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<!DOCTYPE HTML PUBLIC "-//W3C//DTD HTML 3.2//EN">
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<title>Karl Marx/Friedrich Engels - Revue, mai bis Oktober 1850</title>
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<body link="#0000FF" vlink="#800080" bgcolor="#FFFFAF">
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<p><font size="2">Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz
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Verlag, Berlin. Band 7, 5. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960,
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Berlin/DDR. S. 421-463.</font></p>
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<h2>Karl Marx/Friedrich Engels</h2>
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<h1>Revue</h1>
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<h2>Mai bis Oktober [1850]</h2>
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<p><font size="2">"Neue Rheinische Zeitung. Politisch-ökonomische Revue", Fünftes und
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Sechstes Heft, Mai bis Oktober 1850.</font></p>
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<p><a name="S421"></a></p>
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<hr>
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<p><b><421></b> Die politischen Agitationen der letzten sechs Monate unterscheiden sich
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wesentlich von den unmittelbar vorhergehenden. Die revolutionäre Partei ist überall vom
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Schauplatz zurückgedrängt, die Sieger streiten sich um die Früchte des Sieges. So
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in Frankreich die verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie, in Deutschland die verschiednen
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Fürsten. Der Streit wird mit großem Geräusch geführt, der offne Bruch, die
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Entscheidung durch die Waffen scheint unvermeidlich; unvermeidlich aber ist, daß die Waffen
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in der Scheide ruhen bleiben, daß die Entscheidungslosigkeit sich stets von neuem hinter
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Friedensverträge verbirgt, um sich von neuem auf den Scheinkrieg vorzubereiten.</p>
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<p>Betrachten wir zuerst die <i>reale</i> Grundlage, auf der diese oberflächlichen Wallungen
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spielen.</p>
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<p>Die Jahre 1843-1845 waren Jahre der industriellen und kommerziellen Prosperität,
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notwendige Folgen der fast ununterbrochenen Depression der Industrie der Epoche 1837-42. Wie
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immer, entwickelte die Prosperität sehr rasch die Spekulation. Die Spekulation tritt
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regelmäßig ein in den Perioden, wo die Überproduktion schon in vollem Gange ist.
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Sie liefert der Überproduktion ihre momentanen Abzugskanäle, während sie eben
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dadurch das Hereinbrechen der Krise beschleunigt und ihre Wucht vermehrt. Die Krise selbst bricht
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zuerst aus auf dem Gebiet der Spekulation und bemächtigt sich erst später der
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Produktion. Nicht die Überproduktion, sondern die Überspekulation, die selbst nur ein
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Symptom der Überproduktion ist, erscheint daher der oberflächlichen Betrachtung als
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Ursache der Krise. Die spätere Zerrüttung der Produktion erscheint nicht als
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notwendiges Resultat ihrer eignen vorhergegangenen Exuberanz, sondern als bloßer
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Rückschlag der zusammenbrechenden Spekulation. Da wir jedoch in diesem Augenblick keine
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vollständige Geschichte der Krise [nach] 1843-45 geben können, so stellen wir nur die
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bedeutendsten eben dieser <i>Symptome</i> der Überproduktion zusammen.</p>
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<p><b><a name="S422"><422></a></b> Die Spekulation der Prosperitätsjahre 1843-1845
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warf sich hauptsächlich auf Eisenbahnen, wo sie ein wirkliches Bedürfnis zu ihrer
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Grundlage hatte, auf Getreide, infolge der Teuerung von 1845 und der Kartoffelkrankheit, auf
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Baumwolle, nach der schlechten Ernte von 1846, und auf den ostindischen und chinesischen Handel,
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wo sie der Eröffnung des chinesischen Markts durch England auf dem Fuß folgte</p>
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<p>Die Ausdehnung des englischen Eisenbahnsystems begann schon 1844, entwickelte sich aber
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vollständig erst 1845. In diesem Jahr allein betrug die Zahl der registrierten Bills zur
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Errichtung von Eisenbahngesellschaften 1.035. Im Februar 1846, nachdem schon eine Unzahl von
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diesen registrierten Projekten wieder aufgegeben war, beliefen sich die bei der Regierung
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für die beibehaltenen Projekte zu deponierenden Gelder immer noch auf die enorme Summe von
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£ 14.000.000, und noch im Jahr 1847 betrug die Gesamtsumme der in England eingeforderten
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Einzahlungen über £ 42.000.000, wovon über 36 Mill. für englische,
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später 5<sup><font size="2">1</font></sup>/<font size="1">2</font> Mill. für
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auswärtige Eisenbahnen. Die Blütezeit dieser Spekulation fiel in den Sommer und Herbst
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1845. Die Preise der Aktien stiegen fortwährend, und die Gewinne der Spekulanten rissen bald
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alle Klassen der Bevölkerung in den Strudel hinein. Herzöge und Grafen wetteiferten mit
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Kaufleuten und Fabrikanten um die einträgliche Ehre, in den Direktionen der verschiednen
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Linien zu sitzen; die Mitglieder des Unterhauses, das Barreau, die Geistlichkeit waren zahlreich
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in diesen Behörden vertreten. Wer einen Pfennig gespart, wer über einen Funken Kredit
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zu verfügen hatte, spekulierte in Eisenbahnaktien. Die Zahl der Eisenbahnzeitungen stieg von
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3 auf mehr als 20. Einzelne große Tagesblätter verdienten an Eisenbahnannoncen und
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Prospekten oft £ 14.000 in einer Woche. Die Ingenieure waren nicht in hinreichender Zahl
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aufzutreiben und wurden enorm bezahlt. Drucker, Lithographen, Buchbinder, Papierhändler etc.
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etc., die zur Anfertigung von Prospekten. Plänen, Karten etc. etc. in Bewegung gesetzt
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wurden, Möbelfabrikanten, die die pilurtig aufschießenden Büros der zahllosen
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neuen Direktionen, provisorischen Komitees usf. möblierten, erhielten splendide Preise
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bezahlt. Auf der Grundlage der wirklichen Ausdehnung des englischen und kontinentalen
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Eisenbahnsystems und der damit verknüpften Spekulation erhob sich während dieser
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Periode allmählich ein Überbau von Schwindel, der an die Zeiten von Law und der
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Südseegesellschaft erinnert. Hunderte von Linien wurden projektiert ohne die geringste
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Chance auf Erfolg, wo die Projektoren selbst nie an wirkliche Ausführung dachten, wo es sich
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überhaupt nur um das Aufzehren der Deposita durch die Direktoren und um die Schwindelprofite
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auf den Verkauf der Aktien handelte.</p>
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<p><b><a name="S423"><423></a></b> Im Oktober 1845 trat die Reaktion ein, die sich bald zu
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einem vollständigen panic steigerte. Schon vor dem Februar 1846, wo die Depositengelder an
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die Regierung gezahlt werden mußten, hatten die unhaltbarsten Projekte Bankerott gemacht.
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Im April 1846 hatte der Rückschlag schon die kontinentalen Aktienmärkte erreicht. In
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Paris, Hamburg, Frankfurt, Amsterdam fanden Zwangsverkäufe zu sehr gesunkenen Preisen statt,
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die die Bankerotte von Bankiers und Mäklern nach sich zogen. Die Eisenbahnkrisis zog sich
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hin bis in den Herbst 1848, verlängert durch die sukzessiven Bankerotte auch der weniger
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unsoliden Projekte, wie sie nach und nach von dem allgemeinen Druck erreicht und wie die
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Einzahlungen eingefordert wurden, und verschärft durch das Eintreten der Krise auch auf den
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andern Gebieten der Spekulation, des Handels und der Industrie, die die Preise der älteren
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und solideren Aktien allmählich herabdrückte, bis diese im Oktober 1848 ihr niedrigstes
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Niveau erreichten.</p>
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<p>Im August 1845 wurde die öffentliche Aufmerksamkeit zuerst auf die Kartoffelkrankheit
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gelenkt, die nicht nur in England und Irland, sondern auch auf dem Kontinent sich zeigte - das
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erste Symptom, daß die Wurzel der bestehenden Gesellschaft faul war. Gleichzeitig trafen
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Berichte ein, die über den schon erwarteten großen Ausfall auch in der Kornernte
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keinen Zweifel mehr ließen. Die Kornpreise stiegen infolge dieser beiden Umstände auf
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allen europäischen Märkten bedeutend; in Irland vollständige Hungersnot, die die
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englische Regierung zu einer Anleihe von 8 Mill. Pfd.St. für diese Provinz nötigte -
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genau ein Pfd.St. für jeden Irländer. In Frankreich, wo die Kalamität noch
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erhöht wurde durch die Überschwemmungen, die an 4 Mill. Pfd.St. Schaden anrichteten,
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war der Mißwachs ungemein bedeutend. Nicht minder in Holland und Belgien. Der
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Mißernte des Jahres 1845 entsprach eine noch schlechtere im Jahr 1846, und auch die
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Kartoffelkrankheit erschien wieder, wenn auch in engerem Maß. So war der
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Getreidespekulation eine vollständige reale Grundlage gegeben, und sie entwickelte sich um
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so gewaltsamer, je mehr die fruchtbaren Ernten von 1842-44 sie für lange fast ganz
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niedergehalten hatten. In den Jahren 1 845-47 fand in England eine größere
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Getreideeinfuhr statt als jemals vorher. Die Kornpreise stiegen fortwährend bis in den
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Frühling 1847, wo infolge der wechselnden Nachrichten über die neue Ernte aus den
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verschiednen Ländern, infolge der von verschiednen Regierungen ergriffnen Maßregeln
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(Eröffnung der Häfen zur freien Korneinfuhr etc. etc.) eine Periode der Fluktuation
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eintrat und endlich im Mai 1847 die Preise ihren Höhepunkt erreichten. In diesem Monat stieg
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der Durchschnittspreis des Quarters Weizen in England bis 102<sup><font size=
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"2">1</font></sup>/<font size="1">2</font> Schill. und an einzelnen Tagen bis auf 115 und 124
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Schill. Aber bald liefen entschieden günstige Berichte ein über <a name=
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"S424"><b><424></b></a> das Wetter und die wachsende Ernte: die Preise fielen, und Mitte
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Juli stand der Durchschnittspreis nur noch auf 74 Schill. Ungünstigeres Wetter in
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verschiednen Gegenden trieb die Preise wieder etwas in die Höhe, bis endlich gegen Mitte
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August feststand, daß die Ernte von 1847 über den Durchschnittsertrag hinaus liefre.
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Das Fallen war jetzt nicht mehr aufzuhalten; die Zufuhren nach England vermehrten sich über
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alle Erwartung, und schon am 18. September war der Durchschnittspreis auf 49<sup><font size=
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"2">1</font></sup>/<font size="1">2</font> Schill. reduziert. In sechzehn Wochen hatten also die
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Durchschnittspreise um nicht weniger als 53 Schill. variiert.</p>
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<p>Während dieser ganzen Zeit hatte nicht nur die Eisenbahnkrisis fortgedauert, sondern
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gerade in dem Moment, wo die Kornpreise am höchsten standen, im April und Mai 1847, trat die
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vollständigste Zerrüttung des Kreditsystems und das vollständigste Derangement auf
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dem Geldmarkt hinzu. Die Kornspekulanten hielten trotzdem den Fall der Preise aus bis zum 2.
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August. An diesem Tage erhöhte die Bank die niedrigste Rate ihres Diskontos auf 5 p.c. und
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für alle Wechsel auf mehr als 2 Monate auf 6 p.c. Sogleich folgte eine Reihe der
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glänzendsten Fallimente auf der Kornbörse, an ihrer Spitze das des Herrn Robinson, des
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Gouverneurs der Bank von England. In London allein fallierten acht große Kornhäuser,
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deren Passiva zusammen mehr als 1<sup><font size="2">1</font></sup>/<font size="1">2</font> Mill.
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Pfd.St. ausmachten. Die Provinzialkornmärkte waren gänzlich paralysiert; die Bankerotte
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folgten sich hier, namentlich in Liverpool, mit gleicher Schnelligkeit. Die entsprechenden
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Fallimente auf dem Kontinent traten hier, je nach der Entfernung von London, früher oder
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später ein. Mit dem 18. September, dem Datum der niedrigsten Kornpreise, ist die Kornkrise
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in England jedoch als abgeschlossen zu betrachten.</p>
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<p>Wir kommen jetzt auf die eigentliche kommerzielle, auf die Geldkrise. In den ersten vier
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Monaten von 1847 erschien der allgemeine Stand des Handels und der Industrie noch befriedigend,
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mit Ausnahme jedoch der Eisenproduktion und der Baumwollenindustrie. Die Eisenproduktion, mit dem
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Eisenbahnschwindel von 1845 auf eine enorme Höhe getrieben, litt natürlich in demselben
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Maße als für das Übermaß des gelieferten Eisens das Debouché sich
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verminderte. In der Baumwollenindustrie, dem Hauptindustriezweig für den ostindischen und
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chinesischen Markt, war schon 1845 für diesen Markt überproduziert worden und sehr bald
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ein verhältnismäßiger Rückschlag eingetreten. Der Baumwollmißwachs von
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1846, das Steigen der Preise sowohl des Rohprodukts wie der fertigen Ware und die damit gegebne
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Abnahme des Verbrauchs vermehrten den Druck auf diese Industrie. In den ersten Monaten von 1847
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wurde in ganz Lancashire die Produktion bedeutend eingeschränkt, und die Baumwollarbeiter
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waren schon von der Krisis erreicht.</p>
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<p><b><a name="S425"><425></a></b> Am 15. April 1847 erhöhte die Bank von England ihre
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niedrigste Rate des Diskontos für ganz kurze Wechsel auf 5 p.c.; sie beschränkte den
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Gesamtbetrag der zu diskontierenden Wechsel, und zwar ohne Rücksicht auf den Charakter der
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bezogenen Häuser; sie kündigte endlich den Kaufleuten, denen sie Vorschüsse
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gemacht, peremptorisch an, daß sie diese Vorschüsse bei Verfall nicht mehr wie bisher
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gewöhnlich erneuern werde, sondern Rückzahlung verlangen [werde]. Zwei Tage nachher
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zeigte die Veröffentlichung ihrer wöchentlichen Bilanz, daß der Reservefonds des
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Banking Departement auf 2<sup><font size="2">1</font></sup>/<font size="1">2</font> Mill. Pfd.St.
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gefallen war. Die Bank hatte also die obigen Maßregeln getroffen, um dem Abfluß des
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Goldes aus ihren Kellern Einhalt zu tun und den Barfonds wieder zu erhöhen.</p>
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<p>Der Abfluß des Goldes und Silbers aus der Bank beruhte auf verschiednen Ursachen. Einmal
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erforderte die Konsumtion und die bedeutend höheren Preise fast aller Artikel eine
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ausgedehntere Zirkulation, besonders von Gold und Silber für den Kleinhandel. Dann hatten
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die fortwährenden Einzahlungen für die Eisenbahnbauten, die im Monat April allein
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£ 4.314.000 betrugen, die Entziehung einer Masse von Depositen aus der Bank nötig
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gemacht. Ein Teil der eingeforderten Gelder, für ausländische Eisenbahnen bestimmt,
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floß direkt ins Ausland. Die bedeutende Übereinfuhr von Zucker, Kaffee und andern
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Kolonialwaren, deren Konsumtion und deren Preise noch mehr durch die Spekulation gestiegen waren,
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von Baumwolle infolge spekulativer Ankäufe seit der Gewißheit einer knappen Ernte und
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namentlich von Korn infolge des wiederholten Mißwachses, mußte großenteils in
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barem Geld oder Barren bezahlt werden, und auch so wurde bedeutender Abfluß von Gold und
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Silber ins Ausland veranlaßt. Dieser Abfluß der edlen Metalle aus England dauerte
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übrigens trotz der obigen Bankmaßregeln bis Ende August fort.</p>
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<p>Die Beschlüsse der Bank und die Nachricht vom niedrigen Stande ihres Reservefonds
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brachten sofort einen Druck auf den Geldmarkt hervor und einen panic im ganzen englischen Handel,
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so intensiv wie nur im Jahre 1845. In den letzten Wochen des April und den vier ersten Tagen des
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Mai waren fast alle Kredittransaktionen paralysiert. Indessen brachen keine
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außergewöhnlichen Bankerotte aus; die Handelshäuser hielten sich durch enorme
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Zinszahlungen und Zwangsverkäufe ihrer Vorräte, Staatspapiere etc. zu ruinierenden
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Preisen. Eine Reihe selbst der solideren Häuser legte durch ihre Rettung aus diesem ersten
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Akt der Krise nur den Grund zu ihrem späteren Sturz. Diese Überwindung der ersten,
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drohendsten Gefahr trug sehr zur Hebung des Vertrauens bei; seit dem 5. Mai verminderte sich der
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Druck auf den Geldmarkt sichtlich, und gegen Ende Mai war der Alarm ziemlich vorüber.</p>
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<p><b><a name="S426"><426></a></b> Wenige Monate später jedoch, im Anfang August,
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traten die schon erwähnten Bankerotte im Kornhandel ein, und kaum waren sie, die bis in den
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September hinein dauerten, erschöpft, als die Krisis mit konzentrierter Gewalt im
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allgemeinen Verkehr, besonders im ostindischen, westindischen und Mauritius-Geschäft
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ausbrach, und zwar gleichzeitig in London, Liverpool, Manchester und Glasgow. Während des
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Septembers fallierten in London allein 20 Häuser, deren Gesamtpassiva zwischen 9 und 10
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Mill. Pfd.St. betrugen.</p>
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<p><font size="2">"Wir haben damals Entwurzelungen kommerzieller Dynastien in England erlebt,
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nicht weniger überraschend als der Sturz jener politischen Firmen auf dem Kontinent, wovon
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wir neulich so viel zu hören bekamen", sagte Disraeli am 30. August 1848 im
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Unterhause.</font></p>
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<p>Die Fallimente der ostindischen Häuser wüteten ununterbrochen fort bis zum
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Schluß des Jahrs und erneuerten sich in den ersten Monaten 1848, wo die Nachrichten von den
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Bankerotten der entsprechenden Häuser in Kalkutta, Bombay, Madras und Mauritius
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einliefen.</p>
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<p>Diese in der Handelsgeschichte unerhörte Reihe von Bankerotten war verursacht durch die
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allgemeine Überspekulation und die damit hervorgerufene Übereinfuhr von
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Kolonialprodukten. Die lange Zeit künstlich in der Höhe gehaltenen Preise dieser Waren
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fielen teilweise schon vor dem panic von April 1847, fielen allgemein und bedeutend jedoch erst
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<i>nach</i> diesem panic, als des ganze Kreditsystem zusammenbrach und ein Haus nach dem andern
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zu massenhaften, forcierten Verkäufen gezwungen wurde. Besonders vom Juni und Juli bis in
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den November war dieses Fallen so bedeutend, daß selbst die ältesten und solidesten
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Häuser daran zugrunde gehn mußten.</p>
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<p>Die Bankerotte im September waren noch ausschließlich auf <i>eigentliche
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Handelshäuser</i> beschränkt. Am 1. Oktober erhöhte die Bank ihren niedrigsten
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Diskonto für kurze Wechsel auf 5<sup><font size="2">1</font></sup>/<font size="1">2</font>
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p.c. und erklärte gleichzeitig, daß sie fortan auf keine Staatspapiere, welcher Art
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sie auch seien, Vorschüsse mehr machen werde. Jetzt konnten auch die <i>Aktienbanken</i> und
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die <i>Privatbankiers</i> dem Druck nicht länger widerstehn. Die Royal Bank of Liverpool,
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die Liverpool Banking Company, die North and South Wales Bank, die Newcastle Union Joint Stock
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Bank etc. etc. erlagen der Reihe nach in wenigen Tagen. Gleichzeitig erfolgten die
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Insolvenzerklärungen einer Menge kleinerer Privatbankiers in allen Provinzen von
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England.</p>
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<p>Dieser allgemeinen Zahlungseinstellung der Banken, die den Monat Oktober besonders
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charakterisiert, schließen sich an in Liverpool, Manchester, Oldham, Halifax, Glasgow etc.
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eine bedeutende Zahl der Bankerotte von Effektenhändlern, Wechsel-, Aktien-, Schiffs-, Tee-
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und Baumwollmäklern, <a name="S427"><b><427></b></a> Eisenproduzenten und
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Eisenhändlern, Baumwollen- und Wollenspinnern, Kattundruckem usw. Nach Herrn Tocke waren
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diese Bankerotte sowohl ihrer Zahl wie ihrem Kapitalbetrag nach beispiellos in der englischen
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Handelsgeschichte und übertrafen weit die der Krisis von 1825. Die Krisis hatte am 23.-25.
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Oktober ihre Höhe erreicht, und alle kommerziellen Transaktionen hatten vollständig
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aufgehört. Da erwirkte eine Deputation aus der City die Suspension des Bankgesetzes von
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1844, jener Frucht des Scharfsinns des verstorbenen Sir Robert Peel. Mit dieser Suspension
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hörte die Trennung der Bank in zwei vollständig unabhängige Departements mit zwei
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gesonderten Barfonds momentan auf; noch ein paar Tage des alten Regimes, und das eine dieser
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Departements, das banking department, hätte fallieren müssen, während in dem issue
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department sechs Millionen Gold aufgespeichert lagen.</p>
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<p>Schon im Oktober fand der erste Rückschlag der Krise auf den <i>Kontinent</i> statt. Es
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brachen bedeutende Bankerotte aus gleichzeitig in Brüssel, Hamburg, Bremen, Elberfeld,
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Genua, Livorno, Courtray, St. Petersburg, Lissabon und Venedig. In demselben Maß wie die
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Intensität der Krise in England abnahm, stieg sie auf dem Kontinent und ergriff Punkte, die
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sie bisher nicht erreicht hatte. Während der schlimmsten Periode war der Wechselkurs
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günstig für England, und so zog dieses seit November fortwährend steigende
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Zufuhren von Gold und Silber an sich, nicht nur aus Rußland und dem Kontinent, sondern auch
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aus Amerika. Die unmittelbare Folge hiervon war, daß in demselben Maß, wie der
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|
Geldmarkt in England leichter wurde, er sich in der übrigen Handelswelt kontrahierte und die
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Krise sich hier in demselben Maß ausdehnte. Die Zahl der Bankerotte außerhalb
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Englands stieg also im November; es kamen jetzt ebenfalls bedeutende Fallimente vor in New York,
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|
Rotterdam, Amsterdam, Le Havre, Bayonne, Antwerpen, Mons, Triest, Madrid und Stockholm. Im
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|
Dezember brach die Krise auch in Marseille und Algier aus und nahm in Deutschland eine erneuerte
|
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|
Heftigkeit an.</p>
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<p>Wir sind jetzt auf dem Punkt angekommen, wo die französische Februarrevolution ausbrach.
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Wenn man die Bankerottliste ansieht, die Herr D. M. Evans seiner "Commercial Crisis of 1847-48"
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(London 1848[2871) anhängt, so findet man, daß in England <i>nicht ein einziges
|
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bedeutendes Haus</i> infolge dieser Revolution fallierte. Die einzigen Fallimente, die mit ihr
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zusammenhängen, kamen im Effektenhandel vor, infolge der plötzlichen Entwertung aller
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kontinentalen Staatspapiere. Ähnliche Bankerotte von Effektenhändlern natürlich
|
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auch in Amsterdam, Hamburg etc. Die englischen Konsols fielen um 6 p.c., während sie nach
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der Julirevolution um 3 p.c. gefallen waren. Für Stockjobbers war also die Februarrepublik
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nur doppelt so gefährlich wie die Julimonarchie.</p>
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<p><b><a name="S428"><428></a></b> Der panic, der nach dem Februar in Paris ausbrach und
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sich gleichzeitig mit den Revolutionen über den ganzen Kontinent verbreitete, hatte in
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seinem Verlauf große Ähnlichkeit mit dem Londoner panic vom April 1847. Der Kredit
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verschwand plötzlich, und die Transaktionen hörten fast ganz auf; in Paris,
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Brüssel und Amsterdam eilte alles auf die Bank, um die Noten gegen Gold auszuwechseln; im
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||
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ganzen erfolgten indes sehr wenige Bankerotte außerhalb des Effektenhandels, und auch diese
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wenigen sind schwerlich als notwendige Resultate der Februarrevolution nachzuweisen. Die meist
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nur momentanen Zahlungseinstellungen der Pariser Bankiers hängen teils mit dem
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Effektenhandel zusammen, teils waren sie bloße Vorsichtsmaßregeln und keineswegs
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durch wirkliche Insolvenz bedingt, teils endlich geschahen sie aus purer Schikane, um der
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provisorischen Regierung Schwierigkeiten zu machen und ihr Konzessionen abzuzwingen. Bei den
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Fallimenten von Bankiers und Kaufleuten an andern Plätzen des Kontinents ist es
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unmöglich zu entscheiden, inwiefern sie aus der Fortdauer und allmählichen Verbreitung
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der Handelskrise hervorgingen, inwiefern dabei die Zeitverhältnisse durch längst faule
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Häuser zu einem verständigen Exit benutzt wurden oder inwiefern sie wirklich Folgen von
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Verlusten durch den Revolutionspanic waren. Jedenfalls aber ist gewiß, daß die
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Handelskrise zu den Revolutionen von 1848 unendlich mehr beigetragen hat als die Revolution zur
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Handelskrise. Zwischen März und Mai hatte England schon direkten Vorteil von der Revolution,
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die ihm eine Menge von kontinentalem Kapital zuführte. Von diesem Augenblick an ist die
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Krise hier als geschlossen zu betrachten; in allen Geschäftszweigen trat eine Besserung ein,
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und der neue industrielle Zyklus beginnt mit entschiedner Tendenz zur Prosperität. Wie wenig
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die kontinentale Revolution diesen Aufschwung der Industrie und des Handels in England hemmte,
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beweist die Tatsache, daß die Masse der hier verarbeiteten Baumwolle von 475 Mill. Pfund
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(1847) auf 713 Millionen Pfund (1848) stieg.</p>
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<p>Diese erneuerte Prosperität entwickelte sich in <i>England</i> zusehends während der
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drei Jahre 1848,1849 und 1850. Für die acht Monate Januar bis August betrug die
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Gesamtausfuhr Englands 1848 - 31.633.214 Pfd.St.; 1849 - 39.263.322 Pfd.St.; 1850 - 43.851.568
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Pfd.St. Zu dieser bedeutenden Hebung, die sich in allen Geschäftszweigen mit Ausnahme der
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Eisenproduktion zeigte, kamen noch die überall fruchtbaren Ernten dieser drei Jahre. Der
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Durchschnittspreis des Weizens für 1848-1850 fiel in England auf 36 Schill., in Frankreich
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auf 32 Schill. per Quarter. Was diese Epoche der Prosperität auszeichnet, ist, daß
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drei Hauptabzugskanäle der Spekulation verstopft waren. Die Eisenbahnproduktion war auf die
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langsame Entwicklung eines gewöhnlichen Industriezweigs zurückgeführt; das
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Getreide bot bei einer Reihe reich- <a name="S429"><b><429></b></a> licher Ernten keine
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Chance; die Staatspapiere hatten durch die Revolutionen den Charakter der Sicherheit verloren,
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ohne den keine großen spekulativen Effektenumsätze möglich sind. Während
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jeder Epoche der Prosperität vermehrt sich das Kapital. Einerseits erzeugt die vermehrte
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Produktion neues Kapital; andrerseits wird vorhandenes Kapital, das während der Krise
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schlummerte, aus seiner Untätigkeit gezogen und auf den Markt geworfen. Dies
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<i>additionelle</i> Kapital war in den Jahren 1848-1850 bei dem Mangel an Debouchés der
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Spekulation gezwungen, sich auf die eigentliche Industrie zu werfen und damit die Produktion noch
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rascher zu steigern. Wie sehr dies in England auffällt, ohne daß man es sich zu
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erklären weiß, beweist die naive Äußerung des "Economist" vom 19. Okt.
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1850:</p>
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<p><font size="2">"Es ist bemerkenswert, daß die gegenwärtige Prosperität sich
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wesentlich von der aller früheren Perioden unterscheidet. In allen diesen Perioden erregte
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irgendeine grundlose Spekulation Hoffnungen, die nicht in Erfüllung gehn sollten. Einmal
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waren es ausländische Minen, ein andermal mehr Eisenbahnen als füglich in einem halben
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Jahrhundert gemacht werden konnten. Selbst wenn solche Spekulationen wohlbegründet waren,
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geschahen sie immer in Aussicht auf einen Ertrag, der erst nach einer beträchtlichen Periode
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realisiert werden konnte, sei es durch Produktion von Metallen oder Schöpfung neuer
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Kommunikationen und Märkte. Sie brachten keinen sofortigen Gewinn. Aber gegenwärtig ist
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unsre Prosperität gegründet auf die Produktion unmittelbar nützlicher Dinge, die
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fast ebensoschnell in den Konsum eingehn, als sie auf den Markt gebracht werden, die den
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Produzenten einen angemessenen Gewinn abwerfen und zu vermehrter Produktion spornen."</font></p>
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<p>Den schlagendsten Beweis, wie sehr sich die industrielle Produktion 1848 und 1849 gesteigert
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hat, liefert der Hauptindustriezweig, die Verarbeitung der Baumwolle. Die Baumwollernte von 1849
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in den Vereinigten Staaten war ergiebiger als irgendeine frühere. Sie betrug
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2<sup><font size="2">3</font></sup>/<font size="1">4</font> Mill. Ballen oder ungefähr 1.200
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Millionen Pfund. Die Ausdehnung der Baumwollindustrie hielt so sehr Schritt mit dieser vermehrten
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Zufuhr, daß Ende 1849 die Vorräte geringer waren als früher selbst nach Jahren
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des Mißwachses. Im Jahre 1849 wurden über 775 Mill. Pfund Baumwolle versponnen,
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während 1845, im Jahre der höchsten bisherigen Prosperität, nur 721 Millionen
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verarbeitet worden waren. Die Ausdehnung der Baumwollindustrie wird ferner bewiesen durch die
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große Steigerung der Baumwollpreise (55 p.c.) infolge eines verhältnismäßig
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unbedeutenden Ausfalls in der Ernte von 1850. Mindestens derselbe Fortschritt zeigt sich in allen
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andern Branchen, wie <In der "Revue": die> Spinnerei und Weberei in Seide, Wolle,
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gemischten Zeugen und Leinen. Die Ausfuhr in den Produkten dieser Industrien stieg besonders 1850
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so bedeutend, daß hierdurch <a name="S430"><b><430></b></a> die große
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Steigerung in der Gesamtausfuhr dieses Jahres (12 Mill. gegen 1848, 4 Mill. gegen 1849 in den
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ersten acht Monaten) hervorgebracht wurde, obgleich 1850 die Ausfuhr von Baumwollfabrikaten
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infolge des Baumwollmißwachses merklich abnahm. Trotz der bedeutenden Steigerung der
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Wollenpreise, die schon 1849 durch die Spekulation hervorgerufen schien, die sich indes bis jetzt
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gehalten hat, ist die Wollenindustrie fortwährend ausgedehnt worden und täglich werden
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neue Webstühle in Tätigkeit gesetzt. Die Ausfuhr von Leinengeweben betrug 1844, im Jahr
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der höchsten bisherigen Leinenausfuhr, 91 Mill. Yards zum Wert von 2.800.000 Pfd.St., und
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1849 erreichte sie die Höhe von 107 Millionen Yards zum Wert von über 3.000.000
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Pfd.St.</p>
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<p>Einen andern Beweis von dem Wachstum der englischen Industrie liefert der fortdauernd
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gesteigerte Konsum der Hauptkolonialwaren, besonders des Kaffees, Zuckers und Tees, bei
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fortwährend steigenden Preisen wenigstens der beiden ersteren Artikel. Diese Zunahme des
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Verbrauchs ist um so direkter Folge der ausgedehnten Industrie, als ihr ausnahmsweiser Markt seit
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1845, geschaffen durch die außerordentlichen Eisenbahnanlagen, längst auf das
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gewöhnliche Maß reduziert ist und als die niedrigen Kornpreise der letzten Jahre keine
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gesteigerte Konsumtion in den Ackerbaubezirken zulassen.</p>
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<p>Die große Ausdehnung der Baumwollenindustrie 1849 führte in den letzten Monaten
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dieses Jahres zu einem erneuerten Versuch der Überführung der ostindischen und
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chinesischen Märkte. Aber die Menge der alten, noch nicht umgesetzten Vorräte in jenen
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Gegenden hemmte diesen Versuch sehr bald wieder. Gleichzeitig wurde bei der steigenden Konsumtion
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von Rohprodukten und Kolonialwaren auch in diesen Artikeln ein Versuch zur Spekulation gemacht,
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aber auch dieser wurde sehr bald wieder aufgehalten durch momentan vermehrte Zufuhren und durch
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die Erinnerung an die noch zu frischen Wunden von 1847.</p>
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<p>Die Prosperität der Industrie wird noch gesteigert werden durch die neulich erfolgte
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Eröffnung der holländischen Kolonien, durch die bevorstehende Errichtung neuer
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Verbindungslinien auf dem Stillen Ozean, auf die wir zurückkommen werden, und durch die
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große Industrieausstellung von 1851. Diese Ausstellung wurde von der englischen Bourgeoisie
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bereits im Jahre 1849, als noch der ganze Kontinent von Revolution träumte, mit der
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bewundernswertesten Kaltblütigkeit ausgeschrieben. In ihr beruft sie ihre sämtlichen
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Vasallen von Frankreich bis China zu einem großen Examen zusammen, auf dem sie nachweisen
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sollen, wie sie ihre Zeit benutzt haben; und selbst der allmächtige Zar von Rußland
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kann nicht umhin, seinen Untertanen zu befehlen, auf dieser großen Prüfung zahlreich
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zu erscheinen. Dieser große Weltkongreß <a name="S431"><b><431></b></a> von
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Produkten und Produzenten ist von ganz andrer Bedeutung als die absolutistischen Kongresse von
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Bregenz und Warschau, die unsern kontinentalen demokratischen Spießbürgern soviel
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Schweiß auspressen, oder als die europäisch-demokratischen Kongresse, welche die
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verschiednen provisorischen Regierungen in partibus zur Rettung der Welt stets aufs neue
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projektieren. Diese Ausstellung ist ein schlagender Beweis von der konzentrierten Gewalt, womit
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die moderne große Industrie überall die nationalen Schranken niederschlägt und
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die lokalen Besonderheiten in der Produktion, den gesellschaftlichen Verhältnissen, dem
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Charakter jedes einzelnen Volks mehr und mehr verwischt. Indem sie die Gesamtmasse der
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Produktivkräfte der modernen Industrie auf einen kleinen Raum zusammengedrängt zur
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Schau stellt, gerade zu einer Zeit, wo die modernen bürgerlichen Verhältnisse schon von
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allen Seiten untergraben sind, bringt sie zugleich das Material zur Anschauung, das sich inmitten
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dieser unterwühlten Zustände für den Aufbau einer neuen Gesellschaft erzeugt hat
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und noch täglich erzeugt. Die Bourgeoisie der Welt errichtet durch diese Ausstellung im
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modernen Rom ihr Pantheon, worin sie ihre Götter, die sie sich selbst gemacht hat, mit
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stolzer Selbstzufriedenheit ausstellt. Sie beweist dadurch praktisch, wie die "Ohnmacht und
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Verdrießlichkeit des Bürgers", von der deutsche Ideologen jahraus, jahrein predigen,
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nur die eigne Ohnmacht dieser Herren ist, die moderne Bewegung zu begreifen, und ihre eigne
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Verdrießlichkeit über diese Ohnmacht. Die Bourgeoisie feiert dies ihr
|
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größtes Fest in einem Augenblick, wo der Zusammenbruch ihrer ganzen Herrlichkeit
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bevorsteht, ein Zusammenbruch, der ihr schlagender als je nachweisen wird, wie die von ihr
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erschaffenen Mächte ihrer Zucht entwachsen sind. Bei einer zukünftigen Ausstellung
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werden die Bourgeois vielleicht nicht mehr als Inhaber dieser Produktivkräfte, sondern nur
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noch als ihre Ciceroni figurieren.</p>
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<p>Gerade wie 1845 und 1846 die Kartoffelkrankheit, so verbreitet seit Anfang dieses Jahres der
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Ausfall in der Baumwollernte einen allgemeinen Schrecken unter der Bourgeoisie. Dieser Schrecken
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hat sich noch bedeutend gesteigert, seit es feststeht, daß auch die Baumwollernte von 1851
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in keinem Fall viel reichlicher als die von 1850 ausfallen wird. Der Ausfall, der für
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frühere Perioden unbedeutend sein würde, ist für die jetzige Ausdehnung der
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Baumwollindustrie sehr groß und hat bereits sehr hemmend auf ihre Tätigkeit
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eingewirkt. Die Bourgeoisie, die sich kaum von der niederschlagenden Entdeckung erholt hatte,
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daß einer der Grundpfeiler ihrer ganzen gesellschaftlichen Ordnung, die Kartoffel,
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gefährdet war, sieht nun noch den zweiten Grundpfeiler bedroht, die Baumwolle. Konnte schon
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ein einziger mittelmäßiger Ausfall in der Baumwollernte und die Aussicht auf einen
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zweiten <a name="S432"><b><432></b></a> mitten im Jubel der Prosperität ernstlichen
|
||
|
Alarm erregen, so werden einige aufeinanderfolgende Jahre des wirklichen Baumwollmißwachses
|
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notwendig die ganze zivilisierte Gesellschaft momentan in die Barbarei zurückschleudern. Das
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||
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goldene und das eiserne Zeitalter sind längst dahin; dem neunzehnten Jahrhundert mit seiner
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Intelligenz, seinem Weltmarkt, seinen kolossalen Produktivkräften war es vorbehalten, das
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<i>baumwollene Zeitalter</i> ins Leben zu rufen. Die englische Bourgeoisie fühlte
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gleichzeitig drückender als je, welche Herrschaft die Vereinigten Staaten durch ihr bisher
|
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ungebrochenes Monopol der Baumwollproduktion über sie ausüben. Sie hat sich sogleich in
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Bewegung gesetzt, um dies Monopol zu brechen. Nicht nur in Ostindien, auch in Natal und den
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||
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nördlichen Teilen von Australien und überhaupt in allen Teilen der Welt, wo das Klima
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und die Verhältnisse die Baumwollkultur erlauben, soll sie in jeder Weise befördert
|
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werden. Gleichzeitig entdeckt die englische negerfreundliche Bourgeoisie, daß "die
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Prosperität von Manchester von der Behandlung der Sklaven in Texas, Alabama und Louisiana
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abhängt und daß dies eine ebenso sonderbare wie alarmierende Tatsache ist"
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("Economist", 21. Sept. 1850). Daß der entscheidende Zweig der englischen Industrie auf der
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Existenz der Sklaverei in den südlichen Staaten der amerikanischen Union beruht, daß
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eine Negerrevolte in jenen Ländern das ganze bisherige Produktionssystem ruinieren kann, ist
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|
allerdings eine sehr niederschlagende Tatsache für die Leute, die vor wenig Jahren 20 Mill.
|
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Pfd.St. für die Emanzipation der Neger in ihren eignen Kolonien ausgaben. Diese Tatsache
|
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führt aber zugleich auf die einzige faktisch mögliche Lösung der Sklavenfrage, die
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jetzt wieder zu so langen und heftigen Debatten im amerikanischen Kongreß geführt hat.
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Die amerikanische Baumwollproduktion beruht auf der Sklaverei. Sobald die Industrie sich bis auf
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den Punkt entwickelt hat, wo ihr das Baumwollmonopol der Vereinigten Staaten unerträglich
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wird, sobald wird in andern Ländern die Baumwolle mit Erfolg massenhaft produziert werden,
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und zwar kann dies jetzt fast überall nur durch <i>freie Arbeiter</i> geschehen. Sobald aber
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die freie Arbeit andrer Länder der Industrie ihre Baumwollzufuhr ausreichend und wohlfeiler
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liefert als die Sklavenarbeit der Vereinigten Staaten, so ist mit dem amerikanischen
|
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Baumwollmonopol auch die amerikanische Sklaverei gebrochen, und die Sklaven werden emanzipiert,
|
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weil sie, als Sklaven, unbrauchbar geworden sind. Ganz ebenso wird die Lohnarbeit in Europa
|
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abgeschafft werden, sobald sie nicht nur keine notwendige Form mehr für die Produktion ist,
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sondern sogar eine Fessel für sie geworden ist.</p>
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<p>Wenn der mit 1848 begonnene neue Zyklus der industriellen Entwicklung denselben Lauf verfolgt
|
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wie der von 1843-47, würde die Krise im Jahr 1852 <a name="S433"><b><433></b></a>
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ausbrechen. Als ein Symptom, daß die aus der Überproduktion sich erzeugende
|
||
|
Überspekulation, die jeder Krise vorhergeht, nicht lange mehr ausbleiben kann, führen
|
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wir hier an, daß der Diskonto der Bank von England seit zwei Jahren nicht höher als 3
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p.c. steht. Wenn aber die Bank von England in Zeiten der Prosperität ihren Zinsfuß
|
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niedrig hält, so müssen die übrigen Geldhändler den ihrigen noch niedriger
|
||
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setzen, ebensogut wie sie ihn in Zeiten der Krise, wo die Bank den Zinsfuß bedeutend
|
||
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erhöht, über dem der Bank halten. Das additionelle Kapital, das, wie wir oben sehen, in
|
||
|
Zeiten der Prosperität regelmäßig auf den Anleihemarkt geworfen wird, drückt
|
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schon allein, nach den Gesetzen der Konkurrenz, den Zinsfuß bedeutend herab; in noch viel
|
||
|
größerem Maß aber verringert ihn der durch die allgemeine Prosperität enorm
|
||
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gesteigerte Kredit, indem er die Nachfrage nach Kapital vermindert. Die Regierung ist in diesen
|
||
|
Epochen in den Stand gesetzt, den Zinsfuß ihrer fundierten Schulden herabzusetzen, und der
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||
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Grundbesitzer, seine Hypotheken zu günstigeren Bedingungen zu erneuern. Die Kapitalisten des
|
||
|
Anleihemarkts sehen so, in einer Zeit, wo das Einkommen aller andern Klassen steigt, das ihrige
|
||
|
sich um ein Drittel oder mehr vermindern. Je länger dieser Zustand dauert, desto mehr sind
|
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sie genötigt, sich nach einer vorteilhafteren Anlage ihres Kapitals umzusehn. Die
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||
|
Überproduktion ruft zahlreiche neue Projekte hervor, und das Gelingen einiger weniger davon
|
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reicht hin, eine ganze Reihe von Kapitalien in dieselbe Richtung zu werfen, bis der Schwindel
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nach und nach allgemein wird. Die Spekulation hat aber, wie wir sehen, in diesem Augenblick nur
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zwei mögliche Hauptabzugskanäle: die Baumwollenkultur und die neuen
|
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Weltmarktsverbindungen, die durch die Entwicklung von Kalifornien und Australien gegeben sind.
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Man sieht, daß ihr Feld diesmal ungemein größere Dimensionen nehmen wird als in
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irgendeiner früheren Prosperitätsperiode.</p>
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<p>Werfen wir noch einen Blick auf die Lege der englischen Agrikulturdistrikte. Hier ist der
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allgemeine Druck durch die Aufhebung der Kornzölle und die gleichzeitigen reichlichen Ernten
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chronisch geworden, indes einigermaßen vermindert durch die bedeutend vermehrte Konsumtion
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infolge der Prosperität. Dazu kommt, daß wenigstens die Ackerbauarbeiter bei niedrigen
|
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Getreidepreisen sich immer in einer relativ besseren Lage befinden, obwohl diese Besserung in
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England in geringerem Maße stattfindet als in den Ländern, wo die Parzellierung des
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Grundbesitzes vorherrscht. Die Agitation der Protektionisten für Wiederherstellung der
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Kornzölle geht unter diesen Umständen in den Ackerbaubezirken voran, obwohl in einer
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|
dumpferen, versteckteren Weise als bisher. Es ist augenscheinlich, daß sie ohne alle
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|
Bedeutung bleiben wird, solange die industrielle Prosperität und die relativ <a name=
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"S434"><b><434></b></a> erträglichere Stellung der Landarbeiter dauert. Sobald aber
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die Krise ausbricht und auf die Ackerbaubezirke zurückwirkt, wird die Depression der
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Agrikultur auf dem Land eine ungemeine Aufregung hervorrufen. Zum erstenmal wird diesmal die
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|
industrielle und kommerzielle Krise zusammen[fallen] mit einer Ackerbaukrise, und in allen
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|
Fragen, in denen die Stadt und das Land, die Fabrikanten und die Grundbesitzer gegeneinander
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ankämpfen, werden beide Parteien von zwei großen Armeen unterstützt werden: die
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|
Fabrikanten von der Masse der industriellen, die Grundbesitzer von der Masse der
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||
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Agrikulturarbeiter.</p>
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<p>Wir kommen jetzt zu den <i>Vereinigten</i> Staaten <i>von Nordamerika</i>. Die Krise von 1836,
|
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|
die hier zuerst zum Ausbruch kam und am heftigsten wütete, dauerte fast ununterbrochen bis
|
||
|
1842 fort und hatte eine vollständige Umwälzung des amerikanischen Kreditsystems zur
|
||
|
Folge. Der Handel der Vereinigten Staaten erholte sich auf dieser solideren Grundlage, anfangs
|
||
|
freilich sehr langsam, bis von 1844 und 45 an die Prosperität auch hier bedeutend stieg.
|
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|
Sowohl die Teurung wie die Revolutionen in Europa waren für Amerika nur Quellen des Gewinns.
|
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|
Von 1845 bis 47 gewann es durch die enorme Kornausfuhr und durch die gesteigerten Baumwollpreise
|
||
|
von 1846. Von der Krise von 1847 wurde es nur wenig berührt. Im Jahr 1849 hatte es die
|
||
|
größte bisherige Baumwollernte, und im Jahr 1850 gewann es ungefähr 20 Mill.
|
||
|
Dollars durch den Ausfall der Baumwollernte, der mit dem neuen Aufschwung der europäischen
|
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|
Baumwollindustrie zusammenfiel. Die Revolutionen von 1848 hatten eine große Auswandrung
|
||
|
europäischen Kapitals nach den Vereinigten Staaten zur Folge, das teils mit den Einwanderern
|
||
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selbst ankam, teils in amerikanischen Staatspapieren von Europa aus angelegt wurde. Diese
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|
vermehrte Nachfrage nach amerikanischen Fonds hat die Preise derselben so sehr gesteigert,
|
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daß sich seit kurzem die Spekulation in New York mit großer Heftigkeit auf sie
|
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geworfen hat. Wir bleiben also trotz aller Gegenversicherungen der reaktionären
|
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Bourgeoispresse dabei, daß die einzige Staatsform, der unsre europäischen Kapitalisten
|
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|
Vertrauen schenken, die <i>bürgerliche Republik</i> ist. Es gibt überhaupt nur einen
|
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Ausdruck für das bürgerliche Vertrauen auf irgendeine Staatsform: <i>ihre Notierung</i>
|
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an <i>der Börse</i>.</p>
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<p>Die Prosperität der Vereinigten Staaten hob sich jedoch noch mehr durch andre Ursachen.
|
||
|
Das bewohnte Gebiet, der <i>Markt</i> der nordamerikanischen Union, dehnte sich nach zwei Seiten
|
||
|
hin mit überraschender Schnelligkeit aus. Die Vermehrung der Bevölkerung, sowohl durch
|
||
|
die Reproduktion im Innern wie durch die fortwährend gesteigerte Einwanderung, führte
|
||
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zur Überwachung ganzer Staaten und Gebiete. Wisconsin und Iowa wurden in wenig Jahren
|
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verhältnismäßig dicht bevölkert, und sämtliche Staaten des <a name=
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"S435"><b><435></b></a> oberen Mississippigebiets erhielten bedeutenden Zuwachs an
|
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|
Einwanderern. Die Ausbeutung der Minen am Oberen See und die steigende Kornproduktion des ganzen
|
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Gebiets der Seen gab dem Handel und der Schiffahrt auf diesem System von großen
|
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|
Binnenwassern einen neuen Aufschwung, der sich noch steigern wird durch einen Akt der letzten
|
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Kongreßsession, worin dem Handel mit Kanada und Neuschottland große Erleichterungen
|
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|
geboten werden. Während so die nordwestlichen Staaten eine ganz neue Bedeutung erlangt
|
||
|
haben, ist Oregon in wenig Jahren kolonisiert, Texas und Neu-Mexiko annexiert, Kalifornien
|
||
|
erobert worden. Die Entdeckung der kalifornischen Goldminen setzte der amerikanischen
|
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|
Prosperität die Krone auf. Wir haben bereits im <a href="me07_213.htm#S220">zweiten Heft
|
||
|
dieser "Revue"</a>, früher als irgendeine andre europäische Zeitschrift, auf die
|
||
|
Wichtigkeit dieser Entdeckung und ihrer notwendigen Folgen für den ganzen Welthandel
|
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aufmerksam gemacht. Diese Wichtigkeit liegt nicht in der Vermehrung des Goldes durch die
|
||
|
neuentdeckten Minen, obwohl auch diese Vermehrung der Tauschmittel keineswegs ohne günstigen
|
||
|
Einfluß auf den allgemeinen Handel bleiben konnte. Sie liegt in dem Sporn, den der
|
||
|
mineralische Reichtum Kaliforniens den Kapitalien auf dem Weltmarkt gab, in der Tätigkeit,
|
||
|
worin die ganze amerikanische Westküste und die asiatische Ostküste versetzt wurde, in
|
||
|
dem neuen Absatzmarkt, der in Kalifornien und allen vom Einfluß Kaliforniens berührten
|
||
|
Ländern geschaffen wurde. Der kalifornische Markt allein ist schon bedeutend; vor einem Jahr
|
||
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waren 100.000, jetzt sind mindestens 300.000 Menschen dort, die fast nichts produzieren als Gold
|
||
|
und gegen dieses Gold alle ihre Lebensbedürfnisse von fremden Märkten her eintauschen.
|
||
|
Aber der kalifornische Markt ist unbedeutend gegen die fortdauernde Ausdehnung aller Märkte
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am Stillen Meer, gegen die auffallende Hebung des Handels in Chile und Peru, im westlichen
|
||
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Mexiko, auf den Sandwichinseln und gegen den plötzlich entstandenen Verkehr Asiens und
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Australiens mit Kalifornien. Durch Kalifornien sind ganz neue Weltstraßen nötig
|
||
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geworden, Weltstraßen, die in kurzem alle andern an Bedeutung übertreffen müssen.
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||
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Der Haupthandelsweg nach dem Stillen Meere, das jetzt eigentlich erst aufgeschlossen ist und zum
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||
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wichtigsten Ozean der Welt wird, geht von jetzt an über den Isthmus von Panama. Die
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||
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Herstellung der Verbindungen auf diesem Isthmus durch Straßen, Eisenbahnen, Kanäle ist
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jetzt dringendstes Bedürfnis für den Welthandel geworden und stellenweise schon in
|
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Angriff genommen. Die Eisenbahn von Chagres nach Panama wird schon gebaut. Eine amerikanische
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Kompanie läßt das Flußgebiet des San Juan de Nicaragua vermessen, um an dieser
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||
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Stelle <a name="S436"><b><436></b></a> die beiden Meere zunächst durch eine
|
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Überlandroute und dann durch einen Kanal zu verbinden. Andre Routen, die über den
|
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|
Isthmus von Darien, die Atrato-Route in Neu-Granada, die über den Isthmus von Tehuantepac,
|
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werden in englischen und amerikanischen Blättern diskutiert. Bei der jetzt plötzlich
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enthüllten Unwissenheit, worin sich die ganze zivilisierte Welt über die
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Terrainverhältnisse Zentralamerikas befindet, ist es unmöglich zu bestimmen, welche
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Route für einen großen Kanal die vorteilhafteste ist; nach den wenigen bekannten Daten
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bieten die Atrato-Route und der Weg über Panama die meisten Chancen. Im Anschluß an
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die Kommunikationen über den Isthmus ist die schleunige Ausdehnung der ozeanischen
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Dampfschiffahrt ebenso dringend geworden. Schon fahren Dampfschiffe zwischen Southampton und
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Chagres, New York und Chagres, Valparaiso, Lima, Panama, Acapulco und San Franzisco; aber diese
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wenigen Linien mit ihrer geringen Anzahl Dämpfer reichen bei weitem nicht aus. Die
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Vermehrung der Dampfschiffahrt zwischen Europa und Chagres wird täglich nötiger, und
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der wachsende Verkehr zwischen Asien, Australien und Amerika verlangt neue, großartige
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Dampfschiffslinien von Panama und San Franzisco nach Kanton, Singapore, Sydney, Neuseeland und
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der wichtigsten Station des Stillen Meers, den Sandwichinseln. Australien und Neuseeland
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besonders haben von allen Gebieten des Stillen Meers, sowohl durch den raschen Fortschritt der
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Kolonisation wie durch den Einfluß von Kalifornien, sich am meisten gehoben und wollen
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keinen Augenblick länger durch eine vier- bis sechsmonatliche Segelfahrt von der
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zivilisierten Welt getrennt sein. Die Gesamtbevölkerung der australischen Kolonien
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(außer Neuseeland) stieg von 170.676 (1839) auf 333.764 im Jahr 1848, vermehrte sich also
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in neun Jahren um 95<sup><font size="2">1</font></sup>/<font size="1">2</font> p.c. England
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selbst kann diese Kolonien nicht ohne Dampfschiffsverbindung lassen; die Regierung unterhandelt
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in diesem Moment wegen einer Linie im Anschluß an die ostindische Überlandpost, und ob
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diese zustande komme oder nicht, so wird das Bedürfnis der Dampfverbindung mit Amerika und
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besonders Kalifornien, wohin im vorigen Jahr 3.500 Auswanderer aus Australien gingen, sich bald
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selbst Abhülfe schaffen. Man kann wirklich sagen, daß die Welt erst rund zu werden
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anfängt, seit die Notwendigkeit dieser universellen ozeanischen Dampfschiffahrt vorhanden
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ist.</p>
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<p>Diese bevorstehende Ausdehnung der Dampfschiffahrt wird noch vergrößert werden
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durch die bereits erwähnte Eröffnung der holländischen Kolonien und durch die
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Vermehrung der Schraubendampfschiffe, mit denen, wie sich mehr und mehr herausstellt, Auswanderer
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rascher, verhältnismäßig wohlfeiler und vorteilhafter zu befördern sind als
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auf Segelschiffen. Außer den Schraubendämpfern, die schon von Glasgow und Liverpool
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nach New York <a name="S437"><b><437></b></a> gehn, sollen neue auf die Linie gebracht und
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soll eine Linie zwischen Rotterdam und New York errichtet werden. Wie sehr überhaupt das
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Kapital gegenwärtig die Tendenz hat, sich auf die ozeanische Dampfschiffahrt zu werfen,
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beweist die fortwährende Vermehrung der zwischen Liverpool und New York fahrenden
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Konkurrenzdämpfer, die Errichtung ganz neuer Linien von England nach dem Kap und von New
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York nach Le Havre, eine ganze Reihe von ähnlichen Projekten, die jetzt in New York
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kolportiert werden.</p>
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<p>In dieser Richtung des Kapitals auf die überseeische Dampfschiffahrt und auf die
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Kanalisation des amerikanischen Isthmus ist bereits der Grund gelegt zur Überspekulation auf
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diesem Gebiet. Das Zentrum dieser Spekulation ist notwendig New York, das die größte
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Masse des kalifornischen Goldes erhält, das den Haupthandel nach Kalifornien schon an sich
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gezogen hat und überhaupt für ganz Amerika dieselbe Rolle spielt wie London für
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Europa. New York ist bereits das Zentrum der gesamten transatlantischen Dampfschiffahrt; die
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sämtlichen Dampfschiffe des Stillen Meers gehören New-Yorker Kompanien, und fast alle
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neuen Projekte in dieser Branche gehen von New York aus. Die Spekulation in überseeischen
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Dampfschiffslinien hat in New York bereits begonnen; die Nicaragua-Kompanie, von New York
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ausgegangen, ist ebenso der Anfang der Spekulation auf die Isthmuskanäle. Die
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Überspekulation wird sich sehr bald entwickeln, und wenn auch englisches Kapital massenhaft
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in alle derartigen Unternehmungen eintreten, wenn auch die Londoner Börse mit ähnlichen
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Projekten aller Art überführt werden wird, so bleibt doch New York diesmal das Zentrum
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des ganzen Schwindels und wird, wie 1836, zuerst seinen Zusammenbruch erleben. Zahllose Projekte
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werden zugrunde gehn, aber wie 1845 das englische Eisenbahnsystem, so wird diesmal wenigstens der
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<i>Umriß</i> einer universellen Dampfschiffahrt aus der Überspekulation hervorgehn.
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Wie viele Gesellschaften auch fallieren, die Dampfschiffe, die den atlantischen Verkehr
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verdoppeln, die das Stille Meer aufschließen, die Australien, Neuseeland, Singapore, China
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mit Amerika verbinden und die Reise um die Welt auf die Dauer von vier Monaten reduzieren, werden
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bleiben.</p>
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<p>Die Prosperität Englands und Amerikas wirkte bald auf den europäischen Kontinent
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zurück. Schon im Sommer 1849 waren in <i>Deutschland</i> die Fabriken, besonders der
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Rheinprovinz, wieder ziemlich beschäftigt, und seit Ende 1849 war die Wiederbelebung des
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Geschäfts allgemein. Diese erneuerte Prosperität, die unsre deutschen Bürger
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naiverweise der Herstellung der Ruhe und Ordnung zuschreiben, beruht in der Wirklichkeit einzig
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auf der erneuerten Prosperität in England und der vermehrten Nachfrage nach
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Industrieprodukten auf den amerikanischen und tropischen Märkten. Im Jahre 1850 hoben sich
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<a name="S438"><b><438></b></a> Industrie und Handel noch mehr; gerade wie in England trat
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ein momentaner Überfluß an Kapital und eine außerordentliche Erleichterung auf
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dem Geldmarkt ein, und die Berichte über die Frankfurter und Leipziger Herbstmessen lauten
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im höchsten Grade befriedigend für die beteiligten Bourgeois. Die
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schleswig-holsteinschen und kurhessischen Wirren, die Unionsstreitigkeiten und die drohenden
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Noten Östreichs und Preußens haben die Entwicklung aller dieser Symptome der
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Prosperität keinen Augenblick aufhalten können, wie dies auch der "Economist" mit
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spöttischer Cockney-Überlegenheit bemerkt.</p>
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<p>Dieselben Symptome zeigten sich in <i>Frankreich</i> seit 1849 und besonders seit Anfang 1850.
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Die Pariser Industrien sind vollauf beschäftigt, und auch die Baumwollfabriken von Rouen und
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Mülhausen gehn ziemlich gut, obwohl hier die hohen Preise des Rohstoffs, wie in England,
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hemmend eingewirkt haben. Die Entwicklung der Prosperität in Frankreich wurde zudem
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besonders befördert durch die umfassende Zollreform in Spanien und durch die Herabsetzung
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der Zölle auf verschiedene Luxusartikel in Mexiko; nach beiden Märkten hat die Ausfuhr
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französischer Waren bedeutend zugenommen. Die Vermehrung der Kapitalien führte in
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Frankreich zu einer Reihe von Spekulationen, denen die Ausbeutung der kalifornischen Goldminen
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auf großem Fuß zum Vorwand diente. Eine Menge von Gesellschaften tauchte auf, deren
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niedrige Aktienbeträge und deren sozialistisch gefärbte Prospekte direkt an den
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Geldbeutel der Kleinbürger und Arbeiter appellieren, die aber samt und sonders auf jene
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reine Prellerei hinauslaufen, welche den Franzosen und Chinesen allein eigentümlich ist.
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Eine dieser Gesellschaften wird sogar direkt von der Regierung protegiert. Die Einfuhrzölle
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in Frankreich in den ersten neun Monaten betrugen 1848 - 63 Mill. frs., 1849 - 95 Mill. frs. und
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1850 -93 Mill. frs. Sie stiegen übrigens im Monat September 1850 wieder um mehr als eine
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Million gegen den gleichen Monat 1849. Die Ausfuhr ist ebenfalls 1849 und noch mehr 1850
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gestiegen.</p>
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<p>Der schlagendste Beweis der wiederhergestellten Prosperität ist die Wiedereinführung
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der Barzahlungen der Bank durch das Gesetz vom 6. August 1850. Am 15. März 1848 war die Bank
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bevollmächtigt worden, ihre Barzahlungen einzustellen. Ihre Notenzirkulation, mit
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Einschluß der Provinzialbanken, betrug damals 373 Mill. frs. (14.920.000 Pfd.St.). Am 2.
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Nov. 1849 betrug diese Zirkulation 482 Mill. frs. oder 19.280.000 Pfd.St.; Zuwachs von 4.360.000
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Pfd.St., und am 2. Sept. 1850 - 496 Mill. frs. oder 19.840.000 Pfd.St.; Zuwachs von etwa 5 Mill.
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Pfd.St. Es trat dabei keine Depreziation der Noten ein; umgekehrt, die vermehrte Zirkulation der
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Noten war begleitet von beständig wachsender Aufhäufung von Gold und Silber in den
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Kellern der Bank, so daß <a name="S439"><b><439></b></a> im Sommer 1850 der Barvorrat
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sich auf ungefähr 14 Mill. Pfd.St. belief, eine in Frankreich unerhörte Summe.
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Daß die Bank so in den Stand gesetzt wurde, ihre Zirkulation und damit ihr tätiges
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Kapital um 123 Mill. frs. oder 5 Mill. Pfd.St. zu erhöhen, beweist schlagend, wie richtig
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unsre <a href="me07_064.htm#S76">Behauptung in einem früheren Heft</a> war, daß die
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Finanzaristokratie durch die Revolution nicht nur nicht gestürzt, sondern sogar noch
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verstärkt worden ist. Noch augenscheinlicher wird dies Resultat durch folgende
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Übersicht über die französische Bankgesetzgebung der letzten Jahre. Am 10. Juni
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1847 wurde die Bank bevollmächtigt, Noten von 200 frs. auszugeben; die niedrigste Note war
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bisher 500 frs. Ein Dekret vom 15. März 1848 erklärte die Noten der Bank von Frankreich
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für gesetzliche Münze und enthob die Bank der Verpflichtung, sie gegen bar
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einzulösen. Ihre Notenausgabe wurde beschränkt auf 350 Mill. frs. Sie wurde
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gleichzeitig bevollmächtigt, Noten von 100 frs. auszugeben. Ein Dekret vom 27. April
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verfügte die Verschmelzung der Departementalbanken mit der Bank von Frankreich; ein andres
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Dekret vom 2. Mai 1848 erhöhte ihre Notenausgabe auf 452 Mill. frs. Ein Dekret vom 22.
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Dezember 1849 steigerte das Maximum der Notenausgabe auf 525 Mill. frs. Endlich führte das
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Gesetz vom 6. August 1850 die Austauschbarkeit der Noten gegen Geld wieder ein. Diese Tatsachen,
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die fortwährende Steigerung der Zirkulation, die Konzentration des ganzen französischen
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Kredits in den Händen der Bank und die Anhäufung alles französischen Goldes und
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Silbers in den Bankgewölben, führten Herrn Proudhon zu dem Schluß, daß die
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Bank jetzt ihre alte Schlangenhaut abstreifen und sich in eine Proudhonsche Volksbank
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metamorphosieren müsse. Er brauchte nicht einmal die Geschichte der englischen
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Bankrestriktion von 1797-1819 zu kennen, er brauchte nur seinen Blick über den Kanal zu
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richten, um zu sehen, daß dies für ihn in der Geschichte der bürgerlichen
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Gesellschaft unerhörte Faktum weiter nichts war, als ein höchst normales
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bürgerliches Ereignis, das jetzt nur in Frankreich zum erstenmal eintrat. Man sieht,
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daß die angeblich revolutionären Theoretiker, die nach der provisorischen Regierung in
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Paris das große Wort führten, ebenso unwissend waren über die Natur und die
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Resultate der ergriffenen Maßregeln wie die Herren von der provisorischen Regierung
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selbst.</p>
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<p>Trotz der industriellen und kommerziellen Prosperität, deren sich Frankreich momentan
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erfreut, laboriert die Masse der Bevölkerung, die 25 Millionen Bauern, an großer
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Depression. Die guten Ernten der letzten Jahre haben die Getreidepreise in Frankreich noch viel
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tiefer gedrückt als in England, und die Stellung verschuldeter, vom Wucher ausgesogner und
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von <a name="S440"><b><440></b></a> Steuern gedrückter Bauern kann dabei nichts
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weniger als glänzend sein. Die Geschichte der letzten drei Jahre hat indes zur Genüge
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bewiesen, daß diese Klasse der Bevölkerung durchaus keiner revolutionären
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Initiative fähig ist.</p>
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<p>Wie die Periode der Krise später eintritt auf dem Kontinent als in England, so die der
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Prosperität. In England findet stets der ursprüngliche Prozeß statt; es ist der
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Demiurg des bürgerlichen Kosmos. Auf dem Kontinent treten die verschiedenen Phasen des
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Zyklus, den die bürgerliche Gesellschaft immer von neuem durchläuft, in sekundärer
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und tertiärer Form ein. Erstens führte der Kontinent nach England
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unverhältnismäßig mehr aus als nach irgendeinem andern Land. Diese Ausfuhr nach
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England hängt aber wieder ab von dem Stand Englands, besonders zum überseeischen Markt.
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Dann führt England nach den überseeischen Ländern
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unverhältnismäßig mehr aus als der gesamte Kontinent, so daß die
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Quantität des kontinentalen Exports nach diesen Ländern immer abhängig ist von der
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jedesmaligen überseeischen Ausfuhr Englands. Wenn daher die Krisen zuerst auf dem Kontinent
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Revolutionen erzeugen, so ist doch der Grund derselben stets in England gelegt. In den
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Extremitäten des bürgerlichen Körpers muß es natürlich eher zu
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gewaltsamen Ausbrüchen kommen als in seinem Herzen, da hier die Möglichkeit der
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Ausgleichung größer ist als dort. Andrerseits ist der Grad, worin die kontinentalen
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Revolutionen auf England zurückwirken, zugleich der Thermometer, an dem es sich zeigt,
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inwieweit diese Revolutionen wirklich die bürgerlichen Lebensverhältnisse in Frage
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stellen, oder wieweit sie nur ihre politischen Formationen treffen.</p>
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<p>Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen
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Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen
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Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine
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Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese <i>beiden
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Faktoren</i>, die <i>modernen Produktivkräfte</i> und die <i>bürgerlichen
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Produktionsformen</i>, miteinander <i>in Widerspruch</i> geraten. Die verschiedenen
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Zänkereien, in denen sich jetzt die Repräsentanten der einzelnen Fraktionen der
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kontinentalen Ordnungspartei ergehn und gegenseitig kompromittieren, weit entfernt zu neuen
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Revolutionen Anlaß zu geben, sind im Gegenteil nur möglich, weil die Grundlage der
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Verhältnisse momentan so sicher und, was die Reaktion nicht weiß, so
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<i>bürgerlich</i> ist. An ihr werden alle die bürgerliche Entwickelung aufhaltenden
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Reaktionsversuche ebensosehr abprallen wie alle sittliche Entrüstung und alle begeisterten
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Proklamationen der Demokraten. <i>Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer
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neuen Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.</i></p>
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<p><b><a name="S441"><441></a></b> Wir kommen jetzt zu den politischen Ereignissen der
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letzten sechs Monate. Für England ist die Zeit der Prosperität jedesmal die
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Blütezeit des Whigtums, das in dem kleinsten Mann des Königreichs, Lord John Russell,
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seine angemessene Inkarnation besitzt. Das Ministerium bringt kleine Winkelreformvorschläge
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ins Parlament, von denen es weiß, daß sie im Oberhaus durchfallen, oder die es am
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Ende der Session unter dem Vorwand mangelnder Zeit selbst zurücknimmt. Der Mangel an Zeit
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ist denn immer motiviert durch den vorhergehenden Überfluß an Langweile und leerem
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Gerede, dem der Sprecher möglichst spät durch die Bemerkung Einhalt tut, das sei keine
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Frage vor dem Hause. Der Kampf zwischen Freetradern und Protektionisten artet in solchen Zeiten
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in reinen Humbug aus. Die Masse der Freetrader ist mit der materiellen Ausbeutung des freien
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Handels zu beschäftigt, um Zeit oder Lust zu haben, seine politischen Konsequenzen weiser zu
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erkämpfen; die Protektionisten sind dem Aufschwung der städtischen Industrie
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gegenüber auf burleske Jeremiaden und Drohungen angewiesen. Die Parteien führen den
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Krieg bloß anstandshalber weiter, um einander stets in Erinnerung zu halten. Vor der
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letzten Session erhoben die industriellen Bourgeois einen gewaltigen Lärm im Interesse der
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Finanzreform; im Parlament selbst beschränkten sie sich auf theoretische Expostulationen.
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Vor der Session wiederholte Herr Cobden bei Gelegenheit der russischen Anleihe dem Zar seine
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Kriegserklärung und wußte nicht Sarkasmen genug auf den großen Petersburger
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Pauper zu häufen; sechs Monate nachher sank er schon herab zu der skandalösen Farce des
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Friedenskongresses, der kein andres Resultat hatte, als daß ein Ojibway-Indianer zum
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großen Entsetzen des auf der Tribüne anwesenden Herrn Haynau dem Herrn Jaup eine
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Friedenspfeife einhändigte und daß der Yankee-Mäßigkeitsschwindler Elihu
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Burritt nach Schleswig-Holstein und Kopenhagen ging, um die betreffenden Regierungen seiner
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wohlmeinenden Absichten zu versichern. Als ob der ganze schleswig-holsteinische Krieg je eine
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ernsthafte Wendung nehmen könnte, solange Herr von Gagern sich dabei beteiligt und Venedey
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nicht!</p>
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<p>Die eigentliche, große politische Frage der verflossenen Session war die <i>griechische
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Debatte</i>. Die gesamte absolutistische Reaktion des Kontinents hatte mit den englischen Tories
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eine Koalition zum Sturz Palmerstons gebildet. Louis-Napoleon hatte sogar den französischen
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Gesandten aus London abberufen, ebensosehr um dem Zar Nikolaus als um der französischen
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Nationaleitelkeit zu schmeicheln. Die ganze Nationalversammlung applaudierte fanatisch diesem
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kühnen Bruch mit der traditionellen englischen Allianz. Die Sache gab Herrn Palmerston
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Gelegenheit, sich im Unterhaus als den Champion der bürgerlichen Freiheit von ganz Europa
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hinzustellen; er erhielt eine <a name="S442"><b><442></b></a> Majorität von 46
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Stimmen, und das Resultat der ebenso ohnmächtigen wie albernen Koalition war die
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Nichterneuerung der Alien Bill.</p>
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<p>Wenn Palmerston in seiner Manifestation gegen Griechenland und seiner Parlamentsrede der
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europäischen Reaktion bürgerlich-liberal gegenübertrat, so benutzte das englische
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Volk die Anwesenheit des Herrn <i>Haynau</i> in London zu einer schlagenden Manifestation
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<i>seiner</i> auswärtigen Politik.</p>
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<p>Wurde der militärische Repräsentant Östreichs vom Volk durch die Straßen
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Londons gehetzt, so erlebte Preußen in seinem diplomatischen Repräsentanten ein seiner
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|
Stellung ebenso angemessenes Unglück. Man erinnert sich, wie die komischste Figur Englands,
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der schwatzhafte Literatus Brougham, den Literatus <i>Bunsen</i> wegen taktlos-zudringlichen
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Betragens unter dem allgemeinen Gelächter sämtlicher Ladies von den Galerien des
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Oberhauses entfernte. Herr Bunsen nahm, ganz im Geist der von ihm repräsentierten
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Großmacht, diese Demütigung gelassen hin. Er wird überhaupt nicht aus England
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fortgehn, widerfahre ihm was da wolle. Er ist durch seine ganzen Privatinteressen an England
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gebunden; er wird fortfahren, seinen diplomatischen Posten zur Spekulation in englischer Religion
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zu exploitieren und seine Söhne in der englischen Kirche, seine Töchter in irgendeiner
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Abstufung der englischen Gentry unterzubringen.</p>
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<p>Der Tod Sir Robert <i>Peels</i> trug wesentlich dazu bei, die Auflösung der alten
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Parteien zu beschleunigen. Die Partei, die seit 1845 seine Hauptstütze bildete, die sog.
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Peeliten, sind seitdem vollständig zerfallen. Peel selbst ist seit seinem Tode fast von
|
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|
allen Parteien in der überschwenglichsten Weise als der größte Staatsmann
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Englands apotheosiert worden. Er hat allerdings das vor den kontinentalen "Staatsmännern"
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voraus, daß er kein bloßer Stellenjäger war. Im übrigen bestand die
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Staatsmannschaft dieses zum Führer der Grundaristokratie emporgekommenen Bourgeoissohnes in
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der Einsicht, daß es heutzutage nur <In der "Revue": und> noch eine wirkliche
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Aristokratie gebe, nämlich die Bourgeoisie. In diesem Sinn benutzte er seine
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Führerschaft der Grundaristokratie fortwährend, um ihr Konzessionen an die Bourgeoisie
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abzunötigen. So in der katholischen Emanzipation und der Reform der Polizei, wodurch er die
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politische Macht der Bourgeoisie vermehrte; in den Bankgesetzen von 1818 und 1844 die die
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Finanzaristokratie stärkten; in der Tarifreform von 1842 und den Freihandelsgesetzen von
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1846, wodurch die Grundaristokratie geradezu der industriellen Bourgeoisie geopfert wurde. Die
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zweite Grundsäule der Aristokratie, der "eiserne Herzog" <Wellington>, der Held von
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Waterloo, stand dem Baumwollritter Peel als enttäuschter Don Quijote getreulich zur <a name=
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|
"S443"><b><443></b></a> Seite. Seit 1845 wurde Peel von der Tory-Partei als Verräter
|
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behandelt. Die Macht Peels über das Unterhaus beruhte auf der ungemeinen
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<i>Plausibilität seiner Beredsamkeit</i>. Man lese seine berühmtesten Reden, und man
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wird finden, daß sie aus einer massenhaften Anhäufung von Gemeinplätzen bestehn,
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zwischen denen eine Anzahl statistischer Daten geschickt gruppiert sind. Fast alle Städte
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von England wollen dem Abschaffer der Kornzölle Denkmäler setzen. Ein chartistisches
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Blatt bemerkte, mit Anspielung auf die durch Peel 1829 ausgebildete Polizei: Was sollen uns alle
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diese Peel-Monumente? Jeder Polizeidiener in England und Irland ist ein lebendiges
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Peel-Monument.</p>
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<p>Das letzte Ereignis, das in England Aufsehen erregte, ist die Ernennung des Herrn
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<i>Wiseman</i> zum <i>Kardinalerzbischof von Westminster</i> und die Einteilung von England in
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dreizehn katholische Bistümer durch den Papst. Dieser für die englische Kirche sehr
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überraschende Schritt des Statthalters Christi ist ein neuer Beweis von der Illusion, der
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sich die ganze kontinentale Reaktion hingibt, als ob mit den Siegen, die sie im Dienst der
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Bourgeoisie neuerdings erfochten, nun auch die Herstellung der ganzen
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feudalistisch-absolutistischen Gesellschaftsordnung mit ihrem ganzen religiösen Zubehör
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von selbst erfolgen müsse. Der Katholizismus hat seine einzige Stütze in England an den
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beiden Extremen der Gesellschaft, der Aristokratie und dem Lumpenproletariat. Das
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Lumpenproletariat, der irische oder von Irländern abstammende Mob ist katholisch durch seine
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Abstammung. Die Aristokratie hat mit dem Puseyismus solange fashionable Koketterie getrieben, bis
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endlich selbst der Übertritt zur katholischen Kirche anfing, Mode zu werden. In einer Zeit,
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wo die englische Aristokratie durch den Kampf gegen die fortschreitende Bourgeoisie immer mehr
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zur Herauskehrung ihres feudalen Charakters gedrängt wurde, mußten natürlich auch
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die religiösen Ideologen der Aristokratie, die orthodoxen Theologen der Hochkirche, im Kampf
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mit den Theologen der bürgerlichen Dissenterreligion mehr und mehr gezwungen werden, die
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Konsequenzen ihres halbkatholischen Dogmas und Ritus anzuerkennen, mußte sogar der
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Übertritt einzelner reaktionärer Anglikaner zur ursprünglichen,
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alleinseligmachenden Kirche immer häufiger werden. Diese unbedeutenden Erscheinungen
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brachten in den Köpfen englischer katholischer Geistlicher die sanguinsten Hoffnungen auf
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die baldige Bekehrung von ganz England hervor. Die neue Bulle des Papstes, die England schon
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wieder als römische Provinz behandelt und die dieser Tendenz zur Bekehrung einen neuen
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Aufschwung geben sollte, bringt indes gerade die umgekehrte Wirkung hervor. Die Puseyiten,
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plötzlich mit den ernsthaften Konsequenzen ihrer mittelalterlichen Spielereien konfrontiert,
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fahren entsetzt zurück, und der <a name="S444"><b><444></b></a> puseyitische Bischof
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von London hat sofort eine Erklärung erlassen, worin er seine sämtlichen Irrtümer
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widerruft und dem Papsttum den Krieg auf Leben und Tod erklärt. - Für die Bourgeoisie
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hat die ganze Komödie nur insoweit Interessen, als sie ihr Gelegenheit zu neuen Angriffen
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gegen die Hochkirche und ihre Universitäten gibt. Die Untersuchungskommission, die über
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die Lage der Universitäten Bericht zu erstatten hat, wird in der nächsten Session
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heftige Debatten hervorrufen. Die Masse des Volks interessiert sich natürlich nicht, weder
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für noch gegen den Kardinal Wiseman. Den Zeitungen dagegen liefert er bei der jetzigen
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Dürre an Neuigkeiten willkommnen Stoff zu langen Artikeln und heftigen Diatriben gegen Pio
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Nono <Pius IX.>. Die "Times" verlangte sogar, die Regierung solle zur Strafe seiner
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Übergriffe eine Insurrektion im Kirchenstaat erregen und Herrn Mazzini und die italienische
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Emigration gegen ihn loslassen. Der "Globe", das Organ Palmerstons, stellte eine höchst
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witzige Parallele zwischen der Bulle des Papstes und dem letzten Manifest Mazzinis an. Der Papst,
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sagte er, reklamiert eine geistliche Suprematie über England und ernennt Bischöfe in
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partibus infidelium. Hier in London sitzt eine italienische Regierung in partibus infidelium, an
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deren Spitze der Antipapst Herr Mazzini steht. Die Suprematie, die Herr Mazzini in den
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päpstlichen Staaten nicht nur reklamiert, sondern wirklich ausübt, ist dermalen
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ebenfalls rein geistlicher Natur. Die Bullen des Papstes sind rein religiösen Inhalts; die
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Manifeste Mazzinis ebenfalls. Sie predigen eine Religion, sie appellieren an den Glauben, sie
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haben zum Motto: Dio ed il popolo, Gott und das Volk. Wir fragen, gibt es zwischen den
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Ansprüchen beider einen andern Unterschied als den, daß Herr Mazzini wenigstens die
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Religion der Majorität des Volks vertritt, zu dem er spricht - denn es gibt fast keine andre
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Religion mehr in Italien als die des Dio ed il popolo -, der Papst aber nicht? Mazzini hat
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übrigens diese Gelegenheit benutzt, um einen Schritt weiterzugehn. Er hat nämlich in
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Gemeinschaft mit den übrigen Mitgliedern des italienischen Nationalkomitees jetzt von London
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aus die Anleihe von 10 Mill. frs., die die römische Konstituante bewilligt hatte, in Aktien
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von 100 frs. ausgeschrieben, und zwar geradezu, um Waffen und Kriegsbedarf anzuschaffen. Es
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läßt sich nicht leugnen, daß diese Anleihe mehr Chance hat als die gescheiterte
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freiwillige Anleihe der östreichischen Regierung in der Lombardei. -</p>
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<p>Ein wirklich ernsthafter Schlag, den England in der letzten Zeit gegen Rom und Östreich
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geführt hat, ist sein Handelsvertrag mit Sardinien. Dieser Vertrag sprengt das
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östreichische Projekt eines italienischen Zollvereins und <a name=
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"S445"><b><445></b></a> sichert dem englischen Handel und der englischen bürgerlichen
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Politik ein bedeutendes Terrain in Oberitalien.</p>
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<p>Die bisherige Organisation der Chartistenpartei ist ebenfalls in der Auflösung begriffen.
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Die Kleinbürger, die sich noch in der Partei befinden, verbunden mit der Aristokratie der
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Arbeiter, bilden eine rein demokratische Fraktion, deren Programm sich auf die Volkscharte und
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einige andre kleinbürgerliche Reformen beschränkt. Die Masse der in wirklich
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proletarischen Verhältnissen lebenden Arbeiter gehört der revolutionären
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Chartistenfraktion an. An der Spitze der ersten steht Feargus <i>O'Connor</i>, an der Spitze der
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zweiten Julian <i>Harney</i> und Ernest <i>Jones</i>. Der alte O'Connor, ein irischer Squire und
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angeblicher Abkömmling der alten Könige von Munster, ist trotz seiner Abstammung und
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seiner politischen Richtung ein echter Repräsentant von Altengland. Er ist seiner ganzen
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Natur nach konservativ und hat einen höchst determinierten Haß sowohl gegen den
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industriellen Fortschritt wie gegen die Revolution. Seine sämtlichen Ideale sind durch und
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durch patriarchalisch-kleinbürgerlich. Er vereinigt in sich eine unaussprechliche Menge von
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Widersprüchen, die in einem gewissen platten common sense <gesunden Menschenverstand>
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ihre Erledigung und Harmonie finden und die ihn eben befähigen, jahraus, jahrein seine
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wöchentlichen ellenlangen Briefe im "Northern Star" zu schreiben, von denen immer der
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nächste mit dem vorhergehenden in offenem Hader liegt. Gerade deswegen behauptet O'Connor
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auch, der konsequenteste Mann in den drei Reichen zu sein und alle Ereignisse seit zwanzig Jahren
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vorhergesagt zu haben. Seine Schultern, seine brüllende Stimme, seine enorme
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Geschicklichkeit im Boxen, mit der er einmal den Nottinghamer Markt gegen mehr als zwanzigtausend
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Menschen behauptet haben soll - alles das gehört wesentlich zu dem Repräsentanten
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Altenglands. Es ist klar, daß ein Mann wie O'Connor in einer revolutionären Bewegung
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ein großes Hindernis sein muß; aber solche Leute dienen eben dazu, daß mit
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ihnen und an ihnen eine Menge von alteingewurzelten Vorurteilen sich abarbeiten und daß die
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Bewegung, wenn sie diese Leute schließlich überwindet, auch die von ihnen
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repräsentierten Vorurteile ein für allemal los ist. O'Connor wird in der Bewegung
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zugrunde gehn, aber er wird darum ebensosehr auf den Titel eines "Märtyrers der guten Sache"
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Anspruch machen können wie die Herren Lamartine und Marrast.</p>
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<p>Der Hauptkollisionspunkt der beiden Chartistenfraktionen ist die Landfrage. O'Connor und seine
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Partei wollen die Charte dazu benutzen, einen Teil der Arbeiter auf kleinen Parzellen Land
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unterzubringen und schließlich die Parzellierung in England allgemein zu machen. Man
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weiß, wie sein Ver- <a name="S446"><b><446></b></a> such, diese Parzellierung durch
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eine Aktiengesellschaft im Kleinen einzurichten, gescheitert ist. Die Tendenz jeder
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bürgerlichen Revolution: das große Grundeigentum zu zerschlagen, konnte den englischen
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Arbeitern diese Parzellierung eine Zeitlang als etwas Revolutionäres erscheinen lassen,
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obwohl sie regelmäßig ergänzt wird durch die unfehlbare Tendenz des kleinen
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Eigentums, sich zu konzentrieren und vor der großen Agrikultur zugrunde zu gehn. Die
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revolutionäre Fraktion der Chartisten hält dieser Forderung der Parzellierung die
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Forderung der Konfiskation des gesamten Grundeigentums entgegen und verlangt, daß es nicht
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verteilt werden, sondern Nationaleigentum bleiben soll.</p>
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<p>Trotz dieser Spaltung und der Aufstellung extremerer Forderungen ist den Chartisten doch aus
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der Erinnerung an die Umstände, unter denen die Abschaffung der Korngesetze durchging, die
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Ahnung geblieben, daß sie in der nächsten Krise wieder mit den industriellen
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Bourgeois, den Finanzreformern zusammengehn und diesen ihre Feinde niederschlagen helfen,
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dafür sich aber Konzessionen von ihnen erzwingen müssen. Dies wird allerdings die
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Stellung der Chartisten in der bevorstehenden Krise sein. Die eigentliche revolutionäre
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Bewegung kann in England erst anfangen, wenn die Charte durchgesetzt ist, gerade wie in
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Frankreich die Junischlacht erst möglich wurde, als die Republik erobert war.</p>
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<p>Gehen wir nun nach <i>Frankreich</i> über.</p>
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<p>Der Sieg, den das Volk in Verbindung mit den Kleinbürgern in den Wahlen vom 10. März
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errungen hatte, wurde von ihm selbst annulliert, indem es die neue Wahl vom 28. April
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provozierte. Vidal war, außer in Paris, auch im Niederrhein gewählt. Das Pariser
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Komitee, in dem die Montagne und die Kleinbürgerschaft stark vertreten waren,
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veranlaßte ihn, für den Niederrhein zu akzeptieren. Der Sieg vom 10. März
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hörte auf ein entscheidender zu sein; der Termin der Entscheidung wurde abermals
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hinausgeschoben, die Spannkraft des Volks wurde erschlafft, es wurde an legale Triumphe
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gewöhnt statt der revolutionären. Der revolutionäre Sinn des 10. März, die
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Rehabilitierung der Juniinsurrektion, wurde endlich vollständig vernichtet durch die
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Kandidatur Eugène Sues, des sentimental-kleinbürgerlichen Sozialphantasten, die das
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Proletariat höchstens als einen Witz, den Grisetten zu Gefallen akzeptieren konnte. Dieser
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wohlmeinenden Kandidatur gegenüber stellte die Ordnungspartei, kühner geworden durch
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die schwankende Politik der Gegner, einen Kandidaten auf, der den <i>Junisieg</i>
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repräsentieren sollte. Dieser komische Kandidat war der spartanische Familienvater Leclerc,
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dem indes die heroische Rüstung durch die Presse Stück für Stück vom Leibe
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gerissen wurde und der bei der Wahl auch eine glänzende Niederlage erlebte. Der neue
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Wahlsieg <a name="S447"><b><447></b></a> am 25. April machte die Montagne und die
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|
Kleinbürgerschaft übermütig. Sie frohlockte schon in dem Gedanken, auf rein
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legalem Wege und ohne durch eine neue Revolution das Proletariat wieder in den Vordergrund zu
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schieben, am Ziel ihrer Wünsche ankommen zu können; sie rechnete fest darauf, bei den
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neuen Wahlen von 1852 durch das allgemeine Stimmrecht Herrn Ledru-Rollin in den
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|
Präsidentenstuhl und eine Majorität von Montagnards in die Versammlung zu bringen. Die
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Ordnungspartei, durch die Erneuerung der Wahl, durch die Kandidatur Sues und durch die Stimmung
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der Montagne und Kleinbürgerschaft vollkommen sichergestellt, daß diese unter allen
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Umständen entschlossen seien, ruhig zu bleiben, antwortete auf die beiden Wahlsiege mit dem
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<i>Wahlgesetz</i>, das das allgemeine Stimmrecht abschaffte.</p>
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<p>Die Regierung hütete sich wohl, diesen Gesetzvorschlag auf ihre eigne Verantwortlichkeit
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hin zu machen. Sie machte der Majorität eine scheinbare Konzession, indem sie den
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|
Großwürdenträgern dieser Majorität, den siebzehn Burggrafen, seine
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Ausarbeitung übertrug. Nicht die Regierung schlug also der Versammlung, die Majorität
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der Versammlung schlug sich selbst die Aufhebung des allgemeinen Stimmrechts vor.</p>
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<p>Am 8. Mai wurde das Projekt in die Kammer gebracht. Die ganze sozial-demokratische Presse
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erhob sich wie ein Mann, um dem Volk würdevolle Haltung, calme majestueux
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<majestätische Ruhe>, Passivität und Vertrauen auf seine Vertreter zu predigen.
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Jeder Artikel dieser Journale war ein Geständnis, daß eine Revolution vor allem die
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sog. revolutionäre Presse vernichten müsse und daß es sich also jetzt um ihre
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Selbsterhaltung handle. Die angeblich revolutionäre Presse verriet ihr ganzes Geheimnis. Sie
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unterzeichnete ihr eignes Todesurteil.</p>
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<p>Am 21. Mai brachte die Montagne die vorläufige Frage zur Debatte und trug auf Verwerfung
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des ganzen Projekts an, weil es die Verfassung verletze. Die Ordnungspartei antwortete, man werde
|
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die Verfassung verletzen, wenn es nötig sei, man brauche es jetzt indes nicht, weil die
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Verfassung jeder Deutung fähig sei und weil die Majorität über die richtige
|
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Deutung allein kompetent entscheide. Den zügellos wilden Angriffen von Thiers und
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Montalembert setzte die Montagne einen anständigen und gebildeten Humanismus entgegen. Sie
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berief sich auf den Rechtsboden; die Ordnungspartei verwies sie auf den Boden, worauf das Recht
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wächst, auf das bürgerliche Eigentum. Die Montagne wimmerte: Ob man denn wirklich mit
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aller Gewalt Revolutionen heraufbeschwören wolle? Die Ordnungspartei erwiderte: Man werde
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sie abwarten.</p>
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<p>Am 22. Mai wurde die vorläufige Frage erledigt mit 462 gegen 227 Stimmen. Dieselben
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Männer, die mit so feierlicher Gründlichkeit bewiesen hatten, <a name=
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|
"S448"><b><448></b></a> daß die Nationalversammlung und jeder einzelne Deputierte
|
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abdanke, wenn er das Volk, seinen Vollmachtgeber, abdanke, harrten auf ihren Sitzen aus, suchten
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nun plötzlich statt ihrer das Land, und zwar durch Petitionen, handeln zu lassen und
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saßen noch ungerührt da, als am 31. Mai das Gesetz glänzend durchging. Sie
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suchten sich zu rächen durch einen Protest, worin sie ihre Unschuld an der Notzucht der
|
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|
Konstitution zu Protokoll gaben, einen Protest, den sie nicht einmal offen niederlegten, sondern
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dem Präsidenten hinterrücks in die Tasche schmuggelten.</p>
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<p>Eine Armee von 150.000 Mann in Paris, die lange Verschleppung der Entscheidung, die
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Abwiegelung der Presse, die Kleinmütigkeit der Montagne und der neugewählten
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|
Repräsentanten, die majestätische Ruhe der Kleinbürger, vor allem aber die
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kommerzielle und industrielle Prosperität verhinderten jeden Revolutionsversuch von seiten
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des Proletariats.</p>
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<p>Das allgemeine Wahlrecht hatte seine Mission erfüllt. Die Majorität des Volks hatte
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die Entwicklungsschule durchgemacht, zu der es allein in einer revolutionären Epoche dienen
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kann. Es mußte beseitigt werden durch eine Revolution oder durch die Reaktion</p>
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<p>Einen noch größeren Aufwand von Energie entwickelte die Montagne bei einer bald
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darauf vorkommenden Gelegenheit. Der Kriegsminister d'Hautpoul hatte von der Tribüne herab
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die Februarrevolution eine unheilvolle Katastrophe genannt. Die Redner der Montagne, die, wie
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immer, sich durch sittlich entrüstetes Gepolter auszeichneten, wurden vom Präsidenten
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Dupin nicht zum Wort zugelassen. Girardin schlug der Montagne vor, sofort in Masse auszutreten.
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|
Resultat: Die Montagne blieb sitzen, aber Girardin wurde als unwürdig aus ihrem Schoß
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hinausgeworfen.</p>
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<p>Das Wahlgesetz bedurfte noch einer Vervollständigung, eines neuen
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<i>Preßgesetzes</i>. Dies ließ nicht lange auf sich warten. Ein Vorschlag der
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Regierung, vielfach verschärft durch Amendements der Ordnungspartei, erhöhte die
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Kautionen, setzte einen Extrastempel auf die Feuilletonromane (Antwort auf die Wahl von
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Eugène Sue), besteuerte alle in wöchentlichen oder monatlichen Lieferungen
|
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erscheinenden Schriften bis zu einer gewissen Bogenzahl und verfügte schließlich,
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daß jeder Artikel eines Journals mit der Unterschrift des Verfassers versehen sein
|
||
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müsse. Die Bestimmungen über die Kaution töteten die sog. revolutionäre
|
||
|
Presse; das Volk betrachtete ihren Untergang als eine Genugtuung für die Abschaffung des
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allgemeinen Wahlrechts. Indes erstreckte sich weder die Tendenz noch die Wirkung des neuen
|
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Gesetzes allein auf diesen Teil der Presse. Solange die Zeitungspresse anonym war, erschien sie
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als Organ der zahl- und namenlosen öffentlichen Meinung; sie war die dritte Macht im Staate.
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Durch die Unterzeichnung jedes Artikels wurde eine Zei- <a name="S449"><b><449></b></a>
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tung zu einer bloßen Sammlung von schriftstellerischen Beiträgen mehr oder minder
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bekannter Individuen. Jeder Artikel sank zu einer Annonce herab. Bisher hatten die Zeitungen als
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das Papiergeld der öffentlichen Meinung zirkuliert; jetzt lösten sie sich auf in mehr
|
||
|
oder minder schlechte Solawechsel, deren Güte und Zirkulation von dem Kredit nicht nur des
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Ausstellers, sondern auch des Indossenten abhing. Die Presse der Ordnungspartei hatte, wie zur
|
||
|
Aufhebung des allgemeinen Wahlrechts, so auch zu den äußersten Maßregeln gegen
|
||
|
die schlechte Presse provoziert. Indes war die gute Presse selbst in ihrer unheimlichen
|
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Anonymität der Ordnungspartei und noch mehr ihren einzelnen provinzialen Repräsentanten
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unbequem. Sie verlangte sich gegenüber nur noch den bezahlten Schriftsteller mit Namen,
|
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Wohnort und Signalement. Vergebens jammerte die gute Presse über den Undank, mit dem man
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ihre Dienste belohne. Das Gesetz ging durch, die Bestimmung der Namennennung traf sie vor allem.
|
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|
Die Namen der republikanischen Tagesschriftsteller waren ziemlich bekannt; aber die respektablen
|
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|
Firmen des "Journals des Débats", der "Assemblée Nationale", des "Constitutionnel"
|
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|
etc. etc. machten eine jämmerliche Figur mit ihrer hochbeteuernden Staatsweisheit, als sich
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die mysteriöse Kompanie auf einmal zersetzte in käufliche Penny-a-liners
|
||
|
<Zeilenschinders> von langer Praxis, die für bares Geld alle möglichen Sachen
|
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verteidigt hatten, wie Granier de Cassagnac, oder in alte Waschlappen, die sich selbst
|
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Staatsmänner nannten, wie Capefigue, oder in kokettierende Nußknacker, wie Herr
|
||
|
Lemoinne vom "Débats".</p>
|
||
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|
<p>In der Debatte über das Preßgesetz war die Montagne bereits auf einen solchen Grad
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moralischer Verkommenheit herabgesunken, daß sie sich darauf beschränken mußte,
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den glänzenden Tiraden einer alten louis-philippistischen Notabilität, des Herrn Victor
|
||
|
Hugo, Beifall zuzuklatschen.</p>
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|
<p>Mit dem Wahlgesetz und dem Preßgesetz tritt die revolutionäre und demokratische
|
||
|
Partei von der offiziellen Schaubühne ab. Vor ihrem Aufbruch nach Hause, kurz nach
|
||
|
Schluß der Session, erließen die beiden Fraktionen der Montagne, die sozialistischen
|
||
|
Demokraten und die demokratischen Sozialisten, zwei Manifeste, zwei testimonia paupertatis
|
||
|
<Armutszeugnis>, worin sie bewiesen, daß, wenn nie die Gewalt und der Erfolg auf
|
||
|
ihrer Seite, sie sich doch stets auf der Seite des ewigen Rechts und aller übrigen ewigen
|
||
|
Wahrheiten befunden hätten.</p>
|
||
|
|
||
|
<p>Betrachten wir nun die Partei der Ordnung. Die "N. Rh. Z." sagte <a href=
|
||
|
"me07_064.htm#S76">Heft 3, pag. 16</a>: "Den Restaurationsgelüsten der vereinigten
|
||
|
Orleanisten und Legitimisten gegenüber vertritt Bonaparte den Titel seiner
|
||
|
tatsächlichen Macht: <a name="S451"></a><a name="S450"><b><450></b></a> die Republik.
|
||
|
Den Restaurationsgelüsten Bonapartes gegenüber vertritt die Partei der Ordnung den
|
||
|
Titel ihrer gemeinsamen Herrschaft: die Republik. Den Orleanisten gegenüber vertreten die
|
||
|
Legitimisten, den Legitimisten gegenüber vertreten die Orleanisten den Status quo: die
|
||
|
Republik. Alle diese Fraktionen der Ordnungspartei, deren jede ihren eignen König und ihre
|
||
|
eigne Restauration in petto hat, machen wechselseitig den Usurpations- und Erhebungsgelüsten
|
||
|
ihrer Rivalen gegenüber die gemeinsame Herrschaft der Bourgeoisie, die Form geltend, worin
|
||
|
die besondern Ansprüche neutralisiert und vorbehalten bleiben: die Republik ... Und Thiers
|
||
|
sprach wahrer als er ahnt, wenn er sagte: 'Wir, die Royalisten, sind die wahren Stützen der
|
||
|
konstitutionellen Republik."'</p>
|
||
|
|
||
|
<p>Diese Komödie der républicains malgré eux <Republikaner wider
|
||
|
Willen>, der Widerwille gegen den Status quo und die beständige Befestigung desselben;
|
||
|
die unaufhörlichen Reibungen Bonapartes und der Nationalversammlung; die stets erneuerte
|
||
|
Drohung der Ordnungspartei, sich in ihre einzelnen Bestandteile zu sondern, und das stets
|
||
|
wiederholte Zusammenschließen ihrer Fraktionen; der Versuch jeder Fraktion, jeden Sieg
|
||
|
gegen den gemeinsamen Feind in eine Niederlage der zeitweiligen Alliierten zu verwandeln; die
|
||
|
wechselseitige Eifersüchtelei, Ranküne, Abhetzung, das unermüdliche Ziehen der
|
||
|
Schwerter, das immer wieder mit einem baiser-Lamourette endigt - diese ganze unerquickliche
|
||
|
Komödie der Irrungen entwickelte sich nie klassischer als während der letzten sechs
|
||
|
Monate.</p>
|
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||
|
<p>Die Partei der Ordnung betrachtete das Wahlgesetz zugleich als einen Sieg gegen Bonaparte.
|
||
|
Hatte die Regierung nicht abgedankt, indem sie der Siebzehnerkommission die Redaktion und die
|
||
|
Verantwortlichkeit ihres eignen Vorschlags überließ? Und beruhte nicht die
|
||
|
Hauptstärke Bonapartes gegenüber der Versammlung darauf, daß er der Erwählte
|
||
|
der sechs Millionen war? - Bonaparte seinerseits behandelte das Wahlgesetz als eine Konzession an
|
||
|
die Versammlung, womit er die Harmonie der legislativen mit der exekutiven Gewalt erkauft habe.
|
||
|
Zum Lohn verlangte der gemeine Aventurier eine Vermehrung seiner Zivilliste um drei Millionen.
|
||
|
Durfte die Nationalversammlung in einen Konflikt mit der Exekutiven treten in einem Augenblick,
|
||
|
wo sie die große Majorität der Franzosen in den Bann erklärt hatte? Sie fuhr
|
||
|
ärgerlich auf, sie schien es auf das Äußerste treiben zu wollen, ihre Kommission
|
||
|
verwarf den Antrag, die bonapartistische Presse drohte und verwies auf das enterbte, seines
|
||
|
Stimmenrechts beraubte Volk, eine Menge geräuschvoller Transaktionsversuche fanden statt,
|
||
|
und die Versammlung gab schließlich <b><451></b> nach in der Sache, rächte sich
|
||
|
aber zugleich im Prinzip. Statt der jährlichen prinzipiellen Vermehrung der Zivilliste um
|
||
|
drei Millionen bewilligte sie ihm eine Aushülfe von 2.160.000 frs. Nicht zufrieden damit,
|
||
|
machte sie selbst erst diese Konzession, nachdem Changarnier sie unterstützt hatte, der
|
||
|
General der Ordnungspartei und der aufgedrungene Protektor Bonapartes. Sie bewilligte also die 2
|
||
|
Millionen eigentlich nicht dem Bonaparte, sondern dem Changarnier.</p>
|
||
|
|
||
|
<p>Dies de mauvaise grâce <widerstrebend> hingeworfene Geschenk wurde von Bonaparte
|
||
|
ganz im Sinne des Gebers aufgenommen. Die bonapartistische Presse polterte von neuem gegen die
|
||
|
Nationalversammlung. Als nun erst bei der Debatte des Preßgesetzes das Amendement wegen der
|
||
|
Namennennung gemacht wurde, das sich wieder speziell gegen die untergeordneten Blätter, die
|
||
|
Vertreter der Privatinteressen Bonapartes richtete, brachte das bonapartistische Hauptblatt, das
|
||
|
"Pouvoir", einen offnen und heftigen Angriff gegen die Nationalversammlung. Die Minister
|
||
|
mußten das Blatt vor der Nationalversammlung verleugnen; der Gerant des "Pouvoir" wurde vor
|
||
|
die Schranken der Nationalversammlung zitiert und zur höchsten Geldstrafe, zu 5.000 frs.
|
||
|
verurteilt. Den andern Tag brachte das "Pouvoir" einen noch viel frecheren Artikel gegen die
|
||
|
Versammlung, und als Revanche der Regierung verfolgte das Parkett sogleich mehrere
|
||
|
legitimistische Journale wegen Verletzung der Konstitution.</p>
|
||
|
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|
<p>Endlich kam man an die Frage von der Vertagung der Kammer. Bonaparte wünschte sie, um
|
||
|
ungehindert von der Versammlung operieren zu können. Die Ordnungspartei wünschte sie,
|
||
|
teils zur Durchführung ihrer Fraktionsintrigen, teils zur Verfolgung der Privatinteressen
|
||
|
der einzelnen Deputierten. Beide bedurften ihrer, um in den Provinzen die Siege der Reaktion zu
|
||
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befestigen und weiterzutreiben. Die Versammlung vertagte sich daher vom 11. August bis zum 11.
|
||
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November. Da aber Bonaparte keineswegs verhehlte, daß es ihm nur darum zu tun sei, die
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lästige Aufsicht der Nationalversammlung loszuwerden, drückte die Versammlung dem
|
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Vertrauensvotum selbst den Stempel des Mißtrauens gegen den Präsidenten auf. Von der
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permanenten Kommission von 28 Mitgliedern, die als Tugendwächter der Republik während
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der Ferien ausharrten, wurden alle Bonapartisten ferngehalten. Statt ihrer wurden sogar einige
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|
Republikaner vom "Siécle" und "National" hineingewählt, um dem Präsidenten die
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Anhänglichkeit der Majorität an die konstitutionelle Republik darzutun.</p>
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<p>Kurz vor und besonders unmittelbar nach der Vertagung der Kammer schienen die beiden
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großen Fraktionen der Ordnungspartei, die Orleanisten <a name="S452"><b><452></b></a>
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und die Legitimisten, sich versöhnen zu wollen, und zwar durch eine Verschmelzung der beiden
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Königshäuser, unter deren Fahnen sie kämpfen. Die Blätter waren voll von
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Versöhnungsvorschlägen, die am Krankenbett Louis-Philippes zu St. Leonards diskutiert
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worden seien, als der Tod Louis-Philippes plötzlich die Situation vereinfachte.
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Louis-Philippe war der Usurpator, Heinrich V. der Beraubte, der Graf von Paris dagegen, bei der
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Kinderlosigkeit Heinrichs V., sein rechtmäßiger Thronerbe. Jetzt war der Verschmelzung
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der beiden dynastischen Interessen jeder Vorwand genommen. Gerade jetzt aber entdeckten die
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beiden Fraktionen der Bourgeoisie erst, daß nicht die Schwärmerei für ein
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bestimmtes Königshaus sie trennte, sondern daß vielmehr ihre getrennten
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Klasseninteressen die beiden Dynastien auseinanderhielten. Die Legitimisten, die ins Hoflager
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Heinrichs V. nach Wiesbaden gepilgert waren, gerade wie ihre Konkurrenten nach St. Leonards,
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erhielten hier die Nachricht vom Tode Louis-Philippes. Sogleich bildeten sie ein Ministerium in
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partibus infidelium, das meist aus Mitgliedern jener Kommission von Tugendwächtern der
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Republik bestand und das bei Gelegenheit eines im Schoß der Partei vorkommenden Haders mit
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der unumwundensten Proklamation des Rechts von Gottes Gnaden hervortrat. Die Orleanisten jubelten
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über den kompromittierenden Skandal, den dies Manifest in der Presse hervorrief, und
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verhehlten keinen Augenblick ihre offne Feindschaft gegen die Legitimisten.</p>
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<p>Während der Vertagung der Nationalversammlung traten die Departementalvertretungen
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zusammen. Ihre Majorität sprach sich für eine mehr oder weniger verklausulierte
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Revision der Verfassung aus, d.h., sie sprach sich aus für eine nicht näher bestimmte
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monarchische Restauration, für eine <i>"Lösung"</i>, und gestand zugleich, daß
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sie zu inkompetent und zu feig sei, diese Losung zu finden. Die bonapartistische Fraktion legte
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diesen Wunsch der Revision sogleich im Sinne der Verlängerung der Präsidentschaft
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Bonapartes aus.</p>
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<p>Die verfassungsmäßige Lösung, die Abdankung Bonapartes im Mai 1852, die
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gleichzeitige Wahl eines neuen Präsidenten durch sämtliche Wähler des Landes, die
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Revision der Verfassung durch eine Revisionskammer in den ersten Monaten der neuen
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Präsidentschaft ist für die herrschende Klasse durchaus unzulässig. Der Tag der
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neuen Präsidentenwahl wäre der Tag des Rendezvous für sämtliche feindliche
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Parteien, der Legitimisten, der Orleanisten, der Bourgeoisrepublikaner, der Revolutionäre.
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Es müßte zu einer gewaltsamen Entscheidung zwischen den verschiedenen Fraktionen
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kommen. Gelänge es selbst der Ordnungspartei, über die Kandidatur eines neutralen
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Mannes außerhalb der dynastischen Familien sich zu vereinigen, so träte ihm wieder
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Bonaparte gegenüber. Die Ordnungspartei ist in ihrem Kampf mit <a name=
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"S453"><b><453></b></a> dem Volk genötigt, beständig die Gewalt der Exekutive zu
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vermehren. Jede Vermehrung der Gewalt der Exekutive vermehrt die Gewalt ihres Trägers
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Bonaparte. In demselben Maß daher, wie die Ordnungspartei ihre gemeinsame Macht
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verstärkt, verstärkt sie die Kampfmittel der dynastischen Prätensionen Bonapartes,
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verstärkt sie seine Chance, am Tage der Entscheidung gewaltsam die konstitutionelle
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Lösung zu vereiteln. Er wird sich dann ebensowenig der Ordnungspartei gegenüber an dem
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einen Grundpfeiler der Verfassung stoßen, als sie dem Volk gegenüber beim Wahlgesetz
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an dem andern. Er würde scheinbar sogar der Versammlung gegenüber an das allgemeine
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Wahlrecht appellieren. Mit einem Wort, die konstitutionelle Lösung stellt den ganzen
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politischen Status quo in Frage, und hinter der Gefährdung des Status quo sieht der
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Bürger das Chaos, die Anarchie, den Bürgerkrieg. Er sieht seine Einkäufe und
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Verkäufe, seine Wechsel, seine Heiraten, seine notariellen Verträge, seine Hypotheken,
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seine Grundrenten, Mietzinse, Profite, seine sämtlichen Kontrakte und Erwerbsquellen auf den
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ersten Sonntag im Mai 1852 in Frage gestellt, und diesem Risiko kann er sich nicht aussetzen.
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Hinter der Gefährdung des politischen Status quo verbirgt sich die Gefahr des
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Zusammenbrechens der ganzen bürgerlichen Gesellschaft. Die einzig mögliche Lösung
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im Sinne der Bourgeoisie ist die Aufschiebung der Lösung. Sie kann die konstitutionelle
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Republik nur retten durch eine Verletzung der Konstitution, durch die Verlängerung der
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Gewalt des Präsidenten. Dies ist auch das letzte Wort der Ordnungspresse nach den
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langwierigen und tiefsinnigen Debatten über die "Lösungen", denen sie sich nach der
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Session der Generalräte hingab. Die großmächtige Ordnungspartei sieht sich so zu
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ihrer Beschämung genötigt, die lächerliche, ordinäre und ihr verhaßte
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Person des Pseudo-Benaparte ernsthaft zu nehmen.</p>
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<p>Diese schmutzige Figur täuschte sich ebenfalls über die Ursachen, die sie mehr und
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mehr mit dem Charakter des notwendigen Mannes bekleideten. Während seine Partei Einsicht
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genug hatte, die wachsende Bedeutung Bonapartes den Verhältnissen zuzuschreiben, glaubte er,
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sie allein der Zauberkraft seines Namens und seiner ununterbrochenen Karikierung Napoleons zu
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verdanken. Er wurde täglich unternehmender. Den Wallfahrten nach St. Leonards und Wiesbaden
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setzte er seine Rundreisen durch Frankreich entgegen. Die Bonapartisten hatten so wenig Vertrauen
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auf den magischen Effekt seiner Persönlichkeit, daß sie ihm überall Leute der
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Gesellschaft vom 10. Dezember, dieser Organisation des Pariser Lumpenproletariats, massenweise in
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Eisenbahnzüge und Postchaisen verpackt, als Claqueure mitschickten. Sie legten ihrer
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Marionette Reden in den Mund, die je nach dem Empfang in den verschiednen Städten die
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republikanische Resignation oder die ausdauernde <a name="S454"><b><454></b></a>
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Zähigkeit als den Wahlspruch der präsidentiellen Politik proklamierten. Trotz aller
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Manöver waren diese Reisen nichts weniger als Triumphzüge.</p>
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<p>Nachdem Bonaparte so das Volk begeistert zu haben glaubte, setzte er sich in Bewegung, die
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Armee zu gewinnen. Er ließ auf der Ebene von Satory bei Versailles große Revuen
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abhalten, bei denen er die Soldaten durch Knoblauchswürste, Champagner und Zigarren zu
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kaufen suchte. Wenn der echte Napoleon in den Strapazen seiner Eroberungszüge seine
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ermatteten Soldaten durch momentane patriarchalische Vertraulichkeit aufzumuntern wußte, so
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glaubte der Pseudo-Napoleon, die Truppen riefen zum Dank: Vive Napoleon, vive le saucisson!
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<Es lebe Napoleon, es lebe die Wurst!> d.h.: Es lebe die Wurst, es lebe der Hanswurst!</p>
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<p>Diese Revuen brachten den lange verhaltenen Zwiespalt zwischen Bonaparte und seinem
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Kriegsminister d'Hautpoul einerseits und Changarnier andrerseits zum Ausbruch. In Changarnier
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hatte die Ordnungspartei ihren wirklichen neutralen Mann gefunden, bei dem von eignen
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dynastischen Ansprüchen keine Rede sein konnte. Ihn hatte sie zum Nachfolger Bonapartes
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bestimmt. Changarnier war dazu durch sein Auftreten am 29. Januar und 13. Juni 1849 der
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große Feldherr der Ordnungspartei geworden, der moderne Alexander, dessen brutales
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Dazwischenfahren in den Augen des zaghaften Bürgers den gordischen Knoten der Revolution
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zerhauen hatte. Im Grunde ebenso lächerlich wie Bonaparte, war er so auf höchst
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wohlfeile Weise zu einer Macht geworden und wurde von der Nationalversammlung dem
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Präsidenten zur Überwachung gegenübergestellt. Er selbst kokettierte, z.B. bei der
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Dotationsfrage, mit der Protektion, die er Bonaparte schenkte, und trat immer
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übermächtiger gegen ihn und die Minister auf. Als bei Gelegenheit des Wahlgesetzes eine
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Insurrektion erwartet wurde, verbot er seinen Offizieren, vom Kriegsminister oder vom
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Präsidenten irgendwelche Befehle anzunehmen. Die Presse trug noch dazu bei, die Gestalt
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Changarniers zu vergrößern. Bei dem gänzlichen Mangel an großen
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Persönlichkeiten sah sich natürlich die Ordnungspartei gedrungen, die ihrer ganzen
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Klasse fehlende Kraft einem einzelnen Individuum anzudichten und dies so zum Ungeheuren
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aufzuschwellen. So entstand der Mythus von Changarnier, dem <i>"Bollwerk der Gesellschaft"</i>.
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Die anmaßende Scharlatanerie, die geheimnisvolle Wichtigtuerei, womit Changarnier sich dazu
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herabließ, die Welt auf seinen Schultern zu tragen, bildet den lächerlichsten Kontrast
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mit den Ereignissen während und nach der Revue von Satory, die unwiderleglich bewiesen,
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daß es nur eines Federstrichs Bonapartes, des unendlich Kleinen, bedürfe, um diese
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phantastische Ausgeburt der bürgerlichen Angst, um den Koloß Changarnier auf die
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Dimen- <a name="S455"><b><455></b></a> sionen der Mittelmäßigkeit
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zurückzuführen und ihn, den gesellschaftsrettenden Heros, in einen pensionierten
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General zu verwandeln.</p>
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<p>Bonaparte hatte sich schon seit längerer Zeit an Changarnier gerächt, indem er den
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Kriegsminister zu Disziplinarstreitigkeiten mit dem unbequemen Protektor provozierte. Die letzte
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Revue bei Satory brachte endlich den alten Groll zum Eklat. Die konstitutionelle Entrüstung
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Changarniers kannte keine Grenze mehr, als er die Kavallerieregimenter mit dem
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verfassungswidrigen Ruf: Vive l'Empereur! <Es lebe der Kaiser!> vorbeidefilieren sah.
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Bonaparte, um allen unangenehmen Debatten über diesen Ruf in der bevorstehenden
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Kammersession zuvorzukommen, entfernte den Kriegsminister d'Hautpoul, indem er ihn zum Gouverneur
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von Algier ernannte. An seine Stelle setzte er einen zuverlässigen alten General aus der
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Kaiserzeit, der an Brutalität Changarnier vollständig gewachsen war. Damit aber die
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Entlassung d'Hautpouls nicht als eine Konzession an Changarnier erscheine, versetzte er zu
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gleicher Zeit den rechten Arm des großen Gesellschaftsretters, den General Neumayer, von
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Paris nach Nantes. Neumayer war es gewesen, der bei der letzten Revue die gesamte Infanterie
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bewogen hatte; mit eisigem Stillschweigen an dem Nachfolger Napoleons vorbeizudefilieren.
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Changarnier, in Neumayer selbst getroffen, protestierte und drohte. Umsonst. Nach
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zweitägigen Verhandlungen erschien das Versetzungsdekret Neumayers im "Moniteur" und dem
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Heros der Ordnung blieb nichts übrig, als sich der Disziplin zu fügen oder
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abzudanken.</p>
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<p>Der Kampf Bonapartes mit Changarnier ist die Fortsetzung seines Kampfs mit der Partei der
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Ordnung. Die Wiedereröffnung der Nationalversammlung am 11. November findet daher unter
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drohenden Auspizien statt. Es wird der Sturm im Glase Wasser sein. Im wesentlichen muß das
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alte Spiel fortgehn. Die Majorität der Ordnungspartei wird indes trotz des Geschreis der
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Prinzipienritter ihrer verschiednen Fraktionen gezwungen sein, die Gewalt des Präsidenten zu
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verlängern. Ebensosehr wird Bonaparte, trotz aller vorläufigen Protestationen, schon
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durch den Geldmangel geknickt, diese Verlängerung der Gewalt als einfache Delegation aus den
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Händen der Nationalversammlung hinnehmen. So wird die Lösung hinausgeschoben, der
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Status quo forterhalten, eine Fraktion der Ordnungspartei von der andern kompromittiert,
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geschwächt, unmöglich gemacht, die Repression gegen den gemeinsamen Feind, die Masse
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der Nation, ausgedehnt und erschöpft, bis die ökonomischen Verhältnisse selbst
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wieder den Entwicklungspunkt erreicht haben, wo eine neue Explosion diese sämtlichen
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hadernden Parteien mit ihrer konstitutionellen Republik in die Luft sprengt.</p>
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<p><b><a name="S456"><456></a></b> Zur Beruhigung des Bürgers muß übrigens
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gesagt werden, daß der Skandal zwischen Bonaparte und der Ordnungspartei das Resultat hat,
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eine Menge kleiner Kapitalisten auf der Börse zu ruinieren und ihr Vermögen in die
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Taschen der großen Börsenwölfe zu spielen.</p>
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<p>In <i>Deutschland</i> resümieren sich die politischen Ereignisse der letzten sechs Monate
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in dem Schauspiel, wie Preußen die Liberalen und wie Östreich Preußen
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prellt.</p>
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<p>Im Jahr 1849 schien es sich um die Hegemonie Preußens in Deutschland zu handeln; im Jahr
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1850 handelte es sich um die Teilung der Gewalt zwischen Östreich und Preußen; im Jahr
|
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|
1851 handelt es sich nur noch um die Form, in der Preußen sich Östreich unterwirft und
|
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als reuiger Sünder in den Schoß des vollständig wiederhergestellten
|
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<i>Bundestags</i> zurückkehrt. Das Kleindeutschland, das der König von Preußen
|
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als Entschädigung für seinen verunglückten Kaiserzug durch Berlin am 21. März
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1848 sich zu erhandeln <In der "Revue": erhalten> hoffte, hat sich in Kleinpreußen
|
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verwandelt; Preußen hat jede Demütigung geduldig hinnehmen müssen und ist aus der
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Reihe der Großmächte verschwunden. Selbst den bescheidenen Traum der Union hat die
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gewöhnliche perfide Borniertheit seiner Politik wieder in nichts aufgelöst. Es
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schwindelte der Union einen liberalen Charakter an und düpierte so die weisen Männer
|
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der Gothaer Partei durch konstitutionelle Phantasmagorien, mit denen es ihm nie ernst war; und
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doch war es selbst durch seine ganze industrielle Entwicklung, sein permanentes Defizit, seine
|
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Staatsschuld so bürgerlich geworden, daß es dem Konstitutionalismus trotz alles
|
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Windens und Sträubens immer unrettbarer verfiel. Wenn die weisen Männer von Gotha
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zuletzt entdeckten, wie schmählich Preußen mit ihrer Würde und Besonnenheit
|
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umgesprungen war, wenn selbst ein Gagern und ein Brüggemann sich endlich mit edler
|
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Entrüstung von einer Regierung abwandten, die so schnödes Spiel mit der Einheit und
|
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Freiheit des Vaterlandes trieb, so erlebte Preußen keine größere Freude an den
|
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Küchlein, die es unter seinen schützenden Flügel versammelt hatte, an den kleinen
|
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Fürsten. Die Duodezfürsten hatten sich nur im Moment der höchsten Bedrängnis
|
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und Schutzlosigkeit den mediatisationssüchtigen Krallen des preußischen Adlers
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anvertraut; sie hatten die Zurückführung ihrer Untertanen zum alten Gehorsam durch
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preußische Interventionen, Drohungen und Demonstrationen teuer bezahlen müssen mit
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knechtenden Militärkonventionen, mit kostspieliger Einquartierung, mit der Aussicht auf
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baldige Mediatisierung durch die Unionsverfassung. Aber Preußen selbst hatte dafür
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gesorgt, daß sie dieser neuen Not wieder ent- <a name="S457"><b><457></b></a> rennen.
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|
Preußen hatte überall die Reaktion wieder zur Herrschaft gebracht, und in demselben
|
||
|
Maß, als die Reaktion fortschritt, fielen die Duodezfürsten von Preußen ab, um
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sich <i>Östreich</i> in die Arme zu werfen. Konnten sie wieder in vormärzlicher Weise
|
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herrschen, so stand ihnen das absolutistische Östreich näher als eine Macht, die
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||
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ebensowenig absolutistisch sein konnte als sie liberal sein wollte. Dazu führte die
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östreichische Politik nicht zur Mediatisierung der kleinen Staaten, sondern im Gegenteil zu
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ihrer Aufrechthaltung als integrierende Bestandteile des wiederherzustellenden Bundestags. So
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erlebte Preußen, daß Sachsen von ihm abfiel, das wenig Monate vorher durch
|
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preußische Truppen gerettet worden, daß Hannover abfiel, daß Kurhessen abfiel
|
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und daß jetzt auch Baden, trotz seiner preußischen Garnisonen, den übrigen
|
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|
folgte. Daß die Unterstützung der Reaktion in Hamburg, Mecklenburg, Dessau etc. etc.
|
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durch Preußen nicht zu seinem, sondern zu Östreichs Vorteil war, sieht es jetzt
|
||
|
deutlich an den Vorgängen in den beiden Hessen. So erfuhr der verfehlte deutsche Kaiser
|
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allerdings, daß er in einer Zeit der Treulosigkeit lebt, und wenn er es jetzt dulden
|
||
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muß, daß ihm "sein rechter Arm, die Union" abgenommen wird, so war dieser Arm schon
|
||
|
seit geraumer Zeit verwelkt. So hat Östreich jetzt schon ganz Süddeutschland unter
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seine Hegemonie gebracht, und auch in Norddeutschland sind die wichtigsten Staaten Preußens
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Gegner.</p>
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<p>Östreich war endlich so weit gekommen, daß es, gestützt auf Rußland,
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Preußen offen entgegentreten konnte. Es tat dies bei zwei Fragen: bei der
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schleswig-holsteinischen und der kurhessischen.</p>
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<p>In <i>Schleswig-Holstein</i> hatte das "Schwert Deutschlands" einen echt preußischen
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Separatfrieden geschlossen und seine Bundesgenossen der feindlichen Übermacht in die
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Hände geliefert. England, Rußland und Frankreich beschlossen, der Unabhängigkeit
|
||
|
der Herzogtümer ein Ende zu machen, und drückten diese Absicht in einem Protokoll aus,
|
||
|
dem sich Östreich anschloß. Während Östreich und die mit ihm
|
||
|
verbündeten deutschen Regierungen, dem Londoner Protokoll gemäß, auf dem
|
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|
restaurierten Bundestag die Bundesintervention in Holstein zugunsten Dänemarks vertraten,
|
||
|
suchte Preußen seine achselträgerische Politik fortzusetzen, die Parteien zur
|
||
|
Unterwerfung unter ein noch gar nicht existierendes, undefinierbares, von den meisten und
|
||
|
wichtigsten Regierungen zurückgewiesenes Bundesschiedsgericht zu bewegen und erlangte mit
|
||
|
allen seinen Manövern weiter nichts, als daß es bei den Großmächten in den
|
||
|
Verdacht revolutionärer Umtriebe geriet und eine Reihe von drohenden Noten erhielt, die ihm
|
||
|
die Lust an einer "selbständigen" auswärtigen Politik bald benehmen werden. Den
|
||
|
Schleswig-Holsteinern wird in kurzem ihr Landesvater wiedergegeben werden, und ein Volk, das sich
|
||
|
von <a name="S458"><b><458></b></a> Herren Beseler und Reventlow regieren läßt,
|
||
|
trotzdem daß es die ganze Armee auf seiner Seite hat, zeigt, daß es der
|
||
|
dänischen Fuchtel noch zu seiner Erziehung bedarf.</p>
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||
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||
|
<p>Die Bewegung in <i>Kurhessen</i> liefert uns ein unnachahmliches Beispiel, wozu eine
|
||
|
"Erhebung" in einem deutschen Kleinstaat es bringen kann. Der tugendhafte und bürgerliche
|
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|
Widerstand gegen den Fälscher Hassenpflug hatte alles realisiert, was von einem derartigen
|
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|
Schauspiel zu verlangen ist: die Kammer war einstimmig, das Land war einstimmig, die Beamten und
|
||
|
die Armee waren auf seiten der Bürger; alle widerstrebenden Elemente waren entfernt, das
|
||
|
"Fürsten zum Land hinaus" hatte sich von selbst realisiert, der Fälscher Hassenpflug
|
||
|
war mit seinem ganzen Ministerium verschwunden; alles ging nach Wunsch, alle Parteien hielten
|
||
|
sich streng in den gesetzlichen Schranken, alle Exzesse wurden vermieden, und die Opposition
|
||
|
hatte, ohne einen Finger zu rühren, den schönsten Sieg errungen, von dem die Annalen
|
||
|
des verfassungsmäßigen Widerstands zu berichten wissen. Und jetzt, als die Bürger
|
||
|
alle Gewalt in Händen hatten, als ihr ständischer Ausschuß nirgends auf den
|
||
|
geringsten Widerstand stieß, jetzt waren sie erst recht notwendig. Jetzt sahen sie,
|
||
|
daß statt der kurfürstlichen Truppen fremde Truppen an der Grenze standen, bereit
|
||
|
einzurücken und der ganzen bürgerlichen Herrlichkeit in vierundzwanzig Stunden ein Ende
|
||
|
zu machen. Jetzt erst fing die Ratlosigkeit und Blamage an; hatten sie früher nicht
|
||
|
rückwärts gekonnt, so konnten sie jetzt nicht vorwärts. Die kurhessische
|
||
|
Steuerverweigerung beweist schlagender als irgendein früheres Ereignis, wie alle Kollisionen
|
||
|
innerhalb der kleinen Staaten auf reine Farcen hinauslaufen, deren ganzes Resultat
|
||
|
schließlich die fremde Intervention ist und die Beseitigung des Konflikts durch die
|
||
|
Beseitigung sowohl des Fürsten wie der Verfassung. Sie beweist, wie lächerlich alle
|
||
|
jene hochwichtigen Kampfe sind, in denen die Kleinbürger der Kleinstaaten jede kleine
|
||
|
Märzerrungenschaft mit patriotischer Gesinnungstreue vor dem unvermeidlichen Untergang zu
|
||
|
retten suchen.</p>
|
||
|
|
||
|
<p>In Kurhessen, in einem Staat der Union, den es galt, aus der preußischen Umarmung zu
|
||
|
reißen, trat Östreich seinem Rivalen direkt entgegen. Östreich war es, das den
|
||
|
Kurfürsten geradezu zu seinem Angriff auf die Verfassung aufstachelte und ihn dann sogleich
|
||
|
unter den Schutz seines Bundestags stellte. Um diesem Schutz Nachdruck zu verleihen, um an der
|
||
|
kurhessischen Angelegenheit Preußens Widerstand gegen Östreichs Herrschaft zu brechen,
|
||
|
um Preußen wieder in den Bundestag hineinzudrohen, stellten sich jetzt östreichische
|
||
|
und süddeutsche Truppen in Franken und Böhmen auf. Preußen rüstet ebenfalls.
|
||
|
Die Zeitungen strotzen von Berichten über Märsche und Kontremärsche der
|
||
|
Armeekorps. All dieser Lärm wird zu nichts führen, <a name=
|
||
|
"S459"><b><459></b></a> ebensowenig wie die Zänkereien der französischen
|
||
|
Ordnungspartei mit Bonaparte. Weder der König von Preußen noch der Kaiser von
|
||
|
Östreich ist souverän, sondern allein der russische Zar. Vor seinem Befehl wird das
|
||
|
rebellische Preußen sich schließlich beugen, ohne daß ein Tropfen Blut
|
||
|
geflossen, werden sich die Parteien friedlich zusammenfinden auf den Sesseln des Bundestags, ohne
|
||
|
daß deshalb weder ihren Eifersüchteleien unter sich noch ihrem Hader mit ihren
|
||
|
Untertanen, noch ihrem Verdruß gegen die russische Oberherrschaft der geringste Abbruch
|
||
|
geschehen wird.</p>
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||
|
|
||
|
<p>Wir kommen jetzt zum Land als solchem, zum europäischen Volk, zum Volk der
|
||
|
<i>Emigration</i>. Von den einzelnen Sektionen der Emigration, der deutschen, französischen,
|
||
|
ungarischen etc., werden wir nicht sprechen; ihre haute politique <hohe Politik>
|
||
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beschränkt sich auf pure chronique scandaleuse <reine Klatschgeschichte>. Aber das
|
||
|
europäische Gesamtvolk in partibus infidelium hat in letzter Zeit eine provisorische
|
||
|
Regierung erhalten in dem <i>europäischen Zentralkomitee</i>, bestehend aus Joseph
|
||
|
<i>Mazzini, Ledru-Rollin,</i> Albert <i>Darasz</i> (Pole) und - Arnold <i>Ruge</i>, der zur
|
||
|
Rechtfertigung seines Daseins bescheiden dahinter schreibt: Mitglied der Frankfurter
|
||
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Nationalversammlung. Obgleich nicht zu sagen wäre, welches demokratische Konzil diese vier
|
||
|
Evangelisten zu ihrem Amt berufen hätte, so ist doch nicht zu leugnen, daß ihr
|
||
|
Manifest das Glaubensbekenntnis der großen Masse der Emigration enthält und in
|
||
|
angemessener Form die intellektuellen Errungenschaften zusammenfaßt, die diese Masse den
|
||
|
letzten Revolutionen verdankt.</p>
|
||
|
|
||
|
<p>Das Manifest beginnt mit einer prunkenden Aufzählung der Kräfte der Demokratie.</p>
|
||
|
|
||
|
<p><font size="2">"Was fehlt der Demokratie zum Sieg? ... die Organisation ... Wir haben Sekten,
|
||
|
aber keine Kirche, unvollständige und widersprechende Philosophien, aber keine Religion,
|
||
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keinen Kollektivglauben, der die Gläubigen unter ein einziges Zeichen schart und ihre
|
||
|
Arbeiten harmonisiert ... Der Tag. an dem wir uns alle vereint finden werden, zusammen
|
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|
marschierend unter dem Auge der Besten unter uns ... wird der Vorabend des Kampfes sein. An
|
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|
diesem Tage werden wir uns gezählt haben, wir werden wissen, wer wir sind, wir werden das
|
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Bewußtsein unsrer Kraft haben."</font></p>
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<p>Warum hat die Revolution bisher nicht gesiegt? Weil die Organisation der revolutionären
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Gewalt schwächer war. Das ist das erste Dekret der provisorischen Regierung der
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Emigration.</p>
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<p>Diesem Übelstande soll jetzt abgeholfen werden durch die Organisation einer Glaubensarmee
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und die Stiftung einer Religion.</p>
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<p><b><font size="2"><a name="S460"><460></a></font></b> <font size="2">"Aber dazu sind
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zwei große Hindernisse zu übersteigen, zwei große Irrtümer zu
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zerstören: die Übertreibung der Rechte der Individualität, die engherzige
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Ausschließlichkeit der Theorie ... Wir müssen nicht sagen: ich; wir müssen lernen
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zu sagen: wir; ... Diejenigen, welche, ihren individuellen Reizbarkeiten folgend, das kleine
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Opfer verweigern, das Organisation und Disziplin erheischen, verleugnen, infolge der Gewohnheiten
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der Vergangenheit, den Gesamtglauben, den sie predigen ... Ausschließlichkeit in der
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Theorie ist die Negation unsres Grunddogmas. Der da sagt: ich habe die politische Wahrheit
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gefunden, und wer die Annahme seines Systems zur Bedingung der Annahme der brüderlichen
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Assoziation macht, verleugnet das Volk, den einzig progressiven Dolmetscher des Weltgesetzes, nur
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um sein eignes Ich zu behaupten. Wer da behauptet, durch isolierte Arbeit seiner Intelligenz, so
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machtvoll sie sein mag, heutzutage eine definitive Lösung der Probleme zu entdecken, welche
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die Massen agitieren, der verurteilt sich selbst zum Irrtum durch Unvollständigkeit, indem
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er verzichtet auf eine der ewigen Quellen der Wahrheit, die Kollektivintuition des in der
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Handlung begriffenen Volks. Die definitive Lösung ist das Geheimnis des Sieges ... Unsre
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Systeme können zum großen Teil nichts andres sein als ein Anatomisieren von Kadavern,
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ein Entdecken des Übels, ein Analysieren des Todes, ohnmächtig, das Leben wahrzunehmen
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oder zu begreifen. Leben, das ist das Volk in Bewegung, das ist der Instinkt der Massen, zu einer
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außergewöhnlichen Potenz erhoben durch die gegenseitige Berührung, durch das
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prophetische Gefühl großer Dinge, die zu vollbringen sind, durch unwillkürliche,
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plötzliche, elektrische Assoziation auf der Straße; es ist Handlung, aufregend zum
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höchsten Punkt alle Vermögen der Hoffnung, Hingebung, Liebe und des Enthusiasmus, die
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jetzt schlummern, und den Menschen offenbaren in der Einheit seiner Natur, in der Vollkraft
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seiner Zeugungsfähigkeit. Der Händedruck eines Arbeiters in einem dieser historischen
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Momente, die eine Epoche beginnen, wird uns mehr von der Organisation der Zukunft lehren als
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heutzutage von der kalten und herzlosen Arbeit des Verstandes oder der Erkenntnis des erlauchten
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Toten der letzten zwei Jahrtausende - der alten Gesellschaft - gelehrt werden
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könnte."</font></p>
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<p>Dieser ganze hochbeteuernde Unsinn läuft also schließlich auf die höchst
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ordinäre Philisteransicht hinaus, daß die Revolution gescheitert sei an der
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ehrgeizigen Eifersucht der einzelnen Führer und an den feindlich entgegenstehenden Meinungen
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der verschiedenen Volkslehrer.</p>
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<p>Die Kämpfe der verschiedenen Klassen und Klassenfraktionen gegeneinander, deren Verlauf
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durch seine einzelnen Entwicklungsphasen gerade die Revolution ausmacht, sind für unsre
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Evangelisten nur die unglückliche Folge der Existenz divergierender Systeme, während in
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Wirklichkeit umgekehrt die Existenz verschiedner Systeme die Folge der Existenz der
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Klassenkämpfe ist. Schon hieraus geht hervor, daß die Verfasser des Manifests die
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Existenz der Klassenkämpfe leugnen. Unter dem Vorwand, gegen die Doktrinäre
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anzukämpfen, beseitigen sie jeden bestimmten Inhalt, jede bestimmte Parteiansicht, verbieten
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sie den einzelnen Klassen, ihre Interessen und Forde- <a name="S461"><b><461></b></a>
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rungen gegenüber den andern Klassen zu formulieren. Sie muten ihnen zu, ihre
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widerstreitenden Interessen zu vergessen und sich zu versöhnen unter der Fahne einer ebenso
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flachen wie unverschämten Unbestimmtheit, die unter dem Schein der Versöhnung der
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Interessen aller Parteien nur die Herrschaft des Interesses einer Partei - der Bourgeoispartei
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verbirgt. Nach den Erfahrungen, die die Herren in Frankreich, Deutschland und Italien
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während der zwei letzten Jahre gemacht haben müssen, kann man nicht einmal sagen,
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daß die Heuchelei eine unbewußte ist, mit der hier das Bourgeoisinteresse in
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Lamartinische Brüderlichkeitsphrasen eingewickelt wird. Welche Kenntnis die Herren
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übrigens von den "Systemen" haben, gebt schon daraus hervor, daß sie sich einbilden,
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jedes dieser Systeme sei bloß ein Fragment der im Manifest zusammengestellten Weisheit und
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habe sich nur eine einzelne der hier versammelten Phrasen, Freiheit, Gleichheit etc. einseitig
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zur Grundlage genommen. Ihre Vorstellungen von gesellschaftlichen Organisationen sind sehr
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frappant wiedergegeben: ein Zusammenlauf auf der Straße, ein Krawall, ein Händedruck,
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und alles ist fertig. Die Revolution besteht für sie überhaupt bloß im Sturz der
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bestehenden Regierung; ist dies Ziel erreicht, so ist "<i>der</i> Sieg" errungen. Bewegung,
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Entwicklung, Kampf hören dann auf, und unter der Ägide des dann herrschenden
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europäischen Zentralkomitees beginnt das goldne Zeitalter der europäischen Republik und
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der in Permanenz erklärten Nachtmütze. Wie die Entwicklung und den Kampf, so hassen die
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Herren das Denken, das herzlose Denken - als ob irgendein Denker, Hegel und Ricardo nicht
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ausgenommen, je die Herzlosigkeit erreicht hätte, mit der dem Publikum dieser
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weichmäulige Spülicht über den Kopf gegossen wird! Das Volk soll nicht für
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den folgenden Tag sorgen und sich alle Gedanken aus dem Kopf schlagen; kommt der große Tag
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der Entscheidung, so wird es durch die bloße Berührung elektrisiert, und das
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Rätsel der Zukunft wird sich ihm durch ein Wunder lösen. Dieser Aufruf zur
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Gedankenlosigkeit ist ein direkter Versuch zu Prellerei gerade der unterdrücktesten Klassen
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des Volks.</p>
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<p><font size="2">"Sagen wir nun hiermit" (fragt ein Mitglied des europäischen
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Zentralkomitees das andre), "daß wir ohne Fahne voranmarschieren sollen, sagen wir,
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daß wir auf unser Banner eine bloße Verneinung schreiben wollen? Auf uns kann ein
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solcher Verdacht nicht fallen. Männer des Volks, seit langer Zeit in seinen Kämpfen
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beteiligt, denken wir nicht daran, es zur <i>Leere</i> zu leiten."</font></p>
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<p>Um nun im Gegenteil ihre <i>Fülle</i> zu beweisen, führen uns die Herren ein
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wahrhaft Leporellosches Register ewiger Wahrheit und Errungenschaften der ganzen bisherigen
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Geschichte <In der "Revue": Geschäfte> als den gegenwärtigen gemeinsamen Boden
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<a name="S462"><b><462></b></a> der "Demokratie" vor. Dies Register resümiert sich in
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folgendem erbaulichen Paternoster:</p>
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<p><font size="2">"Wir glauben an die progressive Entwicklung der menschlichen Fähigkeit und
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Kräfte zum Moralgesetz hin, welches uns auferlegt worden ist. Wir glauben an die Assoziation
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als das einzig regelmäßige Mittel, welches diesen Zweck erreichen kann. Wir glauben,
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daß die Auslegung des Moralgesetzes und der Regel des Fortschritts weder einer Kaste noch
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einem Individuum anvertraut werden kann, sondern dem Volk, aufgeklärt durch nationale
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Erziehung, geleitet durch die aus seiner Mitte, die Tugend und Genius ihm als die besten zeigen.
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Wir glauben an die Heiligkeit beider, der Individualität und der Gesellschaft, die sich
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weder ausschließen noch bekämpfen sollen sondern zusammen harmonieren zur Besserung
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aller durch alle. Wir glauben an die Freiheit ohne welche jede menschliche Verantwortlichkeit
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verschwindet, an die Gleichheit ohne welche die Freiheit nur ein Trug ist, an die
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Brüderlichkeit, ohne welche Freiheit und Gleichheit Mittel ohne Zweck wären, an die
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Assoziation, ohne welche die Brüderlichkeit nur ein unrealisierbares Programm wäre, an
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<i>Familie, Gemeinde</i> und <i>Staat</i> und <i>Vaterland</i> als ebensoviel progressive
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Sphären, worin der Mensch sukzessiv aufwachsen muß in der Erkenntnis und
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Betätigung der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Assoziation. Wir glauben an die
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Heiligkeit der Arbeit, an das <i>Eigentum</i>, welches von ihr entspringt als ihr Zeichen und
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ihre Frucht, an die Pflicht der Gesellschaft, das Element der materiellen Arbeit durch den
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Kredit, der intellektuellen und moralischen Arbeit durch die Erziehung zu liefern ... <i>Wir
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glauben, um uns zu resümieren, an einen sozialen Zustand, der Gott und sein Gesetz zu seiner
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Spitze und das Volk zu seiner Basis hat...</i> "</font></p>
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<p>Also: Fortschritt - Assoziation - Moralgesetz - Freiheit - Gleichheit - Brüderlichkeit -
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Assoziation - Familie, Gemeinde, Staat - Heiligkeit des Eigentums - Kredit - Erziehung - Gott und
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Volk - Dio e Popolo. Diese Phrasen figurieren in allen Manifesten der 1848er Revolutionen, von
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der französischen bis zur walachischen, und gerade deswegen figurieren sie hier auch [als]
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die gemeinsamen Grundlagen der <i>neuen Revolution</i>. In keiner dieser Revolutionen fehlte auch
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die Heiligkeit des Eigentums, das hier als Resultat der Arbeit heilig gesprochen wird. Wie sehr
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alles bürgerliche Eigentum "die Frucht und das Zeichen der Arbeit" ist, wußte Adam
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Smith schon weit besser als unsre revolutionären Initiatoren achtzig Jahre nach ihm. Was die
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sozialistische Konzession betrifft, daß die Gesellschaft jedem das Material zu seiner
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Arbeit durch den Kredit liefern soll, so pflegt jeder Fabrikant seinem Arbeiter für soviel
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Material, als er in einer Woche verarbeiten kann, Kredit zu geben, so ist das Kreditsystem
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heutzutage so weit ausgedehnt, als dies mit der Unverletzlichkeit des Eigentums verträglich,
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und ist der Kredit schließlich selbst nur eine Form des bürgerlichen Eigentums.</p>
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<p>Das Resümee dieses Evangeliums ist ein gesellschaftlicher Zustand, worin Gott die Spitze
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bildet und dies Volk oder, wie es später heißt, die <i>Menschheit</i>, <a name=
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"S463"><b><463></b></a> die Basis. D.h., sie glauben an die bestehende Gesellschaft, worin
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bekanntlich Gott die Spitze bildet und der Mob die Basis. Wenn das Symbolum Mazzinis: Gott und
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das Volk, Dio e Popolo, in Italien einen Sinn haben mag, wo man Gott dem Papst und das Volk den
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Fürsten gegenüberstellt, so ist es doch etwas stark, wenn man dies Plagiat von Johannes
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Ronge, dem seichtesten Abspülicht des deutschen Aufkläricht, als das Wort hinstellt,
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das das Rätsel des Jahrhunderts lösen soll. Wie leicht man sich übrigens in dieser
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Schule an die kleinen Opfer gewöhnt, welche die Organisation und Disziplin erheischen, wie
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gefällig man die engherzige Ausschließlichkeit der Theorien aufgibt, beweist unser
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Arnold Winkelried Ruge, der zur großen Freude von Leo diesmal den Unterschied zwischen
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Gottheit und Menschheit zu würdigen weiß.</p>
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<p>Das Manifest endet mit den Worten:</p>
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<p><font size="2">"Es handelt sich um die Konstitution der europäischen Demokratie, um die
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Gründung eines Budgets, einer Schatzkammer des Volks. Es handelt sich um die Organisation
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der Armee der Initiatoren."</font></p>
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<p>Ruge, um der erste Initiator dieses Volksbudgets zu sein, hat sich an "de demokratische
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Janties <Scherzname für Niederländer (von: Jan)> van Amsterdam" gewandt und ihnen
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ihren speziellen Beruf zum Zahlen erklärt. Holland in Not!</p>
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<p><i>London</i>, l. November 1850</p>
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</body>
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</html>
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