung der Lage der Arbeiterklasse und auf die Einführung
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des Sozialismus, nicht durch eine soziale und politische Krise, sondern durch eine
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schrittweise Erweiterung der gesellschaftlichen Kontrolle und eine stufenweise
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Durchführung des Genossenschaftlichkeitsprinzips zu richten habe.</p>
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<p>Bernstein selbst sieht in seinen Ausführungen nichts Neues, er meint vielmehr, daß
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sie ebenso mit einzelnen Äußerungen von Marx und Engels, wie mit der allgemeinen
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bisherigen Richtung der Sozialdemokratie übereinstimmen. Es läßt sich indes unseres
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Erachtens schwerlich leugnen, daß die Auffassung Bernsteins tatsächlich mit dem
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Gedankengang des wissenschaftlichen Sozialismus in grundsätzlichem Widerspruche steht.</p>
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<p>Würde sich die ganze Bernsteinsche Revision dahin zusammenfassen, daß der Gang der
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kapitalistischen Entwicklung ein viel langsamerer ist, als man anzunehmen sich gewöhnt
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hat, so bedeutete dies in der Tat bloß eine Aufschiebung der bis jetzt angenommenen
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politischen Machtergreifung seitens des Proletariats, woraus praktisch höchstens etwa ein
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ruhigeres Tempo des Kampfes gefolgert werden könnte.</p>
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<p>Dies ist aber nicht der Fall. Was Bernstein in Frage gestellt hat, ist nicht die
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Rapidität der Entwicklung, sondern der Entwicklungsgang selbst der kapitalistischen
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Gesellschaft und im Zusammenhang damit der Übergang zur sozialistischen Ordnung.</p>
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<p>Wenn die bisherige sozialistische Theorie annahm, der Ausgangspunkt der sozialistischen
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Umwälzung würde eine allgemeine und vernichtende Krise sein, so muß man, unseres
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Erachtens, dabei zweierlei unterscheiden: den darin verborgenen Grundgedanken und dessen
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äußere Form.</p>
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<p>Der Gedanke besteht in der Annahme, die kapitalistische Ordnung würde von sich aus,
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kraft eigener Widersprüche den Moment zeitigen, wo sie aus den Fugen geht, wo sie einfach
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unmöglich wird. Daß man sich diesen Moment in der Form einer allgemeinen und
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erschütternden Handelskrise dachte, hatte gewiß seine guten Gründe, bleibt aber
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nichtsdestoweniger für den Grundgedanken unwesentlich und nebensächlich.</p>
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<p>Die wissenschaftliche Begründung des Sozialismus stützt sich nämlich bekanntermaßen
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auf drei Ergebnisse der kapitalistischen EntwickIung: vor allem auf die wachsende Anarchie
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der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zu unvermeidlichem Ergebnis macht,
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zweitens auf die fortschreitende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, die die
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positiven Ansätze der künftigen sozialen Ordnung schafft, und drittens auf die wachsende
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Organisation und Klassenerkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der
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bevorstehenden Umwälzung bildet.</p>
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<p>Es ist der erste der genannten Grundpfeiler des wissenschaftlchen Sozialismus, den
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Bernstein beseitigt. Er behauptet nämlich, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht
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einem allgemeinen wirtschaftlichen Krach entgegen.</p>
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<p>Er verwirft aber damit nicht bloß die bestimmte Form des kapitalistischen Untergangs,
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sondern diesen Untergang selbst. Er sagt ausdrücklich: »Es könnte nun erwidert werden,
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daß, wenn man von dem Zusammenbruch der gegenwärtigen Gesellschaft spricht, man dabei
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mehr im Auge hat, als eine verallgemeinerte und gegen früher verstärkte
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Geschäftskrisis, nämlich einen totalen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems an
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seinen eigenen Widersprüchen.« Und darauf antwortet er: »Ein annähernd gleichzeitiger
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völliger Zusammenbruch des gegenwärtigen Produktionssysems wird mit der fortschreitenden
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Entwicklung der Geselllschaft nicht wahrscheinlicher, sondern unwahrscheinlicher, weil
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dieselbe auf der einen Seite die Anpassungsfähigkeit, auf der anderen - bzw. zugleich
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damit - die Differenzierung der Industrie steigert.«1</p>
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<p>Dann entsteht aber die große Frage: Warum und wie gelangen wir überhaupt noch zum
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Endziel unserer Bestrebungen? Vom Standpunkte des wissenschaftlichen Sozialismus äußert
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sich die historische Notwendigkeit der sozialistischen Umwälzung vor allem in der
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wachsenden Anarchie des kapitalistischen Systems, die es auch in eine ausweglose Sackgasse
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drängt. Nimmt man jedoch mit Bernstein an, die kapitalistische Entwicklung gehe nicht in
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der Richtung zum eigenen Untergang, dann hört der Sozialismus auf, objektiv notwendig zu
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sein. Von den Grundsteinen seiner wissenschaftlichen Begründung bleiben dann nur noch die
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beiden anderen Ergebnisse der kapitalistischen Ordnung: der vergesellschaftete
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Produktionsprozeß und das Klassenbewußtsein des Proletariats. Dies hat auch Bernstein im
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Auge, als er sagt: »Die sozialistische Gedankenwelt verliert (mit der Beseitigung der
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Zusammenbruchstheorie) durchaus nichts an überzeugender Kraft. Denn genauer zugesehen,
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was sind denn alle die von uns aufgezählten Faktoren der Beseitigung oder Modifizierung
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der alten Krisen? Alles Dinge, die gleichzeitig Voraussetzungen und zum Teil sogar
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Ansätze der Vergesellschaftung von Produktion und Austausch darstellen.«2</p>
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<p>Indes genügt eine kurze Betrachtung, um auch dies als einen Trugschluß zu erweisen.
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Worin besteht die Bedeutung der von Bernstein als kapitalistisches Anpassungsmittel
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bezeichneten Erscheinungen: der Kartelle, des Kredits, der vervollkommneten
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Verkehrsmittel, der Hebung der Arbeiterklasse usw. Offenbar darin, daß sie die inneren
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Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft beseitigen oder wenigstens abstumpfen, ihre
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Entfaltung und Verschärfung verhindern. So bedeutet die Beseitigung der Krisen die
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Aufhebung des Widerspruchs zwischen Produktion und Austausch auf kapitalistischer Basis,
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so bedeutet die Hebung der Lage der Arbeiterklasse teils als solcher, teils in den
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Mittelstand, die Abstumpfung des Widerspruchs zwischen Kapital und Arbeit. Indem somit die
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Kartelle, das Kreditwesen, die Gewerkschaften usw. die kapitalistischen Widersprüche
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aufheben, also das kapitalistische System vom Untergang retten, den Kapitalismus
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konservieren - deshalb nennt sie ja Bernstein »Anpassungsmittel« - wie können sie zu
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gleicher Zeit ebensoviele »Voraussetzungen und zum Teil sogar Ansätze« zum Sozialismus
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darstellen? Offenbar nur in dem Sinne, daß sie den gesellschaftlichen Charakter der
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Produktion stärker zum Ausdruck bringen. Aber indem sie ihn in seiner kapitalistischen
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Form konservieren, machen sie umgekehrt den Übergang dieser vergesellschafteten
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Produktion in die sozialistische Form in demselben Maße überflüssig. Sie können daher
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Ansätze und Voraussetzungen der sozialistischen Ordnung bloß in begrifflichem und nicht
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in historischem Sinne darstellen, d.h. Erscheinungen, von denen wir auf Grund unserer
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Vorstellung vom Sozialismus wissen, daß sie mit ihm verwandt sind, die aber tatsächlich
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die sozialistische Umwälzung nicht nur nicht herbeiführen, sondern sie vielmehr
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überflüssig machen. Bleibt dann als Begründung des Sozialismus bloß das
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Klassenbewußtsein des Proletariats. Aber auch dieses ist gegebenenfalls nicht der
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einfache geistige Widerschein der sich immer mehr zuspitzenden Widersprüche des
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Kapitalismus und seines bevorstehenden Untergangs - dieser ist ja verhütet durch die
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Anpassungsrnittel - sondern ein bloßes Ideal, dessen Überzeugungskraft auf seinen
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eigenen ihm zugedachten Vollkommenheiten beruht.</p>
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<p>Mit einem Wort, was wir auf diesem Wege erhalten, ist eine Begründung des
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sozialistischen Programms durch »reine Erkenntnis«, das heißt, einfach gesagt, eine
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idealistische Begründung, während die objektive Notwendigkeit, das heißt die
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Begründung durch den Gang der materiellen gesellschaftlichen Entwicklung, dahinfällt.
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Die revisionistische Theorie steht vor einem Entweder-Oder. Entweder folgt die
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sozialistische Umgestaltung nach wie vor aus den inneren Widersprüchen der
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kapitalistischen Ordnung, dann entwickeln sich mit dieser Ordnung auch ihre Widersprüche
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und ein Zusammenbruch in dieser oder jener Form ist in irgendeinem Zeitpunkt das
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unvermeidliche Ergebnis, dann sind aber auch die »Anpassungsmittel« unwirksam, und die
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Zusammenbruchstheorie richtig. Oder die »Anpassungsmittel« sind wirklich imstande, einem
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Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorzubeugen, also den Kapitalisrnus
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existenzfähig zu machen, also seine Widersprüche aufzuheben, dann hört aber der
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Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man
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will, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft. Dieses Dilemma
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läuft auf ein anderes hinaus: entweder hat der Revisionismus in Bezug auf den Gang der
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kapitalistischen Entwicklung recht, dann verwandelt sich die sozialistische Umgestaltung
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der Gesellschaft in eine Utopie, oder der Sozialismus ist keine Utopie, dann muß aber die
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Theorie der »Anpassungsmittel« nicht stichhaltig sein. That is the question, das ist die
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Frage.</p>
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<H3 align="center"><a name="1_2">2. Anpassung des Kapitalismus</a></H3>
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<p>Die wichtigsten Mittel, die nach Bernstein die Anpassung der kapitalistischen
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Wirtschaft herbeiführen, sind das Kreditwesen, die verbesserten Verkehrsmittel und die
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Unternehmerorganisationen.</p>
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<p>Um beim Kredit anzufangen, so hat er in der kapitalistischen Wirtschaft mannigfaltige
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Funktionen, seine wichtigste besteht aber bekanntlich in der Vergrößerung der
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Ausdehnungsfähigkeit der Produktion und in der Vermittlung und Erleichterung des
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Austausches. Da, wo die innere Tendenz der kapitalistischen Produktion zur grenzenlosen
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Ausdehnung auf die Schranken des Privateigentums, den beschränkten Umfang des
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Privatkapitals stößt, da stellt sich der Kredit als das Mittel ein, in kapitalistischer
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Weise diese Schranken zu überwinden, viele Privatkapitale zu einem zu verschmelzen -
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Aktiengesellschaften - und einem Kapitalisten die Verfügung über fremdes Kapital zu
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gewähren - industrieller Kredit. Andererseits beschleunigt er als kommerzieller Kredit
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den Austausch der Waren, also den Rückfluß des Kapitals zur Produktion, also den ganzen
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Kreislauf des Produktionsprozesses. Die Wirkung, die diese beiden wichtigsten Funktionen
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des Kredits auf die Krisenbildung haben, ist leicht zu übersehen. Wenn die Krisen, wie
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bekannt, aus dem Widerspruch zwischen der Ausdehnungsfähigkeit, Ausdehnungstendenz der
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Produktion und der beschränkten Konsumtionsfähigkeit entstehen, so ist der Kredit nach
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dem obigen so recht das spezielle Mittel, diesen Widerspruch so oft als möglich zum
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Ausbruch zu bringen. Vor allem steigert er die Ausdehnungsfähigkeit der Produktion ins
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Ungeheure und bildet die innere Triebkraft, sie beständig über die Schranken des Marktes
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hinauszutreiben. Aber er schlägt auf zwei Seiten. Hat er einmal als Faktor des
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Produktionsprozesses die Überproduktion mit heraufbeschworen, so schlägt er während der
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Krise in seiner Eigenschaft als Vermittler des Warenaustausches die von ihm selbst
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wachgerufenen Produktivkräfte um so gründlicher zu Boden. Bei den ersten Anzeichen der
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Stockung schrumpft der Kredit zusammen, läßt den Austausch im Stich da, wo er notwendig
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wäre, erweist sich als wirkungs- und zwecklos da, wo er sich noch bietet, und verringert
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so während der Krise die Konsumtionsfähigkeit auf das Mindestmaß.</p>
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<p>Außer diesen beiden wichtigsten Ergebnissen wirkt der Kredit in bezug auf die
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Krisenbildung noch mannigfach. Er bietet nicht nur das technische Mittel, einem
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Kapitalisten die Verfügung über fremde Kapitale in die Hand zu geben, sondern bildet
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für ihn zugleich den Sporn zu einer kühnen und rücksichtslosen Verwendung des fremden
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Eigentums, also zu waghalsigen Spekulationen. Er verschärft nicht nur als heimtückisches
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Mittel des Warenaustausches die Krise, sondern erleichtert ihr Eintreten und ihre
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Verbreitung, indem er den ganzen Austausch in eine äußerst zusammengesetzte und
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künstliche Maschinerie mit einem Mindestmaß Metallgeld als reeller Grundlage verwandelt
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und so ihre Störung bei geringstem Anlaß herbeiführt.</p>
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<p>So ist der Kredit, weit entfernt, ein Mittel zur Beseitigung oder auch nur zur
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Linderung der Krisen zu sein, ganz im Gegenteil ein besonderer mächtiger Faktor der
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Krisenbildung. Und das ist auch gar nicht anders möglich. Die spezifische Funktion des
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Kredits ist - ganz allgemein ausgedrückt - doch nichts anderes, als den Rest von
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Standfestigkeit aus allen kapitalistischen Verhältnissen zu verbannen und überall die
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größtmögliche Elastizität hineinzubringen, alle kapitalistischen Kräfte in höchstem
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Maße dehnbar, relativ und empfindlich zu machen. Daß damit die Krisen, die nichts
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anderes als der periodische Zusammenstoß der einander widerstrebenden Kräfte der
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kapitalistischen Wirtschaft sind, nur erleichtert und verschärft werden können, liegt
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auf der Hand.</p>
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<p>Dies führt uns aber zugleich auf die andere Frage, wie der Kredit überhaupt als ein
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»Anpassungsmittel« des Kapitalismus erscheinen kann. In welcher Beziehung und in welcher
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Gestalt immer die »Anpassung« mit Hilfe des Kredits gedacht wird, ihr Wesen kann
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offenbar nur darin bestehen, daß irgendein gegensätzliches Verhältnis der
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kapitalistischen Wirtschaft ausgeglichen, irgendeiner ihrer Widersprüche aufgehoben oder
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abgestumpft und so den eingeklemmten Kräften auf irgendeinem Punkte freier Spielraum
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gewährt wird. Wenn es indes ein Mittel in der heutigen kapitalistischen Wirtschaft gibt,
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alle ihre Widersprüche aufs höchste zu steigern, so ist es gerade der Kredit. Er
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steigert den Widerspruch zwischen Produktionsweise und Austauschweise, indem er die
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Produktion aufs höchste anspannt, den Austausch aber bei geringstem Anlaß lahmlegt. Er
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steigert den Widerspruch zwischen Produktions- und Aneignungsweise, indem er die
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Produktion vom Eigentum trennt, indem er das Kapital in der Produktion in ein
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gesellschaftliches, einen Teil des Profits aber in die Form des Kapitalzinses, also in
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einen reinen Eigentumstitel verwandelt. Er steigert den Widerspruch zwischen den
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Eigentums- und Produktionsverhältnissen, indem er durch Enteignung vieler kleiner
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Kapitalisten in wenigen Händen ungeheuere Produktivkräfte vereinigt. Er steigert den
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Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und dem
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kapitalistischen Privateigentum, indem er die Einmischung des Staates in die Produktion
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(Aktiengesellschaft) notwendig macht.</p>
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<p>Mit einem Wort, der Kredit reproduziert alle kardinalen Widersprüche der
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kapitalistischen Welt, er treibt sie auf die Spitze, er beschleunigt den Gang, in dem sie
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ihrer eigenen Vernichtung - dem Zusammenbruch - entgegeneilt. Das erste Anpassungsmittel
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für den Kapitalismus in bezug auf den Kredit müßte also darin bestehen, den Kredit
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abzuschaffen, ihn rückgängig zu machen. So wie er ist, bildet er nicht ein Anpassungs-,
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sondern ein Vernichtungsmittel von höchst revolutionärer Wirkung. Hat doch eben dieser
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revolutionäre, über den Kapitalismus selbst hinausführende Charakter des Kredits sogar
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zu sozialistisch angehauchten Reformplänen verleitet, und große Vertreter des Kredits,
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wie den Isaac Péreire in Frankreich, wie Marx sagt, halb als Propheten, halb als Lumpen
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erscheinen lassen.</p>
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<p>Ebenso hinfällig erweist sich nach näherer Betrachtung das zweite
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»Anpassungsmittel« der kapitalistischen Produktion - die Unternehmerverbände. Nach
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Bernstein sollen sie durch die Regulierung der Produktion der Anarchie Einhalt tun und
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Krisen vorbeugen. Die Entwicklung der Kartelle und Trusts ist freilich eine in ihren
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vielseitigen ökonomischen Wirkungen noch nicht erforschte Erscheinung. Sie bildet erst
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ein Problem, das nur an der Hand der Marxschen Lehre gelöst werden kann. Allein, soviel
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ist auf jeden Fall klar: von einer Eindämmung der kapitalistischen Anarchie durch die
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Unternehmerkartelle könnte nur in dem Maße die Rede sein, als die Kartelle, Trusts usw.
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annähernd zu einer allgemeinen, herrschenden Produktionsform werden sollten. Allein
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gerade dies ist durch die Natur der Kartelle selbst ausgeschlossen. Der schließliche
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ökonomische Zweck und die Wirkung der Unternehmerverbände bestehen darin, durch den
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Ausschluß der Konkurrenz innerhalb einer Branche auf die Verteilung der auf dem
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Warenmarkt erzielten Profitmasse so einzuwirken, daß sie den Anteil dieses
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Industriezweiges an ihr steigern. Die Organisation kann in einem Industriezweig nur auf
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Kosten der anderen die Profitrate heben, und deshalb kann sie eben unmöglich allgemein
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werden. Ausgedehnt auf alle wichtigeren Produktionszweige hebt sie ihre Wirkung selbst
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auf.</p>
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<p>Aber auch in den Grenzen ihrer praktischen Anwendung wirken die Unternehmerverbände
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gerade entgegengesetzt der Beseitigung der industriellen Anarchie. Die bezeichnete
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Steigerung der Profitrate erzielen die Kartelle auf dem inneren Markte in der Regel
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dadurch, daß sie die zuschüssigen Kapitalportionen, die sie für den inneren Bedarf
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nicht verwenden können, für das Ausland mit einer viel niedrigeren Profitrate
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produzieren lassen, d.h. ihre Waren im Auslande viel billiger verkaufen als im eigenen
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Lande. Das Ergebnis ist die verschärfte Konkurrenz im Auslande, die vergrößerte
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Anarchie auf dem Weltmarkt, d. h. gerade das Umgekehrte von dem, was erzielt werden will.
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Ein Beispiel davon bietet die Geschichte der internationalen Zuckerindustrie.</p>
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<p>Endlich im ganzen als Erscheinungsform der kapitalistischen Produktionsweise dürfen
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die Unternehmerverbände wohl nur als ein Übergangsstadium, als eine bestimmte Phase der
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kapitalistischen Entwicklung aufgefaßt werden. In der Tat! In letzter Linie betrachtet,
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sind die Kartelle eigentlich ein Mittel der kapitalistischen Produktionsweise, den fatalen
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Fall der Profitrate in einzelnen Produktionszweigen aufzuhalten. Welches ist aber die
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Methode, der sich die Kartelle zu diesem Zwecke bedienen? Im Grunde genommen ist es nichts
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anderes als die Brachlegung eines Teils des akkumulierten Kapitals, d.h. dieselbe Methode,
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die in einer anderen Form, in den Krisen zur Anwendung kommt. Ein solches Heilmittel
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gleicht aber der Krankheit wie ein Ei dem anderen, und kann nur bis zu einem gewissen
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Zeitpunkt als das kleinere Übel gelten. Beginnt der Absatzmarkt sich zu verringern, indem
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der Weltmarkt bis aufs äußerste ausgebildet und durch die konkurrierenden
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kapitalistischen Länder erschöpft wird - und der frühere oder spätere Eintritt eines
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solchen Moments kann offenbar nicht geleugnet werden -, dann nimmt auch die erzwungene
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teilweise Brachlegung des Kapitals einen solchen Umfang an, daß die Arznei selbst in
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Krankheit umschlägt und das bereits durch die Organisation stark vergesellschaftete
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Kapital sich in privates rückverwandelt. Bei dem verringerten Vermögen, auf dem
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Absatzmarkt ein Plätzchen für sich zu finden, zieht jede private Kapitalportion vor, auf
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eigene Faust das Glück zu probieren. Die Organisationen müssen dann wie Seifenblasen
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platzen und wieder einer freien Konkurrenz, in potenzierter Form, Platz machen.</p>
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<p>Im ganzen erscheinen also auch die Kartelle, ebenso wie der Kredit, als bestimmte
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Entwicklungsphasen, die in letzter Linie die Anarchie der kapitalistischen Welt nur noch
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vergrößern und alle ihre inneren Widersprüche zum Ausdruck und zur Reife bringen. Sie
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verschärfen den Widerspruch zwischen der Produktionsweise und der Austauschweise, indem
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sie den Kampf zwischen den Produzenten und den Konsumenten auf die Spitze treiben, wie wir
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dies besonders in den Vereinigten Staaten Amerikas erleben. Sie verschärfen ferner den
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Widerspruch zwischen der Produktions- und der Aneignungsweise, indem sie der
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Arbeiterschaft die Übermacht des organisierten Kapitals in brutalster Form
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entgegenstellen und so den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit aufs äußerste steigern.</p>
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<p>Sie verschärfen endlich den Widerspruch zwischen dem internationalen Charakter der
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kapitalistischen Weltwirtschaft und dem nationalen Charakter des kapitalistischen Staates,
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indem sie zur Begleiterscheinung einen allgemeinen Zollkrieg haben und so die Gegensätze
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zwischen den einzelnen kapitalistischen Staaten auf die Spitze treiben. Dazu kommt die
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direkte, höchst revolutionäre Wirkung der Kartelle auf die Konzentration der Produktion,
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technische Vervollkommnung usw.</p>
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<p>So erscheinen die Kartelle und Trusts in ihrer endgültigen Wirkung auf die
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kapitalistische Wirtschaft nicht nur als kein »Anpassungsmittel«, das ihre Widersprüche
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verwischt, sondern geradezu als eines der Mittel, die sie selbst zur Vergrößerung der
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eigenen Anarchie, zur Austragung der in ihr enthaltenen Widersprüche, zur Beschleunigung
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des eigenen Unterganges geschaffen hat.</p>
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<p>Allein, wenn das Kreditwesen, die Kartelle und dergleichen die Anarchie der
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kapitalistischen Wirtschaft nicht beseitigen, wie kommt es, daß wir zwei Jahrzente lang -
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seit 1873 - keine allgemeine Handelskrise hatten? Ist das nicht ein Zeichen, daß sich die
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kapitalistische Produktionsweise wenigstens in der Hauptsache an die Bedürfnisse der
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Gesellschaft tatsächlich »angepaßt« hat und die von Marx gegebene Analyse überholt
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ist?</p>
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<p>(Wlr glauben, daß die jetzige Windstille auf dem Weltmarkt sich auf eine andere Weise
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erklären läßt.</p>
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<p>Man hat sich gewöhnt, die bisherigen großen periodischen Handelskrisen als die von
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Marx in seiner Analyse schematisierten Alterskrisen des Kapitalismus zu betrachten. Die
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ungefähr zehnjährige Periodizität des Produktionszyklus schien die beste Bestätigung
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dieses Schemas zu sein. Diese Auffassung beruht jedoch unseres Erachtens auf einem
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Mißverständnis. Faßt man näher ins Auge die jedesmaligen Ursachen aller bisherigen
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großen internationalen Krisen, so muß man zu der Überzeugung gelangen, daß sie
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sämtlich nicht der Ausdruck der Altersschwäche der kapitalistischen Wirtschaft, sondern
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vielmehr ihres Kindheitsalters waren. Schon eine kurze Besinnung genügt, um von
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vornherein darzutun, daß der Kapitalismus in den Jahren 1825, I836, I847 unmöglich jenen
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periodischen, aus voller Reife entspringenden unvermeidlichen Anprall der Produktivkräfte
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an die Marktschranken erzeugen konnte, wie es im Marxschen Schema aufgezeichnet ist, da er
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damals in den meisten Ländern erst in den Windeln lag.)</p>
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<p>In der Tat, die Krise von 1825 war ein Resultat der großen Anlagen bei Straßenbauten,
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Kanälen und Gaswerken, die in dem vorhergehenden Jahrzehnt, vorzüglich in England, wie
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auch die Krise selbst, stattgefunden haben. Die folgende Krise 1836-1839 war gleichfalls
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ein Ergebnis kolossaler Gründungen bei der Anlage neuer Transportmittel. Die Krise von
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1847 ist bekanntlich durch die fieberhaften englischen Eisenbahngründungen
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heraufbeschworen worden (1844-1847, d.h. in drei Jahren allein wurden vom Parlament neue
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Eisenbahnen für etwa 1½ Milliarden Taler konzessioniert!). In allen drei Fällen sind es
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also verschiedene Formen der Neukonstruierung der Wirtschaft des Kapitals, der Grundlegung
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neuer Fundamente unter die kapitalistische Entwicklung, die die Krisen im Gefolge hatten.
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Im Jahre 1857 sind es die plötzliche Eröffnung neuer Absatzmärkte für die europäische
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Industrie in Amerika und Australien infolge der Entdekkung von Goldminen, in Frankreich
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speziell die Eisenbahngründungen, in denen es in Englands Fußstapfen trat (1852-56
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wurden für 1¼ Milliarden Franken neue Eisenbahnen in Frankreich gegründet). Endlich die
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große Krise von 1873 ist bekanntlich eine direkte Folge der Neukonstituierung, des ersten
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Sturmlaufs der Großindustrie in Deutschland und in Österreich, die den politischen
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Ereignissen von 1866 und 1871 folgte.</p>
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<p>Es war also jedesmal die plötzliche Erweiterung des Gebiets der kapitalistischen
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Wirtschaft und nicht die Einengung ihres Spielraums, nicht ihre Erschöpfung, die bisher
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den Anlaß zu Handelskrisen gab. Daß jene internationalen Krisen sich gerade alle zehn
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Jahre wiederholten, ist an sich eine rein äußerliche, zufällige Erscheinung. Das
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Marxsche Schema der Krisenbildung, wie Engels es in dem Anti-Dühring und Marx im 1. und
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3. Band des »Kapital« gegeben haben, trifft auf alle Krisen insofern zu, als es
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ihren inneren Mechanismus und ihre tiefliegenden allgemeinen Ursachen aufdeckt.</p>
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<p>(ln seinem Ganzen paßt aber dieses Schema vielmehr auf eine vollkommen entwikkelte
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kapitalistische Wirtschaft, wo der Weltmarkt als etwas bereits Gegebenes vorausgesetzt
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wird. Nur dann können sich die Krisen aus der inneren eigenen Bewegung des Produktions-
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und Austauschprozesses auf jene mechanische Weise, ohne den äußeren Anlaß einer
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plötzlichen Erschütterung in den Produktions- und Marktverhältnissen wiederholen, wie
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es von der Marxschen Analyse angenommen wird. Wenn wir uns nun die heutige ökonomische
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Lage vergegenwärtigen, so müssen wir jedenfalls zugeben, daß wir noch nicht in jene
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Phase vollkommener kapitalistischer Reife getreten sind, die bei dem Marxschen Schema der
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Krisenperiodizität vorausgesetzt wird. Der Weltmarkt ist immer noch in der Ausbildung
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begriffen. Deutschland und Österreich traten erst in den 70er Jahren in die Phase der
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eigentlichen großindustriellen Produktion, Rußland erst in den 80er Jahren, Frankreich
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ist bis jetzt noch zum großen Teil kleingewerblich, die Balkanstaaten haben noch zum
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beträchtlichen Teil nicht einmal die Fesseln der Naturalwirtschaft abgestreift, erst in
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den 80er Jahren sind Amerika, Australien und Afrika in einen regen und regelmäßigen
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Warenverkehr mit Europa getreten. Wenn wir deshalb einerseits die plötzlichen
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sprungweisen Erschließungen neuer Gebiete der kapitalistischen Wirtschaft, wie sie bis zu
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den 70er Jahren periodisch auftraten, und die bisherigen Krisen, sozusagen die
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Jugendkrisen, im Gefolge hatten, bereits hinter uns haben, so sind wir andererseits noch
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nicht bis zu jenem Grade der Ausbildung und der Erschöpfung des Weltmarkts
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vorgeschritten, die einen fatalen, periodischen Anprall der Produktivkräfte an die
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Marktschranken, die wirklichen kapitalistischen Alterskrisen, erzeugen würde. Wir
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befinden uns in einer Phase, wo die Krisen nicht mehr das Aufkommen des Kapitalismus und
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noch nicht seinen Untergang begleiten. Diese Übergangsperiode charakterisiert sich auch
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durch den seit etwa zwei Jahrzehnten anhaltenden, durchschnittlich matten Geschäftsgang,
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wo kurze Perioden des Aufschwungs mit langen Perioden der Depression abwechseln.</p>
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<p>Daß wir uns aber unaufhaltsam dem Anfang vom Ende, der Periode der kapitalistischen
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Schlußkrisen nähern, das folgt eben aus denselben Erscheinungen, die vorläufig das
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Ausbleiben der Krisen bedingen. Ist einmal der Weltmarkt im großen und ganzen ausgebildet
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und kann er durch keine plötzlichen Erweiterungen mehr vergrößert werden, schreitet
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zugleich die Produktivität der Arbeit unaufhaltsam fort, dann beginnt über kurz oder
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lang der periodische Widerstreit der Produktivkräfte mit den Austauschschranken, der von
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selbst durch seine Wiederholung immer schroffer und stürmischer wird. Und wenn etwas
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speziell dazu geeignet ist, uns dieser Periode zu nähern, den Weltmarkt rasch
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herzustellen und ihn rasch zu erschöpfen, so sind es eben diejenigen Erscheinungen - das
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Kreditwesen und die Unternehmerorganisationen -, auf die Bernstein als auf
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»Anpassungsmittel« des Kapitalismus baut.)</p>
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<p>Die Annahme, die kapitalistische Produktion könnte sich dem Austausch »anpassen«,
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setzt eins von beiden voraus: entweder, daß der WeltIrmarkt unumschränkt und ins
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Unendliche wächst, oder umgekehrt, daß die Produktivkräfte in ihrem Wachsturn gehemmt
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werden, damit sie nicht über die Marktschranken hinauseilen. Ersteres ist eine physische
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Unmöglichkeit, letzterem steht die Tatsache entgegen, daß auf Schritt und Tritt
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technische Umwälzungen auf allen Gebieten der Produktion vor sich gehen und jeden Tag
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neue Produktivkräfte wachrufen.</p>
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<p>Noch eine Erscheinung widerspricht nach Bernstein dem bezeichneten Gang der
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kapitalistischen Dinge: die »schier unerschütterliche Phalanx« der Mittelbetriebe, auf
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die er uns hinweist. Er sieht darin ein Zeichen, daß die großindustrielle Entwicklung
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nicht so revolutionierend und konzentrierend wirkt, wie es nach der
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»Zusammenbruchstheorie« hätte erwartet werden müssen. Allein er wird auch hier zum
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Opfer des eigenen Mißverständnisses. Es hieße in der Tat die Entwicklung der
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Großindustrie ganz falsch auffassen, wenn man erwarten würde, es sollten dabei die
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Mittelbetriebe stufenweise von der Oberfläche verschwinden.</p>
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<p>In dem allgemeinen Gange der kapitalistischen Entwicklung spielen gerade nach der
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Annahme von Marx die Kleinkapitale die Rolle der Pioniere der technischen Revolution, und
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zwar in doppelter Hinsicht, ebenso in bezug auf neue Produktionsmethoden in alten und
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befestigten, fest eingewurzelten Branchen, wie auch in bezug auf Schaffung neuer, von
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großen Kapitalien noch gar nicht exploitierter Produktionszweige. Vollkommen falsch ist
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die Auffassung, als ginge die Geschichte des kapitalistischen Mittelbetriebes in gerader
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Linie abwärts zum stufenweisen Untergang. Der tatsächliche Verlauf der Entwicklung ist
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vielmehr auch hier rein dialektisch und bewegt sich beständig zwischen Gegensätzen. Der
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kapitalistische Mittelstand befindet sich ganz wie die Arbeiterklasse unter dem Einfluß
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zweier entgegengesetzter Tendenzen, einer ihn erhebenden und einer ihn herabdrückenden
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Tendenz. Die herabdrükckende Tendenz ist gegebenenfalls das beständige Steigen der
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Stufenleiter der Produktion, welche den Umfang der Mittelkapitale periodisch überholt und
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sie so immer wieder aus dem Wettkampf herausschleudert. Die hebende Tendenz ist die
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periodische Entwertung des vorhandenen Kapitals, die die Stufenleiter der Produktion - dem
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Werte des notwendigen Kapitalminimums nach - immer wieder für eine Zeitlang senkt, sowie
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das Eindringen der kapitalistischen Produktion in neuen Sphären. Der Kampf des
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Mittelbetriebes mit dem Großkapital ist nicht als eine regelmäßige Schlacht zu denken,
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wo der Trupp des schwächeren Teiles direkt und quantitativ immer mehr zusammenschmilzt,
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sondern vielmehr als ein periodisches Abmähen der Kleinkapitale, die dann immer wieder
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rasch aufkommen, um von neuem durch die Sense der Großindustrie abgemäht zu werden. Von
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den beiden Tendenzen, die mit dem kapitalistischen Mittelstand Fangball spielen, siegt in
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letzter Linie - im Gegensatz zu der Entwicklung der Arbeiterklasse - die herabdrückende
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Tendenz. Dies braucht sich aber durchaus nicht in der absoluten zahlenmäßigen Abnahme
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der Mittelbetriebe zu äußern, sondern erstens in dem allmählich steigenden
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Kapitalminimum, das zum existenzfähigen Betriebe in den alten Branchen nötig ist,
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zweitens in der immer kürzeren Zeitspanne, während der sich Kleinkapitale der
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Exploitation neuer Branchen auf eigene Hand erfreuen. Daraus folgt für das individuelle
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Kleinkapital eine immer kürzere Lebensfrist und ein immer rascherer Wechsel der
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Produktionsmethoden wie der Anlagearten, und für die Klasse im ganzen ein immer rascherer
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sozialer Stoffwechsel.</p>
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<p>Letzteres weiß Bernstein sehr gut, und er stellt es selbst fest. Was er aber zu
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vergessen scheint, ist, daß damit das Gesetz selbst der Bewegung der kapitalistischen
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Mittelbetriebe gegeben ist. Sind die Kleinkapitale einmal die Vorkärnpfer des technischen
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Fortschrittes, und ist der technische Fortschritt der Lebenspulsschlag der
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kapitalistischen Wirtschaft, so bilden offenbar die Kleinkapitale eine unzertrennliche
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Begleiterscheinung der kapitalistischen Entwicklung, die erst mit ihr zusammen
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verschwinden kann. Das stufenweise Verschwinden der Mittelbetriebe - im Sinne der
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absoluten summarischen Statistik, um die es sich bei Bernstein handelt - würde bedeuten,
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nicht wie Bemstein meint, den revolutionären Entwicklungsgang des Kapitalismus, sondern
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gerade umgekehrt eine Stockung, Einschlummerung des letzteren. »Die Profitrate, d.h. der
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verhältnismäßige Kapitalzuwachs ist vor allem wichtig für alle neuen, sich
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selbständig gruppierenden Kapitalableger. Und sobald die Kapitalbildung ausschließlich
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in die Hände einiger wenigen fertigen Großkapitale fiele,... wäre überhaupt das
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belebende Feuer der Produktion erloschen. Sie würde einschlummern.«</p>
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<p>(Die Bernsteinschen Anpassungsmittel erweisen sich somit als unwirksam, und die
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Erscheinungen, die er als Symptome der Anpassung erklärt, müssen auf ganz andere
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Ursachen zurückgeführt werden.)</p>
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<H3 align="center"><A name="1_3">3. Einführung des Sozialismus durch soziale Reformen</a></H3>
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<p>Bernstein verwirft die »Zusammenbruchstheorie« als den historischen Weg zur
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Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft. Welches ist der Weg, der vom Standpunkte
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der »Anpassungstheorie des Kapitalismus« dazu führt? Bernstein hat diese Frage
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nur andeutungsweise beantwortet, den Versuch, sie ausführlicher im Sinne Bernsteins
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darzustellen, hat Konrad Schmidt gemacht.4 Nach ihm wird »der gewerkschaftliche Kampf und
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der politische Kampf um soziale Reformen eine immer weiter erstreckte gesellschaftliche
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Kontrolle über die Produktionsbedingungen« herbeiführen und durch die Gesetzgebung
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»den Kapitaleigentümer durch Beschränkung seiner Rechte mehr und mehr in die Rolle
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eines Verwalters herabdrücken«, bis schließlich »dem mürbe gemachten Kapitalisten,
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der seinen Besitz immer wertloser für sich selbst werden sieht, die Leitung und
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Verwaltung des Betriebes abgenommen« und so endgültig der gesellschaftliche Betrieb
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eingeführt wird.</p>
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<p>Also Gewerkschaften, soziale Reformen und noch, wie Bernstein hinzufügt, die
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politische Demokratisierung des Staates, das sind Mittel der allmählichen Einführung des
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Sozialismus.</p>
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<p>Um bei den Gewerkschaften anzufangen, so besteht ihre wichtigste Funktion - und niemand
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hat es besser dargetan als Bernstein selbst im Jahre 1891 in der 'Neuen Zeit' - darin,
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daß sie auf seiten der Arbeiter das Mittel sind, das kapitalistische Lohngesetz, d.h. den
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Verkauf der Arbeitskraft nach ihrem jeweiligen Marktpreis, zu verwirklichen. Worin die
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Gewerkschaften dem Proletariat dienen, ist, die in jedem Zeitpunkte gegebenen Konjunkturen
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des Marktes für sich auszunutzen. Diese Konjunkturen selbst aber, d.h. einerseits die von
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dem Produktionsstand bedingte Nachfrage nach Arbeitskraft, andererseits das durch
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Proletarisierung der Mittelschichten und natürliche Fortpflanzung der Arbeiterklasse
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geschaffene Angebot der Arbeitskraft, endlich auch der jeweilige Grad der Produktivität
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der Arbeit, liegen außerhalb der Einwirkungssphäre der Gewerkschaften. Sie können
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deshalb das Lohngesetz nicht umstürzen; sie können im besten Falle die kapitalistische
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Ausbeutung in die jeweilig »normalen« Schranken weisen, keineswegs aber die
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Ausbeutung selbst stufenweise aufheben.</p>
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<p>Konrad Schmidt nennt freilich die jetzige gewerkschaftliche Bewegung »schwächliche
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Anfangsstadien« und verspricht sich von der Zukunft, daß »das Gewerkschaftswesen auf
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die Regulierung der Produktion selbst einen immer steigenden Einfluß gewinnt«. Unter der
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Regulierung der Produktion kann man aber nur zweierlei verstehen: die Einmischung in die
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technische Seite des Produktionsprozesses und die Bestimmung des Umfangs der Produktion
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selbst. Welcher Natur kann in diesen beiden Fragen die Einwirkung der Gewerkschaften sein?
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Es ist klar, daß, was die Technik der Produktion betrifft, das Interesse des Kapitalisten
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mit dem Fortschritt und der Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft in gewissen
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Grenzen zusammenfällt. Es ist die eigene Not, die ihn zu technischen Verbesserungen
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anspomt. Die Stellung des einzelnen Arbeiters hingegen ist gerade entgegengesetzt: jede
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technische Umwälzung widerstreitet den Interessen der direkt dadurch berührten Arbeiter
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und verschlechtert ihre unmittelbare Lage, indem sie die Arbeitskraft entwertet, die
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Arbeit intensiver, eintöniger, qualvoller macht. Insofern sich die Gewerkschaft in die
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technische Seite der Produktion einmischen kann, kann sie offenbar nur im letzteren Sinne,
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d.h. im Sinne der direkt interessierten einzelnen Arbeitergruppe handeln, also sich
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Neuerungen widersetzen. In diesem Falle handelt sie aber nicht im Interesse der
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Arbeiterklasse im ganzen und ihrer Emanzipation, die vielmehr mit dem technischen
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Fortschritt, d.h. mit dem Interesse des einzelnen Kapitalisten übereinstimmen, sondern
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gerade entgegengesetzt, im Sinne der Reaktion. Und in der Tat, wir finden das Bestreben,
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auf die technische Seite der Produktion einzuwirken, nicht in der Zukunft, wo Konrad
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Schmidt sie sucht, sondern in der Vergangenheit der Gewerkschaftsbewegung. Sie bezeichnet
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die ältere Phase des englischen Trade Unionismus (bis in die 6oer Jahre), wo er noch an
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mittelalterlich-zünftlerische Überlieferungen anknüpfte und charakteristischerweise von
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dem veralteten Grundsatz des »erworbenen Rechts auf angemessene Arbeit« getragen war.5
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Die Bestrebung der Gewerkschaften, den Umfang der Produktion und die Warenpreise zu
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bestimmen, ist hingegen eine Erscheinung ganz neuen Datums. Erst in der allerletzten Zeit
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sehen wir - wiederum nur in England - dahingehende Versuche auftauchen.6 Dem Charakter und
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der Tendenz nach sind aber auch diese Bestrebungen jenen ganz gleichwertig. Denn worauf
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reduziert sich notwendigerweise die aktive Teilnahme der Gewerkschaft an der Bestimmung
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des Umfangs und der Preise der Warenproduktion? Auf ein Kartell der Arbeiter mit den
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Unternehmern gegen den Konsumenten, und zwar unter Gebrauch von Zwangsmaßregeln gegen
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konkurrierende Unternehmer, die den Methoden der regelrechten Unternehmerverbände in
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nichts nachstehen. Es ist dies im Grunde genommen kein Kampf zwischen Arbeit und Kapital
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mehr, sondern ein solidarischer Kampf des Kapitals und der Arbeitskraft gegen die
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konsumierende Gesellschaft. Seinem sozialen Werte nach ist das ein reaktionäres Beginnen,
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das schon deshalb keine Etappe in dem Emanzipationskampfe des Proletariats bilden kann,
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weil es vielmehr das gerade Gegenteil von einem Klassenkampf darstellt. Seinem praktischen
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Werte nach ist das eine Utopie, die sich, wie eine kurze Besinnung dartut, nie auf
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größere und für den Weltmarkt produzierende Branchen erstrecken kann.</p>
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<p>Die Tätigkeit der Gewerkschaften beschränkt sich also in der Hauptsache auf den
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Lohnkampf und die Verkürzung der Arbeitszeit, d.h. bloß auf die Regulierung der
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kapitalistischen Ausbeutung je nach den Marktverhältnissen; die Einwirkung auf den
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Produktionsprozeß bleibt ihnen der Natur der Dinge nach verschlossen. Ja, noch mehr, der
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ganze Zug der gewerkschaftlichen Entwicklung richtet sich gerade umgekehrt, wie es Konrad
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Schmidt annimmt, auf die völlige Ablösung des Arbeitsmarktes von jeder unmittelbaren
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Beziehung zu dem übrigen Warenmarkt. Am bezeichnenfsten hierfür ist die Tatsache, daß
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sogar die Bestrebung, den Arbeitskontrakt wenigstens passiv mit der allgemeinen
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Produktionslage in unmittelbare Beziehung zu bringen, durch das System der gleitenden
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Lohnlisten nunmehr von der Entwicklung überholt ist, und daß sich die englischen Trade
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Unions von ihnen immer mehr abwenden.7</p>
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<p>Aber auch in den tatsächlichen Schranken ihrer Einwirkung geht die gewerkschaftliche
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Bewegung, nicht wie es die Theorie der Anpassung des Kapitals voraussetzt, einer
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unumschränkten Ausdehnung entgegen. Ganz umgekehrt! Faßt man größere Strecken der
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sozialen Entwicklung ins Auge, so kann man sich der Tatsache nicht verschließen, daß wir
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im großen und ganzen nicht Zeiten einer siegreichen Machtentfaltung, sondern wachsenden
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Schwierigkeiten der gewerkschaftlichen Bewegung entgegengehen. Hat die Entwicklung der
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Industrie ihren Höhepunkt erreicht und beginnt für das Kapital auf dem Weltmarkt der
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»absteigende Ast«, dann wird der gewerkschaftliche Kampf doppelt schwierig: erstens
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verschlimmern sich die objektiven Konjunkturen des Marktes für die Arbeitskraft, indem
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die Nachfrage langsamer, das Angebot aber rascher steigt, als es jetzt der Fall ist,
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zweitens greift das Kapital selbst, urn sich für die Verluste auf dem Weltmarkt zu
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entschädigen, um so hartnäckiger auf die dem Arbeiter zukommende Portion des Produktes
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zurück. Ist doch die Reduzierung des Arbeitslohnes eines der wichtigsten Mittel, den Fall
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der Profitrate aufzuhalten. England bietet uns bereits das Bild des beginnenden zweiten
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Stadiums in der gewerkschaftlichen Bewegung. Sie reduzirt sich dabei notgedrungen immer
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mehr auf die bloße Verteidigung des bereits Errungenen, und auch diese wird immer
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schwieriger. Der bezeichnete allgemeine Gang der Dinge ist es, dessen Gegenstück der
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Aufschwung des politischen und sozialistischen Klassenkampfes sein muß.</p>
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<p>Den gleichen Fehler der umgekehrten geschichtlichen Perspektive begeht Konrad Schmidt
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in bezug auf die Sozialreform, von der er sich verspricht, daß sie »Hand in Hand mit den
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gewerkschaftlichen Arbeiterkoalitionen der Kapitalistenklasse die Bedingungen, unter denen
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sie allein Arbeitskräfte verwenden darf, aufoktroyiert«. Im Sinne der so aufgefaßten
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Sozialreform nennt Bernstein die Fabrikgesetze ein Stück »gesellschaftliche Kontrolle«
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und als solche - ein Stück Sozialismus. Auch Konrad Schmidt sagt überall, wo er vom
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staatlichen Arbeiterschutz spricht, »gesellschaftliche Kontrolle«, und hat er so
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glücklich den Staat in Gesellschaft verwandelt, dann setzt er schon getrost hinzu: »d.h.
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die aufstrebende Arbeiterklasse«, und durch diese Operation verwandeln sich die harmlosen
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Arbeiterschutzbestimmungen des deutschen Bundesrates in sozialistische
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Übergangsmaßregeln des deutschen Proletariats.</p>
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<p>Die Mystifikation liegt hier auf der Hand. Der heutige Staat ist eben keine
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»Gesellschaft« im Sinne der »aufstrebenden Arbeiterklasse«, sondern Vertreter der
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kapitalistischen Gesellschaft, d.h. Klassenstaat. Deshalb ist auch die von ihm gehandhabte
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Sozialreform nicht eine Betätigung der »gesellschaftlichen Kontrolle«, d.h. der
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Kontrolle der freien arbeitenden Gesellschaft über den eigenen Arbeitsprozeß, sondern
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eine Kontrolle der Klassenorganisation des Kapitals über den Produktionsprozeß des
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Kapitals. Darin, d.h. in den Interessen des Kapitals, findet denn auch die Sozialreform
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ihre natürlichen Schranken. Freilich, Bernstein und Konrad Schmidt sehen auch in dieser
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Beziehung in der Gegenwart bloß »schwächliche Anfangsstadien« und versprechen sich von
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der Zukunft eine ins Unendliche steigende Sozialreform zugunsten der Arbeiterklasse.
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Allein sie begehen dabei den gleichen Fehler, wie in der Annahme einer unumschränkten
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Machtentfaltung der Gewerkschaftsbewegung.</p>
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<p>Die Theorie der allmählichen Einführung des Sozialismus durch soziale Reformen setzt
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als Bedingung, und hier liegt ihr Schwerpunkt, eine bestimmte objektive Entwicklung ebenso
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des kapitalistischen Eigentums wie des Staates, voraus. In bezug auf das erstere geht das
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Schema der künftigen Entwicklung, wie es Konrad Schmidt voraussetzt, dahin, »den
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Kapitaleigentümer durch Beschränkung seiner Rechte mehr und mehr in die Rolle eines
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Verwalters herabzudrücken«. Angesichts der angeblichen Unmöglichkeit der einmaligen
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plötzlichen Expropriation der Produktionsmittel macht sich Konrad Schmidt eine Theorie
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der stufenweisen Enteignung zurecht. Hierfür konstruiert er sich als notwendige
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Voraussetzung eine Zersplitterung des Eigentumsrechts in ein »Obereigentum«, das er der
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»Gesellschaft« zuweist, und das er immer mehr ausgedehnt wissen will, und ein
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Nutznießrecht, das in den Händen des Kapitalisten immer mehr zur bloßen Verwaltung
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seines Betriebes zusammenschrumpft. Nun ist diese Konstruktion entweder ein harmloses
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Wortspiel, bei dem nichts Wichtiges weiter gedacht wurde. Dann bleibt die Theorie der
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allmählichen Expropriation ohne alle Deckung. Oder es ist ein ernst gemeintes Schema der
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rechtlichen Entwicklung. Dann ist es aber völlig verkehrt. Die Zersplitterung der im
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Eigentumsrecht liegenden verschiedenen Befugnisse, zu der Konrad Schmidt für seine
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»stufenweise Expropriation« des Kapitals Zuflucht nimmt, ist charakteristisch für die
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feudal-naturalwirtschaftliche Gesellschaft, in der die Verteilung des Produktes unter die
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verschiedenen Gesellschaftsklassen in natura und auf Grund persönlicher Beziehungen
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zwischen den Feudalherren und ihren Untergebenen vor sich ging. Der Zerfall des Eigentums
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in verschiedene Teilrechte war hier die im voraus gegebene Organisation der Verteilung des
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gesellschaftlichen Reichtums. Mit dem Übergang zur Warenproduktion und der Auflösung
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aller persönlichen Bande zwischen den einzelnen Teilnehmern des Produktionsprozesses
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befestigte sich umgekehrt das Verhältnis zwischen Mensch und Sache - das Privateigentum.
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Indem die Verteilung sich nicht mehr durch persönliche Beziehungen, sondern durch den
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Austausch vollzieht, messen sich verschiedene Anteilansprüche an dem gesellschaftlichen
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Reichtum nicht in Splittern des Eigentumsrechts an einem gemeinsamen Objekt, sondern in
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dem von jedermann zu Markte gebrachten Wert. Der erste Umschwung in rechtlichen
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Beziehungen, der das Aufkommen der Warenproduktion in den städtischen Kommunen des
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Mittelalters begleitete, war auch die Ausbildung des absoluten geschlossenen
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Privateigentums im Schoße der feudalen Rechtsverhältnisse mit geteiltem Eigentum. In der
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kapitalistischen Produktion setzt sich aber diese Entwicklung weiter fort. Je mehr der
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Produktionsprozeß vergesellschaftet wird, um so mehr beruht der Verteilungsprozeß auf
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reinem Austausch und um so unantastbarer und geschlossener wird das kapitalistische
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Privateigentum, um so mehr schlägt das Kapitaleigentum aus einem Recht auf das Produkt
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der eigenen Arbeit in ein reines Aneignungsrecht gegenüber fremder Arbeit um. So lange
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der Kapitalist selbst die Fabrik leitet, ist die Verteilung noch bis zu einem gewissen
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Grade an persönliche Teilnahme an dem Produktionsprozeß geknüpft. In dem Maße, wie die
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persönliche Leitung des Fabrikanten überflüssig wird, und vollends in den
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Aktiengesellschaften, sondert sich das Eigentum an Kapital als Anspruchstitel bei der
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Verteilung gänzlich von persönlichen Beziehungen zur Produktion und erscheint in seiner
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reinsten, geschlossenen Form. In dem Aktienkapital und dem industriellen Kreditkapital
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gelangt das kapitalistische Eigentumsrecht erst zu seiner vollen Ausbildung.</p>
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<p>Das geschichtliche Schema der Entwicklung des Kapitalisten, wie es Konrad Schmidt
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zeichnet: »vom Eigentümer zum bloßen Verwalter«, erscheint somit als die auf den Kopf
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gestellte tatsächliche Entwicklung, die umgekehrt vom Eigentümer und Verwalter zum
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bloßen Eigentümer führt. Es geht hier Konrad Schmidt wie Goethe:</p>
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<p>Was er besitzt, das sieht er wie im Weiten, Und was verschwand, wird ihm zu
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Wirklichkeiten.</p>
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<p>Und wie sein historisches Schema ökonomisch von der modernen Aktiengesellschaft auf
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die Manufakturfabrik oder gar auf die Handwerker-Werkstatt zurückgeht, so will es
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rechtlich die kapitalistische Welt in die feudal-naturalwirtschaftlichen Eierschalen
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zurückstecken.</p>
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<p>Von diesem Standpunkte erscheint auch die »gesellschaftliche Kontrolle« in einem
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anderen Lichte, als sie Konrad Schmidt sieht. Das, was heute als »gesellschaftliche
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Kontrolle« funktioniert - der Arbeiterschutz, die Aufsicht über Aktiengesellschaften
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usw. - hat tatsächlich mit einem Anteil am Eigentumsrecht, mit »Obereigentum« nicht das
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geringste zu tun. Sie betätigt sich nicht als Beschränkung des kapitalistischen
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Eigentums, sondern umgekehrt als dessen Schutz. Oder ökonomisch gesprochen, sie bildet
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nicht einen Eingriff in die kapitalistische Ausbeutung, sondern eine Normierung. Ordnung
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dieser Ausbeutung. Und wenn Bernstein die Frage stellt, ob in einem Fabrikgesetz viel oder
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wenig Sozialismus steckt, so können wir ihm versichern, daß in dem allerbesten
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Fabrikgesetz genau so viel »Sozialismus« steckt wie in den Magistratsbestimmungen über
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die Straßenreinigung und das Anzünden der Gaslaternen, was ja auch »gesellschaftliche
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Kontrolle« ist.</p>
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<H3 align="center"><A name="1_4">4. Zollpolitik und
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Militarismus</a></H3>
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<p>Die zweite Voraussetzung der allmählichen Einführung des Sozialismus bei Ed.
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Bernstein ist die Entwicklung des Staates zur Gesellschaft. Es ist dies bereits zum
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Gemeinplatz geworden, daß der heutige Staat ein Klassenstaat ist. Indes müßte unseres
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Erachtens auch dieser Satz, wie alles, was auf die kapitalistische Gesellschaft Bezug hat,
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nicht in einer starren, absoluten Gültigkeit, sondern in der fließenden Entwicklung
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aufgefaßt werden.</p>
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<p>Mit dem politischen Sieg der Bourgeoisie ist der Staat zum kapitalistischen Staat
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geworden. Freilich, die kapitalistische Entwicklung selbst verändert die Natur des
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Staates wesentlich, indem sie die Sphäre seiner Wirkung immer mehr erweitert, ihm immer
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neue Funktionen zuweist, namentlich in bezug auf das ökonomische Leben seine Einmischung
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und Kontrolle darüber immer notwendiger macht. Insofern bereitet sich allmählich die
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künftige Verschmelzung des Staates mit der Gesellschaft vor, sozusagen der Rückfall der
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Funktionen des Staates an die Gesellschaft. Nach dieser Richtung hin kann man auch von
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einer Entwicklung des kapitalistischen Staats zur Gesellschaft sprechen, und in diesem
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Sinne zweifellos, sagt Marx, der Arbeiterschutz sei die erste bewußte Einmischung »der
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Gesellschaft« in ihren sozialen Lebensprozeß, ein Satz, auf den sich Bernstein beruft.</p>
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<p>Aber auf der anderen Seite vollzieht sich im Wesen des Staates durch dieselbe
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kapitalistische Entwicklung eine andere Wandlung. Zunächst ist der heutige Staat - eine
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Organisation der herrschenden Kapitalistenklasse. Wenn er im Interesse der
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gesellschaftlichen Entwicklung verschiedene Funktionen von allgemeinem Interesse
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übernimmt, so nur, weil und insofern diese Interessen und die gesellschaftliche
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Entwicklung mit den Interessen der herrschenden Klasse im allgemeinen zusammenfallen. Der
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Arbeiterschutz z.B. liegt ebenso sehr im unmittelbaren Interesse der Kapitalisten als
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Klasse, wie der Gesellschaft im ganzen. Aber diese Harmonie dauert nur bis zu einem
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gewissen Zeitpunkt der kapitalistischen Entwicklung. Hat die Entwicklung einen bestimmten
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Höhepunkt erreicht, dann fangen die Interessen der Bourgeoisie als Klasse und die des
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ökonomischen Fortschritts an, auch im kapitalistischen Sinne auseinanderzugehen. Wir
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glauben, daß diese Phase bereits herangebrochen ist, und dies äußert sich in den zwei
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wichtigsten Erscheinungen des heutigen sozialen Lebens: in der Zollpolitik und im
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Militarismus. Beides - Zollpolitik wie Militarismus - haben in der Geschichte des
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Kapitalismus ihre unentbehrliche und insofern fortschrittliche, revolutionäre Rolle
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gespielt. Ohne den Zollschutz wäre das Aufkommen der Großindustrie in den einzelnen
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Ländern kaum möglich gewesen. Heute liegen aber die Dinge anders (ln allen wichtigsten
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Ländern und zwar gerade in denen, die am meisten Zollpolitik treiben, ist die
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kapitalistische Produktion so ziemlich zum gleichen Durchschnitt gelangt.)</p>
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<p>Vom Standpunkte der kapitalistischen Entwicklung, d.h. vom Standpunkte der
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Weltwirtschaft, ist es heute ganz gleichgültig, ob Deutschland nach England mehr Waren
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ausführt oder England nach Deutschland. Vom Standpunkt derselben Entwicklung hat also der
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Mohr seine Arbeit getan und könnte gehen. Ja, er müßte gehen. Bei der heutigen
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gegenseitigen Abhängigkeit verschiedener Industriezweige müssen Schutzzölle auf
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irgendwelche Waren die Produktion anderer Waren im Inlande verteuern, d.h. die Industrie
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wieder unterbinden. Nicht aber so vom Standpunkte der Interessen der Kapitalistenklasse.
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Die Industrie bedarf zu ihrer Entwicklung des Zollschutzes nicht, wohl aber die
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Unternehmer zum Schutze ihres Absatzes. Das heißt die Zölle dienen heute nicht mehr als
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Schutzmittel einer aufstrebenden kapitalistischen Produktion gegen eine reifere, sondern
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als Kampfrnittel einer nationalen Kapitalistengruppe gegen eine andere. Die Zölle sind
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ferner nicht mehr nötig als Schutzmittel der Industrie, um einen inländischen Markt zu
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bilden und zu erobern, wohl aber als unentbehrliches Mittel zur Kartellierung der
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Industrie, d.h. zum Kampfe der kapitalistischen Produzenten mit der konsumierenden
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Gesellschaft. Endlich, was am grellsten den spezifischen Charakter der heutigen
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Zollpolitik markiert, ist die Tatsache, daß jetzt überall die ausschlaggebende Rolle
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darin überhaupt nicht die Industrie, sondern die Landwirtschaft spielt, d.h. daß die
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Zollpolitik eigentlich zu einem Mittel geworden ist, feudale Interessen in kapitalistische
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Form zu gießen und zum Ausdruck zu bringen.</p>
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<p>Die gleiche Wandlung ist mit dem Militarismus vorgegangen. Wenn wir die Geschichte
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betrachten, nicht wie sie hätte sein können oder sollen, sondern wie sie tatsächlich
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war, so müssen wir konstatieren, daß der Krieg den unentbehrlichen Faktor der
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kapitalistischen Entwicklung bildete. Die Vereinigten Staaten Nordamerikas und
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Deutschland, Italien und die Balkanstaaten, Rußland und Polen, sie alle verdanken die
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Bedingungen oder den Anstoß zur kapitalistischen Entwicklung den Kriegen, gleichviel ob
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dem Sieg oder der Niederlage. Solange als es Länder gab, deren innere Zersplitterung oder
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deren naturalwirtschaftliche Abgeschlossenheit zu überwinden war, spielte auch der
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Militarismus eine revolutionäre Rolle im kapitalistischen Sinne. Heute liegen auch hier
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die Dinge anders. (Der Militarismus hat keine Länder mehr dem Kapitalismus zu
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erschließen.) (I) Wenn die Weltpolitik zum Theater drohender Konflikte geworden ist, so
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handelt es sich nicht sowohl um die Erschließung neuer Länder für den Kapitalismus, als
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um fertige europäische Gegensätze, die sich nach den anderen Weltteilen verpflanzt haben
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und dort zum Durchbruch kommen. Was heute gegeneinander mit der Waffe in der Hand
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auftritt, gleichviel ob in Europa oder in anderen Weltteilen, sind nicht einerseits
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kapitalistische, andererseits naturalwirtschaftliche Länder, sondern Staaten, die gerade
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durch die Gleichartigkeit ihrer hohen kapitalistischen Entwicklung zum Konflikt getrieben
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werden. Für diese Entwicklung selbst kann freilich unter diesen Umständen der Konflikt,
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wenn er zum Durchbruch kommt, nur von fataler Bedeutung sein, indem er die tiefste
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Erschütterung und Umwälzung des wirtschaftlichen Lebens in allen kapitalistischen
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Ländern herbeiführen wird. Anders sieht aber die Sache aus vom Standpunkte der
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Kapitalistenklasse. Für sie ist heute der Militarismus in dreifacher Beziehung
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unentbehrlich geworden: erstens als Kampfmittel für konkurrierende »nationale«
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Interessen gegen andere nationale Gruppen, zweitens als wichtigste Anlageart ebenso für
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das finanzielle wie für das industrielle Kapital, und drittens als Werkzeug der
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Klassenherrschaft im Inlande gegenüber dem arbeitenden Volke - alles Interessen, die mit
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dem Fortschritt der kapitalistischen Produktionsweise an sich nichts gemein haben. Und was
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am besten wiederum diesen spezifischen Charakter des heutigen Militarismus verrät, ist
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erstens sein allgemeines Wachstum in allen Ländern um die Wette, sozusagen durch eigene,
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innere, mechanische Triebkraft, eine Erscheinung, die noch vor ein paar Jahrzehnten ganz
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unbekannt war, ferner die Unvermeidlichkeit, das Fatale der herannahenden Explosion bei
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gleichzeitiger völliger Unbestimmtheit des Anlasses, der zunächst interessierten
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Staaten, des Streitgegenstandes und aller näheren Umstände. Aus einer Triebkraft der
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kapitalistischen Entwicklung ist auch der Militarismus zur kapitalistischen Krankheit
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geworden.</p>
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<p>Bei dem dargelegten Zwiespalt zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung und den
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herrschenden Klasseninteressen stellt sich der Staat auf die Seite der letzteren. Er tritt
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in seiner Politik, ebenso wie die Bourgeoisie, in Gegensatz zu der gesellschaftlichen
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Entwicklung, er verliert somit immer mehr seinen Charakter des Vertreters der gesamten
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Gesellschaft und wird in gleichem Maße immer mehr zum reinen Klassenstaate. Oder,
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richtiger ausgesprochen, diese seine beiden Eigenschaften trennen sich voneinander und
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spitzen sich zu einem Widerspruche innerhalb des Wesens des Staates zu. Und zwar wird der
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bezeichnete Widerspruch mit jedem Tage schärfer. Denn einerseits wachsen die Funktionen
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des Staates von allgemeinem Charakter, seine Einmischung in das gesellschaftliche Leben,
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seine »Kontrolle« darüber. Andererseits aber zwingt ihn sein Klassencharakter immer
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mehr, den Schwerpunkt seiner Tätigkeit und seine Machtmittel auf Gebiete zu verlegen, die
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nur für das Klasseninteresse der Bourgeoisie von Nutzen, für die Gesellschaft nur von
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negativer Bedeutung sind, den Militarismus, die Zoll- und Kolonialpolitik. Zweitens wird
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dadurch auch seine »gesellschaftliche Kontrolle« immer mehr vom Klassencharakter
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durchdrungen und beherrscht (siehe die Handhabung des Arbeiterschutzes in allen Ländern).</p>
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<p>Der bezeichneten Wandlung im Wesen des Staates widerspricht nicht, entspricht vielmehr
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vollkommen die Ausbildung der Demokratie, in der Bernstein ebenfalls das Mittel der
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stufenweisen Einführung des Sozialismus sieht.</p>
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<p>Wie Konrad Schmidt erläutert, soll die Erlangung einer sozialdemokratischen Mehrheit
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im Parlament sogar der direkte Weg dieser stufenweisen Sozialisierung der Gesellschaft
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sein. Die demokratischen Formen des politischen Lebens sind nun zweifellos eine
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Erscheinung, die am stärksten die Entwicklung des Staates zur Gesellschaft zum Ausdruck
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bringt und insofern eine Etappe zur sozialistischen Umwälzung bildet. Allein der
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Zwiespalt irn Wesen des kapitalistischen Staates, den wir charakterisiert haben, tritt in
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dem modernen Parlamentarismus um so greller zutage. Zwar der Form nach dient der
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Parlamentarismus dazu, in der staatlichen Organisation die Interessen der gesamten
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Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Andererseits aber ist es doch nur die
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kapitalistische Gesellschaft, d.h. eine Gesellschaft, in der die kapitalistischen
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Interessen maßgebend sind, die er zum Ausdruck bringt. Die der Form nach demokratischen
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Einrichtungen werden somit dem Inhalt nach zum Werkzeuge der herrschenden
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Klasseninteressen. Dies tritt in greifbarer Weise in der Tatsache zutage, daß, sobald die
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Demokratie die Tendenz hat, ihren Klassencharakter zu verleugnen und in ein Werkzeug der
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tatsächlichen Volksinteressen umzuschlagen, die demokratischen Formen selbst von der
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Bourgeoisie und ihrer staatlichen Vertretung geopfert werden. Die Idee von einer
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sozialdemokratischen Parlamentsmehrheit erscheint angesichts dessen als eine Kalkulation,
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die ganz im Geiste des bürgerlichen Liberalismus bloß mit der einen, formellen Seite der
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Demokratie rechnet, die andere Seite aber, ihren reellen Inhalt, völlig außer acht
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läßt. Und der Parlamentarismus im ganzen erscheint nicht als ein unmittelbar
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sozialistisches Element, das die kapitalistische Gesellschaft allmählich durchtränkt,
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wie Bernstein annimmt, sondern umgekehrt als ein spezifisches Mittel des bürgerlichen
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Klassenstaates, die kapitalistischen Gegensätze zur Reife und zur Ausbildung zu bringen.</p>
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<p>Angesichts dieser objektiven Entwicklung des Staates verwandelt sich der Satz
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Bernsteins und Konrad Schmidts von der direkt den Sozialismus herbeiführenden, wachsenden »gesellschaftlichen Kontrolle« in eine Phrase, die mit jedem Tage mehr der
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Wirklichkeit widerspricht.</p>
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<p>Die Theorie von der stufenweisen Einführung des Sozialismus läuft hinaus auf eine
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allmähliche Reform des kapitalistischen Eigentums und des kapitalistischen Staates irn
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sozialistischen Sinne. Beide entwickeln sich jedoch kraft objektiver Vorgänge der
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gegenwärtigen Gesellschaft nach einer gerade entgegengesetzten Richtung. Der
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Produktionsprozeß wird immer mehr vergesellschaftet, und die Einmischung, die Kontrolle
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des Staates über diesen Produktionsprozeß wird immer breiter. Aber gleichzeitig wird das
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Privateigentum immer mehr zur Form der nackten kapitalistischen Ausbeutung fremder Arbeit,
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und die staatliche Kontrolle wird immer mehr von ausschließlichen Klasseninteressen
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durchdrungen. Indem somit der Staat, d.h. die poIitische Organisation, und die
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Eigentumsverhältnisse, d.h. die rechtliche Organisation des Kapitalismus, mit der
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Entwicklung immer kapitalistischer und nicht immer sozialistischer werden, setzen sie der
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Theorie von der allmählichen Einführung des Sozialismus zwei unüberwindliche
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Schwierigkeiten entgegen.</p>
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<p>Die Idee Fouriers, durch das Phalanstere-System das sämtliche Meerwasser der Erde in
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Limonade zu verwandeln, war sehr phantastisch. Allein die Idee Bernsteins, das Meer der
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kapitalistischen Bitternis durch flaschenweises Hinzufügen der sozialreformerischen
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Limonade in ein Meer sozialistischer Süßigkeit zu verwandeln, ist nur abgeschmackter,
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aber nicht um ein Haar weniger phantastisch.</p>
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<p>Die Produktionsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaft nähern sich der
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sozialistischen immer mehr, ihre politischen und rechtlichen Verhältnisse dagegen
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errichten zwischen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaft eine immer
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höhere Wand. Diese Wand wird durch die Entwicklung der Sozialreformen wie der Demokratie
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nicht durchlöchert, sondern umgekehrt fester, starrer gemacht. Wodurch sie also
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niedergerissen werden kann, ist einzig der Hammerschlag der Revolution, d.h. die Eroberung
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der politischen Macht durch das Proletariat.</p>
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<H3 align="center"><A name="1_5">5.Praktische
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Konsequenzen und allgemeiner Charakter des Revisionismus</a></H3>
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<p>Wir haben im ersten Kapitel darzutun gesucht, daß die Bernsteinsche Theorie das
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sozialistische Programm vom materiellen Boden aufhebt und auf eine idealistische Basis
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versetzt. Dies bezieht sich auf die theoretische Begründung. Wie sieht nun aber die
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Theorie - in die Praxis übersetzt aus? Zunächst und formell unterscheidet sie sich gar
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nicht von der bisher üblichen Praxis des sozialdemokratischen Kampfes. Gewerkschaften,
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der Kampf um die Sozialreform und um die Demokratisierung der politischen Einrichtungen,
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das ist das nämliche, was auch sonst den formellen Inhalt der sozialdemokratischen
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Parteitätigkeit ausmacht. Der Unterschied liegt also nicht in dem Was, wohl aber in dem
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Wie. Wie die Dinge jetzt liegen, werden der gewerkschaftliche und der parlamentarische
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Kampf als Mittel aufgefaßt, das Proletariat allmählich zur Besitzergreifung der
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politischen Gewalt zu führen und zu erziehen. Nach der revisionistischen Auffassung
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sollen sie, angesichts der Unmöglichkeit und Zwecklosigkeit dieser Besitzergreifung,
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bloß im Hinblick auf unmittelbare Resultate, d. h. die Hebung der materiellen Lage der
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Arbeiter, und auf die stufenweise Einschränkung der kapitalistischen Ausbeutung und die
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Erweiterung der gesellschaftlichen Kontrolle geführt werden. Wenn wir von dem Zwecke der
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unmittelbaren Hebung der Lage der Arbeiter absehen, da er beiden Auffassungen, der bisher
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in der Partei üblichen, wie der revisionistischen, gemeinsam ist, so liegt der ganze
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Unterschied kurz gefaßt darin: nach der landläufigen Auffassung besteht die
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sozialistische Bedeutung des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes darin, daß er das
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Proletariat, d.h. den subjektiven Faktor der sozialistischen Umwälzung zu deren
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Durchführung vorbereitet. Nach Bernstein besteht sie darin, daß der gewerkschaftliche
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und politische Kampf die kapitalistische Ausbeutung selbst stufenweise einschränken, der
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kapitalistischen Gesellschaft immer mehr ihren kapitalistischen Charakter nehmen und den
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sozialistischen aufprägen, mit einem Worte, die sozialistische Umwälzung in objektivem
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Sinne herbeiführen soll. Sieht man die Sache näher an, so sind beide Auffassungen sogar
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gerade entgegengesetzt. In der parteiüblichen Auffassung gelangt das Proletariat durch
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den gewerkschaftlichen und politischen Kampf zu der überzeugung von der Unmöglichkeit,
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seine Lage von Grund aus durch diesen Kampf umzugestalten, und von der Unvermeidlichkeit
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einer endgültigen Besitzergreifung der politischen Machtmittel. In der Bernsteinschen
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Auffassung geht man von der Unmöglichkeit der politischen Machtergreifung als
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Voraussetzung aus, um durch bloßen gewerkschaftlichen und politischen Kampf die
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sozialistische Ordnung einzuführen.</p>
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<p>Der sozialistische Charakter des gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampfes liegt
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also bei der Bernsteinschen Auffassung in dem Glauben an dessen stufenweise
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sozialisierende Einwirkung auf die kapitalistische Wirtschaft. Eine solche Einwirkung ist
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aber tatsächlich wie wir darzutun suchten - bloße Einbildung. Die kapitalistischen
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Eigentums- und Staatseinrichtungen entwickeln sich nach einer entgegengesetzten Richtung.
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Damit aber verliert der praktische Tageskampf der Sozialdemokratie in letzter Linie
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überhaupt jede Beziehung zum Sozialismus. Die große sozialistische Bedeutung des
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gewerkschaftlichen und politischen Kampfes besteht darin, daß sie die Erkenntnis, das
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Bewußtsein des Proletariats sozialisieren, es als Klasse organisieren. Indem man sie als
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Mittel der unmittelbaren Sozialisierung der kapitalistischen Wirtschaft auffaßt, versagen
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sie nicht nur diese ihnen angedichtete Wirkung, sondern büßen zugleich auch die andere
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Bedeutung ein: sie hören auf, Erziehungsmittel der Arbeiterklasse zur proletarischen
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Machtergreifung zu sein.</p>
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<p>Es beruht deshalb auf einem gänzlichen Mißverständnis, wenn Eduard Bernstein und
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Konrad Schmidt sich beruhigen, das Endziel gehe der Arbeiterbewegung bei der
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Einschränkung des ganzen Kampfes auf Sozialreform und Gewerkschaften doch nicht verloren,
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weil jeder Schritt auf dieser Bahn über sich hinausführe und das sozialistische Ziel so
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der Bewegung selbst als Tendenz innewohne. Dies ist allerdings in vollem Maße bei der
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jetzigen Taktik der deutschen Sozialdemokratie der Fall, d.h. wenn die bewußte und feste
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Bestrebung zur Eroberung der politischen Macht dem gewerkschaftlichen und
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sozialreformerischen Kampfe als Leitstern vorausgeht. Löst man jedoch diese im voraus
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gegebene Bestrebung von der Bewegung ab und stellt man die Sozialreform zunächst als
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Selbstzweck auf, so führt sie nicht nur nicht zur Verwirklichung des sozialistischen
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Endzieles, sondern eher umgekehrt. Konrad Schmidt verläßt sich einfach auf die sozusagen
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mechanische Bewegung, die, einmal in Fluß gebracht, von selbst nicht wieder aufhören
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kann, und zwar auf Grund des einfachen Satzes, daß beim Essen der Appetit kommt und die
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Arbeiterklasse sich nie mit Reformen zufrieden geben kann, solange nicht die
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sozialistische Umwälzung vollendet ist. Die letzte Voraussetzung ist zwar richtig und
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dafür bürgt uns die Unzulänglichkeit der kapitalistischen Sozialreform selbst. Aber die
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daraus gezogene Folgerung könnte nur dann wahr sein, wenn sich eine ununterbrochene Kette
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fortlaufender und stets wachsender Sozialreformen von der heutigen Gesellschaftsordnung
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unmittelbar zur sozialistischen konstruieren ließe. Das ist aber eine Phantasie, die
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Kette bricht vielmehr nach der Natur der Dinge sehr bald ab, und die Wege, die die
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Bewegung von diesem Punkte an einschlagen kann, sind mannigfaltig.</p>
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<p>Am nächsten und wahrscheinlichsten erfolgt dann eine Verschiebung in der Taktik nach
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der Richtung, um durch alle Mittel die praktischen Resultate des Kampfes, die
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Sozialreformen zu ermöglichen. Der unversöhnliche, schroffe Klassenstandpunkt, der nur
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im Hinblick auf eine angestrebte politische Machteroberung Sinn hat, wird immer mehr zu
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einem bloßen Hindernis, sobald unmittelbare praktische Erfolge den Hauptzweck bilden. Der
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nächste Schritt ist also eine »Kompensationspolitik« - auf gut deutsch - eine
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Kuhhandelspolitik - und eine versöhnliche, staatsmännisch kluge Haltung. Die Bewegung
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kann aber auch nicht lange stehen bleiben. Denn da die Sozialreform einmal in der
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kapitalistischen Welt eine hohle Nuß ist und allezeit bleibt, mag man eine Taktik
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anwenden, welche man will, so ist der nächste logische Schritt die Enttäuschung auch in
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der Sozialreform, d.h. der ruhige Hafen, wo nun die Professoren Schmoller u. Co. vor Anker
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gegangen sind, die ja auch auf sozialreformerischen Gewässern durchstudierten die groß'
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und kleine Welt, um schließlich alles gehen zu lassen, wie's Gott gefällt.9 Der
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Sozialismus erfolgt also aus dem alltäglichen Kampfe der Arbeiterklasse durchaus nicht
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von selbst und unter allen Umständen. Er ergibt sich nur aus den immer mehr sich
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zuspitzenden Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft und aus der Erkenntnis der
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Arbeiterklasse von der Unerläßlichkeit ihrer Aufhebung durch eine soziale Umwälzung.
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Leugnet man das eine und verwirft man das andere, wie es der Revisionismus tut, dann
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reduziert sich die Arbeiterbewegung zunächst auf simple Gewerkvereinlerei und
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Sozialreformerei und führt durch eigene Schwerkraft in letzter Linie zum Verlassen des
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Klassenstandpunktes.</p>
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<p>Diese Konsequenzen werden auch klar, wenn man die revisionistische Theorie noch von
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einer anderen Seite betrachtet und sich die Frage stellt: was ist der allgemeine Charakter
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dieser Auffassung? Es ist klar, daß der Revisionismus nicht auf dem Boden der
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kapitalistischen Verhältnisse steht und nicht mit bürgerlichen Ökonomen ihre
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Widersprüche leugnet. Er geht vielmehr in seiner Theorie auch wie die Marxsche Auffassung
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von der Existenz dieser Widersprüche als Voraussetzung aus. Andererseits aber - und dies
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ist sowohl der Kernpunkt seiner Auffassung überhaupt wie seine Grunddifferenz mit der
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bisher üblichen sozialdemokratischen Auffassung - stützt er sich nicht in seiner Theorie
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auf die Aufhebung dieser Widersprüche durch ihre eigene konsequente Entwicklung.</p>
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<p>Seine Theorie steht in der Mitte zwischen den beiden Extremen, er will nicht die
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kapitalistischen Widersprüche zur vollen Reife gelangen und durch einen revolutionären
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Umschlag auf der Spitze aufheben, sondern ihnen die Spitze abbrechen, sie abstumpfen. So
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soll das Ausbleiben der Krisen und die Unternehmerorganisation den Widerspruch zwischen
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der Produktion und dem Austausch, die Hebung der Lage des Proletariats und die
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Fortexistenz des Mittelstandes den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, die wachsende
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Kontrolle und Demokratie den Widerspruch zwischen Klassenstaat und Gesellschaft
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abstumpfen.</p>
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<p>Freilich besteht auch die landläufige sozialdemokratische Taktik nicht darin, daß man
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die Entwicklung der kapitalistischen Widersprüche bis zur äußersten Spitze und dann
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erst ihren Umschlag abwartet. Umgekehrt, wir stützen uns bloß auf die einmal erkannte
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Richtung der Entwicklung, treiben aber dann im politischen Kampfe ihre Konsequenzen auf
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die Spitze, worin das Wesen jeder revolutionären Taktik überhaupt besteht. So bekämpft
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die Sozialdemokratie z.B. die Zölle und den Militarismus zu allen Zeiten, nicht erst, als
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ihr reaktionärer Charakter völlig zum Durchbruch gelangt ist. Bernstein stützt sich
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aber in seiner Taktik überhaupt nicht auf die Weiterentwicklung und Verschärfung,
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sondern auf die Abstumpfung der kapitalistischen Widersprüche. Er selbst hat es am
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treffendsten gekennzeichnet, indem er von einer »Anpassung« der kapitalistischen
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Wirtschaft spricht. Wann hätte eine solche Auffassung ihre Richtigkeit? Alle
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Widersprüche der heutigen Gesellschaft sind einfache Ergebnisse der kapitalistischen
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Produktionsweise. Setzen wir voraus, daß diese Produktionsweise sich weiter in der bis
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jetzt gegebenen Richtung entwickelt, so müssen sich mit ihr unzertrennlich auch alle ihre
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Konsequenzen weiter entwickeln, die Widersprüche zuspitzen und verschärfen, statt sich
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abzustumpfen.</p>
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<p>Letzteres setzt also umgekehrt als Bedingung voraus, daß die kapitalistische
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Produktionsweise selbst in ihrer Entwicklung gehemmt wird. Mit einem Worte, die
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allgemeinste Voraussetzung der Bernsteinschen Theorie, das ist ein Stillstand in der
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kapitalistischen Entwicklung.</p>
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<p>Damit richtet sich aber die Theorie von selbst, und zwar doppelt. Denn erstens legt sie
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ihren utopischen Charakter in bezug auf das sozialistische Endziel bloß - es ist von
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vornherein klar, daß eine versumpfte kapitalistische Entwicklung nicht zur
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sozialistischen Umwälzung führen kann und hier haben wir die Bestätigung unserer
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Darstellung der praktischen Konsequenz der Theorie. Zweitens enthüllt sie ihren
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reaktionären Charakter in bezug auf die tatsächlich sich vollziehende rapide
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kapitalistische Entwicklung. Nun drängt sich die Frage auf: wie kann die Bernsteinsche
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Auffassungsweise angesichts dieser tatsächlichen kapitalistischen Entwicklung erklärt
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oder vielmehr charakterisiert werden?</p>
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<p>Daß die ökonomischen Voraussetzungen, von denen Bernstein in seiner Analyse der
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heutigen sozialen Verhältnisse ausgeht - seine Theorie der kapitalistischen »Anpassung«
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- unstichhaltig sind, glauben wir im ersten Abschnitt gezeigt zu haben. Wir sahen, daß
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weder das Kreditwesen noch die Kartelle als »Anpassungsmittel« der kapitalistischen
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Wirtschaft, weder das zeitweilige Ausbleiben der Krisen, noch die Fortdauer des
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Mittelstandes als Symptom der kapitalistischen Anpassung aufgefaßt werden können. Allen
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genannten Details der Anpassungstheorie liegt aber abgesehen von ihrer direkten
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Irrtümlichkeit - noch ein gemeinsamer charakteristischer Zug zugrunde. Diese Theorie
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faßt alle behandelten Erscheinungen des ökonomischen Lebens nicht in ihrer organischen
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Angliederung an die kapitalistische Entwicklung im ganzen und in ihrem Zusammenhange mit
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dem ganzen Wirtschaftsmechanismus auf, sondern aus diesem Zusammenhange gerissen, im
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selbständigen Dasein, als disjecta membra (zerstreute Teile) einer leblosen Maschine. So
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z.B. die Auffassung von der Anpassungswirkung des Kredits. Faßt man ins Auge den Kredit
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als eine naturwüchsige höhere Stufe des Austausches und im Zusammenhang mit allen dem
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kapitalistischen Austausch innewohnenden Widersprüchen, so kann man unmöglich in ihm
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irgendein gleichsam außerhalb des Austauschprozesses stehendes, mechanisches
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»Anpassungsmittel« sehen, ebenso wenig wie man das Geld selbst, die Ware, das Kapital
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als »Anpassungsmittel« des Kapitalismus ansehen kann. Der Kredit ist aber nicht um ein
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Haar weniger als Geld, Ware und Kapital ein organisches Glied der kapitalistischen
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Wirtschaft auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung und bildet auf dieser Stufe, wieder
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ganz wie jene, ebenso ein unentbehrliches Mittelglied ihres Räderwerkes, wie auch ein
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Zerstörungswerkzeug, indem es ihre inneren Widersprüche steigert.</p>
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<p>Ganz dasselbe gilt von den Kartellen und den vervollkommneten Verkehrsmitteln.</p>
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<p>Die gleiche mechanische und undialektische Auffassung liegt ferner in der Weise, wie
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Bernstein das Ausbleiben der Krisen als ein Symptom der »Anpassung« der kapitalistischen
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Wirtschaft hinnimmt. Für ihn sind die Krisen einfach Störungen im wirtschaftlichen
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Mechanismus, und bleiben sie aus, dann kann offenbar der Mechanismus glatt funktionieren.
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Die Krisen sind aber tatsächlich keine »Störungen« im eigentlichen Sinne, oder
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vielmehr, sie sind Störungen, ohne die aber die kapitalistische Wirtschaft im ganzen gar
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nicht auskommen kann. Ist es einmal Tatsache, daß die Krisen, ganz kurz ausgedrückt, die
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auf kapitalistischer Basis einzig mögliche, deshalb ganz normale Methode der periodischen
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Lösung des Zwiespaltes zwischen der unbeschränkten Ausdehnungsfähigkeit der Produktion
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und den engen Schranken des Absatzmarktes bilden, dann sind auch die Krisen
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unzertrennliche organische Erscheinungen der kapitalistischen Gesamtwirtschaft.</p>
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<p>In einem »störungslosen« Fortgang der kapitalistischen Produktion liegen vielmehr
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für sie Gefahren, die größer sind als die Krisen selbst. Es ist dies nämlich das,
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nicht aus dem Widerspruch zwischen Produktion und Austausch, sondern aus der Entwicklung
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der Produktivität der Arbeit selbst sich ergebende stete Sinken der Profitrate, das die
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höchst gefährliche Tendenz hat, die Produktion allen kleineren und mittleren Kapitalien
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unmöglich zu machen, und so der Neubildung, damit dem Fortschritt der Kapitalanlagen
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Schranken entgegenzusetzen. Gerade die Krisen, die sich aus demselben Prozeß als die
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andere Konsequenz ergeben, bewirken durch die periodische Entwertung des Kapitals, durch
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Verbilligung der Produktionsmittel und Lahmlegung eines Teils des tätigen Kapitals
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zugleich die Hebung der Profite und schaffen so für Neuanlagen und damit neue
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Fortschritte in der Produktion Raum. So erscheinen sie als Mittel, das Feuer der
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kapitalistischen Entwicklung immer wieder zu schüren und zu entfachen, und ihr
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Ausbleiben, nicht für bestimmte Momente der Ausbildung des Weltmarktes, wie wir es
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annehmen, sondern schlechthin, würde bald die kapitalistische Wirtschaft, nicht wie
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Bernstein meint, auf einen grünen Zweig, sondern direkt in den Sumpf gebracht haben. Bei
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der mechanischen Auffassungsweise, die die ganze Anpassungstheorie kennzeichnet, läßt
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Bernstein ebenso die Unentbehrlichkeit der Krisen, wie die Unentbehrlichkeit der
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periodisch immer wieder aufschießenden Neuanlagen von kleinen und mittleren Kapitalen
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außer acht, weshalb ihm u.a. auch die stete Wiedergeburt des Kleinkapitals als ein
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Zeichen des kapitalistischen Stillstandes, statt, wie tatsächlich, der normalen
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kapitalistischen Entwicklung, erscheint.</p>
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<p>Es gibt nun freilich einen Standpunkt, von dem alle behandelten Erscheinungen sich auch
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wirklich so darstellen, wie sie die »Anpassungstheorie« zusammenfaßt, nämlich den
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Standpunkt des einzelnen Kapitalisten, wie ihm die Tatsachen des wirtschaftlichen Lebens,
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verunstaltet durch die Gesetze der Konkurrenz, zum Bewußtsein kommen. Der einzelne
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Kapitalist sieht vor allem tatsächlich jedes organische Glied des Wirtschaftsganzen als
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ein Ganzes, Selbständiges für sich, er sieht sie auch ferner nur von der Seite, wie sie
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auf ihn, den einzelnen Kapitalisten, einwirken, deshalb als bloße »Störungen« oder
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bloße »Anpassungsmittel«. Für den einzelnen Kapitalisten sind die Krisen tatsächlich
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bloße Störungen, und ihr Ausbleiben gewährt ihm eine längere Lebensfrist, für ihn ist
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der Kredit gleichfalls ein Mittel, seine unzureichenden Produktivkräfte den Anforderungen
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des Marktes »anzupassen«, für ihn hebt ein Kartell, in das er eintritt, auch wirklich
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die Anarchie der Produktion auf.</p>
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<p>Mit einem Worte, die Bernsteinsche Anpassungstheorie ist nichts als eine theoretische
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Verallgemeinerung der Auffassungsweise des einzelnen Kapitalisten. Was ist aber diese
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Auffassungsweise im theoretischen Ausdruck anderes, als das Wesentliche und
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Charakteristische der bürgerlichen Vulgärökonomie? Alle ökonomischen Irrtümer dieser
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Schule beruhen eben auf dem Mißverständnis, daß die Erscheinungen der Konkurrenz,
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gesehen durch die Augen des Einzelkapitals, für Erscheinungen der kapitalistischen
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Wirtschaft im ganzen genommen werden. Und wie Bernstein den Kredit, so faßt die
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Vulgärökonomie auch noch z.B. das Geld als ein geistreiches »Anpassungsmittel« zu den
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Bedürfnissen des Austausches auf, sie sucht auch in den kapitalistischen Erscheinungen
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selbst die Gegengifte gegen die kapitalistischen Übel, sie glaubt, in Übereinstimmung
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mit Bernstein, an die Möglichkeit, die kapitalistische Wirtschaft zu regulieren, sie
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läuft endlich auch immer wie die Bernsteinsche Theorie in letzter Linie auf eine
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Abstumpfung der kapitalistischen Widersprüche und Verkleisterung der kapitalistischen
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Wunden, d.h. mit anderen Worten auf ein reaktionäres statt dem revolutionären Verfahren,
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und damit auf eine Utopie hinaus.</p>
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<p>Die revisionistische Theorie im ganzen genommen läßt sich also folgendermaßen
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charakterisieren: es ist dies eine Theorie der sozialistischen Versumpfung,
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vulgärökonomisch begründet durch eine Theorie der kapitalistischen Versumpfung.</p>
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<H3 align="center"><B> Zweiter Teil</B><BR>
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<A name="2_1">1. Die ökonomische Entwicklung und der Sozialismus</a></H3>
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<p>Die größte Errungenschaft des proletarischen Klassenkampfes in seiner Entwicklung war
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die Entdeckung der Ansatzpunkte für die Verwirklichung des Sozialismus in den
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ökonomischen Verhältnissen der kapitalistischen Gesellschaft. Dadurch ist der
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Sozialismus aus einem »Ideal«, das jahrtausendelang der Menschheit vorschwebte,
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zur geschichtlichen Notwendigkeit geworden.</p>
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<p>Bernstein bestreitet die Existenz dieser ökonomischen Voraussetzungen des Sozialismus
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in der gegenwärtigen Gesellschaft. Dabei macht er selbst in seiner Beweisführung eine
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interessante Entwicklung durch. Anfangs, in der »Neuen Zeit«, bestritt er bloß die
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Raschheit der Konzentration in der Industrie und stützte dies auf einen Vergleich der
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Ergebnisse der Gewerbestatistik in Deutschland von 1895 und 1882. Dabei mußte er, um
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diese Ergebnisse für seine Zwecke zu benutzen, zu ganz summarischem und mechanischem
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Verfahren seine Zuflucht nehmen. Aber auch im günstigsten Falle konnte Bernstein mit
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seinem Hinweise auf die Zähigkeit der Mittelbetriebe die Marxsche Analyse nicht im
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mindesten treffen. Denn diese setzt weder ein bestimmtes Tempo der Konzentration der
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Industrie, das heißt eine bestimmte Frist für die Verwirklichung des sozialistischen
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Endzieles, noch auch, wie wir gezeigt haben, ein absolutes Verschwinden der Kleinkapitale,
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bzw. das Verschwinden des Kleinbürgertums als Bedingung der Realisierbarkeit des
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Sozialismus voraus.</p>
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<p>In weiterer Entwicklung seiner Ansichten gibt nun Bernstein in seinem Buche neues
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Beweismaterial, und zwar: die Statistik der Aktiengesellscbaflen, die dartun soll, daß
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die Zahl der Aktionäre sich stets vergrößert, die Kapitalistenklasse also nicht
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zusammenschmilzt, sondern im Gegenteil immer größer wird. Es ist erstaunlich, wie wenig
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Bernstein das vorhandene Material kennt und wie wenig er es zu seinen Gunsten zu
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gebrauchen weiß!</p>
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<p>Wollte er durch Aktiengesellschaften etwas gegen das Marxsche Gesetz der industriellen
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Entwicklung beweisen, dann hätte er ganz andere Zahlen bringen sollen. Nämlich
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jedermann, der die Geschichte der Aktiengründung in Deutschland kennt, weiß, das ihr
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durchschnittliches, auf eine Unternehmung fallendes Gründungskapital in fast
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regelmäßiger Abnahme begriffen ist. So betrug dieses Kapital vor 1871 etwa 10,8
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Millionen Mark, 1871 nur noch 4,01 Millionen Mark, 1873: 3,8 Millionen Mark, 1883 bis 1887
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weniger als 1 Millionen Mark, 1891 nur 0,56 Millionen Mark, 1892: 0,62 Millionen Mark.
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Seitdem schwanken die Beträge um 1 Million Mark, und zwar sind sie wieder von I,78
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Millionen Mark im Jahre 1895 auf 1,19 Millionen Mark im 1. Semester 1897 gefallen.10</p>
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<p>Erstaunliche Zahlen! Bernstein würde wahrscheinlich damit gar eine ganze
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contra-Marxsche Tendenz des Überganges von Großbetrieben zurück auf Kleinbetriebe
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konstruieren. Allein in diesem Falle könnte ihm jedermann erwidern: Wenn Sie mit dieser
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Statistik etwas nachweisen wollen, dann müssen Sie vor allem beweisen, daß sie sich auf
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dieselben Industriezweige bezieht, daß die kleineren Betriebe nun an Stelle der alten
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großen und nicht dort auftreten, wo bis jetzt das Einzelkapital oder gar Handwerk oder
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Zwergbetrieb war. Diesen Beweis gelingt es Ihnen aber nicht zu erbringen, denn der
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Übergang von riesigen Aktiengründungen zu mittleren und kleinen ist gerade nur dadurch
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erklärlich, daß das Aktienwesen in stets neue Zweige eindringt, und wenn es anfangs nur
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für wenige Riesenunternehmungen taugte, es sich jetzt immer mehr dem Mittelbetriebe, hie
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und da sogar dem Kleinbetriebe angepaßt hat. (Selbst Aktiengründungen bis 1.000 Mark
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Kapital herunter kommen vor!)</p>
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<p>Was bedeutet aber volkswirtschaftlich die immer größere Verbreitung des Aktienwesens?
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Sie bedeutet die fortschreitende Vergesellschaftung der Produktion in kapitalistischer
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Form, die Vergesellschaftung nicht nur der Riesen-, sondern auch der Mittel- und sogar der
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Kleinproduktion, also etwas, was der Marxschen Theorie nicht widerspricht, sondern sie in
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denkbar glänzendster Weise bestätigt.</p>
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<p>In der Tat! Worin besteht das ökonomische Phänomen der Aktiengründung? Einerseits in
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der Vereinigung vieler kleiner Geldvermögen zu Einem Produktionskapital, andererseits in
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der Trennung der Produktion vom Kapitaleigentum, also in einer zweifachen Überwindung der
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kapitalistischen Produktionsweise - immer auf kapitalistischer Basis. Was bedeutet
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angesichts dessen die von Bemstein angeführte Statistik der großen Zahl der an einer
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Unternehmung beteiligten Aktionäre? Eben nichts anderes, als daß jetzt Eine
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kapitalistische Unternehmung nicht Einem Kapitaleigentümer wie ehedem, sondern einer
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ganzen Anzahl, einer immer mehr anwachsenden Zahl von Kapitaleigentümern entspricht, daß
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somit der wirtschaftliche Begriff »Kapitalist« sich nicht mehr mit dem Einzelindividuum
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deckt, daß der heutige industrielle Kapitalist eine Sammelperson ist, die aus Hunderten,
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ja aus Tausenden von Personen besteht, daß die Kategorie »Kapitalist« selbst im Rahmen
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der kapitalistischen Wirtschaft zur gesellschaftlichen, daß sie vergesellsschaftet wurde.</p>
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<p>Wie erklärt es sich aber angesichts dessen, daß Bernstein das Phänomen der
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Aktiengesellschaften gerade umgekehrt als eine Zersplitterung und nicht als eine
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Zusammenfassung des Kapitals auffaßt, daß er dort Verbreitung des Kapitaleigentums, wo
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Marx »Aufhebung des Kapitaleigentums« sieht? Durch einen sehr einfachen
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vulgärökonomischen Schnitzer: weil Bernstein unter Kapitalist nicht eine Kategorie der
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Produktion, sondern des Eigentumsrechts, nicht eine wirtschaftliche, sondern eine
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steuerpolitische Einheit, unter Kapital nicht ein Produktionsganzes, sondern schlechthin
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Geldvermögen versteht. Deshalb sieht er in seinem englischen Nähgarntrust nicht die
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Zusammenschweißung von 12.300 Personen zu Einem, sondern ganze 12.300 Kapitalisten,
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deshalb ist ihm auch sein Ingenieur Schulze, der als Mitgift für seine Frau vom Rentier
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Müller »eine größere Anzahl Aktien« bekommen hat (S.54), auch ein Kapitalist, deshalb
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wimmelt ihm die ganze Welt von »Kapitalisten«.</p>
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<p>Aber hier wie sonst ist der vulgärökonomische Schnitzer bei Bernstein bloß der
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theoretische Boden für eine Vulgarisierung des Sozialismus. Indem Bernstein den Begriff
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Kapitalist aus den Produktionsverhältnissen in die Eigentumsverhältnisse überträgt
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und, »statt von Unternehmern von Menschen spricht« (S.53), überträgt er auch die Frage
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des Sozialismus aus dem Gebiete der Produktion auf das Gebiet der Vermögensverhältnisse,
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aus dem Verhältnis von Kapital und Arbeit in das Verhältnis von reich und arm.</p>
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<p>Damit sind wir von Marx und Engels glücklich auf den Verfasser des »Evangeliums des
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armen Sünders« zurückgebracht, nur mit dem Unterschiede, daß Weitling mit richtigem
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proletarischem Instinkt eben in diesem Gegensatz von arm und reich in primitiver Form die
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Klassengegensätze erkannte, und zum Hebel der sozialistischen Bewegung machen wollte,
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während Bernstein umgekehrt, in der Verwandlung der Armen in Reiche, d.h. in der
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Verwischung des Klassengegensatzes, also im kleinbürgerlichen Verfahren die Aussichten
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des Sozialismus sieht.</p>
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<p>Freilich beschränkt sich Bernstein nicht auf die Einkommensstatistik. Er gibt uns auch
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Betriebsstatistik, und zwar aus mehreren Ländern: aus Deutschland und aus Frankreich, aus
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England und aus der Schweiz, aus Österreich und aus den Vereinigten Staaten. Aber was
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für eine Statistik ist das? Es sind dies nicht etwa vergleichende Daten aus verschiedenen
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Zeitpunkten in je einem Lande, sondern aus je einem Zeitpunkt in verschiedenen Ländern.
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Er vergleicht also - ausgenommen Deutschland, wo er seine alte Gegenüberstellung von 1895
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und 1882 wiederholt - nicht den Stand der Betriebsgliederung eines Landes in verschiedenen
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Momenten, sondern nur die absoluten Zahlen für verschiedene Länder (für England vom
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Jahre 1891, Frankreich 1894, Vereinigte Staaten 1890 usw.). Der Schluß, zu dem er
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gelangt, ist der, »daß, wenn der Großbetrieb in der Industrie heute tatsächlich schon
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das Übergewicht hat, er doch, die von ihm abhängigen Betriebe eingerechnet, selbst in
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einem so vorgeschrittenen Lande wie Preußen höchstens die Hälfte der in der Produktion
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tätigen Bevölkerung vertritt«, und ähnlich in ganz Deutschland, England, Belgien usw.
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(S. 84).</p>
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<p>Was er auf diese Weise nachweist, ist offenbar nicht diese oder jene Tendenz der
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ökonomischen Entwicklung, sondern bloß das absolute Stärkeverhältnis der verschiedenen
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Betriebsformen bzw. verschiedenen Berufsklassen. Soll damit die Aussichtslosigkeit des
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Sozialismus bewiesen werden, so liegt dieser Beweisführung eine Theorie zugrunde, wonach
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über den Ausgang sozialer Bestrebungen das zahlenmäßige, physische Stärkeverhältnis
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der Kämpfenden, also das bloße Moment der Gewalt entscheidet. Hier fällt der überall
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den Blanquismus witternde Bernstein zur Abwechslung selbst in das gröbste blanquistische
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Mißverständnis zurück. Allerdings wieder mit dem Unterschied, daß die Blanquisten als
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eine sozialistische und revolutionäre Richtung die ökonomische Durchführbarkeit des
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Sozialismus als selbstverständlich voraussetzten, und auf sie die Aussichten der
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gewaltsamen Revolution sogar einer kleinen Minderheit gründeten, während Bernstein
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umgekehrt aus der zahlenmäßigen Unzulänglichkeit der Volksmehrheit die ökonomische
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Aussichtslosigkeit des Sozialismus folgert. Die Sozialdemokratie leitet ihr Endziel
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ebensowenig von der siegreichen Gewalt der Minderheit, wie von dem zahlenmäßigen
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Übergewicht der Mehrheit, sondern von der ökonomischen Notwendigkeit - und der Einsicht
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in diese Notwendigkeit - ab, die zur Aufhebung des Kapitalismus durch die Volksmasse
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führt, und die sich vor allem in der kapitalistischen Anarchie äußert.</p>
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<p>Was diese letzte entscheidende Frage der Anarchie in der kapitalistischen Wirtschaft
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anbetrifft, so leugnet Bernstein selbst bloß die großen und die allgemeinen Krisen,
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nicht aber partielle und nationale Krisen. Er stellt somit bloß sehr viel Anarchie in
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Abrede und gibt gleichzeitig die Existenz von ein wenig Anarchie zu. Der kapitalistischen
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Wirtschaft geht es bei Bernstein wie - um einmal auch mit Marx zu reden - jener törichten
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Jungfer mit dem Kinde, das »nur ganz klein« war. Das Fatale bei der Sache ist nun, daß
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in solchen Dingen wie die Anarchie, wenig und viel gleich schlimm ist. Gibt Bernstein ein
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wenig Anarchie zu, so sorgt der Mechanismus der Warenwirtschaft von selbst für die
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Steigerung dieser Anarchie ins Ungeheure - bis zum Zusammenbruch. Hofft Bernstein aber -
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unter gleichzeitiger Beibehaltung der Warenproduktion - auch das bißchen Anarchie
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allmählich in Ordnung und Harmonie aufzulösen, so verfällt er wiederum in einen der
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fundamentalsten Fehler der bürgerlichen Vulgärökonomie, indem er die Austauschweise von
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der Produktionsweise als unabhängig betrachtet.</p>
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<p>Es ist hier nicht die entscheidende Gelegenheit, die überraschende Verwirrung in bezug
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auf die elementarsten Grundsätze der politischen Ökonomie, die Bernstein in seinem Buche
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an den Tag gelegt hat, in ihrem Ganzen zu zeigen. Aber ein Punkt, auf den uns die
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Grundfrage der kapitalistischen Anarchie führt, soll kurz beleuchtet werden.</p>
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<p>Bernstein erklärt, das Marxsche Arbeitswertgesetz sei eine bloße Abstraktion, was
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nach ihm in der politischen Ökonomie offenbar ein Schimpfwort ist. Ist aber der
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Arbeitswert bloß eine Abstraktion, »ein Gedankenbild« (S.44), dann hat jeder
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rechtschaffene Bürger, der beim Militär gedient und seine Steuern entrichtet hat, das
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gleiche Recht wie Karl Marx, sich beliebigen Unsinn zu einem solchen »Gedankenbild«,
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d.h. zum Wertgesetz, zurecht zu machen. »Von Hause aus ist es Marx ebenso erlaubt, von
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den Eigenschaften der Waren soweit abzusehen, daß sie schließlich nur noch
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Verkörperungen von Mengen einfacher menschlicher Arbeit bleiben, wie es der
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Böhm-Jevonsschen Schule freisteht, von alle Eigenschaften der Waren außer ihrer
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Nützlichkeit zu abstrahieren«.</p>
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<p>Also die Marxsche gesellschaftliche Arbeit und die Mengersche abstrakte Nützlichkeit,
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das ist ihm gehüpft wie gesprungen: alles bloß Abstraktion. Bernstein hat somit ganz
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vergessen, daß die Marxsche Abstraktion nicht eine Erfindung, sondern eine Entdeckung
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ist, daß sie nicht in Marxens Kopfe, sondern in der Warenwirtschaft existiert, nicht ein
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eingebildetes, sondern ein reales gesellschaftliches Dasein führt, ein so reales Dasein,
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daß sie geschnitten und gehämmert, gewogen und geprägt wird. Die von Marx entdeckte
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abstrakt-menschliche Arbeit ist nämlich in ihrer entfalteten Form nichts anderes als -
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das Geld. Und dies ist gerade eine der genialsten ökonomischen Entdeckungen von Marx,
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während für die ganze bürgerliche Ökonomie, vom ersten Merkantilisten bis auf den
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letzten Klassiker, das mystische Wesen des Geldes ein Buch mit sieben Siegeln geblieben
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ist.</p>
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<p>Hingegen ist die Böhm-Jevonssche abstrakte Nützlichkeit tatsächlich bloß ein
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Gedankenbild oder vielmehr ein Bild der Gedankenlosigkeit, ein Privatblödsinn, für den
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weder die kapitalistische, noch eine andere menschliche Gesellschaft, sondern einzig und
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allein die bürgerliche Vulgärökonomie verantwortlich gemacht werden kann. Mit diesem
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»Gedankenbild« im Kopfe können Bernstein und Böhm und Jevons mit der ganzen
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subjektiven Gemeinde vor dem Mysterium des Geldes noch zwanzig Jahre stehen, ohne daß sie
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zu einer anderen Lösung kommen, als was jeder Schuster ohne sie schon wußte: daß das
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Geld auch eine »nützliche« Sache ist.</p>
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<p>Bernstein hat somit für das Marxsche Wertgesetz das Verständnis gänzlich verloren.
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Für denjenigen aber, der mit dem Marxschen ökonomischen System einigermaßen vertraut
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ist, wird ohne weiteres klar sein, daß ohne das Wertgesetz das ganze System völlig
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unverständlich bleibt, oder, um konkreter zu sprechen, ohne Verständnis des Wesens der
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Ware und ihres Austausches die ganze kapitalistische Wirtschaft mit ihren Zusammenhängen
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ein Geheimnis bleiben muß.</p>
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<p>Was ist aber der Marxsche Zauberschlüssel, der ihm gerade die innersten Geheimnisse
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aller kapitalistischen Erscheinungen geöffnet hat, der ihn mit spielender Leichtigkeit
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Probleme lösen ließ, von denen die größten Geister der bürgerlichen klassischen
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Ökonomie, wie Smith und Ricardo, nicht einmal die Existenz ahnten? Nichts anderes als die
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Auffassung von der ganzen kapitalistischen Wirtschaft, als von einer historischen
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Erscheinung, und zwar nicht nur nach hinten, wie es im besten Falle die klassische
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Ökonomie verstand, sondern auch nach vorne, nicht nur im Hinblick auf die
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feudalwirtschaftliche Vergangenheit, sondern namentlich auch im Hinblick auf die
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sozialistische Zukunft. Das Geheimnis der Marxschen Wertlehre, seiner Geldanalyse, seiner
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Kapitaltheorie, seiner Lehre von der Profitrate, und somit des ganzen ökonomischen
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Systems ist - die Vergänglichkeit der kapitalistischen Wirtschaft, ihr Zusammenbruch,
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also - dies nur die andere Seite - das sozialistische Endziel. Gerade und nur weil Marx
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von vornherein als Sozialist, d.h. unter dem geschichtlichen Gesichtspunkte die
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kapitalistische Wirtschaft ins Auge faßte, konnte er ihre Hieroglyphe entziffern, und
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weil er den sozialistischen Standpunkt zum Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Analyse
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der bürgerlichen Gesellschaft machte, konnte er umgekehrt den Sozialismus
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wissenschaftlich begründen.</p>
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<p>Daran sind die Bemerkungen Bernsteins am Schlusse seines Buches zu messen, wo er über
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den »Dualismus« (Zwiespalt) klagt, »der durch das ganze monumentale Marxsche
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Werk geht«, »einen Dualismus, der darin besteht, daß das Werk wissenschaftliche
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Untersuchung sein und doch eine, lange vor seiner Konzipierung (Abfassung) fertige These
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beweisen will, daß ihm ein Schema zugrunde liegt, in dem das Resultat, zu dem hin die
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Entwicklung führen sollte, schon von vornherein feststand. Das Zurückkommen auf das
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kommunistische Manifest (d.h. auf das sozialistische Endziel! D.V.) weist hier auf einen
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tatsächlichen Rest von Utopismus im Marxschen System hin.«</p>
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<p>Der Marxsche »Dualismus« ist aber nichts anderes als der Dualismus der
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sozialistischen Zukunft und der kapitalistischen Gegenwart, des Kapitals und der Arbeit,
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der Bourgeoisie und des Proletariats, er ist die monumentale wissenschaftliche
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Abspiegelung des in der bürgerlichen Gesellschaft existierenden Dualismus, der
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bürgerlichen Klassengegensätze.</p>
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<p>Und wenn Bernstein in diesem theoretischen Dualismus bei Marx »einen Überrest des
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Utopismus« sieht, so ist das nur ein naives Bekenntnis, daß er den geschichtlichen
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Dualismus in der bürgerlichen Gesellschaft, die kapitalistischen Klassengegensätze
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leugnet, daß für ihn der Sozialismus selbst zu einem »Überrest des Utopismus«
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geworden ist. Der »Monismus«, d.h. die Einheitlichkeit Bernsteins ist die
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Einheitlichkeit der verewigten kapitalistischen Ordnung, die Einheitlichkeit des
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Sozialisten, der sein Endziel fallen gelassen hat, um dafür in der einen und
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unwandelbaren bürgerlichen Gesellschaft das Ende der menschlichen Entwicklung zu sehen.</p>
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<p>Sieht aber Bemstein in der ökonomischen Struktur des Kapitalismus selbst den
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Zwiespalt, die Entwicklung zum Sozialismus nicht, so muß er, um das sozialistische
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Programm wenigstens in der Form zu retten, zu einer außerhalb der ökonomischen
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Entwicklung liegenden, zu einer idealistischen Konstruktion Zuflucht nehmen und den
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Sozialismus selbst aus einer bestimmten geschichtlichen Phase der gesellschaftlichen
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Entwicklung in ein abstraktes »Prinzip« verwandeln.</p>
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<p>Das Bernsteinsche »Prinzip der Genossenschaftlichkeit«, mit dem die kapitalistische
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Wirtschaft ausgeschmückt werden soll, dieser dünnste »Abkläricht« des sozialistischen
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Endzieles, erscheint angesichts dessen nicht als ein Zugeständnis seiner bürgerlichen
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Theorie an die sozialistische Zukunft der Gesellschaft, sondern an die sozialistische
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Vergangenheit - Bernsteins.</p>
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<H3 align="center"><A name="2_2">2.
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Gewerkschaften, Genossenschaften und politische Demokratie</a></H3>
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<p>Wir haben gesehen, der Bernsteinsche Sozialismus läuft auf den Plan hinaus, die
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Arbeiter an dem gesellschaftlichen Reichtum teilnehmen zu lassen, die Armen in Reiche zu
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verwandeln. Wie soll das bewerkstelligt werden? In seinen Aufsätzen »Probleme des
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Sozialismus« in der »Neuen Zeit« ließ Bernstein nur kaum verständliche
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Fingerzeige durchblicken, in seinem Buche gibt er über diese Frage vollen Aufschluß:
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sein Sozialismus soll auf zwei Wegen, durch Gewerkschaften oder, wie Bernstein es nennt,
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wirtschaftliche Demokratie, und durch Genossenschaften verwirklicht werden. Durch die
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ersteren will er dem industriellen, durch die letzteren dem kaufmännischen Profit an den
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Kragen. </p>
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<p>Was die Genossenschaften, und zwar vor allem die Produktivgenossenschaften betrifft, so
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stellen sie ihrem inneren Wesen nach inmitten der kapitalistischen Wirtschaft ein
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Zwitterding dar: eine im kleinen sozialisierte Produktion bei kapitalistischem Austausche.
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In der kapitalischen Wirtschaft beherrscht aber der Austausch die Produktion und macht,
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angesichts der Konkurrenz, rücksichtslose Ausbeutung, d.h. völlige Beherrschung des
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Produktionsprozesses durch die Interessen des Kapitals, zur Existenzbedingung der
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Unternehmung. Praktisch äußert sich das in der Notwendigkeit, die Arbeit möglichst
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intensiv zu machen, sie zu verkürzen oder zu verlängern, je nach der Marktlage, die
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Arbeitskraft je nach den Anforderungen des Absatzmarktes heranzuziehen oder sie
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abzustoßen und aufs Pflaster zu setzen, mit einem Worte, all die bekannten Methoden zu
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praktizieren, die eine kapitalistische Unternehmung konkurrenzfähig machen. In der
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Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die
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Arbeiter, sich selbst mit dem ganzen erforderlichen Absolutismus zu regieren, sich selbst
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gegenüber die Rolle des kapitalistischen Unternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche
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geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen
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Unternehmung sich rückentwickelt, oder, falls die Interessen der Arbeiter stärker sind,
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sich auflöst. Das sind die Tatsachen, die Bernstein selbst konstatiert, aber
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mißversteht, indem er nach Frau Potter-Webb die Ursache des Unterganges der
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Produktivgenossenschaften in England in der mangelnden »Disziplin« sieht. Was hier
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oberflächlich und seicht als Disziplin bezeichnet wird, ist nichts anderes als das
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natürliche absolute Regime des Kapitals, das die Arbeiter allerdings sich selbst
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gegenüber unmöglich ausüben können.</p>
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<p>Daraus folgt, daß die Produktivgenossenschaft sich ihre Existenz inmitten der
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kapitalistischen Wirtschaft nur dann sichern kann, wenn sie auf einem Umwege den in ihr
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verborgenen Widerspruch zwischen Produktionsweise und Austauschweise aufhebt, indem sie
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sich künstlich den Gesetzen der freien Konkurrenz entzieht. Dies kann sie nur, wenn sie
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sich von vornherein einen Absatzmarkt, einen festen Kreis von Konsumenten sichert. Als
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solches Hilfsmittel dient ihr eben der Konsumverein. Darin wiederum, und nicht in der
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Unterscheidung in Kauf- und Verkaufsgenossenschaften, oder wie der Oppenheimersche Einfall
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sonst lautet, liegt das von Bernstein behandelte Geheimnis, warum selbständige
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Produktivgenossenschaften zugrunde gehen, und erst der Konsumverein ihnen eine Existenz zu
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sichern vermag.</p>
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<p>Sind aber somit die Existenzbedingungen der Produktivgenossenschaften in der heutigen
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Gesellschaft an die Existenzbedingungen der Konsumvereine gebunden, so folgt daraus in
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weiterer Konsequenz, daß die Produktivgenossenschaften im günstigsten Falle auf kleinen
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lokalen Absatz und auf wenige Produkte des unmittelbaren Bedarfs, vorzugsweise auf
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Lebensmittel angewiesen sind. Alle wichtigsten Zweige der kapitalistischen Produktion: die
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Textil-, Kohlen-, Metall-, Petroleumindustrie, sowie der Maschinen-, Lokomotiven- und
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Schiffsbau sind vom Konsumverein, also auch von der Produktivgenossenschaft von vornherein
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ausgeschlossen. Abgesehen also von ihrem Zwittercharakter können die
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Produktivgenossenschaften als allgemeine soziale Reform schon aus dem Grunde nicht
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erscheinen, weil ihre allgemeine Durchführung vor allem die Abschaffung des Weltmarktes
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und Auflösung der bestehenden Weltwirtschaft in kleine lokale Produktions- und
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Austauschgruppen, also dem Wesen nach einen Rückgang von großkapitalistischer auf
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mittelalterliche Warenwirtschaft voraussetzt.</p>
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<p>Aber auch in den Grenzen ihrer möglichen Verwirklichung, auf dem Boden der
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gegenwärtigen Gesellschaft reduzieren sich die Produktivgenossenschaften notwendigerweise
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in bloße Anhängsel der Konsumvereine, die somit als die Hauptträger der beabsichtigten
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sozialistischen Reform in den Vordergrund treten. Die ganze sozialistische Reform durch
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die Genossenschaften reduziert sich aber dadurch aus einem Kampf gegen das
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Produktivkapital, d.h. gegen den Hauptstamm der kapitalistischen Wirtschaft, in einen
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Kampf gegen das Handelskapital, und zwar gegen das Kleinhandels-, das
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Zwischenhandelskapital, d.h. bloß gegen kleine Abzweigungen des kapitalistischen Stammes.</p>
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<p>Was die Gewerkschaften betrifft, die nach Bernstein ihrerseits ein Mittel gegen die
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Ausbreitung des Produktivkapitals darstellen sollen, so haben wir bereits gezeigt, daß
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die Gewerkschaften nicht imstande sind, den Arbeitern einen Einfluß auf den
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Produktionsprozeß, weder in bezug auf den Produktionsumfang, noch in bezug auf das
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technische Verfahren, zu sichern.</p>
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<p>Was aber die rein ökonomische Seite, »den Kampf der Lohnrate mit der Profitrate«
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betrifft, wie Bernstein es nennt, so wird dieser Kampf, wie gleichfalls bereits gezeigt,
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nicht in dem freien blauen Luftraum, sondern in den bestimmten Schranken des Lohngesetzes
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ausgefochten, das er nicht zu durchbrechen, sondern bloß zu verwirklichen vermag. Dies
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wird auch klar, wenn man die Sache von einer anderen Seite faßt und sich die Frage nach
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den eigentlichen Funktionen der Gewerkschaften stellt.</p>
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<p>Die Gewerkschaften, denen Bernstein die Rolle zuweist, in dem Emanzipationskampfe der
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Arbeiterklasse den eigentlichen Angriff gegen die industrielle Profitrate zu führen und
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sie stufenweise in die Lohnrate aufzulösen, sind nämlich gar nicht imstande, eine
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ökonomische Angriffspolitik gegen den Profit zu führen, weil sie nichts sind als die
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organisierte Defensive der Arbeitskraft gegen die Angriffe des Profits, als die Abwehr der
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Arbeiterklasse gegen die herabdrückende Tendenz der kapitalistischen Wirtschaft. Dies aus
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zwei Gründen.</p>
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<p>Erstens haben die Gewerkschaften zur Aufgabe, die Marktlage der Ware Arbeitskraft durch
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ihre Organisation zu beeinflussen, die Organisation wird aber durch den Prozeß der
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Proletarisierung der Mittelschichten, der dem Arbeitsmarkt stets neue Ware zuführt,
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beständig durchbrochen. Zweitens bezwecken die Gewerkschaften die Hebung der
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Lebenshaltung, die Vergrößerung des Anteils der Arbeiterklasse am gesellschaftlichen
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Reichtum, dieser Anteil wird aber durch das Wachstum der Produktivität der Arbeit mit der
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Fatalität eines Naturprozesses beständig herabgedrückt. Um letzteres einzusehen,
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braucht man durchaus nicht ein Marxist zu sein, sondern bloß: »Zur Beleuchtung der
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sozialen Frage«, von Rodbertus, einmal in der Hand gehabt zu haben.</p>
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<p>In beiden wirtschaftlichen Hauptfunktionen verwandelt sich also der gewerkschaftliche
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Kampf kraft objektiver Vorgänge in der kapitalistischen Gesellschaft in eine Art
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Sisyphusarbeit. Diese Sisyphusarbeit ist allerdings unentbehrlich, soll der Arbeiter
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überhaupt zu der ihm nach der jeweiligen Marktlage zufallenden Lohnrate kommen, soll das
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kapitalistische Lohngesetz verwirklicht und die herabdrückende Tendenz der
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wirtschaftlichen Entwicklung in ihrer Wirkung paralysiert, oder genauer, abgeschwächt
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werden. Gedenkt man aber, die Gewerkschaften in ein Mittel zur stufenweisen Verkürzung
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des Profits zugunsten des Arbeitslohnes zu verwandeln, so setzt dies vor allem als soziale
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Bedingung erstens einen Stillstand in der Proletarisierung der Mittelschichten und dem
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Wachstum der Arbeiterklasse, zweitens einen Stillstand in dem Wachstum der Produktivität
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der Arbeit, also in beiden Fällen, ganz wie die Verwirklichung der
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konsumgenossenschaftlichen Wirtschaft, einen Rückgang auf vorgroßkapitalistische
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Zustände voraus.</p>
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<p>Die beiden Bernsteinschen Mittel der sozialistischen Reform: die Genossenschaften und
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die Gewerkschaften erweisen sich somit als gänzlich unfähig, die kapitalistische
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Produktionsweise umzugestalten. Bernstein ist sich dessen im Grunde genommen auch selbst
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dunkel bewußt und faßt sie bloß als Mittel auf, den kapitalistischen Profit
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abzuzwacken, und die Arbeiter auf diese Weise zu bereichern. Damit verzichtet er aber
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selbst auf den Kampf mit der kapitalistischen Produktionsweise und richtet die
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sozialdemokratische Bewegung auf den Kampf gegen die kapitalistische Verteilung. Bernstein
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formuliert auch wiederholt seinen Sozialismus als das Bestreben nach einer »gerechten«,
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»gerechteren« (S. 51 seines Buches), ja einer »noch gerechteren«
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(»Vorwärts« vom 26. März 1899) Verteilung.</p>
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<p>Der nächste Anstoß zur sozialdemokratischen Bewegung wenigstens bei den Volksmassen
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ist freilich auch die »ungerechte« Verteilung der kapitalistischen Ordnung. Und indem
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sie für die Vergesellschaftung der gesamten Wirtschaft kämpft, strebt die
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Sozialdemokratie dadurch selbstverständlich auch eine »gerechte« Verteilung des
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gesellschaftlichen Reichtums an. Nur richtet sie ihren Kampf, dank der von Marx gewonnenen
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Einsicht, daß die jeweilige Verteilung bloß eine naturgesetzliche Folge der jeweiligen
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Produktionsweise ist, nicht auf die Verteilung im Rahmen der kapitalistischen Produktion,
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sondern auf die Aufhebung der Warenproduktion selbst. Mit einem Wort, die Sozialdemokratie
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will die sozialistische Verteilung durch die Beseitigung der kapitalistischen
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Produktionsweise herbeiführen, während das Bernsteinsche Verfahren ein direkt
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umgekehrtes ist; er will die kapitalistische Verteilung bekämpfen und hofft auf diesem
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Wege allmählich die sozialistische Produktionsweise herbeizuführen.</p>
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<p>Wie kann aber in diesem Falle die Bernsteinsche sozialistische Reform begründet
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werden? Durch bestimmte Tendenzen der kapitalistischen Produktion? Keineswegs, denn
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erstens leugnet er ja diese Tendenzen, und zweitens ist bei ihm nach dem vorher Gesagten
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die erwünschte Gestaltung der Produktion Ergebnis und nicht Ursache der Verteilung. Die
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Begründung seines Sozialismus kann also keine ökonomische sein. Nachdem er Zweck und
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Mittel des Sozialismus und damit die ökonomischen Verhältnisse auf den Kopf gestellt
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hat, kann er keine materialistische Begründung für sein Programm geben, ist er
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gezwungen, zu einer idealistischen zu greifen.</p>
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<p>»Wozu die Ableitung des Sozialismus aus dem ökonomischen Zwange?« hören wir ihn
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dann sagen. »Wozu die Degradierung der Einsicht, des Rechtsbewußtseins, des Willens der
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Menschen?« (»Vorwärts« vom 26. März 1899). Die Bemsteinsche gerechtere
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Verteilung soll also kraft des freien, nicht im Dienste der wirtschaftlichen Notwendigkeit
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wirkenden Willens der Menschen, oder genauer, da der Wille selbst bloß ein Instrument
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ist, kraft der Einsicht in die Gerechtigkeit, kurz, kraft der Gerechtigkeitsidee
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verwirklicht werden.</p>
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<p>Da sind wir glücklich bei dem Prinzip der Gerechtigkeit angelangt, bei diesem alten,
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seit Jahrtausenden von allen Weltverbesserern in Ermangelung sicherer geschichtlicher
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Beförderungsmittel gerittenen Renner, bei der klapprigen Rosinante, auf der alle Don
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Quichottes der Geschichte zur großen Weltreform hinausritten, um schließlich nichts
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andres heimzubringen als ein blaues Auge.</p>
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<p>Das Verhältnis von arm und reich als gesellschaftliche Grundlage des Sozialismus, das
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»Prinzip« der Genossenschaftlichkeit als sein Inhalt, die »gerechtere Verteilung« als
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sein Zweck und die Idee der Gerechtigkeit als seine einzige geschichtliche Legitimation -
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mit wieviel mehr Kraft, mit wieviel mehr Geist, mit wieviel mehr Glanz vertrat doch
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Weitling vor mehr als 50 Jahren diese Sorte von Sozialismus! Allerdings kannte der geniale
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Schneider den wissenschaftlichen Sozialismus noch nicht. Und wenn heute, nach einem halben
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Jahrhundert, seine von Marx und Engels in kleine Fetzen zerzauste Auffassung glücklich
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wieder zusammengeflickt und dem deutschen Proletariat als letztes Wort der Wissenschaft
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angeboten wird, so gehört dazu allenfalls auch ein Schneider ... aber kein genialer.</p>
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<p>Wie die Gewerkschaften und Genossenschaften ökonomische Stützpunkte, so ist die
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wichtigste politische Voraussetzung der revisionistischen Theorie eine stets
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fortschreitende Entwicklung der Demokratie. Die heutigen Reaktionsausbrüche sind dem
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Revisionismus nur »Zuckungen«, die er für zufällig und vorübergehend hält, und mit
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denen bei der Aufstellung der allgemeinen Richtschnur für den Arbeiterkampf nicht zu
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rechnen sei.</p>
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<p>(Es kommt aber nicht darauf an, was Bernstein auf Grund von mündlichen und
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schriftlichen Versicherungen seiner Freunde über die Dauerhaftigkeit der Reaktion denkt,
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sondern welcher innere, objektive Zusammenhang zwischen der Demokratie und der
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tatsächlichen gesellschaftlichen Entwicklung besteht.)L</p>
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<p>Nach Bernstein z.B. erscheint die Demokratie als eine unvermeidliche Stufe in der
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Entwicklung der modernen Gesellschaft, ja, die Demokratie ist ihm, ganz wie dem
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bürgerlichen Theoretiker der Liberalismus, das große Grundgesetz der geschichtlichen
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Entwicklung überhaupt, dessen Verwirklichung alle wirkenden Mächte des politischen
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Lebens dienen müssen. Das ist aber in dieser absoluten Form grundfalsch und nichts als
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eine kleinbürgerliche, und zwar oberflächliche Schablonisierung der Ergebnisse eines
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kleinen Zipfelchens der bürgerlichen Entwicklung, etwa der letzten 25 bis 30 Jahre. Sieht
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man sich die Entwicklung der Demokratie in der Geschichte und zugleich die politische
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Geschichte des Kapitalismus näher an, so kommt ein wesentlich anderes Resultat heraus.</p>
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<p>Was das erstere betrifft, so finden wir die Demokratie in den verschiedensten
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Gesellschaftsformationen: in den ursprünglichen kommunistischen Gesellschaften, in den
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antiken Sklavenstaaten, in den mittelalterlichen städtischen Kommunen. Desgleichen
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begegnen wir dem Absolutismus und der konstitutionellen Monarchie in den verschiedensten
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wirtschaftlichen Zusammenhängen. Andererseits ruft der Kapitalismus in seinen Anfängen -
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als Warenproduktion - eine demokratische Verfassung in den städtischen Kommunen ins
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Leben; später, in seiner entwickelteren Form, als Manufaktur, findet er in der absoluten
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Monarchie seine entsprechende politische Form. Endlich als entfaltete industrielle
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Wirtschaft erzeugt er in Frankreich abwechselnd die demokratische Republik (1793), die
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absolute Monarchie Napoleons I., die Adelsmonarchie der Restaurationszeit (1815 bis 1830),
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die bürgerliche konstitutionelle Monarchie des Louis Philippe, wieder die demokratische
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Republik, wieder die Monarchie Napoleons III., endlich zum drittenmal die Republik. In
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Deutschland ist die einzige wirkliche demokratische Einrichtung, das allgemeine Wahlrecht,
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nicht eine Errungenschaft des bürgerlichen Liberalismus, sondern ein Werkzeug der
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politischen Zusammenschweißung der Kleinstaaterei und hat bloß insofern eine Bedeutung
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in der Entwicklung der deutschen Bourgeoisie, die sich sonst mit einer halbfeudalen
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konstitutionellen Monarchie zufrieden gibt. In Rußland gedieh der Kapitalismus lange
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unter dem orientalischen Selbstherrschertum, ohne daß die Bourgeoisie Miene machte, sich
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nach der Demokratie zu sehnen. In Österreich ist das allgemeine Wahlrecht zum großen
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Teil als ein Rettungsgürtel für die auseinanderfallende Monarchie erschienen, (und wie
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wenig es mit der eigentlichen Demokratie verbunden ist, beweist die Herrschaft des §
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14).M In Belgien endlich steht die demokratische Errungenschaft der Arbeiterbewegung - das
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allgemeine Wahlrecht - in unzweifelhaftem Zusammenhang mit der Schwäche des Militarismus,
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also mit der besonderen geographisch-politischen Lage Belgiens, und vor allem ist sie eben
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ein nicht durch die Bourgeoisie, sondern gegen die Bourgeoisie erkämpftes »Stück
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Demokratie«.</p>
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<p>Der ununterbrochene Aufstieg der Demokratie, der unserem Revisionismus wie dem
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bürgerlichen Freisinn als das große Grundgesetz der menschlichen und zum mindesten der
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modernen Geschichte erscheint, ist somit nach näherer Betrachtung ein Luftgebilde.
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Zwischen der kapitalistischen Entwicklung und der Demokratie läßt sich kein allgemeiner
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absoluter Zusammenhang konstruieren. Die politische Form ist jedesmal das Ergebnis der
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ganzen Summe politischer, innerer und äußerer, Faktoren und läßt in ihren Grenzen die
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ganze Stufenleiter von der absoluten Monarchie bis zur demokratischen Republik zu.</p>
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<p>Wenn wir somit von einem allgemeinen geschichtlichen Gesetz der Entwicklung der
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Demokratie auch im Rahmen der modernen Gesellschaft absehen müssen und uns bloß an die
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gegenwärtige Phase der bürgerlichen Geschichte wenden, so sehen wir auch hier in der
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politischen Lage Faktoren, die nicht zur Verwirklichung des Bernsteinschen Schemas,
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sondern vielmehr gerade umgekehrt, zur Preisgabe der bisherigen Errungenschaften seitens
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der bürgerlichen Gesellschaft führen.</p>
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<p>Einerseits haben die demokratischen Einrichtungen, was höchst wichtig ist, für die
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bürgerliche Entwicklung in hohem Maße ihre Rolle ausgespielt. Insofern sie zur
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Zusammenschweißung der Kleinstaaten und zur Herstellung moderner Großstaaten notwendig
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waren (Deutschland, Italien), sind sie entbehrlich geworden; die wirtschaftliche
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Entwicklung hat inzwischen eine innere organische Verwachsung herbeigeführt, (und der
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Verband der politischen Demokratie kann insofern ohne Gefahr für den Organismus der
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bürgerlichen Gesellschaften abgenommen werden.)</p>
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<p>Dasselbe gilt in bezug auf die Umgestaltung der ganzen politisch-administrativen
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Staatsmaschine aus einem halb- oder ganzfeudalen in einen kapitalistischen Mechanismus.
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Diese Umgestaltung, die geschichtlich von der Demokratie unzertrenntlich war, ist heute
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gleichfalls in so hohem Maße erreicht, daß die rein demokratischen Ingredienzien
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(Zutaten) des Staatswesens, das allgemeine Wahlrecht, die republikanische Staatsform, an
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sich ausscheiden könnten, ohne daß die Administration, das Finanzwesen, das Wehrwesen
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usw. in die vormärzlichen Formen zurückzufallen brauchten.</p>
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<p>Ist auf diese Weise der Liberalismus für die bürgerliche Gesellschaft als solche
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wesentlich überflüssig, so andererseits in wichtigen Beziehungen direkt ein Hindernis
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geworden. Hier kommen zwei Faktoren in Betracht, die das gesamte politische Leben der
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heutigen Staaten geradezu beherrschen: die Weltpolitik und die Arbeiterbewegung - beides
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nur zwei verschiedene Seiten der gegenwärtigen Phase der kapitalistischen Entwicklung.</p>
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<p>Die Ausbildung der Weltwirtschaft und die Verschärfung und Verallgemeinerung des
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Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkte haben den Militarismus und Marinismus als Werkzeuge
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der Weltpolitik zum tonangebenden Moment ebenso des äußeren wie des inneren Lebens der
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Großstaaten gemacht. Ist aber die Weltpolitik und der Militarismus eine aufsteigende
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Tendenz der heutigen Phase, so muß sich folgerichtig die bürgerliche Demokratie auf
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absteigender Linie bewegen. (Schlagendstes Beispiel: die nordamerikanische Union seit dem
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spanischen Kriege. In Frankreich verdankt die Republik ihre Existenz hauptsächlich der
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internationalen politischen Lage, die einen Krieg vorläufig unmöglich macht. Käme es zu
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einem solchen und würde sich Frankreich, wie allem Anschein nach anzunehmen ist, als für
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die Weltpolitik nicht gerüstet erweisen, dann wäre die Antwort auf die erste Niederlage
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Frankreichs auf dem Kriegsschauplatz - die Proklamierung der Monarchie in Paris. In
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Deutschland wurden die neue Aera der großen Rüstungen (1893) und die mit Kiautschou
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inaugurierte Weltpolitik sofort mit zwei Opfern von der bürgerlichen Demokratie: dem
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Zerfall des Freisinns und dem Umfall des Zentrums bezahlt.)O</p>
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<p>Treibt somit die auswärtige Politik die Bourgeoisie in die Arme der Reaktion, so nicht
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minder die innere Politik - die aufstrebende Arbeiterklasse. Bernstein gibt dies selbst
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zu, indem er die sozialdemokratische »Freßlegende«13, d.h. die sozialistischen
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Bestrebungen der Arbeiterklasse für die Fahnenflucht der liberalen Bourgeoisie
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verantwortlich macht. Er rät dem Proletariat im Anschluß daran, um den zu Tode
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erschrockenen Liberalismus wieder aus dem Mauseloch der Reaktion hervorzulocken, sein
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sozialistisches Endziel fallen zu lassen. Damit beweist er aber selbst am schlagendsten,
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indem er den Wegfall der sozialistischen Arbeiterbewegung zur Lebensbedingung und zur
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sozialen Voraussetzung der bürgerlichen Demokratie heute macht, daß diese Demokratie in
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gleichem Maße der inneren Entwicklungstendenz der heutigen Gesellschaft widerspricht, wie
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die sozialistische Arbeiterbewegung ein direktes Produkt dieser Tendenz ist.</p>
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<p>Aber er beweist damit noch ein weiteres. Indem er den Verzicht auf das sozialistische
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Endziel seitens der Arbeiterklasse zur Voraussetzung und Bedingungen des Wiederauflebens
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der bürgerlichen Demokratie macht, zeigt er selbst, wie wenig, umgekehrt die bürgerliche
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Demokratie eine notwendige Voraussetzung und Bedingung der sozialistischen Bewegung und
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des sozialistischen Sieges sein kann. Hier schließt sich das Bernsteinsche Räsonnement
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zu einem fehlerhaften Kreis, wobei die letzte Schlußfolgerung seine erste Voraussetzung
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»frißt«.</p>
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<p>Der Ausweg aus diesem Kreise ist ein sehr einfacher: aus der Tatsache, daß der
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bürgerliche Liberalismus vor Schreck vor der aufstrebenden Arbeiterbewegung und ihren
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Endzielen seine Seele ausgehaucht hat, folgt nur, daß die sozialistische Arbeiterbewegung
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eben heute die einzige Stütze der Demokratie ist und sein kann, und daß nicht die
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Schicksale der sozialistischen Bewegung an die bürgerliche Demokratie, sondern umgekehrt
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die Schicksale der demokratischen Entwicklung an die sozialistische Bewegung gebunden
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sind. Daß die Demokratie nicht in dem Maße lebensfähig wird, als die Arbeiterklasse
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ihren Emanzipationskampf aufgibt, sondern umgekehrt, in dem Maße, als die sozialistische
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Bewegung stark genug wird, gegen die reaktionären Folgen der Weltpolitik und der
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bürgerlichen Fahnenflucht anzukämpfen. Daß, wer die Stärkung der Demokratie wünscht,
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auch Stärkung und nicht Schwächung der sozialistischen Bewegung wünschen muß, und daß
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mit dem Aufgeben der sozialistischen Bestrebungen ebenso die Arbeiterbewegung wie die
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Demokratie aufgegeben wird.</p>
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<p>(Bemstein erklärt am Schluß seiner »Antwort« an Kautsky im »Vorwärts« vom 26. März 1899, er sei mit dem praktischen Teil des Programms
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der Sozialdemokratie im ganzen durchaus einverstanden, er hätte bloß gegen dessen
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theoretischen Teil etwas einzuwenden. Dessen ungeachtet glaubt er offenbar noch mit Fug
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und Recht in Reih und Glied der Partei marschieren zu können, denn welches »Gewicht«
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ist darauf zu legen, »Ob im theoretischen Teil ein Satz steht, der mit seiner Auffassung
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vom Gang der Entwicklung nicht mehr stimmt«? Diese Erklärung zeigt im besten Falle, wie
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vollständig Bernstein den Sinn für den Zusammenhang der praktischen Tätigkeit der
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Sozialdemokratie mit ihren allgemeinen Grundsätzen verloren hat, wie sehr dieselben Worte
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aufgehört haben, für die Partei und für Bernstein dasselbe auszudrücken. Tatsächlich
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führen die eigenen Theorien Bernsteins, wie wir gesehen, zu der elementarsten
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sozialdemokratischen Erkenntnis, daß ohne die grundsätzliche Basis auch der praktische
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Kampf wertlos und zwecklos wird, daß mit dem Aufgeben des Endziels auch die Bewegung
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selbst zugrunde gehen muß.)</p>
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<H3 align="center"><A name="2_3">3. Die Eroberung der
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politischen Macht</a></H3>
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<P align="left">Die Schicksale der Demokratie sind, wie wir gesehen, an die Schicksale der
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Arbeiterbewegung gebunden. Aber macht denn die Entwicklung der Demokratie auch im besten
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Falle eine proletarische Revolution im Sinne der Ergreifung der Staatsgewalt, der
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Eroberung der politischen Macht überflüssig oder unmöglich?</P>
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<P align="left">Bernstein entscheidet diese Frage auf dem Wege einer gründlichen Abwägung der guten
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und schlechten Seiten der gesetzlichen Reform und der Revolution, und zwar mit einer
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Behaglichkeit, die an das Abwägen von Zimt und Pfeffer in einem Konsumverein erinnert. In
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dem gesetzlichen Gang der Entwicklung sieht er die Wirkung des Intellekts, in dem
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revolutionären die des Gefühls, in der Reformarbeit eine langsame, in der Revolution
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eine rasche Methode des geschichtlichen Fortschritts, in der Gesetzgebung eine
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planmäßige, in dem Umsturz eine elementarische Gewalt. </P>
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<p>Es ist nun eine alte Geschichte, daß der kleinbürgerliche Reformer in allen Dingen
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der Welt eine »gute« und eine »schlechte« Seite sieht und daß er von allen
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Blumenbeeten nascht. Eine ebenso alte Geschichte ist es aber, daß der wirkliche Gang der
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Dinge sich um kleinbürgerliche Kombinationen sehr wenig kümmert und das sorgfältigst
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zusammengeschleppte Häuflein »guter Seiten« von allen möglichen Dingen der Welt mit
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einem Nasenstüber in die Luft sprengt. Tatsächlich sehen wir in der Geschichte die
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gesetzliche Reform und die Revolution nach tieferen Gründen als die Vorzüge oder
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Nachteile dieses oder jenes Verfahrens funktionieren.</p>
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<p>In der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft diente die gesetzliche Reform zur
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allmählichen Erstarkung der aufstrebenden Klasse, bis sie sich reif genug fühlte, die
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politische Macht zu erobern und das ganze bestehende Rechtsystem umzuwerfen, um ein neues
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aufzubauen. Bernstein, der gegen die Eroberung der politischen Macht als eine
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blanquistische Gewalttheorie wettert, passiert das Malheur, daß er das, was seit
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Jahrhunderten der Angelpunkt und die Triebkraft der menschlichen Geschichte ist, für
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einen blanquistischen Rechenfehler hält. Seit die Klassengesellschaften existieren und
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der Klassenkampf den wesentlichen Inhalt ihrer Geschichte bildet, war nämlich die
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Eroberung der politischen Macht stets ebenso das Ziel aIler aufstrebenden Klassen, wie der
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Ausgangs- und der Endpunkt jeder geschichtlichen Periode. Dies sehen wir in den langen
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Kämpfen des Bauerntums mit den Geldkapitalisten und dem Adel im alten Rom, in den
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Kämpfen des Patriziertums mit den Bischöfen und des Handwerkertums mit den Patriziern
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mit den mittelalterlichen Städten, in den Kämpfen der Bourgeoisie mit dem Feudalismus in
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der Neuzeit.</p>
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<p>Die gesetzliche Reform und die Revolution sind also nicht verschiedene Methoden des
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geschichtlichen Fortschritts, die man in dem Geschichtsbüfett nach Belieben wie heiße
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Würstchen oder kalte Würstchen auswählen kann, sondern verschiedene Momente in der
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Entwicklung der Klassengesellschaft, die einander ebenso bedingen und ergänzen, zugleich
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aber ausschließen, wie z.B. Südpol und Nordpol, wie Bourgeoisie und Proletariat.</p>
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<p>Und zwar ist die jeweilige gesetzliche Verfassung bloß ein Produkt der Revolution.
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Während die Revolution der politische Schöpfungsakt der Klassengeschichte ist, ist die
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Gesetzgebung das politische Fortvegetieren der Gesellschaft. Die gesetzliche Reformarbeit
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hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich
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in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die
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letzte Umwälzung gegebene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen
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der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform. Das ist eben der
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Kernpunkt der Frage.</p>
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<p>Es ist grundfalsch und ganz ungeschichtlich, sich die gesetzliche Reformarbeit bloß
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als die ins Breite gezogene Revolution und die Revolution als die zusammengedrängte
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Reform vorzustellen. Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch
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die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente. Das ganze Geheimnis der
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geschichtlichen Umwälzungen durch den Gebrauch der politischen Macht liegt ja gerade in
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dem Umschlage der bloßen quantitativen Veränderungen in eine neue Qualität, konkret
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gesprochen in dem Übergange einer Geschichtsperiode, einer Gesellschaftsordnung in eine
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andere.</p>
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<p>Wer sich daher für den gesetzlichen Reformweg anstatt und im Gegensatz zur Eroberung
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der politischen Macht und zur Umwälzung der Gesellschaft ausspricht, wählt tatsächlich
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nicht einen ruhigeren, sicheren, langsameren Weg zum gleichen Ziel, sondern auch ein
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anderes Ziel, nämlich statt der Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung bloß
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unwesentliche Veränderungen in der alten. So gelangt man von den politischen Ansichten
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des Revisionismus zu demselben Schluß, wie von seinen ökonomischen Theorien: daß sie im
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Grunde genommen nicht auf die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung, sondern bloß
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auf die Reformierung der kapitalistischen, nicht auf die Aufhebung des Lohnsystems,
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sondern auf das Mehr oder Weniger der Ausbeutung, mit einem Worte auf die Beseitigung der
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kapitalistischen Auswüchse und nicht des Kapitalismus selbst abzielen.</p>
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<p>Vielleicht behalten aber die obigen Sätze über die Funktion der gesetzlichen Reform
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und der Revolution ihre Richtigkeit bloß in bezug auf die bisherigen Klassenkämpfe?
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Vielleicht ist von nun an, dank der Ausbildung des bürgerlichen Rechtssystems, der
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gesetzlichen Reform auch die Überführung der Gesellschaft aus einer geschichtlichen
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Phase in eine andere zugewiesen und die Ergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat
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»zur inhaltlosen Phrase geworden«, wie Bernstein auf Seite 183 seiner Schrift sagt?</p>
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<p>Das gerade und direkte Gegenteil ist der Fall. Was zeichnet die bürgerliche
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Gesellschaft von den früheren Klassengesellschaften - der antiken und der
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mittelalterlichen - aus? Eben der Umstand, daß die Klassenherrschaft jetzt nicht auf
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»wohl erworbenen Rechten«, sondern auf tatsächlichen wirtschafllichen Verhältnissen
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beruht, daß das Lohnsystem nicht ein Rechtsverhältnis, sondern ein rein ökonomisches
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ist. Man wird in unserem ganzen Rechtssystem keine gesetzliche Formel der gegenwärtigen
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Klassenherrschaft finden. Gibt es Spuren von einer solchen, dann sind es eben, wie die
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Gesindeordnung, Überbleibsel der feudalen Verhältnisse.</p>
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<p>Wie also die Lohnsklaverei »auf gesetzlichem Wege« stufenweise aufheben, wenn sie in
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den Gesetzen gar nicht ausgedrückt ist? Bernstein, der sich an die gesetzliche
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Reformarbeit machen will, um dem Kapitalismus auf diesem Wege ein Ende zu bereiten, gerät
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in die Lage jenes russischen Schutzmannes, der bei Uspienski sein Abenteuer erzählt:...
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»Schnell packte ich den Kerl am Kragen und was stellte sich heraus? Daß der verdammte
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Kerl keinen Kragen hatte!«...Da liegt eben der Hase im Pfeffer.</p>
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<p>»Alle bisherige Gesellschaft beruhte auf dem Gegensatz unterdrückter und
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unterdrückender Klassen« (Das Kommunistische Manifest S.17). Aber in den vorhergehenden
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Phasen der modernen Gesellschaft war dieser Gegensatz in bestimmten rechtlichen
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Vehältnissen ausgedrückt und konnte eben deshalb bis zu einem gewissen Grad den
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aufkommenden neuen Verhältnissen noch im Rahmen der alten Raum gewähren. »Der
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Leibeigene hat sich zum Mitglied der Kommune in der Leibeigenschaft herausgearbeitet«
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(Kommunistisches Manifest S.17). Wieso? Durch stufenweise Aufhebung im Weichbilde der
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Stadt aller jener Splitterrechte: der Fronden, Kurmeden, des Gewandrechts, Besthaupts,
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Kopfzinses, Heiratszwanges, Erbteilungsrechts usw. usw., deren Gesamtheit die
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Leibeigenschaft ausmachte.</p>
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<p>Desgleichen arbeitete sich »der Kleinbürger zum Bourgeois unter dem Joch des
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feudalistischen Absolutismus« empor (a.a.0.S.17). Auf welchem Wege? Durch teilweise
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formelle Aufhebung oder tatsächliche Lockerung der Zunftfesseln, durch allmähliche
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Umbildung der Verwaltung, des Finanz- und Wehrwesens in dem allernotwendigsten Umfange.</p>
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<p>Will man also abstrakt, anstatt geschichtlich, die Frage behandeln, so läßt sich bei
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den früheren Klassenverhältnissen ein rein gesetzlich-reformlerischer Übergang von der
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feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft wenigstens denken. Was sehen wir aber in der Tat?
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Daß auch dort die gesetzlichen Reformen nicht dazu dienten, die Ergreifung der
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politischen Macht durch das Bürgertum überflüssig zu machen, sondern umgekehrt, sie
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vorzubereiten und herbeizuführen. Eine förmliche politisch-soziale Umwälzung war
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unentbehrlich, ebenso zur Aufhebung der Leibeigenschaft, wie zur Abschaffung des
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Feudalismus.</p>
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<p>Ganz anders noch liegen aber die Dinge jetzt. Der Proletarier wird durch kein Gesetz
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gezwungen, sich in das Joch des Kapitals zu spannen, sondern durch die Not, durch den
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Mangel an Produktionsmitteln. Kein Gesetz in der Welt kann ihm aber im Rahmen der
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bürgerlichen Gesellschaft diese Mittel zu dekretieren, weil er ihrer nicht durch Gesetz,
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sondern durch ökonomische Entwicklung beraubt wurde.</p>
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<p>Ferner beruht die Ausbeutung innerhalb des Lohnverhältnisses gleichfalls nicht auf
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Gesetzen, denn in Höhe der Löhne wird nicht auf gesetzlichem Wege, sondern durch
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ökonomische Faktoren bestimmt. Und die Tatsache selbst der Ausbeutung beruht nicht auf
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einer gesetzlichen Bestimmung, sondern auf der rein wirtschaftlichen Tatsache, daß die
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Arbeitskraft als Ware auftritt, die unter anderem die angenehme Eigenschaft besitzt, Wert,
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und zwar mehr Wert zu produzieren, als sie selbst in den Lebensmitteln des Arbeiters
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vertilgt. Mit einem Worte, alle Grundverhältnisse der kapitalistischen Klassenherrschaft
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lassen sich durch gesetzliche Reformen auf bürgerlicher Basis deshalb nicht umgestalten,
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weil sie weder durch bürgerliche Gesetze herbeigeführt, noch die Gestalt von solchen
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Gesetzen erhalten haben. Bernstein weiß das nicht, wenn er eine sozialistische »Reform«
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plant, aber was er nicht weiß, das sagt er, indem er auf S. 10 seines Buches schreibt,
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daß »das ökonomische Motiv heute frei auftritt, wo es früher durch
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Herrschaftsverhältnisse und Ideologien aller Art verkleidet war«.</p>
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<p>Aber es kommt noch ein zweites hinzu. Es ist die andere Besonderheit der
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kapitalistischen Ordnung, daß in ihr alle Elemente der künftigen Gesellschaft in ihrer
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Entwicklung vorerst eine Form annehmen, in der sie sich dem Sozialismus nicht nähern,
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sondern von ihm entfernen. In der Produktion wird immer mehr der gesellschaftliche
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Charakter zum Ausdruck gebracht. Aber in welcher Form? Von Großbetrieb,
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Aktiengesellschaft, Kartell, wo die kapitalistischen Gegensätze, die Ausbeutung, die
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Unterjochung der Arbeitskraft aufs höchste gesteigert werden.</p>
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<p>Im Wehrwesen führt die Entwicklung die Verbreitung der allgemeinen Wehrpflicht, die
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Verkürzung der Dienstzeit, also materiell die Annäherung an das Volksheer herbei. Aber
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dies in der Form von modernem Militarismus, wo die Beherrschung des Volkes durch den
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Militärstaat, der Klassencharakter des Staates zum grellsten Ausdruck kommt.</p>
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<p>In den politischen Verhältnissen führt die Entwicklung der Demokratie, insofern sie
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günstigen Boden hat, zur Beteiligung aller Volksschichten am politischen Leben, also
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gewissermaßen zum »Volksstaat«. Aber dies in der Form des bürgerlichen
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Parlamentarismus, wo die Klassengegensätze, die Klassenherrschaft nicht aufgehoben sind,
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sondern vielmehr entfaltet und bloßgelegt werden. Weil sich die ganze kapitalistische
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Entwicklung somit in Widersprüchen bewegt, so muß, um den Kern der sozialistischen
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Gesellschaft aus der ihm widersprechenden kapitalistischen Hülle herauszuschälen, auch
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aus diesem Grunde zur Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat und zur
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gänzlichen Aufhebung des kapitalistischen Systems gegriffen werden.</p>
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<p>Bernstein zieht freilich andere Schlüsse daraus: führte die Entwicklung der
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Demokratie zur Verschärfung und nicht zur Abschwächung der kapitalistischen
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Widersprüche, dann »müßte die Sozialdemokratie«, antwortet er uns, »wenn sie sich
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nicht selbst die Arbeit erschweren will, Sozialreformen und die Erweiterung der
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demokratischen Einrichtungen nach Möglichkeit zu vereiteln streben« (S.71). Dies
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allerdings, wenn die Sozialdemokratie nach kleinbürgerlicher Art an dem müßigen
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Geschäft des Auswählens aller guten Seiten und des Wegwerfens schlechter Seiten der
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Geschichte Geschmack fände. Nur müßte sie dann folgerichtig auch den ganzen
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Kapitalismus überhaupt »zu vereiteln streben«, denn er ist doch unbestreitbar der
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Hauptbösewicht, der ihr alle Hindernisse auf dem Wege zum Sozialismus stellt.
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Tatsächlich gibt der Kapitalismus neben und zugleich mit Hindernissen auch die einzigen
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Möglichkeiten, das sozialistische Programm zu verwirklichen. Dasselbe gilt aber
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vollkommen auch in bezug auf die Demokratie.</p>
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<p>Ist die Demokratie für die Bourgeoisie teils überflüssig, teils hinderlich geworden,
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so ist sie für die Arbeiterklasse dafür notwendig und unentbehrlich. Sie ist erstens
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notwendig, weil sie politische Formen (Selbstverwaltung, Wahlrecht u.dergl.) schafft, die
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als Ansätze und Stützpunkte für das Proletariat bei seiner Umgestaltung der
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bürgerlichen Gesellschaft dienen werden. Sie ist aber zweitens unentbehrlich, weil nur in
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ihr, in dem Kampfe um die Demokratie, in der Ausübung ihrer Rechte das Proletariat zum
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Bewußtsein seiner Klasseninteressen und seiner geschichtlichen Aufgaben kommen kann.</p>
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<p>Mit einem Worte, die Demokratie ist unentbehrlich, nicht weil sie die Eroberung der
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politischen Macht durch das Proletariat überflüssig, sondern umgekehrt, weil sie diese
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Machtergreifung ebenso notwendig, wie auch einzig möglich macht. Wenn Engels die Taktik
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der heutigen Arbeiterbewegung in seinem Vorwort zu den »Klassenkämpfen in
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Frankreich« revidierte und den Barrikaden den gesetzlichen Kampf entgegenstellte, so
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behandelte er - was aus jeder Zeile des Vorwortes klar ist - nicht die Frage der
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endgültigen Eroberung der politischen Macht, sondern die des heutigen alltäglichen
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Kampfes, nicht das Verhalten des Proletariats gegenüber dem kapitalistischen Staate im
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Moment der Ergreifung der Staatsgewalt, sondern sein Verhalten im Rahmen des
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kapitalistischen Staates. Mit einem Wort, Engels gab die Richtschnur dem beherrschten
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Proletariat und nicht dem siegreichen.</p>
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<p>Umgekehrt bezieht sich der bekannte Ausspruch von Marx über die Bodenfrage in England,
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auf den sich Bernstein gleichfalls beruft: »man käme wahrscheinlich am billigsten fort,
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wenn man die Landlords auskaufte«, nicht auf das Verhalten des Proletariats vor seinem
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Siege, sondern nach dem Siege. Denn von »Auskaufen« der herrschenden Klassen kann
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offenbar nur dann die Rede sein, wenn die Arbeiterklasse am Ruder ist. Was Marx somit hier
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als möglich in Erwägung zog, ist die friedliche Ausübung der proletarischen Diktatur
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und nicht die Ersetzung der Diktatur durch kapitalistische Sozialreformen.</p>
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<p>Die Notwendigkeit selbst der Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat war
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ebenso für Marx wie Engels zu allen Zeiten außer Zweifel. Und es blieb Bernstein
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vorbehalten, den Hühnerstall des bürgerlichen Parlamentarismus für das berufene Organ
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zu halten, wodurch die gewaltigste weltgeschichtliche Umwälzung: die Überführung der
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Gesellschaft aus den kapitalistischen in sozialistische Formen vollzogen werden soll.</p>
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<p>Aber Bernstein hat ja seine Theorie bloß mit der Befürchtung und der Warnung
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angefangen, daß das Proletariat nicht zu früh ans Ruder komme! In diesem Falle müßte
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es nämlich nach Bernstein die bürgerlichen Zustände ganz so lassen, wie sie sind und
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selbst eine furchtbare Niederlage erleiden. Was aus dieser Befürchtung vor allem
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ersichtlich, ist, daß die Bernsteinsche Theorie für das Proletariat, falls es durch die
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Verhältnisse ans Ruder gebracht wäre, nur Eine »praktische« Anweisung hat: sich
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schlafen zu legen. Damit richtet sie sich aber ohne weiteres selbst, als eine Auffassung,
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die das Proletariat in den wichtigsten Fällen des Kampfes zur Untätigkeit, also zum
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passiven Verrate an der eigenen Sache verurteilt.</p>
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<p>Tatsächlich wäre unser ganzes Programm ein elender Wisch Papier, wenn es uns nicht
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für alle Eventualitäten und in allen Momenten des Kampfes zu dienen, und zwar durch
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seine Ausübung und nicht durch seine Nichtausübung zu dienen imstande wäre. Ist unser
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Programm einmal die Formulierung der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft vom
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Kapitalismus zum Sozialismus, dann muß es offenbar auch alle Übergangsphasen dieser
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Entwicklung formulieren, in sich in den Grundzügen enthalten, also auch das entsprechende
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Verhalten im Sinne der Annäherung zum Sozialismus in jedem Moment dem Proletariat
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anweisen können. Daraus folgt, daß es überhaupt für das Proletariat keinen Augenblick
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geben kann, in dem es gezwungen wäre, sein Programm im Stiche zu lassen, oder wo es von
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diesem Programm könnte im Stiche gelassen werden.</p>
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<p>Praktisch äußert sich das in der Tatsache, daß es keinen Moment geben kann, in dem
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das Proletariat, durch den Gang der Dinge ans Ruder gebracht, nicht in der Lage und auch
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nicht verpflichtet wäre, gewisse Maßregeln zur Verwirklichung seines Programms, gewisse
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Übergangsmaßregeln im Sinne des Sozialismus zu treffen. Hinter der Behauptung, das
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sozialistische Programm könnte in irgend einem Augenblick der politischen Herrschaft des
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Proletariats völlig versagen und gar keine Anweisungen zu seiner Verwirklichung geben,
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steckt unbewußt die andere Behauptung: das sozialistische Programm sei überhaupt und
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jederzeit unrealisierbar.</p>
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<p>Und wenn die Übergangsmaßregeln verfrüht sind? Diese Frage birgt in sich einen
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ganzen Knäuel von Mißverständnissen in bezug auf den wirklichen Gang sozialer
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Umwälzungen.</p>
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<p>Die Ergreifung der Staatsgewalt durch das Proletariat, d.h. durch eine große
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Volksklasse, läßt sich vor allem nicht künstlich herbeiführen. Sie setzt von selbst,
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abgesehen von Fällen, wie die Pariser Kommune, wo die Herrschaft dem Proletariat nicht
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als Ergebnis seines zielbewußten Kampfes, sondern ausnahmsweise als von allen verlassenes
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herrenloses Gut in den Schoß fiel, einen bestimmten Reifegrad der ökonomisch-politischen
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Verhältnisse voraus. Hier liegt der Hauptunterschied zwischen blanquistischen
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Staatsstreichen einer »entschlossenen Minderheit«, die jederzeit wie aus der Pistole
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geschossen und eben deshalb immer unzeitgemäß kommen, und der Eroberung der Staatsgewalt
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durch die große und klassenbewußte Volksmasse, die selbst nur das Produkt eines
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beginnenden Zusammenbruches der bürgerlichen Gesellschaft sein kann, deshalb in sich
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selbst die ökonomisch-politische Legitimation ihrer zeitgemäßen Erscheinung trägt.</p>
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<p>Kann somit die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse vom Standpunkt
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der gesellschaftlichen Voraussetzungen gar nicht »zu früh« geschehen, so muß sie
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andererseits vom Standpunkte des politischen Effekts: der Festhaltung der Gewalt,
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notwendig »zu früh« stattfinden. Die verfrühte Revolution, die Bernstein nicht
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schlafen läßt, bedroht uns wie das Damoklesschwert, und dagegen hilft kein Bitten und
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Beten, kein Bangen und Zagen. Und zwar aus zwei sehr einfachen Gründen.</p>
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<p>Erstens ist eine so gewaltige Umwälzung, wie die Überführung der Gesellschaft aus
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der kapitalistischen in die sozialistische Ordnung, ganz undenkbar auf einen Schlag, durch
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einen siegreichen Streich des Proletariats. Dies als möglich voraussetzen, hieße
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wiederum eine echt blanquistische Auffassung an den Tag legen. Die sozialistische
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Umwälzung setzt einen langen und hartnäckigen Kampf voraus, wobei das Proletariat allem
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Anscheine nach mehr als einmal zurückgeworfen wird, so daß es das erstemal, vom
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Standpunkte des Endresultates des ganzen Kampfes gesprochen, notwendig »zu
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früh« ans Ruder gekommen sein wird.</p>
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<p>Zweitens aber läßt sich das »verfrühte« Ergreifen der Staatsgewalt auch deshalb
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nicht vermeiden, weil diese »verfrühten« Angriffe des Proletariats eben selbst ein, und
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zwar sehr wichtiger Faktor sind, der die politischen Bedingungen des endgültigen Sieges
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schafft, indem das Proletariat erst im Laufe jener politischen Krise, die seine
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Machtergreifung begleiten wird, erst im Feuer langer und hartnäckiger Kämpfe den
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erforderlichen Grad der politischen Reife erreichen kann, der es zur endgültigen großen
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Umwälzung befähigen wird. So stellen sich denn jene »verfrühten« Angriffe des
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Proletariats auf die politische Staatsgewalt selbst als wichtige geschichtliche Momente
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heraus, die auch den Zeitpunkt des endgültigen Sieges mitherbeiführen und mitbestimmen.
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Von diesem Standpunkte erscheint die Vorstellung einer »verfrühten« Eroberung der
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politischen Macht durch das arbeitende Volk als ein politischer Widersinn, der von einer
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mechanischen Entwicklung der Gesellschaft ausgeht und einen außerhalb und unabhängig vom
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Klassenkampf bestimmten Zeitpunkt für den Sieg des Klassenkampfes voraussetzt.</p>
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<p>Da aber das Proletariat somit gar nicht imstande ist, die Staatsgewalt anders als »zu
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früh« zu erobern, oder mit anderen Worten, da es sie unbedingt einmal oder mehrmals »zu
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früh« erobern muß, um sie schließlich dauernd zu erobern, so ist die Opposition gegen
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die »verfrühte« Machtergreifung nichts als die Opposition gegen die Bestrebung des
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Proletariats überhaupt, sich der Staatsgewalt zu bemächtigen.</p>
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<p>Also auch von dieser Seite gelangen wir folgerichtig, wie durch alle Straßen nach Rom,
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zu dem Ergebnis, daß die revisionistische Anweisung, das sozialistische Endziel fallen zu
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lassen, auf die andere hinauskommt, auch die ganze sozialistische Bewegung aufzugeben,
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(daß sein Rat an die Sozialdemokratie, sich im Falle der Machteroberung »schlafen zu
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legen«, mit dem anderen identisch ist: sich nun und überhaupt schlafen zu legen, d.h.
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auf den Klassenkampf zu verzichten).</p>
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<H3 align="center"><A name="2_4">4. Der Zusammenbruch</a></H3>
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<p>Bernstein hat seine Revision des sozialdemokratischen Programms mit dem Aufgeben der
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Theorie des kapitalistischen Zusammenbruchs angefangen. Da aber der Zusammenbruch der
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bürgerlichen Gesellschaft ein Eckstein des wissenschaftlichen Sozialismus ist, so mußte
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die Entfernung dieses Ecksteins logisch zum Zusammenbruche der ganzen sozialistischen
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Auffassung bei Bernstein führen. Im Laufe der Debatte gibt er, um seine erste Behauptung
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aufrecht zu erhalten, eine Position des Sozialismus nach der anderen preis.</p>
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<p>Ohne Zusammenbruch des Kapitalismus ist die Expropriation der Kapitalistenklasse
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unmöglich - Bernstein verzichtet auf die Expropriation und stellt als Ziel der
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Arbeiterbewegung die allmähliche Durchführung des »Genossenschaftlichkeitsprinzips«
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auf.</p>
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<p>Aber die Genossenschaftlichkeit läßt sich inmitten der kapitalistischen Produktion
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nicht durchführen - Bernstein verzichtet auf die Vergesellschaftung der Produktion und
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kommt auf die Reform des Handels, auf den Konsumverein.</p>
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<p>Aber die Umgestaltung der Gesellschaft durch die Konsumvereine, auch mit Gewerkschaften
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zusammen, verträgt sich nicht mit der tatsächlichen materiellen Entwicklung der
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kapitalistischen Gesellschaft - Bernstein gibt die materialistische Geschichtsauffassung
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auf.</p>
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<p>Aber seine Auffassung von dem Gang der ökonomischen Entwicklung verträgt sich nicht
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mit dem Marxschen Mehrwertgesetz - Bernstein gibt das Mehrwert- und das Wertgesetz und
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damit die ganze ökonomische Theorie von Karl Marx auf.</p>
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<p>Aber ohne bestimmtes Endziel und ohne ökonomischen Boden in der gegenwärtigen
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Gesellschaft kann der proletarische Klassenkampf nicht geführt werden - Bernstein gibt
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den Klassenkampf auf und verkündet die Aussöhnung mit dem bürgerlichen Liberalismus.</p>
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<p>Aber in einer Klassengesellschaft ist der Klassenkampf eine ganz natürliche,
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unvermeidliche Erscheinung - Bernstein bestreitet in weiterer Konsequenz sogar das
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Bestehen der Klassen in unserer Gesellschaft: die Arbeiterklasse ist ihm bloß ein Haufen
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nicht nur politisch und geistig, sondern auch wirtschaftlich zersplitterter Individuen.
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Und auch die Bourgeoisie wird nach ihm nicht durch innere ökonomische Interessen, sondern
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bloß durch äußeren Druck von oben oder von unten - politisch zusammengehalten.</p>
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<p>Aber wenn es keinen ökonomischen Boden für den Klassenkampf und im Grunde genommen
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auch keine Klassen gibt, so erscheint nicht nur der künftige Kampf des Proletariats mit
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der Bourgeoisie unmöglich, sondern auch der bisherige, so erscheint die Sozialdemokratie
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selbst mit ihren Erfolgen unbegreiflich. Oder aber sie wird begreiflich gleichfalls nur
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als Resultat des politischen Regierungsdruckes, nicht als gesetzmäßiges Ergebnis der
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geschichtlichen Entwicklung, sondern als Zufallsprodukt des hohenzollernschen Kurses,
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nicht als legitimes Kind der kapitalistischen Gesellschaft, sondern als Bastard der
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Reaktion. So führt Bernstein mit zwingender Logik von der materialistischen
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Geschichtsauffassung zu der »Frankfurter« und der »Vossischen
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Zeitung«.</p>
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<p>Es bleibt nur noch übrig, nachdem man die ganze sozialistische Kritik der
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kapitalistischen Gesellschaft abgeschworen hat, das Bestehende wenigstens irn großen und
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ganzen auch befriedigend zu finden. Und auch davor schreckt Bernstein nicht zurück: er
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findet jetzt die Reaktion in Deutschland nicht so stark, »in den westeuropäischen
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Staaten ist von politischer Reaktion nicht viel zu merken«, in fast allen Ländern des
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Westens ist »die Haltung der bürgerlichen Klassen der sozialistischen Bewegung
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gegenüber höchstens eine der Defensive und keine der Unterdrückung« ('Vorwärts' vom
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26. März 1899). Die Arbeiter sind nicht verelendet, sondern im Gegenteil immer
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wohlhabender, die Bourgeoisie ist politisch fortschrittlich und sogar moralisch gesund,
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von Reaktion und Unterdrückung ist nichts zu sehen, - und alles geht zum besten in dieser
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besten der Welten...</p>
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<p>So kommt Bernstein ganz logisch und folgerichtig von A bis herunter auf Z. Er hatte
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damit angefangen, das Endziel um der Bewegung willen aufzugeben. Da es aber tatsächlich
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keine sozialdemokratische Bewegung ohne das sozialistische Endziel geben kann, so endet er
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notwendig damit, daß er auch die Bewegung selbst aufgibt.</p>
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<p>Die ganze sozialistische Auffassung Bernsteins ist somit zusammengebrochen. Aus dem
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stolzen, symmetrischen, wunderbaren Bau des Marxschen Systems ist bei ihm nunmehr ein
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großer Schutthaufen geworden, in dem Scherben aller Systeme, Gedankensplitter aller
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großen und kleinen Geister eine gemeinsame Gruft gefunden haben. Marx und Proudhon, Leo
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von Buch und Franz Oppenheimer, Friedrich Albert Lange und Kant, Herr Prokopovitsch und
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Dr. Ritter von Neupauer, Herkner und Schulze-Gävernitz, Lassalle und Prof. Julius Wolf -
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alle haben ihr Scherflein zu dem Bernsteinschen System beigetragen, bei allen ist er in
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die Lehre gegangen. Und kein Wunder! Mit dem Verlassen des Klassenstandpunktes hat er den
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politischen Kompaß, mit dem Aufgeben des wissenschaftlichen Sozialismus die geistige
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Kristallisationsachse verloren, um die sich einzelne Tatsachen zum organischen Ganzen
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einer konsequenten Weltanschauung gruppieren.</p>
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<p>Diese aus allen möglichen Systembrocken unterschiedslos zusammengewürfelte Theorie
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scheint auf den ersten Blick ganz vorurteilslos zu sein. Bernstein will auch nichts von
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einer »Parteiwissenschaft«, oder richtiger von einer Klassenwissenschaft, ebensowenig
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von einem Klassenliberalismus, einer Klassenmoral hören. Er meint eine allgemein
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menschliche, abstrakte Wissenschaft, abstrakten Liberalismus, abstrakte Moral zu
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vertreten. Da aber die wirkliche Gesellschaft aus Klassen besteht, die diamentral
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entgegengesetzte Interessen, Bestrebungen und Auffassungen haben, so ist eine allgemein
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menschliche Wissenschaft in sozialen Fragen, ein abstrakter Liberalismus, eine abstrakte
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Moral vorläufig eine Phantasie, eine Selbsttäuschung. Was Bernstein für seine allgemein
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menschliche Wissenschaft, Demokratie und Moral hält, ist bloß die herrschende, d.h. die
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bürgerliche Wissenschaft, die bürgerliche Demokratie, die bürgerliche Moral.</p>
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<p>In der Tat! Wenn er das Marxsche ökonomische System abschwört, um auf die Lehren von
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Brentano, Böhm-Jevons, Say, Julius Wolf zu schwören, was tut er anderes, als die
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wissenschaftliche Grundlage der Emanzipation der Arbeiterklasse mit dem Apologetentum
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(Verherrlichung) der Bourgeoisie vertauschen? Wenn er von dem allgemein menschlichen
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Charakter des Liberalismus spricht und den Sozialismus in seine Abart verwandelt, was tut
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er anderes, als dem Sozialismus den Klassencharakter, also den geschichtlichen Inhalt,
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also überhaupt jeden Inhalt nehmen und damit umgekehrt die historische Trägerin des
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Liberalismus, die Bourgeoisie, zur Vertreterin der allgemein menschlichen Interessen
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machen?</p>
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<p>Und wenn er gegen »die Erhebung der materiellen Faktoren zu den omnipotenten
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(allmächtigen) Mächten der Entwicklung«, gegen die »Verachtung des Ideals« in der
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Sozialdemokratie zu Felde zieht, wenn er dem Idealismus, der Moral das Wort redet,
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gleichzeitig aber gegen die einzige Quelle der moralischen Wiedergeburt des Proletariats,
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gegen den revolutionären Klassenkampf eifert - was tut er im Grunde genommen anderes, als
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der Arbeiterklasse die Quintessenz der Moral der Bourgeoisie: die Aussöhnung mit der
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bestehenden Ordnung und die Übertragung der Hoffnung ins jenseits der sittlichen
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Vorstellungswelt predigen?</p>
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<p>Indem er endlich gegen die Dialektik seine schärfsten Pfeile richtet, was tut er
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anders, als gegen die spezifische Denkweise des aufstrebenden klassenbewußten
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Proletariats ankämpfen? Gegen das Schwert ankämpfen, das dem Proletariat die Finsternis
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seiner historischen Zukunft hat durchhauen helfen, gegen die geistige Waffe, womit es,
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materiell noch im Joch, die Bourgeoisie besiegt, weil es sie ihrer Vergänglichkeit
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überführt, ihr die Unvermeidlichkeit seines Sieges nachgewiesen, die Revolution im
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Reiche des Geistes bereits vollzogen hat! Indem Bernstein von der Dialektik Abschied nimmt
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und die Gedankenschaukel des Einerseits-Andererseits, Zwar-Aber, Obgleich-Dennoch,
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Mehr-Weniger sich aneignet, verfällt er ganz folgerichtig in die historisch-bedingte
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Denkweise der untergehenden Bourgeoisie, eine Denkweise, die das getreue geistige Abbild
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ihres gesellschaftlichen Daseins und ihres politischen Tuns ist. (Caprivi-Hohenlohe,
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Berlepsch-Posadowsky, Februarerlasse - Zuchthausvorlage,) das politische
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Einerseits-Andererseits, Wenn und Aber der heutigen Bourgeoisie sieht genau so aus, wie
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die Denkweise Bernsteins, und die Bernsteinsche Denkweise ist das feinste und sicherste
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Symptom seiner bürgerlichen Weltanschauung.</p>
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<p>Aber für Bernstein ist nunmehr auch das Wort »bürgerlich« kein Klassenausdruck,
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sondern ein allgemein-gesellschaftlicher Begriff. Das bedeutet nur, daß er - folgerichtig
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bis zum Punkt über dem i - mit der Wissenschaft, Politik, Moral und Denkweise auch die
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geschichtliche Sprache des Proletariats mit derjenigen der Bourgeoisie vertauscht hat.
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Indem Bernstein unter »Bürger« unterschiedslos den Bourgeois und den Proletarier, also
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den Menschen schlechthin versteht, ist ihm tatsächlich der Mensch schlechthin zum
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Bourgeois, die menschliche Gesellschaft mit der bürgerlichen identisch geworden.</p>
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<p>(Wenn jemand zu Beginn der Diskussion mit Bernstein noch gehofft hat, ihn durch
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Argumente aus der wissenschaftlichen Rüstkammer der Sozialdemokratie überzeugen, ihn der
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Bewegung wiedergeben zu können, muß er diese Hoffnung gänzlich fallen lassen. Denn nun
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haben dieselben Worte aufgehört, für beide Seiten dieselben Begriffe, die nämlichen
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Begriffe haben aufgehört, dieselben sozialen Tatsachen auszudrücken. Die Diskussion mit
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Bernstein ist zur Auseinandersetzung zweier Weltanschauungen, zweier Klassen, zweier
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Gesellschaftsformen geworden. Bernstein und die Sozialdemokratie stehen jetzt auf
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gänzlich verschiedenem Boden.)</p>
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<H3 align="center"><A name="2_5">5. Der Opportunismus in Theorie und Praxis</a></H3>
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<p>Das Bernsteinsche Buch hat für die deutsche und die internationale Arbeiterbewegung
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eine große geschichtliche Bedeutung gehabt: es war dies der erste Versuch, den
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opportunistischen Strömungen in der Sozialdemokratie eine theoretische Grundlage zu
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geben. </p>
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<p>Die opportunistischen Strömungen datieren in unserer Bewegung, wenn man ihre
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sporadischen Äußerungen, wie in der bekannten Dampfsubventionsfrage, in Betracht zieht,
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seit längerer Zeit. Allein eine ausgesprochene einheitliche Strömung in diesem Sinne
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datiert erst seit Anfang der neunziger Jahre, seit dem Fall des Sozialistengesetzes und
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der Wiedereroberung des gesetzlichen Bodens. Vollmars Staatssozialismus, die bayerische
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Budgetabstimmung, der süddeutsche Agrarsozialismus, Heines Kompensationsvorschläge,
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Schippels Zoll- und Milizstandpunkt, das sind die Marksteine in der Entwicklung der
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opportunistischen Praxis.</p>
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<p>Was kennzeichnete sie vor allem äußerlich? Die Feindseligkeit gegen »die Theorie«.
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Und dies ist ganz selbstverständlich, denn unsere »Theorie«, d.h. die
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Grundsätze des wissenschaftlichen Sozialismus, setzen der praktischen Tätigkeit ebenso
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in bezug auf die angestrebten Ziele, wie auf die anzuwendenden Kampfmittel, wie endlich
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selbst auf die Kampfweise sehr feste Schranken. Daher zeigt sich bei denjenigen, die nur
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den praktischen Erfolgen nachjagen wollen, das natürliche Bestreben, sich die Hände frei
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zu machen, d.h. unsere Praxis von der »Theorie« zu trennen, von ihr unabhängig
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zu machen.</p>
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<p>Aber dieselbe Theorie schlug sie bei jedem praktischen Versuch auf den Kopf: der
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Staatssozialismus, Agrarsozialismus, die Kompensationspolitik, die Milizfrage sind eben
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soviel Niederlagen für den Opportunismus. Es ist klar, daß diese Strömung, wollte sie
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sich gegen unsere Grundsätze behaupten, folgerichtig dazu kommen mußte, sich an die
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Theorie selbst, an die Grundsätze heranzuwagen, statt sie zu ignorieren, sie zu
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erschüttern suchen und eine eigene Theorie zurechtzumachen. Ein dahingehender Versuch war
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eben die Bernsteinsche Theorie, und daher sahen wir auf dem Parteitag in Stuttgart alle
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opportunistischen Elemente sich sofort um das Bernsteinsche Banner gruppieren. Sind
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einerseits die opportunistischen Strömungen in der Praxis eine ganz natürliche, aus den
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Bedingungen unseres Kampfes und seinem Wachstum erklärliche Erscheinung, so ist
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andererseits die Bernsteinsche Theorie ein nicht minder selbstverständlicher Versuch,
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diese Strömungen in einem allgemeinen theoretischen Ausdruck zusammenzufassen, ihre
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eigenen theoretischen Voraussetzungen herauszufinden und mit dem wissenschaftlichen
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Sozialismus abzurechnen. Die Bernsteinsche Theorie war daher von vornherein die
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theoretische Feuerprobe für den Opportunismus, seine erste wissenschaftliche
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Legitimation.</p>
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<p>Wie ist nun diese Probe ausgefallen? Wir haben es gesehen. Der Opportunismus ist nicht
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imstande, eine einigermaßen die Kritik aushaltende positive Theorie aufzustellen. Alles,
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was er kann, ist: die Marxsche Lehre zuerst in verschiedenen einzelnen Grundsätzen zu
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bekämpfen und zuletzt, da diese Lehre ein fest zusammengefügtes Gebäude darstellt, das
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ganze System vom obersten Stockwerke bis zum Fundament zu zerstören. Damit ist erwiesen,
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daß die opportunistische Praxis in ihrem Wesen, in ihren Grundlagen mit dem Marxschen
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System unvereinbar ist.</p>
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<p>Aber damit ist ferner noch erwiesen, daß der Opportunismus auch mit dem Sozialismus
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überhaupt unvereinbar ist, daß seine innere Tendenz dahin geht, die Arbeiterbewegung in
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bürgerliche Bahnen hinüberzudrängen, d.h. den proletarischen Klassenkampf völlig
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lahmzulegen. Freilich ist proletarischer Klassenkampf mit dem Marxschen System -
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geschichtlich genommen - nicht identisch. Auch vor Marx und unabhängig von ihm hat es
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eine Arbeiterbewegung und verschiedene sozialistische Systeme gegeben, die jedes in seiner
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Weise ein den Zeitverhältnissen entsprechender theoretischer Ausdruck der
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Emanzipationsbestrebungen der Arbeiterklasse waren. Die Begründung des Sozialismus durch
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moralische Gerechtigkeitsbegriffe, der Kampf gegen die Verteilungsweise, statt gegen die
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Produktionsweise, die Auffassung der Klassengegensätze als Gegensatz von arm und reich,
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die Bestrebung, die »Genossenschaftlichkeit« auf die kapitalistische Wirtschaft
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aufzupfropfen, alles das, was wir im Bernsteinschen System vorfinden, ist schon einmal
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dagewesen. Und diese Theorien waren ihrer Zeit bei all ihrer Unzulänglichkeit wirkliche
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Theorien des proletarischen Klassenkampfes, sie waren die riesenhaften Kinderschuhe, worin
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das Proletariat auf der geschichtlichen Bühne marschieren lernte.</p>
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<p>Aber nachdem einmal die Entwicklung des Klassenkampfes selbst und seiner
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gesellschaftlichen Bedingungen zur Abstreifung dieser Theorien und zur Formulierung der
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Grundsätze des wissenschaftlichen Sozialismus geführt hat, kann es - wenigstens in
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Deutschland - keinen Sozialismus mehr außer dem Marxschen, keinen sozialistischen
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Klassenkampf außerhalb der Sozialdemokratie geben. Nunmehr sind Sozialismus und
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Marxismus, proletarischer Emanzipationskampf und Sozialdemokratie identisch. Das
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Zurückgreifen auf vormarxsche Theorien des Sozialismus bedeutet daher heute nicht einmal
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den Rückfall in die riesenhaften Kinderschuhe des Proletariats, nein, es ist ein
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Rückfall in die zwerghaften, ausgetretenen Hausschuhe der Bourgeoisie.</p>
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<p>Die Bernsteinsche Theorie war der erste, aber zugleich auch der letzte Versuch, dem
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Opportunismus eine theoretische Grundlage zu geben. Wir sagen: der letzte, weil er in dem
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Bernsteinschen System ebenso negativ in der Abschwörung des wissenschaftlichen
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Sozialismus, wie positiv in der Zusammenwürfelung aller verfügbaren theoretitischen
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Konfusion so weit gegangen ist, daß ihm nichts zu tun mehr übrig bleibt. Durch das
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Bernsteinsche Buch hat der Opportunismus seine Entwicklung in der Theorie (wie durch die
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Schippelsche Stellungnahme zur Frage des Militarismus in der Praxis)S vollendet, seine
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letzten Konsequenzen gezogen.</p>
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<p>Und die Marxsche Lehre ist nicht nur imstande, ihn theoretisch zu widerlegen, sondern
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sie ist es allein, die in der Lage ist, den Opportunismus als geschichtliche Erscheinung
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in dem Werdegange der Partei auch zu erklären. Der weltgeschichtliche Vormarsch des
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Proletariats bis zu seinem Siege ist tatsächlich »keine so einfache Sache«. Die ganze
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Besonderheit dieser Bewegung liegt darin, daß hier zum erstenmal in der Geschichte die
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Volksmassen selbst und gegen alle herrschenden Klassen ihren Willen durchsetzen, diesen
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Willen aber ins jenseits der heutigen Gesellschaft, über sie hinaus setzen müssen.
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Diesen Willen können sich die Massen aber wiederum nur im beständigen Kampfe mit der
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bestehenden Ordnung, nur in ihrem Rahmen ausbilden. Die Vereinigung der großen Volksmasse
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mit einem über die ganze bestehende Ordnung hinausgehenden Ziele, des alltäglichen
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Kampfes mit der großen Weltreform, das ist das große Problem der sozialdemokratischen
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Bewegung, die sich auch folgerichtig auf dem ganzen Entwicklungsgange zwischen den beiden
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Klippen: zwischen dem Aufgeben des Massencharakters und dem Aufgeben des Endziels,
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zwischen dem Rückfall in die Sekte und dem Umfall in die bürgerliche Reformbewegung,
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zwischen Anarchismus und Opportunismus vorwärts arbeiten muß.</p>
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<p>Die Marxsche Lehre hat freilich in ihrer theoretischen Rüstkammer schon vor einem
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halben Jahrhundert vernichtende Waffen ebenso gegen das eine wie gegen das andere Extrem
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geliefert. Da aber unsere Bewegung eben eine Massenbewegung ist, und die Gefahren, die ihr
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drohen, nicht aus den menschlichen Köpfen, sondern aus den gesellschaftlichen Bedingungen
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entspringen, so konnten die anarchistischen und die opportunistischen Seitensprünge nicht
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ein für allemal von vornherein durch die Marxsche Theorie verhütet werden: sie müssen,
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erst nachdem sie in der Praxis Fleisch geworden, durch die Bewegung selbst, allerdings nur
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mit Hilfe der von Marx gelieferten Waffen, überwunden werden. Die geringere Gefahr, die
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anarchistischen Kindheitsmasern, hat die Sozialdemokratie bereits mit der
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»Unabhängigenbewegung« überwunden. Die größere Gefahr - die opportunistische
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Wassersucht, überwindet sie gegenwärtig.</p>
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<p>Bei dem enormen Wachstum der Bewegung in die Breite in den letzten Jahren, bei der
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Kompliziertheit der Bedingungen, worin und der Aufgaben, wofür nun der Kampf zu führen
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ist, mußte der Augenblick kommen, wo sich in der Bewegung Skeptizismus in bezug auf die
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Erreichung der großen Endziele, Schwankung in bezug auf das ideelle Element der Bewegung
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geltend machten. So und nicht anders kann und muß die große proletarische Bewegung
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verlaufen, und die Augenblicke des Wankens, des Zagens sind weit entfernt, eine
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Überraschung für die Marxsche Lehre zu sein, vielmehr von Marx längst vorausgesehen und
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vorausgesagt. »Bürgerliche Revolutionen«, schrieb Marx vor einem halben Jahrhundert in
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seinem »Achtzehnten Brumaire«, »wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen
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rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und
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Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefaßt, die Ekstase ist der Geist jedes Tages: aber sie
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sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer
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erfaßt die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern
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sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten
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Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem
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eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem
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anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten
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ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der
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Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von
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neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke, bis die
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Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst
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rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!« </p>
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<p>Dies ist wahr geblieben, auch nachdem die Lehre des wissenschaftlichen Sozialismus
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aufgebaut worden ist. Die proletarische Bewegung ist damit noch nicht auf einmal, auch in
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Deutschland nicht, sozialdemokratisch geworden, sie wird sozialdemokratisch mit jedem
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Tage, sie wird es auch während und indem sie fortwährend die extremen Seitensprünge ins
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Anarchistische und ins Opportunistische überwindet, beides nur Bewegungsmomente der als
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Prozeß aufgefaßten Sozialdemokratie.</p>
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<p>Angesichts dieses ist nicht die Entstehung der opportunistischen Strömung, sondern
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vielmehr ihre Schwäche überraschend. Solange sie bloß in Einzelfällen der Parteipraxis
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zum Durchbruch kam, konnte man noch hinter ihr eine irgendwie ernste theoretische
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Grundlage vermuten. Nun sie aber in dem Bernsteinschen Buche zum vollen Ausdruck gekommen
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ist, muß jedermann verwundert ausrufen: Wie, das ist alles, was Ihr zu sagen habt? Kein
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einziger Splitter von einem neuen Gedanken! Kein einziger Gedanke, der nicht schon vor
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Jahrzehnten von dem Marxismus niedergetreten, zerstampft, ausgelacht, in nichts verwandelt
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worden wäre!</p>
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<p>Es genügte, daß der Opportunismus sprach, um zu zeigen, daß er nichts zu sagen
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hatte. Und darin liegt die eigentliche parteigeschichtliche Bedeutung des Bernsteinschen
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Buches.</p>
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<p>Und so kann Bernstein noch beim Abschied von der Denkweise des revolutionären
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Proletariats, von der Dialektik und der materialistischen Geschichtsauffassung, sich bei
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ihnen für die mildernden Umstände bedanken, die sie seiner Wandlung zubilligen. Denn nur
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die Dialektik und die materialistische Geschichtsauffassung, hochherzig wie sie sind,
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lassen ihn als berufenes, aber unbewußtes Werkzeug erscheinen, wodurch das
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vorwärtsstürmende Proletariat seinen augenblicklichen Wankelmut zum Ausdruck gebracht
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hat, um ihn, bei Lichte besehen, hohnlachend und lockenschüttelnd weit von sich zu
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werfen.</p>
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<p>[Wir haben gesagt: die Bewegung wird sozialdemokratisch, während und indem sie die mit
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Notwendigkeit sich aus ihrem Wachstum ergebenden Seitensprünge ins Anarchistische und
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Opportunistische überwindet. Aber überwinden, heißt nicht, in Seelenruhe alles gehen zu
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lassen, wie's Gott gefällt. Die jetzige opportunistische Strömung überwinden, heißt,
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sie von sich weisen.</p>
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<p>Bernstein läßt sein Buch in den Rat an die Partei ausklingen, sie möge zu scheinen
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wagen, was sie sei: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei. Die Partei, d.h. ihr
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oberes Organ, der Parteitag müßte unseres Erachtens diesen Rat quittieren, indem er
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Bernstein veranlaßt, seinerseits auch formell als das zu erscheinen, was er ist: ein
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kleinbürgerlich-demokratischer Fortschrittler.]</p>
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<HR size="1" align="left" width="200">
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<P><SMALL>Quelle: »die nicht mehr existierende Website "Unser Kampf" auf fr<66>her "http://felix2.2y.net/deutsch/index.html"«<BR>
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Pfad: »../lu/«<BR>
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Verknüpfte Dateien: »<A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">../css/format.css</A>«</SMALL></P>
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<HR size="1">
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<TABLE width="100%" border="0" align="center" cellspacing=0 cellpadding=0>
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<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle><A HREF="../index.shtml.html"><SMALL>MLWerke</SMALL></A></TD>
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<TD ALIGN="center" width="49%" height=20 valign=middle> <A HREF="default.htm"><SMALL>Rosa Luxemburg</SMALL></A></TD>
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