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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Rosa Luxemburg - Einf&uuml;hrung in die National&ouml;konomie - III. 1</TITLE>
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<!--Hier war ein unzureichend terminierter Kommentar -->
<P ALIGN="CENTER"><A HREF="lu05_580.htm"><FONT SIZE=2>I. 6</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="lu05_en.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="lu05_613.htm"><FONT SIZE=2>III. 2</FONT></A></P>
<FONT SIZE=2><P>Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut f&uuml;r Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. "Einf&uuml;hrung in die National&ouml;konomie", S. 580-612.</P>
<P>1. Korrektur<BR>
Erstellt am 06.01.1999.</FONT> </P>
<FONT SIZE=4><P ALIGN="CENTER">III</P>
<I><P ALIGN="CENTER">Wirtschaftsgeschichtliches </I>(<I>I</I>)</P>
</FONT><B><P><A NAME="S593">|593|</A></B> Unsere Kenntnisse &uuml;ber die &auml;ltesten und primitivsten Wirtschaftsformen sind sehr jungen Datums. Noch im Jahre 1847 schrieben Marx und Engels in der ersten klassischen Urkunde des wissenschaftlichen Sozialismus, im Kommunistischen Manifest: <A HREF="../../me/me04/me04_459.htm#S462">"Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenk&auml;mpfen"</A>. Gerade um dieselbe Zeit, wo die Sch&ouml;pfer des wissenschaftlichen Sozialismus diese Auffassung kundgaben, begann sie auch schon von allen Seiten durch neue Entdeckungen ersch&uuml;ttert zu werden. Fast jedes Jahr brachte bislang unbekannte Einblicke in die &auml;lteren wirtschaftlichen Zust&auml;nde der menschlichen Gesellschaft, die zu dem Schlusse f&uuml;hrten, da&szlig; es in der vergangenen Geschichte Zeitstrecken von enormer Ausdehnung gegeben haben mu&szlig;, in denen es noch keine Klassenk&auml;mpfe, weil &uuml;berhaupt keine Scheidung in verschiedene Gesellschaftsklassen und keine Unterschiede von reich und arm, weil kein Privateigentum gab.</P>
<P>In den Jahren 1851 bis 1853 erschien in Erlangen das erste der epochemachenden Werke Georg Ludwig von Maurers, die "Einleitung zur Geschichte der Mark, Hof, Dorf und Stadt-Verfassung und der &ouml;ffent- <A NAME="S594"><B>|594|</A></B> lichen Gewalt", die ein neues Licht auf die germanische Vergangenheit und auf die soziale und &ouml;konomische Struktur des Mittelalters warf. Schon seit einigen Jahrzehnten war man an einzelnen Orten, bald in Deutschland, bald in den nordischen L&auml;ndern, auf der Insel Island, auf merkw&uuml;rdige &Uuml;berbleibsel uralter l&auml;ndlicher Einrichtungen gesto&szlig;en, die auf das ehemalige Bestehen eines Gemeineigentums an Grund [und] Boden an jenen Orten, eines Agrarkommunismus hinwiesen. Man wu&szlig;te jedoch zun&auml;chst diese &Uuml;berbleibsel nicht zu deuten. Nach einer fr&uuml;her, zumal seit M&ouml;ser und Kindlinger allgemein verbreiteten Ansicht sollte die Kultivierung des Bodens in Europa von Einzelh&ouml;fen ausgegangen und jeder Hof mit einer abgesonderten Feldmark umgeben gewesen sein, die das Privateigentum des Hofbesitzers war. Erst im sp&auml;teren Mittelalter, so glaubte man, w&auml;ren der gr&ouml;&szlig;eren Sicherheit wegen die bis dahin zerstreuten Wohnungen zu D&ouml;rfern zusammenger&uuml;ckt und die fr&uuml;her getrennten Hoffeldmarken zu Dorffeldmarken zusammengeworfen worden. So unwahrscheinlich bei genauerer Erw&auml;gung diese Ansicht erscheine - mu&szlig; man doch zu ihrer Begr&uuml;ndung das Unglaublichste annehmen, n&auml;mlich, da&szlig; die zum Teil weit auseinanderliegenden Wohnungen niedergerissen wurden, blo&szlig; um sie an einer anderen Stelle wieder zu erbauen, und ferner, da&szlig; ein jeder die bequeme Lage seiner Privatfelder rund um seinen Hof herum mit v&ouml;llig freier Bewirtschaftung freiwillig aufgegeben habe, um sodann seine Felder, in schmale Riemen zerlegt, durch alle Fluren zerstreut und mit einer von seinen Dorfgenossen v&ouml;llig abh&auml;ngigen Bewirtschaftung wieder zu erhalten -, so unwahrscheinlich diese Theorie war, so blieb sie doch die vorherrschende bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts. Erst von Maurer fa&szlig;te alle diese Einzelentdeckungen in einer k&uuml;hnen, gro&szlig;angelegten Theorie zusammen und wies auf Grund enormen Tatsachenmaterials und gr&uuml;ndlichster Forschungen in alten Archiven, Urkunden, Rechtsinstitutionen endg&uuml;ltig nach, da&szlig; das Gemeineigentum an Grund und Boden nicht erst im sp&auml;teren Mittelalter entstanden war, sondern &uuml;berhaupt die typische und allgemeine uralte Form der germanischen Ansiedlungen in Europa von allem Anfang an war. Vor zweitausend Jahren also und noch fr&uuml;her, in jener grauen Vorzeit der germanischen <A NAME="S595"><B>|595|</A></B> V&ouml;lker, von denen die geschriebene Geschichte noch nichts wei&szlig;, herrschten bei den Germanen Zust&auml;nde, die von den heutigen grundverschieden waren. Kein Staat mit geschriebenen Zwangsgesetzen, keine Spaltung in Reiche und Arme, Herrschende und Arbeitende waren damals unter den Germanen bekannt. Sie bildeten freie <I>St&auml;mme </I>und <I>Geschlechter</I>, die lange in Europa umherwanderten, bis sie sich erst zeitweise, schlie&szlig;lich dauernd ansiedelten. Die erste Kultivierung des Landes ist n&auml;mlich in Deutschland, wie von Maurer nachwies, nicht von einzelnen, sondern von ganzen Geschlechtern und St&auml;mmen ausgegangen, wie in Island von gr&ouml;&szlig;eren Gesellschaften, welche fr&auml;lldalid und skulldalid - etwa Freundschaften und Gefolgschaften - genannt wurden. Die &auml;ltesten Nachrichten &uuml;ber die alten Germanen, die auf uns von den R&ouml;mern gekommen sind, sowie die Pr&uuml;fung der &uuml;berlieferten Einrichtungen verb&uuml;rgen die Wahrheit dieser Auffassung. Herumziehende Hirtenv&ouml;lker waren es, die Deutschland zuerst bev&ouml;lkerten. Wie bei anderen Nomaden, so war zwar auch bei ihnen Viehzucht und also der Besitz reichlicher Weide die Hauptsache. Indessen konnten denn doch auch sie in die L&auml;nge ohne Ackerbau ebensowenig bestehen, wie dies bei anderen Wanderv&ouml;l
<P>Nur in Gebirgen, W&auml;ldern oder Marschgegenden, wo Mangel an Raum oder kultivierbarem Land eine gr&ouml;&szlig;ere Ansiedlung unm&ouml;glich machte, wie zum Beispiel im Odenwald, in Westfalen, in den Alpen, siedelten sich die Germanen in Einzelh&ouml;fen an. Jedoch bildeten auch diese eine Genossenschaft unter sich, wobei zwar nicht das Feld, wohl aber Wiese, Wald und Weide Gemeineigentum des ganzen Dorfes, die sogenannte Allmende, bildete und alle &ouml;ffentlichen Angelegenheiten durch die Markgenossenschaft erledigt wurden.</P>
<P>Der Stamm als Zusammenfassung vieler, meist hundert solcher Markgenossenschaften trat vorwiegend nur als oberste richterliche und milit&auml;rische Einheit ins Werk. Diese markgenossenschaftliche Organisation bildete, wie von Maurer in den zw&ouml;lf B&auml;nden seines gro&szlig;en Werkes nachgewiesen hat, die Grundlage, gleichsam die kleinste Zelle des ganzen sozialen Gewebes vom fr&uuml;hesten Mittelalter bis in die sp&auml;tere Neuzeit hinein, so da&szlig; sich die feudalen Fronh&ouml;fe, D&ouml;rfer und St&auml;dte in verschiedenen Modifikationen aus jenen Markgenossenschaften herausgebildet haben, deren Tr&uuml;mmer wir bis auf den heutigen Tag in einzelnen Gegenden Mittel und Nordeuropas vorfinden.</P>
<P>Als die ersten Entdeckungen des uralten Gemeineigentums an Grund und Boden in Deutschland und in den nordischen L&auml;ndern bekannt wurden, da kam die Theorie auf, hier sei man einer besonderen, spezifisch germanischen Einrichtung auf die Spur gekommen, die sich nur aus den Eigent&uuml;mlichkeiten des germanischen Volkscharakters erkl&auml;ren lasse. Trotzdem Maurer selbst von dieser nationalen Auffassung des Agrarkommunismus der Germanen ganz frei war und auf &auml;hnliche Beispiele anderer V&ouml;lker hinwies, blieb es in der Hauptsache in Deutschland feststehender Satz, da&szlig; die alte l&auml;ndliche Markgenossenschaft eine Besonderheit der germanischen &ouml;ffentlichen und Rechtsverh&auml;ltnisse, ein Ausflu&szlig; "germanischen Geistes" sei. Doch kamen fast zu gleicher Zeit mit dem ersten Maurerschen Werke &uuml;ber den uralten Dorfkommunismus der Germanen neue Entdeckungen auf einem ganz anderen Teil des europ&auml;ischen Kontinents <A NAME="S597"><B>|597|</A></B> ans Licht. 1847 bis 1852 ver&ouml;ffentlichte in Berlin der westf&auml;lische Baron von Haxthausen, der anfangs der vierziger Jahre auf Wunsch des russischen Kaisers Nikolaus I. Ru&szlig;land bereist hatte, seine "Studien &uuml;ber die inneren Zust&auml;nde, das Volksleben und insbesondere die l&auml;ndlichen Einrichtungen Ru&szlig;lands". Aus diesem Werke erfuhr die erstaunte Welt, da&szlig; im Osten Europas noch in der Gegenwart ganz analoge Einrichtungen bestanden. Der uralte Dorfkommunismus, dessen Tr&uuml;mmer mit M&uuml;he aus den &Uuml;berlagerungen sp&auml;terer Jahrhunderte und Jahrtausende in Deutschland herausgesch&auml;lt werden mu&szlig;ten, lebte pl&ouml;tzlich in einem nachbarlichen Riesenreich im Osten in seiner Leibhaftigkeit auf. In dem erw&auml;hnten wie in einem sp&auml;teren, 1866 in Leipzig erschienenen Werke &uuml;ber "Die l&auml;ndliche Verfassung Ru&szlig;lands" wies von Haxthausen nach, da&szlig; die russischen Bauern in bezug auf die &Auml;cker, Wiesen und W&auml;lder kein Privateigentum kennen, da&szlig; das ganze Dorf als Eigent&uuml;mer desselben gilt, die einzelnen Bauernfamilien aber nur zur zeitweisen Benutzung Ackerparzellen kriegen, die sie auch - ganz wie die alten Germanen - auslosen. In Ru&szlig;land herrschte zur Zeit, als Haxthausen das Land bereiste und erforschte, die Leibeigenschaft in voller Kraft, um so frappanter war auf den ersten Blick die Tatsache, da&szlig; unter der eisernen Decke einer harten Leibeigenschaft und eines despotischen Staatsmechanismus das russische Dorf eine kleine abgeschlossene Welt f&uuml;r sich darbot mit Landkommunismus und genossenschaftlicher Erledigung aller &ouml;ffentlichen Angelegenheiten durch die Dorfversammlung, den <I>Mir</I>. Der deutsche Entdecker dieser Eigent&uuml;mlichkeiten erkl&auml;rte die russische Landgemeinde als ein Produkt der uralten slawischen Familiengenossenschaft, wie wir sie noch bei den S&uuml;dslawen in den Balkanl&auml;ndern vorfinden und wie sie in den alten russischen Rechtsb&uuml;chern noch im 12. Jahrhundert und sp&auml;ter in voller Kraft besteht. Die Entdeckung Haxthausens wurde mit Jubel aufgegriffen von einer ganzen geistigen und politischen Str&ouml;mung in Ru&szlig;land, vom <I>Slawophilismus</I>. Diese auf eine Verherrlichung der slawischen Welt und ihrer Eigent&uuml;mlichkeiten, ihrer "unverbrauchten Kraft" gegen&uuml;ber dem "faulen Westen" mit seiner germanischen Kultur gerichtete Str&ouml;mung fand in den kommunistischen Einrichtungen der russischen Bauerngemeinde den st&auml;rksten St&uuml;tzpunkt w&auml;hrend der n&auml;chsten 2 bis 3 Jahrzehnte, Je nach der besonderen reaktion&auml;ren oder revolution&auml;ren Abzweigung, in die sich der Slawophilismus spaltete, wurde die l&auml;ndliche Gemeinde bald als eine von den drei echt slawischen Grundeinrichtungen des Russentums: grie- <A NAME="S598"><B>|598|</A></B> chisch-orthodoxer Glaube, zarischer Absolutismus und b&auml;uerlich-patriarchalischer Dorfkommunismus, gepriesen, bald umgekehrt als der geeignete St&uuml;tzpunkt, um in Ru&szlig;land in n&auml;chster Zukunft die sozialist
<P>Inzwischen kam ein anderes Moment in der Geschichte der europ&auml;ischen Nationen hinzu, das sie mit neuen Weltteilen in Ber&uuml;hrung brachte und ihnen eigent&uuml;mliche &ouml;ffentliche Einrichtungen, uralte Kulturformen sehr f&uuml;hlbar zum Bewu&szlig;tsein brachte bei V&ouml;lkern, die weder zum germanischen noch zum slawischen V&ouml;lkerkreis geh&ouml;rten. Diesmal handelte es sich nicht um wissenschaftliche Forschungen und gelehrte Entdeckungen, sondern um faustdicke Interessen kapitalistischer Staaten Europas und ihre Erfahrungen in der praktischen <I>Kolonialpolitik</I>. Im 19. Jahrhundert, im Zeitalter des Kapitalismus, hatte die europ&auml;ische Kolonialpolitik neue Bahnen eingeschlagen. Es handelte sich nicht mehr, wie im 16. Jahrhundert bei dem ersten Sturm auf die Neue Welt, um rascheste Auspl&uuml;nderung der Sch&auml;tze und Naturreicht&uuml;mer der neuentdeckten tropischen L&auml;nder an edlen Metallen, Gew&uuml;rzen, kostbaren Schmucksachen und Sklaven, worin Spanier und Portugiesen so Gro&szlig;es geleistet hatten. Auch nicht mehr blo&szlig; um m&auml;chtige Handelsgelegenheiten, wobei verschiedene Rohstoffe der &uuml;berseeischen L&auml;nder nach den europ&auml;ischen Stapelpl&auml;tzen eingef&uuml;hrt, den Eingeborenen jener L&auml;nder aber allerlei wertloser Schund und Plunder aufgedr&auml;ngt wurde, worin namentlich die Holl&auml;nder im 17. Jahrhundert bahnbrechend und f&uuml;r die Engl&auml;nder vorbildlich gewirkt haben. Jetzt handelte es sich neben jenen &auml;lteren Methoden der Kolonisation, die gelegentlich bis auf den heutigen Tag im Flor stehen und nie aus der &Uuml;bung gekommen sind, auch noch um eine neue Methode mehr nachhaltiger und systematischer Ausbeutung der Bev&ouml;lkerung der Kolonien zur Bereicherung des "Mutterlandes". Hierzu sollte zweierlei dienen: einmal die tats&auml;chliche Besitzergreifung des Grund und Bodens als der wichtigsten materiellen Quelle des Reichtums jedes Landes und ferner die st&auml;ndige Besteuerung der breiten Masse der Bev&ouml;lkerung. Bei diesem doppelten Bestreben nun mu&szlig;ten die europ&auml;ischen Kolonialm&auml;chte in allen exotischen L&auml;ndern auf ein merkw&uuml;rdiges felsenhartes Hindernis sto&szlig;en, und dies war die eigenartige Eigentumsverfassung der Eingeborenen, die der <A NAME="S599"><B>|599|</A></B> Auspl&uuml;nderung durch die Europ&auml;er den hartn&auml;ckigsten Widerstand entgegensetzte. Um den Grund und Boden aus den H&auml;nden ihrer bisherigen Eigent&uuml;mer zu rei&szlig;en, mu&szlig;te man vorerst feststellen, wer der Eigent&uuml;mer des Grund und Bodens war. Um Steuern nicht blo&szlig; aufzuerlegen, sondern auch eintreiben zu k&ouml;nnen, mu&szlig;te man die Haftbarkeit der Besteuerten feststellen. Hier stie&szlig;en nun die Europ&auml;er in ihren Kolonien auf ihnen v&ouml;llig fremde Verh&auml;ltnisse, die alle ihre Begriffe von der Heiligkeit des Privateigentums direkt auf den Kopf stellten. Dies war gleicherma&szlig;en die Erfahrung der Engl&auml;nder in S&uuml;dasien wie der Franzosen in Nordafrika.</P>
<P>Gleich zu Anfang des 17. Jahrhunderts begonnen, endete die Eroberung Indiens durch die Engl&auml;nder nach schrittweiser Einnahme der ganzen K&uuml;ste und Bengalens erst im 19. Jahrhundert mit der Unterwerfung des wichtigsten F&uuml;nfstromlandes im Norden. Nach der politischen Unterwerfung begann aber erst das schwierige Werk der systematischen Ausbeutung Indiens. Die Engl&auml;nder erlebten dabei auf Schritt und Tritt die gr&ouml;&szlig;ten &Uuml;berraschungen: Sie fanden verschiedenartigste gro&szlig;e und kleine Bauerngemeindenn, die seit Jahrtausenden auf dem Boden sa&szlig;en, Reis bauten und in stillen, geordneten Verh&auml;ltnissen lebten, aber - o Graus! - nirgends fand sich in diesen stillen D&ouml;rfern ein Privateigent&uuml;mer des Grund und Bodens. Wen man auch packte, keiner durfte das Land oder die von ihm bearbeitete Landparzelle <I>sein </I>nennen, also auch nicht verkaufen, verpachten, verschulden, f&uuml;r r&uuml;ckst&auml;ndige Steuern verpf&auml;nden. Alle Mitglieder solcher Gemeinden, die manchmal ganze gro&szlig;e Geschlechter umfa&szlig;ten, manchmal nur wenige vom Geschlecht abgezweigte Familien, hielten z&auml;h und treu zusammen, und die Blutsbande untereinander galten ihnen alles, das Eigentum des einzelnen dagegen nichts. Ja, die Engl&auml;nder mu&szlig;ten zu ihrem Erstaunen an den Ufern des Indus und des Ganges solche Muster von l&auml;ndlichem Kommunismus entdecken, vor denen auch die kommunistischen Sitten der alten germanischen Markgenossen oder der slawischen Dorfgemeinden schon beinahe als S&uuml;ndenfall ins Privateigentum anmuten.</P>
<P>"Wir sehen", hie&szlig; es im Bericht der englischen Steuerbeh&ouml;rde aus Indien vom Jahre 1845, "keine st&auml;ndigen Anteile. Jeder besitzt den bebauten Anteil nur so lange, wie die Ackerbauarbeiten dauern. Wird ein Anteil unbebaut gelassen, so f&auml;llt er ins Gemeindeland zur&uuml;ck und kann von jedem anderen genommen werden unter der Bedingung, da&szlig; er bebaut wird."<A NAME="ZF1"><A HREF="lu05_593.htm#F1">[1]</A></A></P>
<B><P><A NAME="S600">|600|</A></B> Um dieselbe Zeit meldet ein Regierungsbericht &uuml;ber die Verwaltung im Pandschab (F&uuml;nfstromland) f&uuml;r 1849 bis 1851: "Es ist h&ouml;chst interessant zu beobachten, wie stark in diesem Gemeinwesen das Gef&uuml;hl der Blutsverwandtschaft und das Bewu&szlig;tsein der Abstammung vom gemeinsamen Ahnen ist. Die &ouml;ffentliche Meinung beharrt so streng auf der Beibehaltung dieses Systems, da&szlig; wir nicht selten sehen, wie Personen, deren Vorfahren w&auml;hrend einer oder selbst zweier Generationen gar keinen Anteil an dem Gemeinbesitz nahmen, zu demselben zugelassen werden."<A NAME="ZF2"><A HREF="lu05_593.htm#F2">[2]</A></A></P>
<P>"Bei dieser Form des Grundbesitzes", schrieb der Bericht des englischen Staatsrats &uuml;ber die indische Geschlechtsgemeinde, "kann kein Mitglied des Clans (Geschlechts) ausweisen, da&szlig; ihm dieser oder jener Teil des Gemeindelandes nicht blo&szlig; zu eigen, sondern auch nur zu zeitweiliger Benutzung geh&ouml;rt. Die Produkte der gemeinsamen Wirtschaft werden in eine gemeinsame Kasse getan, und daraus werden alle Bed&uuml;rfnisse bestritten."<A NAME="ZF3"><A HREF="lu05_593.htm#F3">[3]</A></A> Hier haben wir also &uuml;berhaupt keine Aufteilung der &Auml;cker auch nur f&uuml;r eine landwirtschaftliche Saison; ungeteilt und gemeinschaftlich besitzen und bebauen die Gemeindebauern ihr Feld, tragen die Ernte in einen gemeinsamen Dorfspeicher, der dem kapitalistischen Auge der Engl&auml;nder nat&uuml;rlich als "Kasse" erscheinen mu&szlig;te, und decken br&uuml;derlich aus der Frucht des gemeinsamen Flei&szlig;es ihre bescheidenen Bed&uuml;rfnisse. In der nordwestlichen Ecke des F&uuml;nfstromlandes, hart an der Grenze Afghanistans, fanden sich andere h&ouml;chst merkw&uuml;rdige Sitten, die jedem Begriff von Privateigentum hohnsprachen. Hier wurden zwar die &Auml;cker geteilt und auch periodisch umgetauscht, aber - o Wunder! - es tauschten nicht einzelne Bauernfamilien ihre Losanteile untereinander, sondern ganze D&ouml;rfer tauschten alle f&uuml;nf Jahre ihre L&auml;ndereien um, wobei ganze Dorfschaften umwanderten. "Ich darf", schrieb der englische Steuerkommissar James aus Indien im Jahre 1852 an seine vorgesetzte Regierungsbeh&ouml;rde, "eine h&ouml;chst eigenartige Sitte nicht verschweigen, die sich bis jetzt in gewissen Gegenden erhalten hat: ich meine den periodischen Austausch der L&auml;ndereien zwischen den einzelnen D&ouml;rfern und ihren Unterabteilungen. In einigen Bezirken werden nur &Auml;cker ausgetauscht, in anderen selbst die Wohnh&auml;user."<A NAME="ZF4"><A HREF="lu05_593.htm#F4">[4]</A></A></P>
<P>Da befand man sich also offenbar wieder einmal der Eigent&uuml;mlichkeit einer bestimmten V&ouml;lkerfamilie, diesmal einer "indischen" Eigent&uuml;mlich- <A NAME="S601"><B>|601|</A></B> keit gegen&uuml;ber. Die kommunistischen Einrichtungen der indischen Dorfgemeinden wiesen aber sowohl durch ihre geographische Lage wie namentlich durch die Macht der Blutsbande und der Verwandtschaftsverh&auml;ltnisse auf ihren traditionellen uraltert&uuml;mlichen Charakter hin. Die gerade in den &auml;ltesten Wohnsitzen der Inder, im Nordwesten, bewahrten altert&uuml;mlichsten Formen des Kommunismus wiesen deutlich auf den Schlu&szlig; hin, da&szlig; das Gemeineigentum zusammen mit den starken Verwandtschaftsverb&auml;nden auf jahrtausendealte Sitten zur&uuml;ckzuf&uuml;hren ist, die gleich an die ersten Ansiedlungen der eingewanderten Inder in ihrer neuen Heimat, dem heutigen Indien, ankn&uuml;pften. Der Professor f&uuml;r vergleichende Rechtswissenschaft in Oxford und ehemaliges Mitglied der Regierung in Indien, Sir Henry Maine, machte schon 1871 die indischen Agrargemeinden zum Gegenstand seiner Vorlesungen und stellte sie in Parallele mit den von Maurer f&uuml;r Deutschland und von Nasse f&uuml;r England nachgewiesenen Markgenossenschaften als uralte Einrichtungen von demselben Charakter wie die germanischen Agrargemeinden.</P>
<P>Das ehrbare geschichtliche Alter dieser kommunistischen Einrichtungen sollte auch noch in einer anderen Weise den staunenden Engl&auml;ndern f&uuml;hlbar werden, n&auml;mlich durch die Z&auml;higkeit, womit sie den Steuer und Verwaltungsk&uuml;nsten der Engl&auml;nder Widerstand leisteten. Erst in einem jahrzehntelangen Kampf gelang es ihnen unter allerlei Gewaltstreichen, Unredlichkeiten, skrupellosen Eingriffen in alte Rechte und herrschende Rechtsbegriffe des Volkes, eine heillose Verwirrung aller Eigentumsverh&auml;ltnisse, allgemeine Unsicherheit und den Ruin der gro&szlig;en Bauernmasse herbeizuf&uuml;hren. Die alten Bande wurden gesprengt, die stille Weltabgeschiedenheit des Dorfkommunismus zerrissen und durch Hader, Zwietracht, Ungleichheit und Ausbeutung ersetzt. Enorme Latifundien einerseits, eine enorme Millionenmasse mittelloser b&auml;uerlicher P&auml;chter andererseits waren das Ergebnis. Das Privateigentum feierte den Einzug in Indien und mit ihm der Hungertyphus und der Skorbut als st&auml;ndige G&auml;ste in den Niederungen des Ganges.</P>
<P>Mochte immerhin nach den Entdeckungen der englischen Kolonisatoren in Indien der alte Agrarkommunismus, der bereits bei drei so wichtigen Zweigen der gro&szlig;en indogermanischen V&ouml;lkerfamilie - bei den Germanen, Slawen. und Indern - vorgefunden wurde, als eine alte Eigent&uuml;mlichkeit des indogermanischen V&ouml;lkerkreises gelten, so schwankend dieser ethnographische Begriff auch ist, so f&uuml;hrten die gleichzeitigen Entdeckungen der Franzosen in Afrika bereits weit &uuml;ber diesen Kreis hinaus. Hier handelte es sich n&auml;mlich um Entdeckungen, die bei den Arabern und Berbern <A NAME="S602"><B>|602|</A></B> im Norden Afrikas genau dieselben Einrichtungen feststellten, die im Herzen Europas und auf dem asiatischen Kontinent vorgefunden wurden.</P>
<P>Bei den viehz&uuml;chtenden arabischen Nomaden war der Grund und Boden Eigentum der Geschlechter. Dieses Geschlechtseigentum, schrieb der franz&ouml;sische Forscher Dareste im Jahre 1852, geht von Generation zu Generation, kein einzelner Araber kann auf ein St&uuml;ck Land weisen und sagen: Dies ist mein.</P>
<P>Bei den Kabylen, die sich ganz arabisiert hatten, waren die Geschlechterverb&auml;nde bereits stark in einzelne Zweige zerfallen, doch blieb noch die Macht der Geschlechter gro&szlig;: Sie hafteten solidarisch f&uuml;r Steuern, sie kauften gemeinsam Vieh ein, das zur Verteilung unter die Familienzweige als Nahrung bestimmt war, in allen Streitfragen um Bodenbesitz war der Geschlechterrat oberster Schiedsrichter, zur Ansiedlung in der Mitte der Kabylen war f&uuml;r jeden die Einwilligung der Geschlechter erforderlich, auch &uuml;ber unbebaute L&auml;ndereien verf&uuml;gte der Rat der Geschlechter. Als Regel galt aber das ungeteilte Eigentum der Familie, die nicht im heutigen europ&auml;ischen Sinne einen einzelnen Ehestand umfa&szlig;te, sondern eine typisch patriarchalische Familie war, wie sie uns von den alten Israeliten in der Bibel geschildert wird - ein gro&szlig;er Verwandtschaftskreis, der aus Vater, Mutter, S&ouml;hnen, deren Frauen, Kindern und Enkeln, Onkeln, Tanten, Neffen und Vettern bestand. In diesem Kreise, sagt ein anderer franz&ouml;sischer Forscher, Letourneau, im Jahre 1873, verf&uuml;gt gew&ouml;hnlich &uuml;ber das ungeteilte Eigentum das &auml;lteste Familienmitglied, das jedoch zu diesem Amt von der Familie <I>gew&auml;hlt </I>wird und in allen wichtigeren F&auml;llen, insbesondere &uuml;ber Verkauf und Ankauf des Grund und Bodens, den gesamten Familienrat befragen mu&szlig;.</P>
<P>So beschaffen war die Bev&ouml;lkerung Algeriens, als die Franzosen das Land zu ihrer Kolonie machten. Genau wie England in Indien erging es also Frankreich in Nordafrika. &Uuml;berall stie&szlig; die europ&auml;ische Kolonialpolitik auf den z&auml;hen Widerstand uralter Gesellschaftsverb&auml;nde und ihrer kommunistischen Einrichtungen, die den einzelnen vor den Ausbeutungsgriffen des europ&auml;ischen Kapitals und der europ&auml;ischen Finanzpolitik sch&uuml;tzten.</P>
<P>Gleichzeitig mit diesen neuen Erfahrungen kam eine alte halbvergessene Erinnerung aus den ersten Tagen der europ&auml;ischen Kolonialpolitik und ihrer Beutez&uuml;ge in die Neue Welt in ein ganz neues Licht. In den vergilbten Chroniken der spanischen Staatsarchive und Kl&ouml;ster war seit langen Jahrhunderten die seltsame M&auml;r von einem Wunderlande S&uuml;damerikas be- <A NAME="S603"><B>|603|</A></B> wahrt, in dem schon im Zeitalter der gro&szlig;en Entdeckungen die spanischen Konquistadores die merkw&uuml;rdigsten Einrichtungen vorgefunden hatten. Die unklare Kunde von diesem s&uuml;damerikanischen Wunderlande drang schon im 17. und 18. Jahrhundert in die europ&auml;ische Literatur, die Kunde von dem <I>Inkareich</I>, das die Spanier im heutigen Peru vorgefunden hatten und in dem unter der v&auml;terlichen theokratischen Regierung g&uuml;tiger Despoten das Volk in v&ouml;lligem Gemeineigentum lebte. Die phantastischen Vorstellungen von dem sagenhaften Reich des Kommunismus in Peru haben sich so hartn&auml;ckig erhalten, da&szlig; noch 1875 ein deutscher Schriftsteller von dem Inkareich als von "einer in der Menschengeschichte fast einzig" dastehenden sozialen, auf theokratischer Basis fu&szlig;enden Monarchie reden konnte, in der "der gr&ouml;&szlig;te Teil von dem, was die Sozialdemokraten, ideal aufgefa&szlig;t, in der Gegenwart erstreben, aber zu keiner Zeit erreicht haben", praktisch durchgef&uuml;hrt war.<A NAME="ZN1"><A HREF="lu05_593.htm#N1">(1)</A></A> Inzwischen war jedoch genaueres Material &uuml;ber das merkw&uuml;rdige Land und seine Sitten an die &Ouml;ffentlichkeit getreten.</P>
<P>1840 war in der franz&ouml;sischen &Uuml;bersetzung ein wichtiger Originalbericht Alonzo Zuritas, des ehemaligen Auditors des K&ouml;niglichen Rats in Mexiko, &uuml;ber die Verwaltung und die Agrarverh&auml;ltnisse in den ehemaligen spanischen Kolonien der Neuen Welt erschienen. Und um die Mitte des 19. Jahrhunderts verstand sich auch die spanische Regierung dazu, die alten Urkunden &uuml;ber die Eroberung und Verwaltung der amerikanischen Besitzungen Spaniens aus den Archiven ans Licht hervorzuziehen. Damit kam ein neuer wichtiger urkundlicher Beitrag zu dem Material &uuml;ber die sozialen Zust&auml;nde alter vorkapitalistischer Kulturstufen in &uuml;berseeischen L&auml;ndern [zur Kenntnis].</P>
<P>Schon auf Grund der Berichte Zuritas kam der russische Gelehrte Maxim Kowalewski in den siebziger Jahren zu dem Ergebnis, das sagenhafte Inkareich in Peru sei nichts anderes gewesen als ein Land, in dem dieselben uralten agrarkommunistischen Verh&auml;ltnisse herrschten, die bereits Maurer f&uuml;r die alten Germanen allseitig beleuchtet hatte und die nicht blo&szlig; in Peru, sondern auch in Mexiko, &uuml;berhaupt auf dem ganzen von Spaniern eroberten neuen Weltteil die vorherrschende Form waren. Sp&auml;tere Ver&ouml;ffentlichungen erm&ouml;glichten eine genaue Untersuchung der ehemaligen peruanischen Agrarverh&auml;ltnisse und enth&uuml;llten ein neues Bild des primitiven l&auml;ndlichen Kommunismus - wieder in einem neuen Weltteil, bei einer ganz anderen Rasse, auf einer ganz anderen Kulturstufe und <A NAME="S604"><B>|604|</A></B> in einem ganz anderen Zeitalter, als dies bei den bisherigen Entdeckungen der Fall war.</P>
<P>Hier hatte man eine uralte agrarkommunistische Verfassung vor sich, die - seit undenklichen Zeiten bei den peruanischen St&auml;mmen vorherrschend - noch im 16. Jahrhundert, zur Zeit der spanischen Invasion, in voller Lebendigkeit und Kraft stand. Ein Verwandtschaftsverband, das Geschlecht, war auch hier der einzige Eigent&uuml;mer des Grund und Bodens in jedem Dorfe oder in ein paar D&ouml;rfern zusammen, auch hier wurde das Ackerland in Lose verteilt und j&auml;hrlich von den Angeh&ouml;rigen des Dorfes verlost, auch hier wurden die &ouml;ffentlichen Angelegenheiten durch die Dorfversammlung geregelt, die auch den Vorsteher w&auml;hlte. Ja man fand gerade in dem fernen s&uuml;damerikanischen Lande, bei den Indianern, lebendige Spuren eines so weitgehenden Kommunismus, wie er in Europa ganz unbekannt schien: Es waren dies enorme Massenh&auml;user, wo ganze Geschlechter in gemeinsamen Massenquartieren mit gemeinsamem Begr&auml;bnisplatz hausten. Von einem solchen Quartier wird erz&auml;hlt, da&szlig; es von mehr als 4.000 M&auml;nnern und Frauen bewohnt war. Namentlich der Hauptsitz der sogenannten Inkakaiser, die Stadt Cuzco, bestand aus mehreren solchen Massenquartieren, die jedes einen besonderen Namen eines Geschlechts trugen.</P>
<P>So war um die Mitte des 19. Jahrhunderts und bis in die siebziger Jahre Material in H&uuml;lle und F&uuml;lle ans Licht gekommen, das die alte Vorstellung von der Ewigkeit des Privateigentums und seinem Bestehen von Anbeginn der Welt grausam durchl&ouml;cherte und bald ganz in Fetzen zerrissen hat. Nachdem man den Agrarkommunismus erst als eine germanische Volkseigent&uuml;mlichkeit, dann als eine slawische, indische, arabisch-kabylische, altmexikanische, als den Wunderstaat der peruanischen Inkas und in noch vielen anderen "spezifischen" V&ouml;lkertypen in allen Weltteilen entdeckt hatte, dr&auml;ngte sich von selbst der Schlu&szlig; auf, da&szlig; dieser Dorfkommunismus &uuml;berhaupt keine "Volkseigent&uuml;mlichkeit" irgendeiner Rasse oder eines Weltteiles sei, sondern die allgemeine typische Form der menschlichen Gesellschaft auf einer bestimmten H&ouml;he der Kulturentwicklung. Zuerst str&auml;ubte sich die offizielle b&uuml;rgerliche Wissenschaft, namentlich die National&ouml;konomie, gegen diese Erkenntnis mit hartn&auml;ckigem Widerstand. Die in ganz Europa in der ersten H&auml;lfte des 19. Jahrhunderts vorherrschende englische Schule Smith-Ricardos stellte rundweg die M&ouml;glichkeit eines Gemeineigentums an Grund und Boden in Abrede. Genauso wie ehemals die rohe Ignoranz und Borniertheit der ersten spanischen, portugiesischen, franz&ouml;sischen und holl&auml;ndischen Eroberer in dem neuentdeck- <A NAME="S605"><B>|605|</A></B> ten Amerika den Agrarverh&auml;ltnissen der Eingeborenen v&ouml;llig verst&auml;ndnislos gegen&uuml;berstand und bei der Abwesenheit der Privateigent&uuml;mer das ganze Land einfach f&uuml;r "Eigentum des Kaisers", f&uuml;r fiskalisches Land erkl&auml;rte, so verfuhren auch im Zeitalter der b&uuml;rgerlichen "Aufkl&auml;rung" die gr&ouml;&szlig;ten Leuchten der national&ouml;konomischen Gelehrsamkeit. Im 17. Jahrhundert schrieb zum Beispiel der franz&ouml;sische Missionar Dubois &uuml;ber Indien: "Die Inder besitzen kein Grundeigentum. Die von ihnen bearbeiteten &Auml;cker sind Eigentum der mongolischen Regierung."<A NAME="ZF5"><A HREF="lu05_593.htm#F5">[5]</A></A> Und ein Medizindoktor der Fakult&auml;t von Montpellier, Herr Fran&ccedil;ois Bernier, der die L&auml;nder des Gro&szlig;moguls in Asien bereist und im Jahre 1699 in Amsterdam eine sehr bekannte Beschreibung dieser L&auml;nder ver&ouml;ffentlicht hat, ruft entr&uuml;stet: "Diese drei Staaten: T&uuml;rkei, Persien und Vorderindien, haben den Begriff selbst von Mein und Dein in Anwendung auf den Grundbesitz vernichtet, einen Begriff, der die Grundlage alles Guten und Sch&ouml;nen in der Welt ist."<A NAME="ZF6"><A HREF="lu05_593.htm#F6">[6]</A></A> Genau derselben groben Unwissenheit und Verst&auml;ndnislosigkeit f&uuml;r alles, was nicht nach kapitalistischer Kultur aussah, beflei&szlig;igte sich im 19. Jahrhundert der Gelehrte James Mill, Vater des ber&uuml;hmten John Stuart Mill, als er in seiner Geschichte Britisch-Indiens schrieb: "Auf Grund aller von uns betrachteten Tatsachen k&ouml;nnen wir nur zu dem einen Schlusse gelangen, da&szlig; das Grundeigentum in Indien dem Herrscher zukam; denn wollten wir annehmen, da&szlig; nicht er der Grundeigent&uuml;mer war, so w&auml;ren wir nicht imstande zu sagen: Wer war denn Eigent&uuml;mer?"<A NAME="ZF7"><A HREF="lu05_593.htm#F7">[7]</A></A> Da&szlig; das Eigentum an Grund und Boden einfach den ihn seit Jahrtausenden bearbeitenden indischen Bauerngemeinden geh&ouml;rte, da&szlig; es ein Land, eine gro&szlig;e Kulturgesellschaft geben konnte, in der der Grund und Boden kein Mittel der Ausbeutung fremder Arbeit, sondern blo&szlig; Existenzgrundlage der Arbeitenden selbst war, das wollte in das Hirn eines gro&szlig;en Gelehrten der englischen Bourgeoisie absolut nicht hinein. Diese fast r&uuml;hrende Beschr&auml;nktheit des geistigen Horizonts auf die vier Pf&auml;hle der kapitalistischen Wirtschaft bewies nur, da&szlig; die offizielle Wissenschaft der b&uuml;rgerlichen Aufkl&auml;rung ein unendlich geringeres Augenma&szlig; und kulturhistorisches Verst&auml;ndnis hat als fast zw
<B><P><A NAME="S606">|606|</A></B> Wie heute noch, hatte auch fr&uuml;her von allen Wissenschaften die b&uuml;rgerliche National&ouml;konomie als die geistige Schutzgarde der herrschenden Form der Ausbeutung am wenigsten Verst&auml;ndnis f&uuml;r andersgeartete Kultur und Wirtschaftsformen gehabt, und es war Wissenschaftszweigen vorbehalten, die etwas weiter vom direkten Interessengegensatz und Kampfplatz zwischen Kapital und Arbeit stehen, in den kommunistischen Einrichtungen der fr&uuml;heren Zeiten eine allgemein herrschende Form der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung auf einer bestimmten Stufe zu erkennen. Es waren Juristen wie von Maurer und Kowalewski, wie der englische Rechtsprofessor und Staatsrat f&uuml;r Indien, Sir Henry Maine, die zuerst den Agrarkommunismus als eine internationale, f&uuml;r alle Weltteile und Rassen geltende primitive Entwicklungsform zur Anerkennung brachten. Und einem juristisch ausgebildeten Soziologen, dem Amerikaner Morgan, war es vorbehalten, f&uuml;r diese wirtschaftliche Form der Entwicklung die n&ouml;tige soziale Struktur der primitiven Gesellschaft als Basis zu entdecken.</P>
<P>Die gro&szlig;e Rolle der Verwandtschaftsbande bei den uralten kommunistischen Dorfgemeinden war den Forschem sowohl in Indien wie in Algerien wie auch bei den Slawen aufgefallen. Von den Germanen stand es nach den Forschungen von Maurers fest, da&szlig; sie nicht anders denn als Geschlechter, also [als] Verwandtschaftsgruppen, ihre Ansiedlung in Europa vollzogen. Die Geschichte der antiken V&ouml;lker, der Griechen und R&ouml;mer, zeigte auf Schritt und Tritt, da&szlig; das Geschlecht bei ihnen seit jeher die gr&ouml;&szlig;te Rolle als soziale Gruppe spielte, als wirtschaftliche Einheit, als Rechtsinstitut, als geschlossener Kreis des religi&ouml;sen Kults. Endlich brachten fast alle Nachrichten der Reisenden in sogenannten wilden L&auml;ndern mit merkw&uuml;rdiger &Uuml;bereinstimmung die Tatsache zum Vorschein, da&szlig;, je primitiver ein Volk, um so gr&ouml;&szlig;er die Rolle der Verwandtschaftsbande im Leben dieses Volkes; um so mehr beherrschen sie seine wirtschaftlichen, sozialen und religi&ouml;sen Verh&auml;ltnisse und Vorstellungen.</P>
<P>Der wissenschaftlichen Forschung bot sich damit ein neues hochwichtiges Problem. Was waren eigentlich jene Geschlechtsverb&auml;nde, die in uralten Zeiten eine so gro&szlig;e Bedeutung hatten, wie hatten sie sich ausgebildet, in welchem Zusammenhang standen sie mit dem wirtschaftlichen Kommunismus und der wirtschaftlichen Entwicklung im allgemeinen? &Uuml;ber all diese Fragen hat zum erstenmal Morgan in seiner "Urgesellschaft" 1877 in epochemachender Weise Aufschlu&szlig; gegeben.<A NAME="ZF8"><A HREF="lu05_593.htm#F8">[8]</A></A> Morgan, der sein <A NAME="S607"><B>|607|</A></B> Leben zum gro&szlig;en Teil unter einem Indianerstamme der Irokesen im Staate New York verlebt und die Verh&auml;ltnisse dieses primitiven J&auml;gervolkes aufs gr&uuml;ndlichste erforscht hat, kam durch Vergleichung dieser seiner Ergebnisse mit den von anderen primitiven V&ouml;lkern bekannten Tatsachen zu einer neuen gro&szlig;angelegten Theorie &uuml;ber die Entwicklungsformen der menschlichen Gesellschaft in jenen enormen Zeitstrecken, die jeder geschichtlichen Kunde vorausgegangen sind. Die bahnbrechenden Ideen Morgans, die bis auf den heutigen Tag trotz einer F&uuml;lle neuen Materials, das seitdem hinzugetreten ist und manche Einzelheiten seiner Darlegungen korrigiert hat, volle Kraft bewahren, lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen.</P>
<P>1. Morgan hat als erster in die vorgeschichtliche Kulturgeschichte eine wissenschaftliche Ordnung gebracht, indem er in ihr sowohl bestimmte Entwicklungsstufen aufzeichnete wie auch die grundlegende, treibende Kraft dieser Entwicklung blo&szlig;legte. Bis dahin bildeten die enorme Zeitstrecke des Gesellschaftslebens vor jeder geschriebenen Geschichte und zugleich die Gesellschaftsverh&auml;ltnisse der jetzt noch lebenden primitiven V&ouml;lker mit all ihrer bunten F&uuml;lle von Formen und Stadien mehr oder minder ein w&uuml;stes Chaos, aus dem nur hie und da einzelne Kapitel und Fragmente etwas ans Licht der wissenschaftlichen Forschung gezogen worden waren. Namentlich galten die Bezeichnungen "Wildheit" und "Barbarei", mit denen man jene Zust&auml;nde summarisch zu belegen pflegte, nur als <I>negative </I>Begriffe, als Bezeichnungen f&uuml;r den Mangel alles dessen, was man als Kennzeichen der "Zivilisation", das hei&szlig;t in der damaligen Auffassung des gesitteten Lebens der Menschen, betrachtete. Von jenem Standpunkte begann n&auml;mlich das eigentliche gesittete, das menschenw&uuml;rdige Leben der Gesellschaft erst mit den Zust&auml;nden, die in der geschriebenen Geschichte aufgezeichnet sind. Alles, was zu "Wildheit" und "Barbarei" geh&ouml;rte, bildete gleichsam nur eine minderwertige, besch&auml;mende Vorstufe der Zivilisation, eine halb tierische Existenz, auf die die heutige Kulturmenschheit nur mit herablassender Geringsch&auml;tzung blicken kann. Genauso wie f&uuml;r die offiziellen Vertreter der christlichen Kirche alle primitiven und vorchristlichen Religionen lediglich eine lange Reihe von Verirrungen darstellen bei dem Suchen der Menschheit nach der einzigen wahren Religion, so waren namentlich f&uuml;r die National&ouml;konomen alle primitiven Wirtschaftsformen nur unbeholfene Versuche vor dem Auffinden der einzigen wahren Wirtschaftsform: des Privateigentums und der Ausbeutung, mit denen die geschriebene Geschichte und die Zivilisation beginnt. Morgan hat dieser Auffassung einen entscheidenden Sto&szlig; versetzt, indem er die <A NAME="S608"><B>|608|</A></B> gesamte primitive Kulturgeschichte als gleichwertigen, ja als unendlich wichtigeren Teil in der ununterbrochenen Entwicklungsreihe der Menschheit hingestellt hat, unendlich wichtiger sowohl wegen der unendlich l&auml;ngeren Zeitdauer, die sie im Vergleich mit dem winzigen Abschnitt der geschriebenen Geschichte einnimmt, als auch wegen der entscheidenden Errungenschaften der Kultur, die gerade in jener langen D&auml;mmerung des gesellschaftlichen Daseins der Menschheit gemacht worden sind. Indem Morgan zum erstenmal die Bezeichnungen Wildheit, Barbarei und Zivilisation mit positivem Inhalt gef&uuml;llt, hat er sie zu exakten wissenschaftlichen Begriffen gemacht und als Werkzeuge der wissenschaftlichen Forschung verwendet. Wildheit, Barbarei und Zivilisation sind bei Morgan drei Abschnitte der Kulturentwicklung, geschieden voneinander durch ganz bestimmte materielle Kennzeichen und selbst zerfallend in je eine Unter-, Mittel- und Oberstufe, zu deren Unterscheidung wieder konkrete bestimmte Errungenschaften und Fortschritte der Kultur dienen. M&ouml;gen heute pedantische Besserwisser dar&uuml;ber eifern, da&szlig; die Mittelstufe der Wildheit nicht, wie Morgan meinte, mit dem Fischfang, die Oberstufe mit der Erfindung des Bogens und Pfeils beginnen konnte und dergleichen, da in vielen F&auml;llen die Ordnung eine umgekehrte gewesen sei, in anderen ganze Stufen aus nat&uuml;rlichen Umst&auml;nden ausfallen mu&szlig;ten - Einw&auml;nde, die &uuml;brigens gegen jede historische Klassifikation gemacht werden k&ouml;nnen, wenn man sie als starres Schema von absoluter G&uuml;ltigkeit, als eiserne Sklavenkette der Erkenntnis statt als ihr lebendiges und biegsames Leitseil auffa&szlig;t. Es bleibt genau dasselbe epochemachende Verdienst Morgans, f&uuml;r die Erforschung der Urgeschichte durch seine erste wissenschaftliche Klassifikation die Vorbedingungen geschaffen zu haben, wie es Linn&eacute;s Verdienst ist, die erste wissenschaftliche Klassifikation
<P>2. Die zweite gro&szlig;e Leistung Morgans bezieht sich auf die Familienverh&auml;ltnisse der primitiven Gesellschaft. Auch hier hat er auf Grund eines umfangreichen Materials, das er sich durch eine internationale Umfrage verschafft hatte, die erste wissenschaftlich begr&uuml;ndete Reihenfolge der Entwicklungsformen der Familie von den tiefsten Formen einer ganz primitiven Gesellschaft bis zu der jetzt herrschenden Monogamie, das hei&szlig;t der festen staatlich beglaubigten Einzelehe mit der herrschenden Stellung des Mannes, aufgestellt. Freilich ist seither gleichfalls Material zutage gef&ouml;rdert worden, das an dem Morganschen Entwicklungsschema der Familie manche Korrektur im einzelnen angebracht hat. Die Grundz&uuml;ge seines Systems jedoch als der ersten streng vom Entwicklungsgedanken geleiteten Stufenleiter der Familienformen der Menschheit von der grauen Vorzeit bis zur Gegenwart bleiben ein dauernder Beitrag zur Schatzkammer der Gesellschaftswissenschaft. Auch dieses Gebiet hat Morgan &uuml;brigens nicht blo&szlig; um die Systematik bereichert, sondern auch um einen genialen grundlegenden Gedanken &uuml;ber das Verh&auml;ltnis zwischen den jeweiligen Familienverh&auml;ltnissen einer Gesellschaft und dem in ihr geltenden Verwandtschaftssystem. Morgan hat zuerst auf die frappante Tatsache aufmerksam gemacht, da&szlig; bei vielen primitiven V&ouml;lkern die wirklichen Geschlechts- und Abstammungsverh&auml;ltnisse, das hei&szlig;t die wirkliche Familie, gar nicht &uuml;bereinstimmt mit den Verwandtschaftstiteln, die sich die Menschen gegenseitig beilegen, und mit den gegenseitigen Pflichten, die ihnen aus diesen Titeln erwachsen. Er hat zuerst f&uuml;r dieses r&auml;tselhafte Ph&auml;nomen eine rein materialistisch-dialektische Erkl&auml;rung gefunden. "Die Familie", sagt Morgan, "ist ein aktives Element, sie ist niemals station&auml;r, sondern schreitet aus einer niederen zu einer h&ouml;heren Form vor, so wie die Gesellschaft von niederer zu h&ouml;herer Stufe sich entwickelt ... Die Verwandtschaftssysteme dagegen sind passiv; nur in langen Zwischenr&auml;umen registrieren sie die Fortschritte, welche die Familie im Laufe der Zeit gemacht hat, und erfahren nur dann eine radikale &Auml;nderung, wenn die Familie sich radikal ver&auml;ndert hat."<A NAME="ZF9"><A HREF="lu05_593.htm#F9">[9]</A></A></P>
<P>So kommt es denn, da&szlig; bei den primitiven V&ouml;lkern Verwandtschaftssysteme noch in Geltung sind, die einer fr&uuml;heren, bereits &uuml;berwundenen Familienform entsprechen, wie &uuml;berhaupt die Vorstellungen und Ideen der Menschen meist noch lange an Zust&auml;nden haftenbleiben, die bereits <A NAME="S610"><B>|610|</A></B> durch die tats&auml;chliche materielle Entwicklung der Gesellschaft &uuml;berholt sind.</P>
<P>3. Auf Grund der Entwicklungsgeschichte der Familienverh&auml;ltnisse gab Morgan die erste ersch&ouml;pfende Untersuchung jener alten Geschlechtsverb&auml;nde, die bei allen Kulturv&ouml;lkern, bei den Griechen und R&ouml;mern, bei Kelten und Germanen, bei den alten Israeliten, am Anfang der historischen &Uuml;berlieferung stehen und bei den meisten primitiven jetzt noch lebenden V&ouml;lkern festgestellt sind. Er wies nach, da&szlig; diese auf Blutsverwandtschaft und gemeinsamer Abstammung beruhenden Verb&auml;nde einerseits nur eine hohe Stufe in der Familienentwicklung, andererseits die Grundlage des gesamten gesellschaftlichen Lebens der V&ouml;lker sind - in den langen Zeitstrecken, als noch kein Staat im modernen Sinne, das hei&szlig;t keine politische Zwangsorganisation auf fester territorialer Grundlage existierte. Jeder Stamm, der selbst aus einer bestimmten Anzahl Geschlechtsverb&auml;nde oder, wie die R&ouml;mer es nannten, <I>Gentes </I>bestand, hatte sein eigenes Gebiet, das ihm insgesamt geh&ouml;rte, und in jedem Stamm war der Geschlechtsverband die Einheit, in der gemeinsamer Haushalt kommunistisch gef&uuml;hrt wurde, in der es keine Reichen und Armen, keine Faulenzer und Arbeiter, keine Herren und Knechte gab und wo s&auml;mtliche &ouml;ffentlichen Angelegenheiten durch die freie Wahl und Entscheidung aller geregelt waren. Als ein lebendiges Beispiel dieser ehemals von allen V&ouml;lkern der heutigen Zivilisation durchgemachten Verh&auml;ltnisse schilderte Morgan eingehend die Gentilorganisation der amerikanischen Indianer, wie sie zur Zeit der Eroberung Amerikas durch die Europ&auml;er in Bl&uuml;te stand.</P>
<P>"Alle ihre Mitglieder", sagte er, "sind freie Leute, verpflichtet, einer des anderen Freiheit zu sch&uuml;tzen; gleich in pers&ouml;nlichen Rechten - weder Friedensvorsteher noch Kriegsf&uuml;hrer beanspruchen irgendwelchen Vorrang; sie bilden eine Br&uuml;derschaft, verkn&uuml;pft durch Blutsbande. Freiheit, Gleichheit, Br&uuml;derlichkeit, obwohl nie formuliert, waren die Grundprinzipien der Gens, und diese war wiederum die Einheit eines ganzen gesellschaftlichen Systems, die Grundlage der organisierten indianischen Gesellschaft. Das erkl&auml;rt den unbeugsamen Unabh&auml;ngigkeitssinn und die pers&ouml;nliche W&uuml;rde des Auftretens, die jedermann bei den Indianern anerkenne."<A NAME="ZF10"><A HREF="lu05_593.htm#F10">[10]</A></A></P>
<B><P><A NAME="S611">|611|</A></B> 4. Die Gentilorganisation f&uuml;hrt die gesellschaftliche Entwicklung an die Schwelle der Zivilisation, die Morgan somit als diejenige kurze j&uuml;ngste Epoche der Kulturgeschichte charakterisiert, in der auf den Tr&uuml;mmern des Kommunismus und der alten Demokratie Privateigentum entsteht und mit ihm die Ausbeutung, eine &ouml;ffentliche Zwangsorganisation: der Staat und die ausschlie&szlig;liche Herrschaft des Mannes &uuml;ber die Frau im Staate, im Eigentumsrecht und in der Familie. In diese verh&auml;ltnism&auml;&szlig;ig kurze historische Periode fallen die gr&ouml;&szlig;ten und raschesten Fortschritte der Produktion, der Wissenschaft, der Kunst, aber auch die tiefste Zerkl&uuml;ftung der Gesellschaft durch Klassengegens&auml;tze, das gr&ouml;&szlig;te Elend der Volksmassen und ihre gr&ouml;&szlig;te Versklavung. Hier das eigene Urteil Morgans &uuml;ber unsere heutige Zivilisation, womit er die Ergebnisse seiner klassischen Untersuchung abschlie&szlig;t:</P>
<P>"Seit Eintritt der Zivilisation ist das Wachstum des Reichtums so ungeheuer geworden, seine Formen so verschiedenartig, seine Anwendung so umfassend und seine Verwaltung so geschickt im Interesse der Eigent&uuml;mer, da&szlig; dieser Reichtum, dem Volk gegen&uuml;ber, eine nicht zu bew&auml;ltigende Macht geworden ist. Der menschliche Geist steht ratlos und gebannt da vor seiner eigenen Sch&ouml;pfung. Aber dennoch wird die Zeit kommen, wo die menschliche Vernunft erstarken wird zur Herrschaft &uuml;ber den Reichtum, wo sie feststellen wird sowohl das Verh&auml;ltnis des Staates zu dem Eigentum, das er sch&uuml;tzt, wie die Grenzen der Rechte der Eigent&uuml;mer. Die Interessen der Gesellschaft gehen den Einzelinteressen absolut vor, und beide m&uuml;ssen in ein gerechtes und harmonisches Verh&auml;ltnis gebracht werden. Die blo&szlig;e Jagd nach Reichtum ist nicht die Endbestimmung der Menschheit, wenn anders der Fortschritt das Gesetz der Zukunft bleibt, wie er es war f&uuml;r die Vergangenheit. Die seit Anbruch der Zivilisation verflossene Zeit ist nur ein kleiner Bruchteil der verflossenen Lebenszeit der Menschheit, nur ein kleiner Bruchteil der ihr noch bevorstehenden. Die Aufl&ouml;sung der Gesellschaft steht drohend vor uns als Abschlu&szlig; einer geschichtlichen Laufbahn, deren einziges Endziel der Reichtum ist; denn eine solche Laufbahn enth&auml;lt die Elemente ihrer eigenen Vernichtung. Demokratie in der Verwaltung, Br&uuml;derlichkeit in der Gesell- <A NAME="S612"><B>|612|</A></B> schaft, Gleichheit der Rechte, allgemeine Erziehung werden die n&auml;chste h&ouml;here Stufe der Gesellschaft einweihen, auf die Erfahrung, Vernunft und Wissenschaft stetig hinarbeiten. Sie wird eine Wiederbelebung sein - aber in h&ouml;herer Form - der Freiheit, Gleichheit und Br&uuml;derlichkeit der alten Gentes."<A NAME="ZF11"><A HREF="lu05_593.htm#F11">[11]</A></A></P>
<P>Die Leistung Morgans war f&uuml;r die Erkenntnis der Wirtschaftsgeschichte von weittragender Bedeutung. Er hat die uralte kommunistische Wirtschaft, die bis dahin nur in lauter Einzelfallen entdeckt und nicht erkl&auml;rt war, als allgemeine Regel auf die breite Basis einer folgerichtigen Kulturentwicklung und namentlich der Gentilverfassung gestellt. Der Urkommunismus mit der ihm entsprechenden Demokratie und sozialen Gleichheit waren damit als die Wiege der gesellschaftlichen Entwicklung erwiesen. Durch diese Erweiterung der Horizonte der vorgeschichtlichen Vergangenheit hat er die ganze heutige Zivilisation mit Privateigentum, Klassenherrschaft, M&auml;nnerherrschaft, Zwangsstaat und Zwangsehe blo&szlig; als eine kurze vor&uuml;bergehende Phase hingestellt, die, ebenso wie sie selbst erst aus der Aufl&ouml;sung der uralten kommunistischen Gesellschaft entstanden war, in der Zukunft ihrerseits h&ouml;heren sozialen Formen Platz machen m&uuml;sse. Damit hat Morgan aber eine m&auml;chtige neue St&uuml;tze dem wissenschaftlichen Sozialismus geliehen. W&auml;hrend Marx und Engels auf dem Wege der &ouml;konomischen Analyse des Kapitalismus den unvermeidlichen historischen &Uuml;bergang der Gesellschaft zur kommunistischen Weltwirtschaft f&uuml;r die n&auml;chste Zukunft nachgewiesen und damit den sozialistischen Bestrebungen eine feste wissenschaftliche Basis gegeben hatten, hat Morgan gewisserma&szlig;en den ganzen gewaltigen Vorbau zu dem Marx-Engelsschen Werk geliefert, indem er nachwies, da&szlig; die kommunistisch-demokratische Gesellschaft, wenn auch in anderen, primitiveren Formen, die ganze lange Vergangenheit der menschlichen Kulturgeschichte vor der heutigen Zivilisation umfa&szlig;t. Den revolution&auml;ren Bestrebungen der Zukunft bot somit die adelige &Uuml;berlieferung der grauen Vergangenheit die Hand, der Kreis der Erkenntnis schlo&szlig; sich harmonisch zusammen, und aus dieser Perspektive erschien die heutige Welt der Klassenherrschaft und der Ausbeutung, die das all und einzige der Kultur, das h&ouml;chste Ziel der Weltgeschichte darzustellen vorgab, blo&szlig; als eine winzige vor&uuml;bergehende Etappe auf dem gro&szlig;en Kulturvormarsch der Menschheit.</P>
<P><HR></P>
<P>Fu&szlig;noten von Rosa Luxemburg</P>
<P><A NAME="N1">(1)</A> Angef&uuml;hrt bei [Heinrich] Cunow: [Dia Soziale Verfassung des Inkareichs, Eine Untersuchung des altperuaniachen Agrarkommunismus, Stuttgart 1896,] S. 6. <A HREF="lu05_593.htm#ZN1">&lt;=</A></P>
<P><HR></P>
<P>Redaktionelle Anmerkungen</P>
<P><A NAME="F1">[1]</A> Zit. nach: Maxim Kowalewski: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879, S. 81. <A HREF="lu05_593.htm#ZF1">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F2">[2]</A> Zit. nach: Maxim Kowalewski: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879, S. 78. <A HREF="lu05_593.htm#ZF2">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F3">[3]</A> Zit. nach: Maxim Kowalewski: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879, S. 78. <A HREF="lu05_593.htm#ZF3">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F4">[4]</A> Zit. nach: Maxim Kowalewski: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879, S. 81/82. <A HREF="lu05_593.htm#ZF4">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F5">[5]</A> Zit. nach: Maxim Kowalewski: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879, S. 158. <A HREF="lu05_593.htm#ZF5">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F6">[6]</A> Zit. nach: Maxim Kowalewski: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879, S. 158. <A HREF="lu05_593.htm#ZF6">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F7">[7]</A> Zit. nach: Maxim Kowalewski: Obstschinnoje semlewladenije, pritschiny, chod i podsledstwija jego rasloshenije, Teil 1, Moskau 1879, S. 159. <A HREF="lu05_593.htm#ZF7">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F8">[8]</A> Lewis H. Morgan: Die Urgesellschaft. Untersuchungen &uuml;ber den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation, Stuttgart 1908. <A HREF="lu05_593.htm#ZF8">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F9">[9]</A> Lewis H. Morgan: Die Urgesellschaft. Untersuchungen &uuml;ber den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation, Stuttgart 1908, S. 366. <A HREF="lu05_593.htm#ZF9">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F10">[10]</A> "Alle Mitglieder einer irokesischen Gens waren pers&ouml;nlich frei und verpflichtet, einer des anderen Freiheit zu sch&uuml;tzen; sie waren einander gleich in Befugnissen und pers&ouml;nlichen Rechten, denn weder Sachems noch H&auml;uptlinge beanspruchten irgendwelchen Vorrang, und sie waren eine durch Blutbande verkn&uuml;pfte Br&uuml;derschaft. Freiheit, Gleichheit und Br&uuml;derlichkeit, obwohl nie formuliert, waren die Grundprinzipien des Gene. Diese Tatsachen sind wesentlich, weil die Gens die Einheit eines ganzen gesellschaftlichen Systems war, die Grundlage, auf welcher die Indianergesellschaft organisiert war. Ein aus solchen Einheiten zusammengef&uuml;gter Bau mu&szlig;te notwendig die Merkmale ihres Charakters zeigen, denn wie die Einheiten, so das aus ihnen zusammengesetzte Ganze. Dies erkl&auml;rt hinl&auml;nglich den Unabh&auml;ngigkeitssinn und die pers&ouml;nliche W&uuml;rde des Auftretens, die allgemein als Attribute des Indianercharakters anerkannt sind." (Lewis H. Morgan: Die Urgesellschaft. Untersuchungen &uuml;ber den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation, Stuttgart 1908, S. 73.) <A HREF="lu05_593.htm#ZF10">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="F11">[11]</A> Lewis H. Morgan: Die Urgesellschaft. Untersuchungen &uuml;ber den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation, Stuttgart 1908, S. 474/475. <A HREF="lu05_593.htm#ZF11">&lt;=</A></P>
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</HTML>