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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<HEAD>
<TITLE>John Reed: 10 Tage die die Welt ersch&uuml;tterten</TITLE>
</HEAD>
<BODY bgcolor="#FFFFFF">
<H3>
<I></I>I. HINTERGRUND
</H3>
<P>
<P>
Gegen Ende September 1917 besuchte mich ein ausl&auml;ndischer Professor
der Soziologie in Petrograd. Ihm war von M&auml;nnern der Wirtschaft und
von Intellektuellen erz&auml;hlt worden, da&szlig; die Revolution im Abebben
sei. Der Herr Professor schrieb dar&uuml;ber einen Artikel und durchreiste
dann das Land; er besuchte Fabrikst&auml;dte und Dorfgemeinden, wo zu seinem
gro&szlig;en Erstaunen die Revolution ihren Schritt eher zu beschleunigen
schien. Unter den Lohnarbeitern und der werkt&auml;tigen Landbev&ouml;lkerung
ert&ouml;nte immer &ouml;fter der Ruf: &AElig;Alles Land den Bauern!" &AElig;Alle
Fabriken den Arbeitern!" Wenn der Herr Professor die Front besucht h&auml;tte,
so h&auml;tte erh&ouml;ren k&ouml;nnen, wie in der ganzen Armee von nichts
als dem Frieden die Rede war...Der Herr Professor war verwirrt; ohne Grund;
beide Beobachtungen waren richtig. Die besitzenden Klassen wurden konservativer,
die Volksmassen radikaler.
<P>
In den Reihen der Gesch&auml;ftswelt und in der Intelligenz herrschte allgemein
das Gef&uuml;hl, da&szlig; die Revolution weit genug gegangen sei und schon
zu lange w&auml;hre; da&szlig; es an der Zeit sei, Ruhe zu schaffen. Dieser
Auffassung waren auch die herrschenden &AElig;gem&auml;&szlig;igten"
sozialistischen Gruppen, die Menschewiki- &AElig;Oboronzy" und
Sozialrevolution&auml;re, die die Provisorische Kerenskiregierung
unterst&uuml;tzten. Am14. Oktober erkl&auml;rte das offizielle Organ der
&AElig;gem&auml;&szlig;igten" Sozialisten:
<P>
&AElig;Das Drama der Revolution hat zwei Akte: Die Zerst&ouml;rung der alten
Ordnung und die Schaffung der neuen. Der erste Akt hat lange genug gedauert.
Jetzt ist es an der Zeit, den zweiten zu beginnen und ihn so schnell als
m&ouml;glich zu Ende zu f&uuml;hren. Von einem gro&szlig;en Revolution&auml;r
stammt das Wort: &AElig;Eilen wir uns Freunde, die Revolution zu beenden.
Wer sie zu lange w&auml;hren l&auml;&szlig;t, l&auml;uft Gefahr, um ihre
Fr&uuml;chte zu kommen"...."
<P>
Die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernmassen waren dagegen der festen
&Uuml;berzeugung, Da&szlig; der &AElig;erste Akt" noch lange nicht zu Ende
gespielt war. An der Front stie&szlig;en &uuml;berall Armeekomitees mit den
Offizieren zusammen, die sich noch immer nicht gew&ouml;hnen konnten, die
Soldaten als Menschen zu behandeln; im Hinterland wurden die von den Bauern
gew&auml;hlten Bodenkomitees eingesperrt, wo sie sich unterfingen, die von
der Regierung angeordneten Bestimmungen &uuml;ber den Grund und Boden
durchzuf&uuml;hren; und die Arbeiter in der Fabriken mu&szlig;ten einen schweren
Kampf gegen schwarze Listen und Aussperrungen f&uuml;hren. Die
zur&uuml;ckkehrenden politischen Verbannten wurden als &AElig;unerw&uuml;nschte
B&uuml;rger" nicht ins Land hineingelassen, und in manchen F&auml;llen wurden
Menschen, die aus dem Auslande in ihre D&ouml;rfer zur&uuml;ckkehrten, wegen
der im Jahre1905 begangenen politischen Handlungen verfolgt und eingekerkert.
Auf die mannigfaltige Unzufriedenheit des Volkes hatten die
&AElig;gem&auml;&szlig;igten" Sozialisten nur eine Antwort: Die Konstituierende
Versammlung abzuwarten, die im Dezember zusammentreten sollte. Aber die Massen
waren damit nicht zufrieden. Die Konstituierende Versammlung war gut und
sch&ouml;n, doch es gab gewisse klar umrissene Dinge, um derentwillen die
russische Revolution gemacht worden war, f&uuml;r die die revolution&auml;ren
M&auml;rtyrer, die in den Massengr&auml;bern des Marsfeldes lagen, ihr Blut
vergossen hatten; diese galt es zu verwirklichen, mit oder ohne Konstituierende
Versammlung: Frieden, Land, Kontrolle der Arbeiter &uuml;ber die Industrie.
Die Konstituierende Vesammlung war bisher immer wieder vertagt worden - und
w&uuml;rde wahrscheinlich noch einmal vertagt werden, so lange vielleicht,
bis das Volk ruhig genug geworden war, um auf einen Teil seiner Forderungen
zu verzichten. Acht Monate Revolution waren bereits ins Land gegangen, und
wenig genug zu sehen.....Inzwischen begannen die Soldaten, die Friedensfrage
auf eigene Faust zu l&ouml;sen, indem sie einfach desertierten; die Bauern
brannten die Gutsh&auml;user nieder und setzten sich in den Besitz der
gro&szlig;en G&uuml;ter; die Arbeiter streikten....Die Fabrikanten, Gutsbesitzer
und Offiziere der Armee setzten ihren ganzen Einflu&szlig; ein, um jedes
demokratische Zugest&auml;ndnis zu verhindern.... Die Politik der Provisorischen
Regierung schwankte zwischen wertlosen Reformen und brutaler Unterdr&uuml;ckung.
Ein Befehl des sozialistischen Arbeitsministers ordnete an, da&szlig; die
Arbeiterkomitees fortan nur nach Feierabend zusammentreten d&uuml;rften.
Bei den Truppen an der Front wurden die &AElig;Agitatoren" der oppositionellen
politischen Parteien verhaftet, die radikalen Zeitungen verboten und die
Todesstrafe gegen revolution&auml;re Propagandisten angewandt. Versuche wurden
unternommen, die Roten Garden zu entwaffnen. Kosaken wurden in die Provinzen
geschickt, damit sie dort die Ordnung wiederherstellten.....
<P>
Diese Ma&szlig;nahmen wurden von den &AElig;gem&auml;&szlig;igten" Sozialisten
und ihren F&uuml;hrern im Ministerium, die die Zusammenarbeit mit den besitzenden
Klassen f&uuml;r notwendig hielten, gutgehei&szlig;en. Die Volksmassen wandten
sich in schnellem Tempo von ihnen ab und gingen zu den Bolschewiki &uuml;ber,
die f&uuml;r Frieden, Land f&uuml;r die Kontrolle der Arbeiter &uuml;ber
die Industrie und f&uuml;r eine Regierung der Arbeiterklasse waren. Im September
1917 spitzten sich die Dinge zur Krise zu. Gegen den &uuml;berw&auml;ltigenden
Willen des Landes gelang es Kernski und den &AElig;gem&auml;&szlig;igten"
Sozialisten, eine Koalitionsregierung mit den besitzenden Klassen zu errichten;
das Resultat war, da&szlig; die Menschewiki und Sozialrevolution&auml;re
das Vertrauen des Volkes endg&uuml;ltig verloren. Ein Artikel im &AElig;Rabotschi
Put" (Der Arbeiterweg) um die Mitte des Oktobers unter dem Titel &AElig;Die
sozialistischen Minister" brachte die Meinung der Volksmassen wie folgt zum
Ausdruck:
<P>
&AElig;Hier eine Liste ihrer Leistungen:
<P>
<I>Zereteli:</I> entwaffnete die Arbeiter mit Hilfe des Generals Polowzew,
brachte den revolution&auml;ren Soldaten eine Niederlage bei und stimmte
der Todesstrafe in der Armee zu.
<P>
<I>Skobelew: </I>begann mit dem Versprechen, eine hundertprozentige Steuer
auf die Profite der Kapitalisten zu legen, und endete - und endete mit dem
Versuch, die Arbeiterkomitees in den Werkst&auml;tten und Fabriken
aufzul&ouml;sen.
<P>
<I>Awxentjew:</I> warf einige Hundert Bauern ins Gef&auml;ngnis, die Mitglieder
der Bodenkomitees, und unterdr&uuml;ckte Dutzende von Arbeiter- und
Soldatenzeitungen.
<P>
<I>Tschernow: </I>unterzeichnete das Kaiserliche Manifest, das die
Aufl&ouml;sung des finnischen Landtages anordnete.
<P>
<I>Sawinkow: </I>schlo&szlig; ein offenes B&uuml;ndnis mit dem General Kornilow.
Wenn es diesem Retter des Landes nicht gelang, Petrograd zu verraten, so
ist das auf Gr&uuml;nde zur&uuml;ckzuf&uuml;hren, die seinem Einflu&szlig;
nicht unterlagen.
<P>
<I>Sarudny: </I> kerkerte mit Zustimmung Alexinskis und Kerenskis Tausende
revolution&auml;re Arbeiter, Soldaten und Matrosen ein.
<P>
<I>Nikitin: </I>handelte als ordin&auml;rer Polizist gegen die
Eisenbahner.<I></I>
<P>
<I>Kerenski: </I>&uuml;ber den sagt man am besten gar nichts. Die Liste seiner
Leistungen w&uuml;rde zu lang werden....."
<P>
Ein Delegiertenkongress der Baltischen Flotte in Helsingfors beschlo&szlig;
eine Resolution, die wie folgt begann:
<P>
&AElig;Wir fordern die sofortige Entfernung des ,Sozialisten` und politischen
Abenteurers Kerenski aus der Provisorischen Regierung, der die gro&szlig;e
Revolution und mit ihr die revolution&auml;ren Massen durch seine schamlosen
politischen Erpressungen im Interesse der Bourgeoisie zugrunde richtet..."
<P>
Das unmittelbare Ergebnis alles dessen war der Aufstieg der Bolschewiki.....
<P>
Seit dem M&auml;rz 1917, als der Ansturm der Arbeiter und Soldaten auf den
Taurischen Palast die widerstrebende Reichsduma zwang, die Macht in Ru&szlig;land
zu &uuml;bernehmen, waren es die Massen des Volkes, die Arbeiter, Soldaten
und Bauern, die jeden Wechsel im Fortgang der Revolution erzwangen. Sie
st&uuml;rzten das Ministerium Miljukows; ihr Sowjet war es, der der Welt
die russischen Friedensvorschl&auml;ge verk&uuml;ndete: &AElig;Keine Annexionen,
keine Entsch&auml;digungen, Selbstbestimmungsrecht der V&ouml;lker!" und
wieder, im Juli, war es die spontane Erhebung des unorganisierten Proletariats,
das zum zweiten Male den Taurischen Palast st&uuml;rmte und die Forderung
erhob: &Uuml;bernahme der Regierungsgewalt in Ru&szlig;land durch die Sowjets.
Die Bolschewiki, zu der Zeit eine kleine politische Sekte, stellten sich
an die Spitze der Bewegung. Das Ergebnis des v&ouml;lligen Mi&szlig;erfolgs
der Erhebung war, da&szlig; sich die &ouml;ffentliche Meinung gegen sie kehrte.
Ihre f&uuml;hrerlosen Massen fluteten in das Wiborgviertel zur&uuml;ck, das
Saint Antoine von Petrograd. Dann folgte eine wilde Bolschewistenhetze: Hunderte
wurden eingekerkert, darunter Trotzki, Frau Kollontai und Kamenew; Lenin
und Sinojew mu&szlig;ten sich verbergen, gehetzt von der Justiz; die
bolschewistischen Zeitungen wurden unterdr&uuml;ckt. Provokateure und
Reaktion&auml;re wurden nicht m&uuml;de, die Bolschewiki als deutsche Agenten
zu bezeichnen, bis sich in der ganzen Welt Leute fanden, die das glaubten.
Aber die Provisorische Regierung konnte ihre Anklagen nicht beweisen; die
Dokumente, die die prodeutsche Verschw&ouml;rert&auml;tigkeit der Bolschewiki
beweisen sollten, wurden als F&auml;lschungen enth&uuml;llt. Und die Bolschewiki
wurden, einer nach dem anderen, aus den Gef&auml;ngnissen entlassen, ohne
jeden Proze&szlig;, gegen nominelle oder ohne jede B&uuml;rgschaft, bis nur
sechs Verhaftete &uuml;brigblieben. Die Machtlosigkeit und Unentschlossenheit
der st&auml;ndig wechselnden Provisorischen Regierung war allein schon ein
unwiderlegbares Argument. Die Bolschewiki stellten erneut die den Massen
so wertvolle Losung auf: &AElig;Alle Macht den Sowjets!", und sie taten das
nicht aus Selbstsucht; zu der Zeit geh&ouml;rte die Mehrheit in den Sowjets
den &AElig;gem&auml;&szlig;igten" Sozialisten, ihren w&uuml;tendsten Gegnern.
Doch mehr noch; sie &uuml;bernahmen die elementaren, einfachen w&uuml;nsche
der Arbeiter, Soldaten und Bauern und schufen daraus ihr Aktionsprogramm.
Und w&auml;hrend die sozialpatriotischen Menschewiki und
Sozialrevolution&auml;re sich in der Politik des Kompromisses mit der Bourgeoisie
verwirrten, eroberten die Bolschewiki schnell die russischen Massen. Im Juli
waren sie noch gehetzt und verachtet, im September waren die Arbeiter der
Hauptstadt, die Matrosen der Baltischen Flotte und die Soldaten bereits fast
ganz auf ihrer Seite. Die Kommunalwahlen, die im September in den gro&szlig;en
St&auml;dten stattfanden, waren daf&uuml;r bezeichnend; nur acht Prozent
der Gew&auml;hlten waren Menschewiki und Sozialrevolution&auml;re gegen&uuml;ber
mehr als siebzig Prozent im Juni...Es bleibt ein Umstand, der geeignet ist,
den nichtrussischen Beobachter zu verwirren: das Zentralexekutivkomitee der
Sowjets, die zentralen Armee- und Flottenkomitees und die Zentralkomitees
einiger Gewerkschaften, vor allem die der Post - und Telegrafenarbeiter und
der Eisenbahner, waren den Bolschewiki entschieden feindlich. Alle diese
Zentralkomitees waren in der Mitte des Sommers oder sogar vorher gew&auml;hlt
worden, als die Menschewiki und Sozialrevolution&auml;re noch eine ungeheure
Anh&auml;ngerschaft hatten; jetzt schoben sie Neuwahlen immer wieder hinaus
oder verhinderten sie sogar. So h&auml;tte beispielsweise den Bestimmungen
der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten gem&auml;&szlig; der
Gesamtrussische Sowjetkongre&szlig; zum September einberufen werden m&uuml;ssen;
doch das Zentralexekutivkomitee wollte ihn nicht zusammentreten lassen unter
dem Vorwand, da&szlig; die Konstituierende Versammlung in sp&auml;testens
zwei Monaten tagen w&uuml;rde, womit, so deuteten sie an, die Aufgabe der
Sowjets erledigt w&auml;re und sie abzutreten h&auml;tten. Mittlerweile eroberten
die Bolschewiki im ganzen Lande einen nach dem anderen die &ouml;rtlichen
Sowjets, die lokalen Gewerkschaftsorganisationen und die unteren Soldaten-
und Matrosenmassen. Die Bauernsowjets blieben noch konservativ, weil in den
r&uuml;ckst&auml;ndigen l&auml;ndlichen Gebieten das politische Bewu&szlig;tsein
sich nur langsam entwickelte; au&szlig;erdem hatte seit einer ganzen Generation
die Agitation in den H&auml;nden der Sozialrevolution&auml;re gelegen......Doch
selbst unter den Bauern begann sich ein revolution&auml;rer Fl&uuml;gel zu
bilden. Das zeigte sich klar im Oktober, als sich der linke Fl&uuml;gel der
Sozialrevolution&auml;re abspaltete und eine neue politische Partei bildete,
die Partei der linken Sozialrevolution&auml;re. Gleichzeitig waren allenthalben
Anzeichen vorhanden, da&szlig; die Reaktion wieder Selbstvertrauen gewann.
In der Troizki- Kom&ouml;die in Petrograd wurde beispielsweise eine Burleske
mit dem Titel &AElig;Die S&uuml;nden des Zaren" von einer Monarchistengruppe
gest&ouml;rt, die die Schauspieler zu lynchen drohte, weil sie &AElig;den
Zaren beleidigt" hatten. Gewisse Zeitungen begannen nach einem &AElig;russischen
Napoleon" zu rufen. Es war damals bei der b&uuml;rgerlichen Intelligenz
&uuml;blich, die Arbeiterdeputierten als &AElig;Hundedeputierte" zu bezeichnen.
Am 15. Oktober hatte ich eine Unterhaltung mit einem russischen
Gro&szlig;kapitalisten, Stepan Georgijewitsch Lianosow, bekannt als der
&AElig;russische Rockefeller", seiner politischen Parteizugeh&ouml;rigkeit
nach ein Kadett. &AElig;Die Revolution", sagte dieser, &AElig;ist eine Krankheit.
Fr&uuml;her oder sp&auml;ter werden die fremden M&auml;chte eingreifen
m&uuml;ssen, gerade so, wie man eingreifen mu&szlig;, um ein krankes Kind
zu heilen oder es laufen zu lehren. Nat&uuml;rlich wird das mehr oder weniger
unangenehm sein, aber die Nationen m&uuml;ssen sich klarwerden &uuml;ber
die Gefahr des Bolschewismus in ihren eigenen L&auml;ndern, &uuml;ber die
Gef&auml;hrlichkeit so ansteckender Ideen wie die der proletarischen Diktatur
und der sozialen Weltrevolution...es besteht <I>eine </I>M&ouml;glichkeit
da&szlig; das Eingreifen nicht notwendig ist: das Transportwesen ist
zerst&ouml;rt, die Fabriken schlie&szlig;en ihre Tore, die Deutschen sind
im Vormarsch. Der Hunger und die Niederlage m&ouml;chten vielleicht das russische
Volk zur Vernunft bringen....."
<P>
Herr Lianosow erkl&auml;rte entschieden, da&szlig; sich die Kaufleute und
Fabrikanten unter keinen Umst&auml;nden mit der Existenz der Fabrikkomitees
abfinden oder zugeben k&ouml;nnten, da&szlig; die Arbeiter irgendeinen
Einflu&szlig; auf die Leitung der Industrie gewinnen. &AElig;Was die Bolschewiki
anbelangt, so k&ouml;nnte man mit ihnen auf zweierlei Art fertig werden:
die Regierung kann Petrograd r&auml;umen, dann den Belagerungszustand
erkl&auml;ren, womit der Milit&auml;rkommandant des Gebietes die
M&ouml;glichkeit erhalten w&uuml;rde, mit diesen Herrschaften, ungehindert
durch gesetzliche Formalit&auml;ten, abzurechnen.....<I>Oder aber, falls
die Konstituierende Versammlung irgendwelche utopischen Neigungen zeigen
sollte, kann sie mit Waffengewalt auseinandergetrieben werden......."</I>
<P>
Der Winter r&uuml;ckte heran - der schreckliche russische Winter. Ich h&ouml;rte
Kapitalisten &uuml;ber ihn wie folgt sprechen:"Der Winter war immer
Ru&szlig;lands bester Freund. Vielleicht wird er uns jetzt von der Revolution
befreien." An der frierenden Front fuhren die Armeen fort, zu hungern und
zu sterben, ohne Begeisterung. Der Eisenbahnverkehr brach zusammen, die
Lebensmittel wurden knapp, die Fabriken schlossen die Tore. Die verzweifelten
Massen beschuldigten die Bourgeoisie, das Leben des Volkes zu sabotieren
und die Niederlage an der Front herbeizuf&uuml;hren. Riga war preisgegeben
worden, unmittelbar nachdem der General Kornilow in aller &Ouml;ffentlichkeit
erkl&auml;rt hatte: &AElig;Vielleicht ist Riga der Preis, den wir zahlen
m&uuml;ssen, um das Land zum Bewu&szlig;tsein seiner Pflicht zu bringen."
F&uuml;r Amerikaner mag es unglaublich klingen, da&szlig; der Klassenkampf
sich derma&szlig;en zuspitzen kann. Aber ich habe pers&ouml;nlich an der
Nordfront mit Offizieren gesprochen, die offen den milit&auml;rischen
Zusammenbruch der Zusammenarbeit mit den Soldatenkomitees vorzogen. Der
Sekret&auml;r der Petrograder Organisation der Kadettenpartei erz&auml;hlte
mir, da&szlig; der Zusammenbruch des &ouml;konomischen Lebens des Landes
ein Teil der Kampagne war, die die Revolution diskreditieren sollte. Ein
Ententediplomat, dessen Namen ich zu verschweigen versprochen habe,
best&auml;tigte mir dies aus eigener Kenntnis. Ich wei&szlig; von gewissen
Kohlenbergwerken in der N&auml;he von Charkow, die von ihren Besitzern in
Brand gesteckt und unter Wasser gesetzt wurden, von Textilfabriken in Moskau,
deren Ingenieure die Maschinen vor ihrer Flucht zerst&ouml;rt hatten, von
hohen Eisenbahnbeamten, die von den Arbeitern dabei ertappt wurden, als sie
die Lokomotiven zu zerst&ouml;ren im Begriff waren.....Ein gro&szlig;er Teil
der besitzenden Klasse zog die Deutschen der Revolution vor - selbst der
Provisorischen Regierung - und z&ouml;gerte nicht, dies auszusprechen. In
der russischen Familie, bei der ich wohnte, war der Gegenstand der Unterhaltung
bei Tisch fast immer das Kommen der Deutschen, die &AElig;Ruhe und Ordnung"
bringen w&uuml;rden....Ich verlebte einmal einen Abend im Hause eines Moskauer
Kaufmanns; beim Tee fragten wir die elf Personen am Tisch, wen sie
vorz&ouml;gen, &AElig;Wilhelm oder die Bolschewiki". Zehn stimmten f&uuml;r
Wilhelm..... Die Spekulanten n&uuml;tzten die allgemeine Desorganisierung
aus, um Reicht&uuml;mer anzuh&auml;ufen, die sie in phantastischen Schwelgereien
vergeudeten oder dazu verwendeten, die Staatsbeamten zu bestechen. Lebensmittel
und Brennmaterial wurden versteckt oder im geheimen nach Schweden verkauft.
In den ersten vier Monaten der Revolution beispielsweise wurden die
Lebensmittelreserven fast in voller &Ouml;ffentlichkeit aus den gro&szlig;en
st&auml;dtischen Speichern Petrograds gepl&uuml;ndert, bis von den
Getreidevorr&auml;ten, die f&uuml;r zwei Jahre bestimmt waren, kaum genug
&uuml;brig war, um die Stadt einen Monat lang zu versorgen..... Nach dem
offiziellen Bericht des letzten Ern&auml;hrungsministers in der Provisorischen
Regierung wurde der Kaffee in Wladiwostok im Gro&szlig;einkauf f&uuml;r zwei
Rubel das Pfund gekauft, w&auml;hrend die Konsumenten in Petrograd dreizehn
Rubel zahlen mu&szlig;ten. In den Gesch&auml;ften der gro&szlig;en St&auml;dte
waren gro&szlig;e Mengen an Lebensmitteln und Kleidung; aber nur die Reichen
konnten sie kaufen. Ich kannte in einer Provinzstadt eine Kaufmannsfamilie,
die sich der Spekulation zugewandt hatte. Marodeure werden solche von den
Russen genannt. Die drei S&ouml;hne hatten sich vom Milit&auml;rdienst
gedr&uuml;ckt. Der eine spekulierte in Lebensmitteln. Der zweite verkaufte
im geheimen Gold aus den Lena- Gruben an geheimnisvolle Interessenten in
Finnland. Der dritte besa&szlig; die Aktienmehrheit in einer Schokoladenfabrik,
die die &ouml;rtliche Genossenschaften versorgte - unter der Bedingung, da&szlig;
die Genossenschaften ihm lieferten, was er brauchte . W&auml;hrend die
Volksmassen auf ihre Brotkarten ein Viertelpfund Schwarzbrot erhielten, hatte
er im &Uuml;berflu&szlig; Wei&szlig;brot, Zucker, Tee, Kuchen und Butter....Das
hinderte diese saubere Familie nicht, die ersch&ouml;pften Soldaten, die
an der Front infolge der K&auml;lte und des Hungers nicht mehr k&auml;mpfen
konnten , als &AElig;Feiglinge" zu beschimpfen, und da&szlig; sie sich
&AElig;sch&auml;mten" &AElig;Russen" zu sein.....Und als die Bolschewiki
gro&szlig;e Mengen versteckter Vorr&auml;te entdeckten und beschlagnahmten,
bezeichneten sie diese als &AElig;R&auml;uber".Unter all dieser
&auml;u&szlig;eren Korruptheit arbeiteten die alten reaktion&auml;ren
Kr&auml;fte, die sich seit dem Sturz Nikolaus`II. Nicht ge&auml;ndert hatten,
im geheimen still und sehr aktiv. Die Agenten der ber&uuml;chtigten Ochrana
waren noch immer in Funktion, f&uuml;r und gegen den Zaren, f&uuml;r und
gegen Kerenski - je nachdem, von wem sie bezahlt wurden......Geheime
Organisationen aller Art, wie die Schwarzhunderter, waren eifrig bem&uuml;ht,
in der einen oder anderen Weise die Reaktion wiederherzustellen. In dieser
Atmosph&auml;re der F&auml;ulnis, der halben Wahrheiten lie&szlig; sich,
tagaus, tagein, nur ein klarer Ton vernehmen, der Ruf der Bolschewiki:
&AElig;Alle Macht den Sowjets!", &AElig;Alle Macht den Vertretern der Millionen
und aber Millionen Arbeiter, Soldaten und Bauern!", &AElig;Land, Brot!",
&AElig;Schlu&szlig; mit dem sinnlosen Krieg!", &AElig;Schlu&szlig; mit der
Geheimdiplomatie!", &AElig;Schlu&szlig; mit der Spekulation und dem
Verrat!"...."Die Revolution ist in Gefahr und mit ihr die Sache des Volkes
in der ganzen Welt!"
<P>
Der Kampf zwischen dem Proletariat und dem B&uuml;rgertum, zwischen den Sowjets
und der Regierung, der in den ersten M&auml;rztagen begonnen hatte, war seinem
Gipfel nahe. Ru&szlig;land, das mit einem Satze aus dem tiefsten Mittelalter
ins zwanzigste Jahrhundert gesprungen war, bot der erstaunten Welt das Schauspiel
des t&ouml;dlichen Kampfes zweier Systeme der Revolution - der formal politischen
und der sozialen. Was f&uuml;r eine unglaubliche Lebenskraft offenbarte diese
russische Revolution, nach all den Monaten des Hungers und der
Entt&auml;uschung! Die Bourgeoisie h&auml;tte ihr Ru&szlig;land besser kennen
sollen. Lange noch wird es dauern, bis die &AElig;Krankheit" der Revolution
in Ru&szlig;land ihren Lauf genommen hat.....
<P>
Blickt man zur&uuml;ck, so scheint Ru&szlig;land vor dem Novemberaufstand
einem anderen Zeitalter anzugeh&ouml;ren, fast unglaublich konservativ. So
schnell haben wir uns dem neuen, schnelleren Leben angepa&szlig;t. In dem
Ma&szlig;e, wie das russische politische Leben sich radikalisierte, bis die
Kadetten als Volksfeinde ge&auml;chtet wurden, wurde Kerenski &AElig;ein
Konterrevolution&auml;r"; die &AElig;gem&auml;&szlig;igten" sozialistischen
F&uuml;hrer, Zereteli, Dan, Liber, Goz und Awxentjew, waren zu reaktion&auml;r
f&uuml;r ihre Gefolgschaft, und M&auml;nner wie Wiktor Tschernow, ja sogar
Maxim Gorki geh&ouml;rten zum rechten Fl&uuml;gel.... Gegen Mitte Dezember
1917 besuchte eine gruppe sozialrevolution&auml;re F&uuml;hrer privatim Sir
George Buchanan, den britischen Gesandten, und sie baten ihn inst&auml;ndig,
nichts davon zu erw&auml;hnen, da&szlig; sie bei ihm gewesen waren, weil
sie als &AElig;zu weit rechts stehend" betrachtet wurden. &AElig;Man bedenke",
sagte Buchanan, &AElig;da&szlig; noch vor einem Jahr die englische Regierung
mir Anweisung gab, Miljukow nicht zu empfangen, weil er so ein gef&auml;hrlicher
Linker war."
<P>
Der September und der Oktober sin die schlimmsten Monate im russischen Jahr,
besonders in Petrograd. Aus einem trostlos grauen Himmel, der die k&uuml;rzer
werdenden Tage noch dunkler machte, str&ouml;mte unaufh&ouml;rlicher Regen.
Der Schmutz in den Stra&szlig;en lag tief, schl&uuml;pfrig, von schweren
Stiefeln zerfurcht, schlimmer als gew&ouml;hnlich, weil die Stadtverwaltung
v&ouml;llig zusammengebrochen war. Vom finnischen Meerbusen her fegte ein
feuchter wind, die Stra&szlig;en waren in kalten Nebel geh&uuml;llt. Des
Nachts waren aus Gr&uuml;nden der Sparsamkeit und aus Furcht vor Zeppelinen
die Stra&szlig;en nur ganz unzureichend beleuchtet; in den Privatwohnungen
und Mietsh&auml;usern brannte das elektrische Licht von sechs Uhr bis
Mitternacht. Wollte man au&szlig;er dieser Zeit Licht haben, so war man auf
Kerzen angewiesen, die fast zwei Rubel das St&uuml;ck kosteten. Petroleum
war kaum zu haben. Dabei war es von drei Uhr nachmittags bis zehn Uhr vormittags
finster. &Uuml;berf&auml;lle und Einbr&uuml;che nahmen zu. In den
Mietsh&auml;usern mu&szlig;ten die M&auml;nner jede Nacht mit geladenen Gewehren
Wachdienst verrichten. Dies alles schon unter der Provisorischen Regierung.
Mit jeder Woche wurden die Lebensmittel knapper. Die t&auml;gliche Brotration
fiel von anderthalb russischen Pfund auf ein Pfund, dann auf drei viertel,
auf ein halbes und auf ein viertel. Gegen Ende gab es eine Woche, wo Brot
&uuml;berhaupt nicht ausgegeben wurde. Auf Zucker hatte man Anrecht von zwei
Pfund im Monat, vorausgesetzt, da&szlig; man &uuml;berhaupt welchen erhielt,
was selten der fall war. Eine Schokoladentafel oder ein Pfund Bonbons, ohne
jeden Geschmack, kostete allenthalben sieben bis zehn Rubel, das entspricht
mindestens einem Dollar. Milch gab es f&uuml;r die H&auml;lfte der
S&auml;uglinge in der Stadt; die Mehrzahl der Hotels und Privathaushaltungen
bekam sie monatelang nicht zu Gesicht. In der Obstsaison wurden &Auml;pfel
und Birnen f&uuml;r etwas weniger als einen Rubel das St&uuml;ck an den
Stra&szlig;enecken verkauft....Um Milch, Brot, Zucker und Tabak mu&szlig;te
man stundenlang im kalten Regen anstehen. Als ich einmal aus einer die ganze
Nacht w&auml;hrenden Versammlung nach Hause kam, sah ich, wie die Menschen,
meist Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm, sich bereits vor Morgengrauen
anzustellen begannen....Carlyle hat in seiner Geschichte der Franz&ouml;sischen
Revolution das franz&ouml;sische Volk als das Volk bezeichnet, das in der
Kunst des Anstehens alle anderen V&ouml;lker &uuml;bertreffe. Ru&szlig;land
hatte schon im Jahre 1915, unter der gesegneten Regierung Nikolaus`, Gelegenheit,
sich in dieser Kunst zu &uuml;ben, und dann, ohne Unterbrechung, bis zum
Sommer 1917, wo das Anstehen um alle Dinge der gew&ouml;hnliche Zustand wurde.
Man mu&szlig; sich die &auml;rmlich gekleideten Menschen vorstellen, wie
sie mitten im russischen Winter oft den ganzen Tag in den froststarren
Stra&szlig;en Petrograds standen! Ich habe in den Schlangen zugeh&ouml;rt
und den bitteren Unterton der Unzufriedenheit vernommen, wenn er sich hier
und da sogar durch die wie ein Wunder anmutende Gutm&uuml;tigkeit des russischen
Volkes Bahn brach. Dabei hatten alle Theater Abend f&uuml;r Abend, auch des
Sonntags, Hochbetrieb. Die Karsawina zeigte sich in einem neuen Ballett im
Marientheater, und alle tanzbegeisterten Russen gingen hin, sie zu sehen.
Schaljapin sang. Im Alexandratheater wurde Meyerholds Inszenierung von Tolstois
&AElig;Der Tod Iwans des Schrecklichen" gegeben. Und bei dieser Vorstellung
erinnere ich mich, einen Z&ouml;gling der Kaiserlichen Pagenschule in Galauniform
beobachtet zu haben, der in den Pausen jedesmal aufstand und vor der leere,
ihrer Adler beraubten kaiserlichen Loge seine Ehrenbezeugungen machte....
Das Kriwoje-Serkalo - Theater brachte eine prunkvolle Auff&uuml;hrung von
Schnitzlers &AElig;Reigen".
<P>
Obgleich die Eremitage und andere Gem&auml;ldegalerien nach Moskau
&uuml;bergef&uuml;hrt worden waren, gab es w&ouml;chentlich
Gem&auml;ldeausstellungen Scharen von Studentinnen liefen zu den Vorlesungen
&uuml;ber Kunst, Literatur und Philosophie. Es war eine ausnehmend g&uuml;nstige
Zeit f&uuml;r Theosophen. Und die Heilsarmee, die zum erstenmal in Ru&szlig;land
zugelassen war, bedeckte die Mauern mit Einladungen zu ihren Versammlungen,
die die russischen H&ouml;rer am&uuml;sierten und in Erstaunen versetzten....Wie
immer in solchen Zeiten, ging das t&auml;gliche Leben in der Stadt seinen
gewohnten Trott und ignorierte die Revolution soweit wie m&ouml;glich. Die
Poeten machten Verse - doch nicht &uuml;ber die Revolution. Die realistische
Maler malten Szenen aus der mittelalterlichen Geschichte Ru&szlig;lands -
alles m&ouml;gliche, nur nicht die Revolution. Die jungen Damen aus der Provinz
kamen in die Hauptstadt um Franz&ouml;sisch zu lernen und ihre Stimme zu
kultivieren, und die lustigen, jungen Offiziere trugen ihre goldverbr&auml;mten
Uniformen und ihre kostbar ziselierten kaukasischen S&auml;bel in den Salons
der Hotels spazieren. Die Damen der Beamtenschaft trafen sich an den Nachmittagen
zum Tee, wobei jede ihr goldenes oder silbernes, mit Edelsteinen besetztes
Zuckerd&ouml;schen und einen halben Laib Brot in ihrem Muff mit sich brachte
- und w&uuml;nschten sich den Zaren zur&uuml;ck, oder das die Deutschen kommen
sollten, oder irgend etwas, was das schwierige Dienstbotenproblem zu l&ouml;sen
geeignet w&auml;re.....Die Tochter eines meiner Bekannten bekam eines Nachmittags
einen hysterischen Anfall, weil die Stra&szlig;enbahnschaffnerin sie
&AElig;Genossin" genannt hatte. Um sie herum war das ganze gro&szlig;e
Ru&szlig;land in Bewegung, schwanger mit einer neuen sozialen Ordnung. Die
Dienstboten, die man gewohnt war, wie Tiere zu behandeln und mit einem
Bettelpfennig zu entlohnen, begannen aufs&auml;ssig zu werden. Ein Paar Schuhe
kostete &uuml;ber hundert Rubel, und da die L&ouml;hne in der Regel nicht
mehr als f&uuml;nfunddrei&szlig;ig Rubel im Monat betrugen, weigerten sich
die Dienstboten, um Lebensmittel anzustehen und dabei ihr Schuhzeug zu verderben.
Aber - was weitaus schlimmer war - in dem neuen Ru&szlig;land durfte jeder
Mann und jede Frau w&auml;hlen; es gab Arbeiterzeitungen, die ganz neue und
erstaunliche Dinge schrieben; es gab Sowjets, und es gab Gewerkschaften.
Die Droschkenkutscher Hatten einen Verband; sie waren auch im Petrograder
Sowjet vertreten. Und die Kellner und Hotelbediensteten waren organisiert
und weigerten sich, Trinkgelder zu nehmen. An den W&auml;nden der Restaurants
klebten sie Zettel an, auf denen zu lesen stand: &AElig;Keine Trinkgelder!"
oder auch: &AElig; Die Tatsache, da&szlig; ein Mann seinen Lebensunterhalt
verdient, indem er bei Tisch aufwartet, gibt niemandem das Recht, ihn durch
Trinkgeldgeben zu beleidigen."
<P>
An der Front setzten sich die Soldaten mit den Offizieren auseinander und
lernten es, sich mit Hilfe ihrer Komitees selbst zu regieren. In den Fabriken
erlangten die Fabrikkomitees, diese einzigartigen russischen Organisationen,
Erfahrung und St&auml;rke und kamen zum Bewu&szlig;tsein ihrer historischen
Mission durch den Kampf mit der alten Ordnung. Ganz Ru&szlig;land lernte
lesen. Und es <I>las </I>- Politik, &Ouml;konomie, Geschichte. Das Volk wollte
<I>Wissen</I>....In jeder Gro&szlig;stadt, fast in jeder Stadt, an der ganzen
Front hatte jede politische Partei ihre Zeitung, manchmal mehrere.
Hunderttausende von Flugbl&auml;ttern wurden von Tausenden Organisationen
verteilt, &uuml;berschwemmten die Armee, die D&ouml;rfer, die Fabriken, die
Stra&szlig;en. Der Drang nach Wissen, so lange unterdr&uuml;ckt, brach sich
in der Revolution mit Ungest&uuml;m Bahn. Allein aus dem Smolny-Institut
gingen in den ersten sechs Monaten t&auml;glich Tonnen, Wagenladungen Literatur
ins Land. Ru&szlig;land saugte den Lesestoff auf, uners&auml;ttlich, wie
hei&szlig;er Sand das Wasser. Und es waren nicht Fabeln, die verschlungen
wurden, keine Geschichtsl&uuml;gen, keine verw&auml;sserte Religion oder
der billige Roman, der demoralisiert - es waren soziale und &ouml;konomische
Theorien, philosophische Schriften, die Werke Tolstois, Gogols und Gorkis...Und
dann das gesprochene Wort, neben dem Carlyles &AElig;Flut der franz&ouml;sischen
Rede" wie ein armseliges Rinnsal anmutet: Vorlesungen, Debatten, Reden; in
Theatern, Zirkussen, Schulen, Klubs, in den Sitzungen der Sowjets, der
Gewerkschaften, in den Kasernen.... Versammlungen in den
Sch&uuml;tzengr&auml;ben an der Front, auf den Dorfpl&auml;tzen, in den
Fabriken...Was f&uuml;r ein Anblick, die Arbeiter der Putilow- Werke,
vierzigtausend Mann stark, herausstr&ouml;men zu sehen, um die Sozialdemokraten
zu h&ouml;ren, die Sozialrevolution&auml;re, die Anarchisten - wer immer
etwas zu sagen hatte, solange er reden wollte. Monatelang war in Petrograd,
in ganz Ru&szlig;land jede Stra&szlig;enecke eine &ouml;ffentliche Trib&uuml;ne.
In den Eisenbahnen, in den Stra&szlig;enbahnwagen, &uuml;berall improvisierte
Debatten, &uuml;berall...Und die Gesamtrussischen Konferenzen und Kongresse,
die die Menschen zweier Kontinente in Verbindung brachten - Kongresse der
Sowjets, der Genossenschaften, der Semstwos, der Nationalit&auml;ten, der
Priester, der Bauern, der politischen Parteien; die Demokratische Beratung,
die Moskauer Beratung, der Rat der Russischen Republik. In Petrograd tagten
st&auml;ndig drei oder vier Kongresse. In den Versammlungen wurde jeder Versuch,
die Redezeit einzuschr&auml;nken, abgelehnt. Jedermann hatte vollkommene
Freiheit, auszusprechen, was er auf dem Herzen hatte...Wir waren bei der
Zw&ouml;lften Armee an der Front, die eben von Riga gekommen war, wo hungernde
und barf&uuml;&szlig;ige Soldaten in dem Moder der Sch&uuml;tzengr&auml;ben
dahinkrankten; kaum sahen sie uns, als sie auch schon aufsprangen, mit ihren
mageren Gesichtern und ihren blaugefrorenen Gliedern, die durch ihre zerrissenen
Kleider schimmerten. Und das erste, was sie fragten, war: &AElig;Habt ihr
was zu lesen?"
<P>
Wenn aber auch an &auml;u&szlig;eren und sichtbaren Zeichen der Wandlung
kein Mangel war: zum Beispiel die Statue der &AElig;Gro&szlig;en Katharina"
vor dem alexandratheater eine kleine rote Fahne in der Hand hielt und andere
- etwas verblichen - von allen &ouml;ffentlichen Geb&auml;uden herabwehten;
die kaiserlichen Insignien und Adler teils heruntergerissen, teils verdeckt
waren; an der Stelle der brutalen zaristischen Polizisten in den Stra&szlig;en
eine sanfte unbewaffnete B&uuml;rgermiliz patroullierte - so gab es dennoch
zahllose wunderliche Anachronismen. Beispielsweise existierte noch immer
die Rangordnung, die Peter der Gro&szlig;e Ru&szlig;land mit eiserner Hand
aufgezwungen hatte. Fast jedermann, vom Schulbuben angefangen, hatte seine
vorgeschriebene Uniform, mit den Abzeichen des Kaisers auf den Kn&ouml;pfen
und Achselst&uuml;cken. Von f&uuml;nf Uhr nachmittags an waren die Stra&szlig;en
gef&uuml;llt mit alten Herren in Uniform, die Aktenmappen trugen und von
der Arbeit in den riesengro&szlig;en kasernengleichen Ministerien oder
Regierungsinstitutionen kamen, wo ihre T&auml;tigkeit darin bestehen mochte,
auszurechnen, wie lange es w&auml;hren w&uuml;rde, bis der Tod eines ihrer
Vorgesetzten sie zum Rang eines Assessors oder Geheimrats aufsteigen lassen
w&uuml;rde mit der Aussicht auf Pensionierung, mit einem eintr&auml;glichen
Ruhegehalt und wom&ouml;glich mit dem St. Annenkreuz..... Dem Senator Sokolow
ist es passiert, in einem Moment, als die Revolution ihre h&ouml;chste Welle
erreicht hatte, da&szlig; er eines Tages zu einer Senatssitzung in Zivilkleidung
erschien und nicht zugelassen wurde, weil er nicht die vorgeschriebene Livree
des Zarendienstes trug! Gegen diesen Hintergrund einer ganzen Nation in
G&auml;rung und Aufl&ouml;sung rollte die Erhebung der russischen Massen
heran....
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