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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>August Bebel - Die Frau und der Sozialismus - Schlu&szlig;. Kapitel</TITLE>
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<P ALIGN="CENTER"><A HREF="beaa_528.htm"><FONT SIZE=2>30. Kapitel</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="beaa_000.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A> </P>
<FONT SIZE=2><P>August Bebel - "Die Frau und der Sozialismus" - 62. Auflage, Berlin/DDR, 1973, S. 550-557.</P>
<P>1. Korrektur.<BR>
Erstellt am 31.1.1999.</P>
</FONT><FONT SIZE=4><P ALIGN="CENTER">Schlu&szlig;</P>
</FONT><B><P><A NAME="S550">|550|</A></B> Unsere Darlegungen zeigen, da&szlig; es sich bei Verwirklichung des Sozialismus nicht um willk&uuml;rliches Einrei&szlig;en und Aufbauen, sondern um ein naturgeschichtliches Werden handelt. Alle Faktoren, die in dem Zerst&ouml;rungsproze&szlig; einerseits, im Werdeproze&szlig; andererseits eine Rolle spielen, sind Faktoren, die wirken, wie sie wirken m&uuml;ssen. Weder sind es "geniale Staatsm&auml;nner" noch "volksaufwiegelnde Demagogen", die die Dinge nach ihrem Willen leiten k&ouml;nnen. "Sie glauben zu schieben, und sie werden geschoben." Aber wir sind nahe an dem Punkt, "wo die Zeit sich erf&uuml;llet hat". </P>
<P>Wir sprachen in diesen Ausf&uuml;hrungen &ouml;fter von einer &Uuml;berproduktion an Waren, welche die Krisen erzeugt, eine der b&uuml;rgerlichen Welt eigent&uuml;mliche Erscheinung, die sich in keiner fr&uuml;heren Entwicklungsperiode zeigte. </P>
<P>Die b&uuml;rgerliche Welt schafft aber nicht nur &Uuml;berproduktion an Waren und an Arbeitern, sondern auch an Intelligenz. Deutschland ist das klassische Land, das diese &Uuml;berproduktion an Intelligenz, welche die b&uuml;rgerliche Welt nicht mehr zu verwerten wei&szlig;, auf gro&szlig;er Stufenleiter schafft. Ein Zustand, der f&uuml;r die deutsche Entwicklung jahrhundertelang als ein Ungl&uuml;ck galt, hat wesentlich zu dieser Erscheinung beigetragen. Das ist die Kleinstaaterei und die Hemmung, die diese politischen Gebilde auf die gro&szlig;kapitalistische Entwicklung aus&uuml;bten. Die Kleinstaaterei dezentralisierte das geistige Leben der Nation, sie schuf viele kleine Zentren geistigen Lebens, die ihren Einflu&szlig; auf das Ganze aus&uuml;bten. Im Verh&auml;ltnis zu einer einzigen Zentralregierung bedurften die vielen Staaten eines ungemein gro&szlig;en Beamtenapparats, f&uuml;r dessen Glieder eine gewisse h&ouml;here Bildung notwendig ist. So entstanden wie in keinem anderen Lande Europas Hochschulen und Universit&auml;ten in Menge. Eifersucht und Ehrgeiz der verschiedenen Regierungen spielten hierbei eine gro&szlig;e Rolle. &Auml;hnliches vollzog sich, als einzelne Regierungen begannen, den obligato- <A NAME="S551"><B>|551|</A></B> rischen Volksunterricht einzuf&uuml;hren. Die Sucht, hinter dem Nachbarstaat nicht zur&uuml;ckzubleiben, schlug hier einmal zum Guten aus. Das Bed&uuml;rfnis nach Intelligenz steigerte sich, als die zunehmende Bildung, Hand in Hand gehend mit der materiellen Entwicklung des B&uuml;rgertums, das Verlangen nach politischer Beteiligung, nach Volksvertretungen und Selbstverwaltung der Gemeinden weckte. Es waren kleine K&ouml;rperschaften f&uuml;r kleine L&auml;nder und Kreise, aber sie veranla&szlig;ten die S&ouml;hne der h&ouml;heren Klassen, nach einer Stelle in denselben zu geizen und ihre Bildung danach einzurichten. </P>
<P>Wie mit den Wissenschaften ging es mit den K&uuml;nsten. Kein Land Europas hat im Verh&auml;ltnis so viele Maler-, Kunst- und technische Schulen, Museen und Kunstsammlungen wie Deutschland. Andere L&auml;nder m&ouml;gen Bedeutenderes in ihren Hauptst&auml;dten aufweisen k&ouml;nnen, aber eine Verteilung &uuml;ber das ganze Reich wie in Deutschland besitzt keines derselben. In bezug auf Kunst nur Italien. </P>
<P>Diese ganze Entwicklung wirkte auf das deutsche Geisteswesen vertiefend ein, der Mangel an gro&szlig;en politischen K&auml;mpfen gab Mu&szlig;e zu einem gewissen beschaulichen Leben. W&auml;hrend andere Nationen um die Herrschaft auf dem Weltmarkt rangen, die Erde unter sich verteilten und gro&szlig;e innere politische K&auml;mpfe f&uuml;hrten, sa&szlig;en die Deutschen zu Hause und tr&auml;umten und philosophierten. Aber dieses Tr&auml;umen, Spintisieren und Philosophieren, das ein zum h&auml;uslichen Leben und zur Anstrengung n&ouml;tigendes Klima beg&uuml;nstigt, schuf jenen kritischen, beobachtenden Geist, durch den sich die Deutschen, nachdem sie erwacht waren, anfingen auszuzeichnen. </P>
<P>W&auml;hrend das englische B&uuml;rgertum schon in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, das franz&ouml;sische B&uuml;rgertum gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts seinen ma&szlig;gebenden Einflu&szlig; auf den Staat sich erk&auml;mpft hatte, gelang es dem deutschen B&uuml;rgertum erst mit dem Jahre 1848 sich einen, vergleichsweise sehr m&auml;&szlig;igen, Einflu&szlig; auf die Staatsgewalt zu erobern. Aber das Jahr 1848 war das Geburtsjahr f&uuml;r die deutsche Bourgeoisie als selbstbewu&szlig;te Klasse, die, im Liberalismus repr&auml;sentiert, jetzt als selbst&auml;ndige politische Partei auf die B&uuml;hne trat. Auch hier zeigte sich die Eigent&uuml;mlichkeit der deutschen Entwicklung. Es waren nicht Fabrikanten, Kaufleute, Handels- und Finanzm&auml;nner, die das gro&szlig;e Wort f&uuml;hrten, sondern vorzugsweise liberalisierende Standesherren, Professoren, Schriftsteller, Juristen und Doktoren aller Fakult&auml;ten. Es waren die deutschen Ideologen, <A NAME="S552"><B>|552|</A></B> und danach fiel ihr Werk aus. Nach 1848 wurde einstweilen die Bourgeoisie politisch zur Ruhe verwiesen; aber sie benutzte die Zeit der politischen Kirchhofsruhe der f&uuml;nfziger Jahre um so gr&uuml;ndlicher, um das Gesch&auml;ft zu f&ouml;rdern. Der Ausbruch des &ouml;sterreichisch-italienischen Krieges, der Beginn der Regentschaft in Preu&szlig;en regten die Bourgeoisie von neuem an, die Hand nach der politischen Macht zu strecken. Die Nationalvereinsbewegung begann. Die Bourgeoisie war bereits zu entwickelt, um die vielen politischen Schranken, die zugleich &ouml;konomische waren, innerhalb der vielen einzelnen Staaten. l&auml;nger dulden zu k&ouml;nnen; sie machte Miene, revolution&auml;r zu werden. Herr v. Bismarck erkannte die Situation und benutzte dieselbe in seiner Art, um die Interessen der Bourgeoisie mit denen des preu&szlig;ischen K&ouml;nigtums, dem die Bourgeoisie nie feind war, denn sie f&uuml;rchtete die Revolution und die Massen, zu vers&ouml;hnen. Endlich fielen die Schranken, die ihre materielle Entwicklung gehindert hatten. Bei dem Reichtum Deutschlands an Kohlen und Erzen und einer intelligenten, aber gen&uuml;gsamen Arbeiterklasse erlangte die Bourgeoisie binnen wenigen Jahrzehnten eine so riesenhafte Entwicklung, wie sie, mit Ausnahme der Vereinigten Staaten, in keinem Lande in gleich kurzer Zeit und in solchem Ma&szlig;stab eine Bourgeoisie erlangt hat. So kam Deutschland als Industrie- und Handelsstaat rasch an die zweite Stelle in Europa, und es geizt nach der ersten. </P>
<P>Diese rasche materielle Entwicklung hatte aber auch ihre Kehrseite. Das bis zur Gr&uuml;ndung der Einheit Deutschlands zwischen allen deutschen Staaten bestehende Absperrungssystem hatte bis dahin einem ungemein zahlreichen Handwerker- und Kleinbauernstand die Existenz gefristet. Mit der j&auml;hen Niederrei&szlig;ung aller Schutzschranken sahen diese sich pl&ouml;tzlich einem sich z&uuml;gellos entwickelnden kapitalistischen Produktionsproze&szlig; gegen&uuml;ber. Diese kamen dadurch in eine verzweifelte Lage. Die Prosperit&auml;tsepoche im Beginn der siebziger Jahre lie&szlig; die Gefahr anfangs weniger gro&szlig; erscheinen, aber sie wurde um so f&uuml;hlbarer, als die Krise begann. Die Bourgeoisie hatte die Prosperit&auml;tsepoche zu ihrer gro&szlig;artigen Entfaltung benutzt und machte jetzt durch Massenproduktion den Druck verzehnfacht f&uuml;hlbar. Von jetzt ab erweiterte sich die Kluft zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden rasch und gewaltig. Dieser Zersetzungs- und Aufsaugungsproze&szlig;, der immer rascher sich vollzieht, gef&ouml;rdert durch das Wachstum materieller Macht auf der einen und die sinkende Widerstands- <A NAME="S553"><B>|553|</A></B> f&auml;higkeit auf der andern Seite, versetzt ganze Klassen in immer gr&ouml;&szlig;ere Bedr&auml;ngnis. Sie sehen sich immer st&auml;rker in ihrer Lebenslage bedroht und sehen sich mit mathematischer Sicherheit dem Untergang geweiht. </P>
<P>In diesem Verzweiflungskampf suchen viele m&ouml;glichst Rettung in der Ver&auml;nderung des Berufs. Die Alten k&ouml;nnen diesen Wechsel nicht mehr vollziehen, Verm&ouml;gen k&ouml;nnen sie in den seltensten F&auml;llen ihren Kindern hinterlassen, so werden die letzten Anstrengungen gemacht und die letzten Mittel aufgeboten, um S&ouml;hne und T&ouml;chter in Stellungen mit fixem Einkommen zu bringen, wozu ein Betriebskapital nicht n&ouml;tig ist. Dies sind die Beamtenstellen im Reichs-, Staats- und Kommunaldienst, das Lehrfach, der Post- und Eisenbahndienst, die h&ouml;heren Stellen im Dienste der Bourgeoisie, auf den Kontors, in den Warenlagern und Fabriken, als Kontoristen, Lagerhalter, Chemiker, Techniker, Ingenieure, Konstrukteure usw., ferner die sogenannten liberalen Berufe: Juristen, &Auml;rzte, Theologen, Schriftsteller, K&uuml;nstler, Architekten, Lehrer und Lehrerinnen usw. </P>
<P>Tausende und aber Tausende, die fr&uuml;her einen gewerblichen Beruf ergriffen h&auml;tten, sehen sich jetzt, weil keine M&ouml;glichkeit zur Selbst&auml;ndigkeit und einer ausk&ouml;mmlichen Existenz mehr vorhanden ist, nach irgendeiner Stellung in den erw&auml;hnten Berufen um. Alles dr&auml;ngt zur h&ouml;heren Ausbildung und zum Studium. Realschulen, Gymnasien, Polytechniken usw. wachsen wie Pilze aus der Erde, und die bestehenden sind &uuml;berf&uuml;llt; im gleichen Ma&szlig;stab w&auml;chst die Zahl der Studierenden auf den Universit&auml;ten, der Eleven in den chemischen und physikalischen Laboratorien, in den Kunstschulen, den Gewerbe- und Handelsschulen, den h&ouml;heren weiblichen Bildungsanstalten aller Art. In allen F&auml;chern ohne Ausnahme besteht eine hochgradige &Uuml;berf&uuml;llung, und immer st&auml;rker wird der Strom. Es werden immer neue Verlangen laut nach Gr&uuml;ndung von Gymnasien und h&ouml;heren Bildungsanstalten, um die Zahl der Sch&uuml;ler und Studierenden aufzunehmen. Beh&ouml;rden und Private erlassen Warnungen &uuml;ber Warnungen, indem sie bald vor dem Studium dieses, bald jenes Faches warnen. Sogar die Theologie, die in fr&uuml;heren Jahrzehnten wegen Mangel an Kandidaten einzutrocknen drohte, bekommt von dem &Uuml;berflu&szlig; ihren Segen und sieht ihre Pfr&uuml;nden wieder besetzt. "Ich lehre den Glauben an zehntausend G&ouml;tter und Teufel, wenn es verlangt wird, schafft mir nur eine Stelle, von der ich leben kann", so widerhallt es aus allen Ecken. <A NAME="S554"><B>|554|</A></B> &Ouml;fter weigern sich sogar die betreffenden Minister, ihre Zustimmung zur Gr&uuml;ndung neuer h&ouml;herer Lehranstalten zu geben, "da die vorhandenen das Bed&uuml;rfnis nach Kandidaten f&uuml;r alle F&auml;cher reichlich deckten". </P>
<P>Dieser Zustand wird dadurch versch&auml;rft, da&szlig; der Konkurrenz- und Vernichtungskampf der Bourgeoisie unter sich eine Menge ihrer S&ouml;hne zwingt, sich &ouml;ffentliche Stellungen zu suchen. Ferner f&uuml;hrt das stetig gr&ouml;&szlig;er werdende stehende Heerwesen mit seiner Armee von Offizieren, deren Avancement nach l&auml;ngerer Friedenszeit in bedenkliche Stockung ger&auml;t, zur Pensionierung einer Menge derselben im besten Lebensalter, die, vom Staate beg&uuml;nstigt, in allen m&ouml;glichen beh&ouml;rdlichen Stellungen Unterkunft suchen. Die gro&szlig;e Menge der Zivilanw&auml;rter aus den niederen Graden der Armee nimmt wieder anderen Schichten das Brot weg. Weiter kommt hinzu, da&szlig; das gro&szlig;e Heer der Reichs-, Staats- und Kommunalbeamten aller Grade in erster Linie seine Kinder f&uuml;r Berufe wie die erw&auml;hnten erzieht und erziehen mu&szlig;. Soziale Stellung, der Bildungsstand und die Anspr&uuml;che dieser Kreise verlangen die Fernhaltung der Kinder von sogenannten niederen Besch&auml;ftigungsarten, die &uuml;berdies ebenfalls &uuml;berf&uuml;llt sind. </P>
<P>Das Einj&auml;hrigfreiwilligensystem, das nach Erlangung eines gewissen Bildungsgrades f&uuml;r ein gewisses materielles Opfer die Absolvierung des Milit&auml;rdienstes in einem statt in zwei oder drei Jahren gestattet, vermehrt weiter die Zahl der Kandidaten f&uuml;r &Auml;mter und Stellen. Namentlich sind es viele wohlhabende Bauerns&ouml;hne, welchen die R&uuml;ckkehr auf das Dorf und zum v&auml;terlichen Beruf nicht mehr zusagt. </P>
<P>Infolge aller dieser Umst&auml;nde hat Deutschland mehr als jedes andere Land ein ungemein zahlreiches Gelehrten- und K&uuml;nstlerproletariat, ein starkes Proletariat in den sogenannten liberalen Berufen, das stetig sich vermehrt und die G&auml;rung und Unzufriedenheit mit dem bestehenden Zustand der Dinge bis in die h&ouml;heren Kreise der Gesellschaft tr&auml;gt. Diese Jugend wird zur Kritik an dem Bestehenden herausgefordert und gereizt und hilft die allgemeine Zersetzungsarbeit wesentlich beschleunigen. So wird von allen Seiten der bestehende Zustand der Dinge angegriffen und untergraben. Alle diese Verh&auml;ltnisse f&uuml;hrten dazu, da&szlig; die deutsche Sozialdemokratie in dem gro&szlig;en Riesenkampf der Zukunft die erste F&uuml;hrerrolle &uuml;bernommen hat. Deutsche Sozialisten waren es, welche die Bewegungsgesetze der modernen Gesellschaft entdeckten und den Sozia- <A NAME="S555"><B>|555|</A></B> liemus als die Gesellschaftsform der Zukunft wissenschaftlich begr&uuml;ndeten. In erster Linie Karl Marx und Friedrich Engels, ihnen folgend und durch seine Agitation das Feuer in die Massen werfend, Ferdinand Lassalle. Auch sind vielfach deutsche Sozialisten die Pioniere, welche unter die Arbeiter der verschiedensten V&ouml;lker die sozialistischen Gedanken verbreiten. </P>
<P>Vor einem halben Jahrhundert konnte Buckle auf Grund seines Studiums deutscher Geistes- und Bildungsverh&auml;ltnisse schreiben, Deutschland habe zwar eine gro&szlig;e Zahl der gr&ouml;&szlig;ten Denker, aber es gebe kein Land, in dem der Abstand zwischen der Klasse der Gelehrten und der Masse des Volkes so gro&szlig; sei als in ihm. Das ist heute<I> nicht</I> mehr richtig. Dieses galt so lange, als in Deutschland sich die Wissenschaft auf die dem praktischen Leben fernstehenden Gelehrtenkreise beschr&auml;nkte. Seitdem Deutschland &ouml;konomisch revolutioniert worden ist, wurde die Wissenschaft gen&ouml;tigt, sich dem praktischen Leben dienstbar zu machen. Die Wissenschaft selbst wurde praktisch. Man begriff, da&szlig; sie erst vollen Wert habe, wenn sie Mittel f&uuml;r das Leben werde, wozu die Entwicklung der gro&szlig;kapitalistischen Produktion zwang. Dadurch sind in Deutschland in den letzten Jahrzehnten alle Wissensf&auml;cher stark demokratisiert worden. Einmal hat die gro&szlig;e Zahl f&uuml;r h&ouml;here Berufe ausgebildeter junger M&auml;nner dazu beigetragen, die Wissenschaft in das Volk zu tragen; sodann hat die allgemeine Schulbildung, die in Deutschland h&ouml;her ist als in den meisten anderen L&auml;ndern, den Massen die Aufnahme einer Menge Geisteserzeugnisse erleichtert. Insbesondere aber hat die sozialistische Bewegung mit ihrer Literatur, ihrer Journalistik, ihren Vereinen und Versammlungen, ihrer parlamentarischen Vertretung und der durch alle diese Faktoren unabl&auml;ssig ge&uuml;bten Kritik auf allen Gebieten des &ouml;ffentlichen Lebens das geistige Niveau der Massen bedeutend erh&ouml;ht. </P>
<P>Auch das Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie (von 1878 bis 1890) hat hieran nichts ge&auml;ndert. Es engte die Bewegung etwas ein und d&auml;mpfte ein wenig ihr Tempo. Andererseits half es aber die Bewegung vertiefen und schuf eine gro&szlig;e Erbitterung gegen die herrschenden Klassen und die Staatsgewalten. Der schlie&szlig;liche Fall des Ausnahmegesetzes war nur die Konsequenz der Entwicklung der Sozialdemokratischen Partei unter demselben und der &ouml;konomischen Entwicklung der Nation, und so marschiert die Bewegung, wie sie unter den gegebenen Verh&auml;ltnissen marschieren mu&szlig;.<I> </P>
</I><B><P><A NAME="S556">|556|</A></B> Und wie in Deutschland, so hat in den letzten Jahrzehnten die sozialistische Bewegung in allen Kulturstaaten ungeahnte Fortschritte gemacht, wof&uuml;r ein sprechendes Zeugnis die internationalen Arbeiterkongresse sind, die eine immer st&auml;rkere Beteiligung finden. </P>
<P>So ist der gro&szlig;e Kampf der Geister in allen Kulturstaaten entbrannt und wird mit dem gr&ouml;&szlig;ten Feuereifer gef&uuml;hrt. Neben der Sozialwissenschaft bilden das weite Gebiet der Naturwissenschaften, die Gesundheitslehre, die Kulturgeschichte und die Philosophie das Arsenal, dem die Waffen entnommen werden. Die Grundlagen des Bestehenden werden von<I> allen</I> Seiten angegriffen, und die wuchtigsten Hiebe werden gegen die St&uuml;tzen der alten Gesellschaft gef&uuml;hrt. Die revolution&auml;ren Gedanken dringen in die konservativsten Kreise und bringen die Reihen unserer Feinde in vollste Verwirrung. Handwerker und Gelehrte, Ackerbauer und K&uuml;nstler, Kaufleute und Beamte, sogar Fabrikanten und Bankiers, kurz, M&auml;nner jeder Stellung schlie&szlig;en sich den Arbeitern an, die das Gros der Armee bilden, die um den Sieg k&auml;mpft und ihn erringen wird. Alle unterst&uuml;tzen und erg&auml;nzen sich gegenseitig. </P>
<P>Auch an die Frau im allgemeinen und an die Proletarierin im besonderen tritt die Aufforderung, in diesem Kampfe nicht zur&uuml;ckzubleiben, in dem auch f&uuml;r ihre Befreiung und Erl&ouml;sung gek&auml;mpft wird. Es ist an ihr, zu beweisen, da&szlig; sie ihre wahre Stellung in der Bewegung und in den K&auml;mpfen der Gegenwart f&uuml;r eine bessere Zukunft begriffen hat und entschlossen ist, daran teilzunehmen. Sache der M&auml;nner ist es, sie in der Abstreifung aller Vorurteile und in der Teilnahme am Kampfe zu unterst&uuml;tzen. Niemand untersch&auml;tze seine Kraft und glaube, da&szlig; es auf seine Person nicht ankomme. F&uuml;r den Kampf um den Fortschritt der Menschheit kann keine Kraft, und sei sie noch so schwach, entbehrt werden. Das ununterbrochene Fallen der Tropfen h&ouml;hlt schlie&szlig;lich den h&auml;rtesten Stein aus. Und aus vielen Tropfen entsteht der Bach, aus B&auml;chen der Flu&szlig;, aus einer Anzahl Fl&uuml;ssen der Strom. Schlie&szlig;lich ist kein Hindernis stark genug, ihn in seinem majest&auml;tischen Lauf zu hemmen. Genauso geht<68>s im Kulturleben der Menschheit. Handeln alle, die sich berufen f&uuml;hlen, mit ganzer Kraft in diesem Kampfe, so kann der endliche Sieg nicht fehlen. </P>
<P>Dieser wird einst um so gr&ouml;&szlig;er sein, je eifriger und aufopferungsvoller jeder einzelne die vorgezeichnete Bahn verfolgt. Bedenken, ob der einzelne ungeachtet aller Opfer, Arbeit und M&uuml;he den Beginn <A NAME="S557"><B>|557|</A></B> einer neuen, sch&ouml;neren Kulturperiode noch erlebe, des Sieges Fr&uuml;chte noch genie&szlig;e, d&uuml;rfen keinem aufsto&szlig;en, noch weniger d&uuml;rfen sie ihn von dem betretenen Wege abhalten. Wohl k&ouml;nnen wir weder die Dauer noch die Art der Entwicklungsphasen bestimmen, die dieser Kampf um die h&ouml;chsten Ziele zu durchlaufen hat, wir k&ouml;nnen dies ebensowenig, wie wir &uuml;ber die Dauer unseres Lebens eine Gewi&szlig;heit haben. Aber wie die Lust zum Leben uns beherrscht, so k&ouml;nnen wir auch die<I> Hoffnung</I> hegen, diesen Sieg zu erleben. Stehen wir doch in einem Zeitalter, das sozusagen mit Siebenmeilenstiefeln vorw&auml;rtsst&uuml;rmt und deshalb alle Feinde einer<I> neuen, h&ouml;heren</I> Gesellschaftsordnung erzittern macht. </P>
<P>Von dem raschen Wachstum und der immer gewaltiger werdenden Ausbreitung der sozialistischen Ideen liefert jeder Tag neue Beispiele. Auf allen Gebieten regt sich<63>s und dr&auml;ngt nach vorw&auml;rts. Die Morgend&auml;mmerung zu einem sch&ouml;nen Tage zieht mit Macht herauf. K&auml;mpfen und streben wir also immer voran, unbek&uuml;mmert darum, "wo" und "wann" die Grenzpf&auml;hle f&uuml;r eine neue, bessere Zeit f&uuml;r die Menschheit eingeschlagen werden. Und fallen wir im Laufe dieses gro&szlig;en, die Menschheit befreienden Kampfes, so treten die uns Nachstrebenden f&uuml;r uns ein. Wir fallen in dem Bewu&szlig;tsein, unsere Schuldigkeit als Mensch getan zu haben,<I> und in der &Uuml;berzeugung, da&szlig; das Ziel erreicht wird, wie immer die dem Fortschritt der Menschheit feindlichen M&auml;chte sich dagegen wehren und str&auml;uben m&ouml;gen.</P>
</I><P ALIGN="CENTER">"DEM SOZIALISMUS GEH&Ouml;RT DIE ZUKUNFT,</P>
<P ALIGN="CENTER">DAS HEISST IN ERSTER LINIE</P>
<P ALIGN="CENTER">DEM ARBEITER UND DER FRAU."</P></BODY>
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