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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Karl Marx/Friedrich Engels - Die grossen Maenner des Exils</TITLE>
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<P><SMALL>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unver<65>nderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 268-281</SMALL>
<P ALIGN="CENTER"><A HREF="me08_265.htm"><FONT SIZE=2>IV.</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="me08_233.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="me08_282.htm"><FONT SIZE=2>VI.</FONT></A></P>
<P ALIGN="CENTER">V</P>
<B><P><A NAME="S268">&lt;268&gt;</A></B> Der erste Versuch einer solchen "Organisation" wurde gemacht bereits im Fr&uuml;hling 1850: Es wurde damals in London ein schwulstiger "Entwurf eines Rundschreibens an deutsche Demokraten, als Manuskript gedruckt" kolportiert, nebst einem "Begleitschreiben an die F&uuml;hrer". Man fordert in diesem Rund- und Begleitschreiben zur Sch&ouml;pfung einer demokratischen Gesamtkirche auf. N&auml;chster Zweck war Bildung eines Zentralb&uuml;ros f&uuml;r die Angelegenheiten der deutschen Emigration, f&uuml;r gemeinsame Verwaltung der Fl&uuml;chtlingsangelegenheiten, Errichtung einer Druckerei in London, Vereinigung aller Patrioten gegen den gemeinschaftlichen Feind pp. Die Emigration sollte dann wieder das Zentrum der inl&auml;ndischen Bewegung werden, die Organisation der Emigration den Anfang einer umfassenden Organisation der Demokratie bilden, die Mittellosen unter den hervorragenden Pers&ouml;nlichkeiten sollten als Mitglieder des Zentralb&uuml;ros durch Steuerbarmachung des deutschen Volks besoldet werden. Diese Steuerbarmachung erschien um so angemessener, als "die deutsche Emigration nicht nur ohne einen erklecklichen Helden, sondern, was schlimmer war, auch ohne einen gemeinschaftlichen <I>Verm&ouml;gensstock </I>im Auslande anlangte". Es wird nicht verhehlt, da&szlig; die bereits bestehenden ungarischen, polnischen und franz&ouml;sischen Komitees das Vorbild zu dieser "Organisation" abgeben, und ein gewisser Neid gegen die bevorzugte Stellung dieser hervorragenden Bundesgenossen blickt aus dem ganzen Aktenst&uuml;ck.</P>
<P>Das Rundschreiben war das gemeinsame Produkt der Herren Rudolph <I>Schramm </I>und Gustav <I>Struve</I>, hinter denen sich als korrespondierendes Mitglied die damals in Ostende lebende heitre Figur des Herrn Arnold <I>Ruge </I>verbarg.</P>
<P>Herr <I>Rudolph Schramm </I>- ein krakehliges, schwatzhaftes, &auml;u&szlig;erst kon- <A NAME="S269"><B>&lt;269&gt;</A></B> fuses mannequin &lt;M&auml;nneken&gt;, das sich als Lebensmotto die Stelle aus "Rameaus Neffen" gew&auml;hlt hat:</P>
<FONT SIZE=2><P>"Lieber will ich ein impertinenter Schw&auml;tzer sein, als gar nicht sein." &lt;Diderot, "Rameaus Neffe"&gt;</P>
</FONT><P>Herr Camphausen, in der Bl&uuml;te seiner Macht, h&auml;tte dem jungen vorlauten Krefelder gern einen bedeutenden Posten gegeben, war es nur mit dem Anstand vereinbar, einen blo&szlig;en Referendarius also zu erh&ouml;hn. Dank der b&uuml;rokratischen Etikette blieb Herrn Schramm nur noch die demokratische Karriere offen. In dieser brachte er es wirklich einmal zum Pr&auml;sidenten des demokratischen Klubs in Berlin und wurde sp&auml;ter auf Verwendung einiger Abgeordneten der Linken Deputierter f&uuml;r Striegau zur Berliner Nationalversammlung. Hier zeichnete sich der sonst so redselige Schramm durch ein hartn&auml;ckiges, aber von unausgesetztem Knurren begleitetes Stillschweigen aus. Nach Sprengung der Konstituante schrieb der demokratische Volksmann eine konstitutionell-monarchische Brosch&uuml;re, ohne jedoch wieder gew&auml;hlt zu werden. Sp&auml;ter, w&auml;hrend der Zeit der Brentanoschen Regierung, erschien er einen Moment in Baden und machte dort im "Klub des entschiedenen Fortschritts" die Bekanntschaft Struves. In London angekommen, erkl&auml;rte er, sich von aller politischen T&auml;tigkeit zur&uuml;ckziehn zu wollen, weshalb er dann auch sogleich obiges Rundschreiben erlie&szlig;. Im Grunde verfehlter B&uuml;rokrat, bildete sich Herr Schramm im Hinblick auf Familienbeziehungen ein, das Element der radikalen Bourgeoisie in der Emigration zu vertreten, wie er denn den radikalen Bourgeois nicht ohne einiges Gl&uuml;ck karikiert.</P>
<I><P>Gustav Struve </I>geh&ouml;rt zu den bedeutenderen Figuren der Emigration. Seine saffianlederne Erscheinung, sein dumm-pfiffiges Glotzauge, seine sanftleuchtende Glatze, seine slawisch-kalm&uuml;ckischen Z&uuml;ge verraten auf den ersten Blick den ungew&ouml;hnlichen Mann, und der Eindruck wird noch gesteigert durch die ged&auml;mpfte Kehlkopfstimme, durch die gef&uuml;hlvolle Salbung des Vortrags und die feierliche Wichtigkeit der Manieren. Um &uuml;brigens der Wahrheit die Ehre zu geben, suchte unser Gustav, bei der heutzutage f&uuml;r jeden so sehr gesteigerten Schwierigkeit sich auszuzeichnen, sich wenigstens dadurch von seinen Mitb&uuml;rgern zu unterscheiden, da&szlig; er, halb Prophet, halb Industrieritter, halb H&uuml;hneraugenoperateur, allerhand absonderliche Nebendinge zu seinem Hauptgesch&auml;ft erhob und f&uuml;r die verschiedensten Allotria Propaganda machte. So fiel es ihm pl&ouml;tzlich ein, als geborener Russe sich f&uuml;r die deutsche Freiheit zu begeistern, nachdem er bei der russischen Gesandtschaft am Bundestage irgendwelche Supernumerarius- <A NAME="S270"><B>&lt;270&gt;</A></B> Dienste getan und eine kleine Brosch&uuml;re im Interesse des Bundestags geschrieben hatte. Da er seinen eignen Sch&auml;del f&uuml;r den menschlichen Normalsch&auml;del ansah, warf er sich auf Kranioskopie, und von nun an traute er niemandem, dessen Sch&auml;del er nicht vorher bef&uuml;hlt und erprobt hatte. Auch h&ouml;rte er auf, Fleisch zu essen und predigte das Evangelium von der ausschlie&szlig;lichen Pflanzenkost, ferner war er Wetterprophet, eiferte gegen das Tabakrauchen und agitierte bedeutend im Interesse der Moral des Deutschkatholizismus und der Wasserkur. Bei seinem gr&uuml;ndlichen Ha&szlig; gegen alles positive Wissen schw&auml;rmte er nat&uuml;rlich f&uuml;r freie Universit&auml;ten, auf denen an der Stelle der vier Fakult&auml;ten die Kranioskopie, Physiognomik, Chiromantie und Nekromantik betrieben werden sollten. Auch war es ganz in seiner Rolle, da&szlig; er mit der &auml;u&szlig;ersten Beharrlichkeit darauf bestand, ein gro&szlig;er Schriftsteller zu werden, eben weil seine Schreibmanier das gerade Gegenteil von allem ist, was f&uuml;r Stil gelten kann.</P>
<P>Gustav hatte bereits in den ersten vierziger Jahren den "Deutschen Zuschauer" erfunden, ein Bl&auml;ttchen, das er in Mannheim herausgab, das er patentierte und das ihn als fixe Idee &uuml;berall verfolgte. Auch entdeckte er schon damals, da&szlig; die beiden B&uuml;cher, die sein altes und neues Testament sind, Rottecks "Weltgeschichte" und das Rotteck-Welckersche "Staats-Lexikon", nicht mehr zeitgem&auml;&szlig; seien und einer neuen <I>demokratischen </I>Ausgabe bed&uuml;rften. Diese Bearbeitung, die Gustav sofort unternahm und wovon er schon im voraus einen Auszug als "Grundz&uuml;ge der Staatswissenschaft" drucken lie&szlig; - diese Bearbeitung wurde aber "ein unabweisbares Bed&uuml;rfnis seit 1848, da der selige Rotteck die Erfahrungen der letzten Jahre nicht mitgemacht hatte".</P>
<P>Mittlerweile brachen nacheinander jene drei badischen "Volks-Erhebungen" aus, die uns Gustav selbst als das Zentrum der ganzen modernen Weltbewegung historisch geschildert hat. Gleich durch den ersten Heckerschen Aufstand ins Exil verschlagen und eben damit besch&auml;ftigt, seinen "Deutschen Zuschauer" in Basel wieder herauszugeben, traf ihn der harte Schlag, da&szlig; der Mannheimer Verleger den dortigen "Deutschen Zuschauer" unter andrer Redaktion fortsetzen lie&szlig;. Der Kampf zwischen dem wahren und dem falschen "Deutschen Zuschauer" war so acharniert &lt;erbittert&gt;, da&szlig; keiner von beiden ihn &uuml;berlebte. Daf&uuml;r aber fa&szlig;te Gustav eine Verfassung f&uuml;r die deutsche f&ouml;derative Republik ab, wonach Deutschland in vierundzwanzig Republiken geteilt wurde, jede mit einem Pr&auml;sidenten und zwei Kammern; eine saubre Landkarte war beigeheftet, auf der die ganze Einteilung genau <A NAME="S271"><B>&lt;271&gt;</A></B> zu sehen war. Im September 1848 begann die zweite Insurrektion, deren C&auml;sar und Sokrates unser Gustav in einer Person war. Er benutzte die Zeit, wahrend der es ihm verg&ouml;nnt war, den deutschen Boden wieder zu betreten, um den Schwarzw&auml;lder Bauern eindringliche Vorstellungen &uuml;ber die Nachteile des Tabakrauchens zu machen. In L&ouml;rrach gab er seinen Moniteur heraus unter dem Titel: "Regierungsblatt - Deutscher Freistaat - Freiheit, Wohlstand, Bildung". Dieses Organ brachte u.a. folgendes Dekret:</P>
<I><P>"Art. 1. Der durch p.p. eingef&uuml;hrte Zuschlagszoll von 10 Prozent auf die von der Schweiz eingehenden Waren ist aufgehoben; Art. 2. Der Verwalter des Zolles, Christian M&uuml;ller, ist mit der Ausf&uuml;hrung dieses Beschlusses beauftragt.</I>"</P>
<P>Seine treue Amalie teilte alle seine Beschwerden und schilderte sie nachher romantisch. Auch war sie bei der Vereidigung der gefangenen Gendarmen t&auml;tig, indem sie jedem, der dem deutschen Freistaat geschworen, ein rotes Band um den Arm kn&uuml;pfte und ihn sodann embrassierte. Leider wurden Gustav und Amalie gefangen und schmachteten im Kerker, wo der unverdrossene Gustav sofort seine republikanische &Uuml;bersetzung von Rottecks "Weltgeschichte" wieder aufnahm, bis endlich die dritte Insurrektion ihn befreite. Jetzt war Gustav Mitglied einer wirklichen provisorischen Regierung, und von nun an gesellt sich zu seinen sonstigen fixen Ideen noch die der provisorischen Regierungsmanie. Als Pr&auml;sident des Kriegssenats beeilte er sich, in die Angelegenheiten seines Departements m&ouml;glichst Verwirrung zu tragen und den "Verr&auml;ter" Mayerhofer zum Kriegsminister zu empfehlen (Goegg, "R&uuml;ckblick pp.", Paris 1850). Sp&auml;ter aspirierte er vergeblich, zum ausw&auml;rtigen Minister ernannt zu werden und 60.000 Fl[orin] zu seiner Verf&uuml;gung zu erhalten. Herr Brentano erl&ouml;ste unsern Gustav bald wieder von der Regierungslast, und Gustav stellte sich nun im "Klub des entschiedenen Fortschritts" an die Spitze der Opposition. Mit Vorliebe richtete er diese Opposition gegen solche Ma&szlig;regeln Brentanos, denen er selbst seine Zustimmung gegeben hatte. Wenn auch dieser Klub gesprengt wurde und Gustav als Fl&uuml;chtling nach der Pfalz wandern mu&szlig;te, so hatte dieses Unheil doch die gute Seite, da&szlig; nunmehr zu Neustadt an der Haardt der unvermeidliche "Deutsche Zuschauer" abermals in einer vereinzelten Nummer seine Erscheinung machen konnte - was Gustav f&uuml;r viel unverdientes Leiden entsch&auml;digte. Eine weitere Genugtuung war, da&szlig; er bei einer Nachwahl in irgendeinem abgelegenen Winkel des Oberlandes zum Mitglied der badenschen Konstituante ernannt wurde und nun in offizieller Kapazit&auml;t zur&uuml;ckkehren konnte. In dieser Versammlung zeichnete sich Gustav nur durch folgende drei in Freiburg gestellten Antr&auml;ge aus: 1. am 28. Juni: jeden, <A NAME="S272"><B>&lt;272&gt;</A></B> der mit dem Feinde unterhandeln wolle, f&uuml;r einen Verr&auml;ter zu erkl&auml;ren; 2. am 30. Juni: eine neue provisorische Regierung zu ernennen, worin Struve Sitz und Stimme habe; 3. nach Verwerfung des letztern Antrags, an demselben Tage: da&szlig;, nachdem das verlorene Treffen bei Rastatt jeden Widerstand erfolglos gemacht habe, man dem Oberlande die Schrecken des Kriegs ersparen m&uuml;sse und da&szlig; zu diesem Behuf man jedem Beamten und Soldaten zehnt&auml;gigen Sold, den Mitgliedern der Konstituante zehnt&auml;gige Di&auml;ten nebst Reisegeld auszahlen und sodann mit Trommelschall und Trompetenklang nach der Schweiz hin&uuml;berziehen solle. Nach Verwerfung auch dieses Antrags ging Gustav sofort auf eigne Faust in die Schweiz und von da, durch den Stock James Fazys verjagt, nach London, wo er mit einer neuen Entdeckung auftrat, n&auml;mlich mit den <I>sechs Gei&szlig;eln der Menschheit</I>. Diese sechs Gei&szlig;eln waren: die F&uuml;rsten, der Adel, die Pfaffen, die B&uuml;rokratie, das stehende Heer, der Geldsack und die Wanzen. In welchem Geist Gustav den seligen Rotteck verarbeitete, kann man aus seiner ferneren Entdeckung absehn, da&szlig; der Geldsack eine Erfindung Louis-Philippes sei. Diese sechs Gei&szlig;eln predigt Gustav in der "Deutschen Londoner Zeitung" des Exherzogs von Braunschweig, wof&uuml;r er ziemlich honoriert wurde und dann auch die Zensur des Herrn Herzogs mit Dank hinnahm. Soviel zur Aufkl&auml;rung &uuml;ber das Verh&auml;ltnis Gustavs zur ersten Gei&szlig;el, den F&uuml;rsten. Was sein Verh&auml;ltnis zur zweiten, zum Adel angeht, so lie&szlig; unser sittlich religi&ouml;ser Republikaner sich Visitenkarten stechen, worauf er als "Baron von Struve" figurierte. Wenn er mit den &uuml;brigen Gei&szlig;eln nicht in ebenso freundschaftliche Beziehungen trat, so kann das seine Schuld nicht sein. Dann benutzte Gustav seine Mu&szlig;e in London zur Anfertigung eines republ
<P>Der Dritte im Bunde, der gro&szlig;e <I>Arnold Ruge</I> leuchtet der ganzen Emigration voraus durch seine noch immer auf Zivilversorgung wartende Wachtmeistergestalt. Man kann nicht sagen, da&szlig; dieser Edle sich durch besonders angenehmes &Auml;u&szlig;ere empfiehlt; Pariser Bekannte pflegten seine pommersch-slawischen Z&uuml;ge als Mardergesicht (figure de fouine) zu bezeichnen. <A NAME="S273"><B>&lt;273&gt;</A></B> Arnold Ruge, r&uuml;gischer Bauern Kind, und wegen demagogischer Umtriebe siebenj&auml;hriger Dulder in preu&szlig;ischen Kerkern, warf sich mit Ungest&uuml;m der Hegelschen Philosophie in die Arme, sobald er entdeckte, da&szlig; man nur die Hegelsche Enzyklop&auml;die durchzubl&auml;ttern brauche, um des Studiums aller &uuml;brigen Wissenschaften enthoben zu sein. Er hatte daneben das Prinzip (das er auch in einer Novelle aufstellte und bei seinen Freunden zur Geltung zu bringen suchte -der ungl&uuml;ckliche Herwegh wei&szlig; davon zu erz&auml;hlen -), das Prinzip, sich auch in der Ehe zu verwerten und heiratete daher fr&uuml;hzeitig einen "substantiellen Boden" an.</P>
<P>Mit H&uuml;lfe seiner Hegelschen Phrasen und seines substantiellen Bodens brachte er es nur zum Portier der deutschen Philosophie, eine Eigenschaft, worin er bei den "Hallischen" und "Deutschen Jahrb&uuml;chern" die aufkommenden Gr&ouml;&szlig;en anzumelden und auszuposaunen hatte und sie bei dieser Gelegenheit mit einem gewissen Geschick literarisch exploitierte. Leider brach sehr bald die Periode der philosophischen Anarchie herein, die Periode, wo die Wissenschaft keinen anerkannten K&ouml;nig mehr hatte, wo Strau&szlig;, B. Bauer, Feuerbach gegeneinander zu Felde zogen, und wo die verschiedensten fremdartigen Elemente die Einfachheit der klassischen Doktrin zu tr&uuml;ben begannen. Jetzt wurde unser Ruge ratlos, er sah seinen Weg nicht mehr vor sich, seine ohnehin zusammenhangslosen Hegelschen Kategorien liefen bunt durcheinander, und er f&uuml;hlte pl&ouml;tzlich gar gro&szlig;e Sehnsucht nach ein er gewaltigen Bewegung, in der man es nicht mehr so genau mit dem Denken und Schreiben n&auml;hme.</P>
<P>In den "Hallischen Jahrb&uuml;chern" spielte Ruge dieselbe Rolle wie in der alten "Berliner Monatsschrift" der selige Buchh&auml;ndler Nicolai. Wie dieser suchte er sein Hauptverdienst darin, die Arbeiten andrer zu drucken und sich daraus materiellen Vorteil und literarischen Stoff zu eignen Geisteserg&uuml;ssen zu holen. Nur, da&szlig; unser Ruge dies Umschreiben der Artikel seiner Mitarbeiter, diesen literarischen Verdauungsproze&szlig; bis zu seinem unvermeidlichen Endresultat, viel h&ouml;her zu potenzieren wu&szlig;te als sein Urbild. Dazu war Ruge nicht der Portier der deutschen Aufkl&auml;rung, er war der Nicolai der modernen deutschen Philosophie und konnte die naturw&uuml;chsige Plattheit seines Genies hinter dem dichten Dornenwald spekulativer Redewendungen verbergen. Wie Nicolai k&auml;mpfte er tapfer gegen die <I>Romantik</I>, eben weil Hegel sie in seiner "&Auml;sthetik" kritisch und Heine in der "Romantischen Schule" literarisch l&auml;ngst beseitigt hatte. Im Unterschiede aber von Hegel traf er mit Nicolai darin zusammen, da&szlig; er als Antiromantiker das Recht zu haben glaubte, die ordin&auml;re Philisterhaftigkeit, und vor allem seine eigne Philisterfigur, als vollendetes Ideal hinzustellen. Zu diesem Zweck, <A NAME="S274"><B>&lt;274&gt;</A></B> und um den Feind auf seinem eigensten Terrain zu bek&auml;mpfen, machte Ruge auch Verse, deren von keinem Holl&auml;nder erreichte sobre &lt;n&uuml;chterne&gt; Abgestandenheit den Romantikern trotzig als Fehdehandschuh ins Gesicht geschleudert wurde.</P>
<P>Im &uuml;brigen f&uuml;hlte sich unser pommerscher Denker nicht recht behaglich in der Hegelschen Philosophie. War er auch stark im Wahrnehmen von Widerspr&uuml;chen, so besa&szlig; er daf&uuml;r ein um so gr&ouml;&szlig;eres Unverm&ouml;gen, sie aufzul&ouml;sen, und empfand einen sehr erkl&auml;rlichen Abscheu vor der Dialektik. So kam es, da&szlig; in seinem dogmatischen Gehirn die gr&ouml;bsten Widerspr&uuml;che friedlich unter einem Dach zusammen logierten und da&szlig; sein ohnehin &auml;u&szlig;erst schwerf&auml;lliges Begriffsverm&ouml;gen sich nirgends behaglicher befand als in solch gemischter Gesellschaft. Es passierte ihm zuweilen, da&szlig; er gleichzeitig zwei Artikel verschiedener Schriftsteller in seiner Weise verdaute und zu einem neuen Produkt zusammenschmolz, ohne zu merken, da&szlig; beide von ganz entgegengesetzten Standpunkten aus geschrieben waren. Stets zwischen seinen Widerspr&uuml;chen sich festreitend, half er sich damit, da&szlig; er den Theoretikern gegen&uuml;ber sein mangelhaftes Denken als praktisch, den Praktikern dagegen seine praktische Unbeholfenheit und Inkonsequenz als h&ouml;chste theoretische Errungenschaft behauptete und schlie&szlig;lich erkl&auml;rte, gerade dies Verrennen in unersch&uuml;tterlichen Widerspr&uuml;chen, dieser unkritische chaotische Glaube an die Inbegriffe aller popul&auml;ren Tagesphrasen sei die <I>"Gesinnung"</I>.</P>
<P>Ehe wir unsern Moritz von Sachsen, wie er sich in vertrauten Kreisen zu nennen pflegte, in seinen weiteren Schicksalen verfolgen, weisen wir noch auf zwei Eigenschaften hin, die schon bei den Jahrb&uuml;chern hervortraten. Die erste ist die <I>Manifestwut</I>. Sobald irgend jemand einen beliebigen neuen Standpunkt ausgeheckt hatte, dem Ruge eine gewisse Zukunft ansah, erlie&szlig; er ein Manifest. Da ihm niemand vorwirft, da&szlig; er sich je eines Originalgedankens schuldig gemacht, war ein solches Manifest immer eine passende Gelegenheit, das ihm Neue in mehr oder minder deklamatorischer Weise als sein Eigentum zu vindizieren und daraufhin zugleich die Bildung einer Partei, einer Fraktion, einer "Masse" zu versuchen, die hinter ihm stehe und bei der er Wachtmeisterdienste tun k&ouml;nne. Wir werden sp&auml;ter sehen, zu welcher unglaublichen Vollkommenheit Ruge diese Fabrikation von Manifesten, Proklamationen und Pronunziamientos gebracht hat. - Die zweite Eigenschaft ist die besondre Art des <I>Flei&szlig;es</I>, worin Arnold exzelliert. Da er es nicht liebt, viel zu studieren oder, wie er sagt, "aus einer Bibliothek in <A NAME="S275"><B>&lt;275&gt;</A></B> die andre zu schreiben", zieht er vor, "aus dem frischen Loben zu sch&ouml;pfen", d.h., sich mit strenger Gewissenhaftigkeit alle Einf&auml;lle, "Schnurren", neue Ideen und sonstige Mitteilungen jeden Abend zu notieren, die er im Laufe des Tags geh&ouml;rt, gelesen und aufgeschnappt hat. Diese Materialien werden dann je nach Gelegenheit wieder verwandt zu dem Pensum, das Ruge t&auml;glich mit derselben Gewissenhaftigkeit abmacht wie seine andern Leibesbed&uuml;rfnisse. Seine Bewunderer pflegen daher von ihm zu sagen, er k&ouml;nne die Dinte nicht halten. &Uuml;ber welchen Gegenstand das t&auml;gliche schriftstellerische Erzeugnis handelt, ist total gleichg&uuml;ltig; die Hauptsache ist die, da&szlig; Ruge &uuml;ber das beliebige Thema jene wunderbare Stilsauce ausgie&szlig;t, die f&uuml;r alles pa&szlig;t, gerade wie die Engl&auml;nder ihren Soyer's relish oder ihre Warwickshire sauce zu Fisch, Gefl&uuml;gel, Koteletts oder irgend etwas andrem mit gleichem Vergn&uuml;gen genie&szlig;en. Diesen t&auml;glichen stilistischen <I>Durchfall </I>nennt Ruge mit Vorliebe "die <I>durchschlagend </I>sch&ouml;ne Form" und sah darin hinreichenden Grund, sich f&uuml;r einen "Artisten " &lt;"K&uuml;nstler"&gt; auszugeben.</P>
<P>So zufrieden Ruge auch mit seinem Posten als Schweizer der deutschen Philosophie war, nagte doch im stillen ein Wurm an seinem innersten Loben. Er hatte noch kein einziges dickes Buch geschrieben und beneidete t&auml;glich den gl&uuml;cklichen Bruno Bauer, der schon in seiner Jugend achtzehn schwere B&auml;nde ver&ouml;ffentlicht hatte. Um diesem Mi&szlig;verh&auml;ltnis abzuhelfen, lie&szlig; Ruge einen und denselben Aufsatz unter verschiedenen Titeln dreimal in einem und demselben Band abdrucken und gab dann diesen Band wiederum in verschiedensten Formaten heraus. Auf diese Weise entstanden die "Gesammelten Werke" Arnold Ruges, die der Verfasser, sauber gebunden, noch jetzt jeden Morgen in seiner Bibliothek Band f&uuml;r Band nachz&auml;hlt und dann vergn&uuml;gt ausruft: "Bruno Bauer hat doch keine Gesinnung!"</P>
<P>Wenn es Arnold nicht gelang, die Hegelsche Philosophie zu begreifen, so verwirklichte er dagegen an seinem eignen Leibe eine Hegelsche Kategorie. Er stellte <I>"das ehrliche Bewu&szlig;tsein" </I>mit erstaunlicher Treue dar und wurde hierin mehr best&auml;rkt, als er in der <I>"Ph&auml;nomenologie" - </I>die ihm sonst ein Buch mit sieben Siegeln blieb - die angenehme Entdeckung machte, da&szlig; das ehrliche Bewu&szlig;tsein "immer Freude an sich erlebt". Das ehrliche Bewu&szlig;tsein verbirgt unter einer zudringlichen Biederkeit alle die kleinen falschen N&uuml;cken und T&uuml;cken des Philisters; es hat das Recht, sich jede Gemeinheit zu erlauben, weil es wei&szlig;, da&szlig; es aus Ehrlichkeit gemein ist; die Dummheit selbst wird ein Vorzug, weil sie ein schlagender Beweis der Gesinnungst&uuml;chtigkeit ist. Hinter jedem Hintergedanken tr&auml;gt es die &Uuml;ber- <A NAME="S276"><B>&lt;276&gt;</A></B> zeugung seiner inneren Redlichkeit, und je mehr es irgendeine Falschheit, eine mesquine &lt;kleinliche&gt; Schmutzerei vorhat, desto offenherziger und zutraulicher kann es auftreten. Alle die kleinen Sch&auml;bigkeiten des B&uuml;rgers verwandeln sich unter der Aureole der ehrlichen Absicht in ebenso viele Tugenden; der schmierige Eigennutz erscheint rein gewaschen in der Gestalt eines angeblich gebrachten Opfers; die Feigheit tritt auf als Mut im h&ouml;heren Sinne, die Schuftigkeit wird Edelmut, und die groben, zudringlichen Bauernmanieren veredeln, verkl&auml;ren sich zu Symptomen von Bravheit und gutem Humor. Gosse, in der alle Widerspr&uuml;che der Philosophie, der Demokratie und der Phrasenwirtschaft &uuml;berhaupt wunderlich zusammenlaufen; &uuml;brigens ein Kerl, reichlich ausgestattet mit allen Lastern, Gemeinheiten und Kleinlichkeiten, mit der Hinterlist und der Dummheit, mit dem Geiz und der Unbeholfenheit, mit der Servilit&auml;t und der Arroganz, mit der Falschheit und der Bonhommie des emanzipierten Leibeignen, des Bauern; Philister und Ideolog, Atheist und Phrasengl&auml;ubiger, absoluter Ignorant und absoluter Philosoph in einer Person - das ist unser Arnold Ruge, wie Hegel ihn Anno 1806 vorher geweissagt hat.</P>
<P>Nach Unterdr&uuml;ckung der "Deutschen Jahrb&uuml;cher" transportierte Ruge seine Familie auf einem eigens dazu erbauten Landwagen nach Paris. Sein b&ouml;ser Stern brachte ihn hier mit <I>Heine </I>in Ber&uuml;hrung, der in ihm den Mann verehrte, welcher "den Hegel ins Pommersche &uuml;bersetzt hat". Heine frug ihn, ob Prutz nicht ein Pseudonym von ihm sei, wogegen Ruge gewissenhaft protestierte, doch war Heine nicht von der Meinung abzubringen, da&szlig; unser Arnold der Verfasser der Prutzschen Gedichte sei. &Uuml;brigens entdeckte Heine sehr bald, da&szlig;, wenn Ruge auch kein Talent besitze, er doch die Charaktermaske mit Erfolg trage, und so kam es, da&szlig; Freund Arnold dem Dichter die Idee zu seinem "Atta Troll" eingab. Wenn Ruge seinen Aufenthalt in Paris durch kein gro&szlig;es Werk verewigte, geb&uuml;hrt ihm doch das Verdienst, da&szlig; Heine dies f&uuml;r ihn tat. Aus Dankbarkeit setzte ihm der Dichter die bekannte Grabschrift:</P><DIR>
<DIR>
<DIR>
<DIR>
<FONT SIZE=2><P>Atta Troll, Tendenzb&auml;r; sittlich<BR>
Religi&ouml;s; als Gatte br&uuml;nstig;<BR>
Durch Verf&uuml;hrtsein von dem Zeitgeist<BR>
Waldurspr&uuml;nglich Sansculotte;</P>
<P>Sehr schlecht tanzend, doch Gesinnung<BR>
Tragend in der zott'gen Hochbrust;<BR>
Manchmal auch gestunken habend;<BR>
Kein Talent, doch ein Charakter!</P></DIR>
</DIR>
</DIR>
</DIR>
</FONT><B><P><A NAME="S277">&lt;277&gt;</A></B> In Paris passierte es unserm Arnold, da&szlig; er sich mit den Kommunisten einlie&szlig;, in den "Deutsch-Franz&ouml;sischen Jahrb&uuml;chern" Artikel von <I>Marx</I> und <I>Engels </I>drucken lie&szlig;, die das grade Gegenteil von dem enthielten, was er selbst in der Vorrede ank&uuml;ndigte, ein Unfall, worauf ihn die Augsburger "Allg[emeine] Z[ei]t[un]g" aufmerksam machte, den er aber mit philosophischer Resignation ertrug.</P>
<P>Um einer angebornen gesellschaftlichen Unbeh&uuml;lflichkeit zu steuern, hat unser Ruge sich eine kleine Zahl wunderlicher Anekdoten zu beliebigem Wiedererz&auml;hlen angelernt, die er <I>Schnurren </I>nennt. Langj&auml;hrige Besch&auml;ftigung mit diesen Schnurren f&uuml;hrte es mit sich, da&szlig; allm&auml;hlich alle Begebenheiten, Zust&auml;nde, Verh&auml;ltnisse f&uuml;r ihn in lauter angenehme oder unangenehme, gute oder schlechte, wichtige oder unwichtige, interessante oder langweilige Schnurren sich verwandelten. Das Pariser Gew&uuml;hl, die vielen neuen Eindr&uuml;cke, der Sozialismus, die Politik, das Palais-Royal, die wohlfeilen Austern, alles das &uuml;berw&auml;ltigte den Ungl&uuml;cklichen nun so sehr, da&szlig; sein Kopf in ein permanentes unheilbares Schnurren geriet und Paris sich f&uuml;r ihn in ein unbegrenztes Schnurrenmagazin verwandelte. Er selbst kam dabei u.a. auf die Schnurre, aus S&auml;gesp&auml;nen R&ouml;cke f&uuml;r das Proletariat anfertigen zu wollen, wie er &uuml;berhaupt ein Faible f&uuml;r industrielle Schnurren hat, zu denen er immer vergeblich die Aktion&auml;re sucht.</P>
<P>Als die politisch bekannteren Deutschen aus Frankreich ausgewiesen wurden, rettete sich Ruge vor dem Verh&auml;ngnis, indem er sich bei dem Minister Duch&acirc;tel als <I>savant s&eacute;rieux </I>&lt;ernsthafter Gelehrter&gt; introduzieren lie&szlig;. Er dachte sicher dabei an den "Gelehrten" in Paul de Kocks "Amant de la lune", der sich durch eine originelle Manier, Pfropfen in die Luft zu schnellen, als savant konstatierte. Kurz darauf ging Arnold nach der Schweiz, wo er mit dem ehemaligen holl&auml;ndischen Unteroffizier, k&ouml;lnischen Lokalschriftsteller und preu&szlig;ischen Untersteuereinnehmer <I>Heinzen </I>zusammentraf. Beide umschlang bald ein Band der innigsten Freundschaft. Heinzen lernte von Ruge Philosophie, Ruge von Heinzen Politik. Von dieser Zeit an entwickelt sich bei Ruge die Notwendigkeit, nur noch bei den roheren Elementen der deutschen Bewegung als Philosoph par excellence &lt;reinsten Wassers&gt; aufzutreten, ein Schicksal, das ihn immer tiefer f&uuml;hrte, bis er schlie&szlig;lich nur noch bei lichtfreundlichen Pfarrern (Dulon), bei deutschkatholischen Pastoren (Ronge) und bei Fanny Lewald als Philosoph galt. Zu gleicher Zeit nahm aber die Anarchie in der deutschen Philosophie t&auml;glich zu. Stirners "Einziger", "Socialismus, Communismus" usw., lauter neue Eindringlinge, steigerten das Schnurren in Ruges Kopf <A NAME="S278"><B>&lt;278&gt;</A></B> bis zur Unertr&auml;glichkeit; ein gro&szlig;er Sprung mu&szlig;te gewagt werden. Da rettete sich Ruge hinter den <I>Humanismus</I>, jene Phrase, womit alle Konfusionaner in Deutschland von Reuchlin bis Herder ihre Verlegenheit bem&auml;ntelt haben. Diese Phrase schien um so zeitgem&auml;&szlig;er, als eben erst Feuerbach "den Menschen neuentdeckt hatte", und Arnold klammerte sich mit solcher Verzweiflung an sie an, da&szlig; er sie bis auf die heutige Stunde nicht fahren l&auml;&szlig;t. Aber eine noch ungleich wichtigere Entdeckung macht Arnold in der Schweiz, n&auml;mlich die, da&szlig; "das Ich durch seine <I>wiederholte Erscheinung </I>vor dem Publikum sich als <I>Charakter </I>bew&auml;hrt". Von jetzt an begann eine neue Wirksamkeit f&uuml;r Arnold. Die unversch&auml;mteste Auf- und Zudringlichkeit erhob er zum Prinzip. Bei allem mu&szlig;te Ruge sich beteiligen, in alles seine Nase stecken. Kein Huhn durfte ein Ei legen, ohne da&szlig; Ruge "die Vernunft" dieses "Ereignisses redigierte". Unter allen Umst&auml;nden mu&szlig;te die Verbindung mit irgendeinem Winkelbl&auml;ttchen aufrechterhalten werden, wo die wiederholte Erscheinung vorsichgehn konnte. Keinen Zeitungsartikel schrieb er mehr, ohne seinen Namen zu unterzeichnen und wom&ouml;glich von sich selbst darin zu sprechen. Das Prinzip der wiederholten Erscheinung mu&szlig;te auf jeden Artikel ausgedehnt werden; er mu&szlig;te zuerst in Briefform in europ&auml;ische und (seit Heinzens Auswanderung nach New York) in amerikanische Bl&auml;tter gebracht, sodann als Brosch&uuml;re gedruckt, endlich in den gesammelten Werken abermals wiederholt werden.</P>
<P>So ausger&uuml;stet, konnte unser Ruge nach Leipzig zur&uuml;ckkehren, um sich als <I>Charakter </I>definitiv anerkennen zu lassen. Aber hier war auch nicht alles Rose. Sein alter Freund, der Buchh&auml;ndler Wigand, hatte ihn in der Rolle des Nicolai mit vielem Gl&uuml;ck ersetzt, und da kein Posten vakant war, versank Ruge in ein tr&uuml;bes Nachdenken &uuml;ber die Verg&auml;nglichkeit aller Schnurren, als die deutsche Revolution ausbrach.</P>
<P>Hiermit war auch unserm Arnold pl&ouml;tzlich geholfen. Die gewaltige Bewegung, in der auch der Unbeholfenste leicht mit dem Strom fortschwimmt, war endlich eingetreten, und Ruge begab sich sofort nach Berlin, wo er im tr&uuml;ben zu fischen gedachte. Da soeben eine <I>Revolution </I>ausgebrochen war, hielt er es f&uuml;r das Zeitgem&auml;&szlig;este, mit einer <I>Reform </I>aufzutreten. Er gr&uuml;ndete das Bl&auml;ttchen dieses Namens. Die Pariser vorrevolution&auml;re "R&eacute;forme" war das talentloseste, ungebildetste und langweiligste Blatt Frankreichs. Die Berliner "Reform" lieferte den Beweis, da&szlig; man ihr Pariser Vorbild noch &uuml;bertreffen und ein so unglaubliches Journal dem deutschen Publikum, selbst in der "Metropole der Intelligenz", ungeniert bieten kann. Auf die Versicherung hin, da&szlig; gerade die rhetorische Unbeholfenheit Ruges beste Garantie f&uuml;r den tiefen Inhalt biete, der dahinter stecke, wurde Arnold f&uuml;r <A NAME="S279"><B>&lt;279&gt;</A></B> Breslau in das Frankfurter Parlament gew&auml;hlt. Hier fand er gleich Gelegenheit, als Redakteur der demokratischen Linken mit einem absurden <I>Manifest </I>aufzutreten. Im &uuml;brigen zeichnete er sich nur durch seine Schw&auml;rmerei f&uuml;r europ&auml;ische <I>V&ouml;lkerkongre&szlig;manifeste </I>aus und schlo&szlig; sich mit Eifer dem allgemeinen Wunsch an, da&szlig; Preu&szlig;en in Deutschland aufgehe. Sp&auml;ter, nach Berlin zur&uuml;ckgekehrt, verlangte er, Deutschland solle in Preu&szlig;en und Frankfurt in Berlin aufgehen, und als ihm zuletzt einfiel, s&auml;chsischer Pair zu werden, mutete er Deutschland und Preu&szlig;en zu, in Dresden aufzugehn.</P>
<P>Seine parlamentarische T&auml;tigkeit trug ihm keine andern Lorbeeren ein, als da&szlig; seine eigne Partei an seiner t&auml;ppischen Unf&auml;higkeit verzweifelte. <I>Zu gleicher Zeit </I>aber ging seine "Reform" immer schlechter, ein &Uuml;belstand, dem er nur durch pers&ouml;nliche Anwesenheit in Berlin abhelfen zu k&ouml;nnen glaubte. Als "ehrliches Bewu&szlig;tsein" fand er, versteht sich, auch einen hochpolitischen Vorwand zu diesem Austritt und mutete der ganzen Linken zu, mit ihm auszutreten. Dies geschah nat&uuml;rlich nicht, und Ruge ging allein nach Berlin. In Berlin entdeckte er, da&szlig; die modernen Kollisionen sich am besten l&ouml;sen in der "Form Dessau", wie er den kleinen demokratisch-konstitutionellen Musterstaat taufte. Dann, w&auml;hrend der Belagerung, entwarf er abermals ein Manifest, worin General <I>Wrangel </I>aufgefordert wird, zu Wiens Befreiung gegen Windischgr&auml;tz zu ziehn. Sanktion des demokratischen Kongresses f&uuml;r dies sonderliche Aktenst&uuml;ck erwarb er sich durch den Vorwand, es sei samt der Unterschrift schon gesetzt und gedruckt. Endlich, als Berlin selbst in Belagerungszustand geriet, ging Herr Ruge zu Manteuffel und machte ihm Antr&auml;ge wegen der "Reform", die jedoch abgewiesen wurden. Manteuffel er&ouml;ffnete ihm, er w&uuml;nsche sich lauter solche Oppositionsbl&auml;tter wie die "Reform", die "Neue Preu&szlig;ische Zeitung" sei viel gef&auml;hrlicher - &Auml;u&szlig;erung, die der naive Ruge sich beeilte, mit siegreichem Stolz in ganz Deutschland zu kolportieren. Arnold begeisterte sich zugleich f&uuml;r den <I>passiven Widerstand</I>, den er selbst bet&auml;tigte, indem er Blatt, Redakteure und alles im Stich lie&szlig; und eilig davonlief. Die aktive Flucht ist offenbar die entschiedenste Form des passiven Widerstandes. Die Kontrerevolution war eingetreten, und vor ihr lief Ruge ohne Unterbrechung von Berlin bis London.</P>
<P>W&auml;hrend des Dresdner Maiaufstandes stellte sich Arnold nebst seinem Freunde Otto Wigand und dem Stadtrat an die Spitze der Bewegung in Leipzig. Er erlie&szlig; mit diesen Genossen ein kr&auml;ftiges <I>Manifest </I>an die Dresdner, sie m&ouml;chten sich nur tapfer schlagen, in Leipzig s&auml;&szlig;en Ruge, Wigand und die V&auml;ter der Stadt und wachten, und wer sich selbst nicht verlasse, <A NAME="S280"><B>&lt;280&gt;</A></B> den verlasse auch der Himmel nicht. Kaum aber war dies Manifest ver&ouml;ffentlicht, als unser tapfrer Arnold sich schleunigst auf die Beine nach Karlsruhe machte.</P>
<P>In Karlsruhe f&uuml;hlte er sich unsicher, obgleich die Badenser am Neckar standen und die Feindseligkeiten noch lange nicht begonnen hatten. Er forderte Brentano auf, ihn als Gesandten nach Paris zu schicken. Brentano machte sich den Witz, ihm diesen Posten auf 12 Stunden zu geben und lehnte am andern Morgen die Bestallung wieder ab, als Ruge eben abreisen wollte. Ruge zog nichtsdestoweniger mit den wirklich ernannten Repr&auml;sentanten der Brentanoschen Regierung, Sch&uuml;tz und Blind, nach Paris und gerierte sich so wunderlich, da&szlig; sein eigner ehemaliger Redakteur Oppenheim in der amtlichen "Karlsruher Zeitung" erkl&auml;rte, Herr Ruge sei keineswegs in irgendeiner offiziellen Kapazit&auml;t nach Paris gewandert, sondern ganz "auf eigne Faust". Von Sch&uuml;tz und Blind einmal zu Ledru-Rollin mitgenommen, unterbrach Ruge die diplomatischen Verhandlungen pl&ouml;tzlich, indem er vor dem Franzosen erschrecklich auf die Deutschen zu schimpfen begann, so da&szlig; seinen Gef&auml;hrten nichts &uuml;brigblieb, als sich best&uuml;rzt und kompromittiert zur&uuml;ckzuziehn. Der 13. Juni kam und schlug unserm Arnold so gewaltig in die Beine, da&szlig; er sie ohne allen Grund unter die Arme nahm und erst in London, auf freiem britischen Boden, wieder Atem sch&ouml;pfte. Im Hinblick auf diese Flucht verglich er sich sp&auml;ter mit Demosthenes.</P>
<P>In London machte Ruge zun&auml;chst den Versuch, sich als badischen provisorischen Gesandten ank&uuml;ndigen zu lassen. Dann versuchte er, sich bei der englischen Presse als gro&szlig;en deutschen Denker und Schriftsteller vorzuf&uuml;hren, wurde aber &uuml;berall mit der &Auml;u&szlig;erung abgewiesen, die Engl&auml;nder seien zu materiell, um die deutsche Philosophie zu begreifen. Auch frug man ihn nach seinen Werken, worauf Ruge nur mit einem Seufzer antworten konnte, w&auml;hrend ihm zugleich Bruno Bauer wieder lebhaft vor die Seele trat. Denn selbst seine "gesammelten Werke", was waren sie andres als vielfach abgedruckte Brosch&uuml;ren? und nicht einmal Brosch&uuml;ren, sondern broschierte Journalartikel, und im Grunde auch nicht einmal Journalartikel, sondern verwickelte Lesefr&uuml;chte? Hier mu&szlig;te wieder etwas geschehen, und Ruge schrieb zwei Artikel in den "Leader" worin er unter dem Vorwande einer Schilderung der deutschen Demokratie erkl&auml;rte, in Deutschland sei jetzt der <I>"Humanismus" </I>an der Tagesordnung, vertreten durch Ludwig Feuerbach und Arnold Ruge, den Verfasser folgender Werke: 1. "Die Religion unsrer Zeit", 2. "Die Demokratie und der Sozialismus", 3. "Die Philosophie und die Re- <A NAME="S281"><B>&lt;281&gt;</A></B> volution". Diese drei epochemachenden Werke, die bis jetzt in keiner Buchhandlung zu haben sind, sind, wie sich versteht, weiter nichts als noch ungedruckte neue Titel zu beliebigen alten Aufs&auml;tzen Ruges. Gleichzeitig begann Arnold seine t&auml;glichen Pensa wieder, indem er zu seiner eignen Belehrung, zum Nutzen des deutschen Publikums und zum gro&szlig;en Entsetzen des Herrn Br&uuml;ggemann Artikel ins Deutsche zur&uuml;ck&uuml;bersetzte, die aus der "K&ouml;lnischen Zeitung" in den "Morning Advertiser" geraten waren. Nicht grade mit Lorbeer bedeckt zog er sich nach Ostende zur&uuml;ck, wo er die geh&ouml;rige Mu&szlig;e fand, sich zu der Rolle des weltweisen <I>Konfusius </I>&lt;Wortspiel mit Konfuzius&gt;<I> der deut</I>schen <I>Emigration </I>vorzubereiten.</P>
<P>Wie Gustav das Gem&uuml;se, wie Gottfried das Gem&uuml;t, so vertritt Arnold den <I>Verstand </I>oder vielmehr <I>Unverstand </I>des deutschen <I>kleinb&uuml;rgerlichen </I>Philisteriums. Er er&ouml;ffnet nicht, wie Arnold Winkelried, der Freiheit eine Gasse, er ist in eigner Person "der Freiheit eine <I>Gosse</I>"; Ruge steht da in der deutschen Revolution wie das Plakat an den Ecken gewisser Stra&szlig;en: Hier ist es erlaubt, sein Wasser abzuschlagen.</P>
<P>Wir kommen endlich wieder zu unserm Rund- und Begleitschreiben zur&uuml;ck. Es fiel platt auf den Boden, und aus dem ersten Versuch zur demokratischen Gesamtkirche wurde nichts. Schramm und Gustav erkl&auml;rten sp&auml;ter, daran sei blo&szlig; der Umstand schuld, da&szlig; Ruge weder franz&ouml;sisch sprechen, noch deutsch schreiben k&ouml;nne. Dann aber setzten sich die gro&szlig;en M&auml;nner aufs neue in T&auml;tigkeit,</P><DIR>
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<FONT SIZE=2><P>Ch&egrave; ciascun oltra moda era possente,<BR>
Come udirete nel canto seguente.<BR>
&lt;Denn m&auml;chtig ohne Ma&szlig;en war ein jeder,<BR>
wie ihr im folgenden Gesang sollt h&ouml;ren.<BR>
Bojardo, "L'Orlando innamorato", canto 17&gt;</P></DIR>
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