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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Anna Seghers: Der F&uuml;hrerschein</TITLE>
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<big>Anna Seghers</big>
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<big>Der F&uuml;hrerschein</big>
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(zuerst ver&ouml;ffentlicht in: Die Linkskurve, Nr. 4, 4. Jahrgang 1932)
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Im Haufen verd&auml;chtiger Zivilpersonen, den die Japaner zusammengetrieben
und in einem Haus in Schanghai eingesperrt hatten, stand ein regloser kleiner
Mensch, besser gekleidet als die meisten. Sein Gesicht unterschied sich beinahe
durch nichts von den Gesichtern im Keller: Das erwartete Urteil hatte sie
alle einander &auml;hnlich gemacht.
<P>
Ein Offizier trat mit seinen Soldaten ein. Alle Gefangenen starrten ihn an,
sein Blick glitt geschwind &uuml;ber alle, blieb an dem Kleinen h&auml;ngen.
Er gab einen Befehl, der Mann wurde vor ihm hingesto&szlig;en, ein paar
H&auml;nde suchten an ihm herum. Weder die Griffe noch die Fragen, die man
ihm stellte, brachten den Mann aus der Ruhe. Es gab eine Stockung; denn man
fand ein Papier in seinem Rock. Darauf war aber nur verzeichnet, was er bereits
geantwortet hatte: Er ist Wu Pei-li, der Chauffeur des Kaufmanns Zang Lo-fei.
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Wu Pei-li wurde darauf in den Hof gef&uuml;hrt und durch den H&auml;userblock
in einen gr&ouml;&szlig;eren Hof zu den Garagen. Dort mu&szlig;te er zwischen
Gewehrkolben warten.
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Zwei Zivilpersonen befahlen ihm, eins der Autos aus der Garage zu fahren.
Der eine nahm neben dem F&uuml;hrersitz Platz, der andere in Wu Pei-lis
R&uuml;cken. Mit den Revolvern tippten sie zu ihren Befehlen auf seine
Schl&auml;fe und seinen Hinterkopf. Sie fuhren durch ein paar Stra&szlig;en,
sie hielten vor einem Haus der japanischen Kommandantur. Zwei
Generalst&auml;bler mit ihrer Ordonnanz stiegen zu. Man breitete eine
Gel&auml;ndekarte aus, man zeichnete den Weg ein. Die Gedanken des Chauffeurs
Wu Pei-li wandten sich von dem Tod, der ihm eben noch unvermeidlich erschienen
war, dem roten Endpunkt auf der Gel&auml;ndekarte hinter dem Weg zu den Werften
zu. Es hie&szlig;: "Fahr, was das Zeug h&auml;lt!" Er hupte; das war das
verr&uuml;ckte Hupen der japanischen Milit&auml;rautos, das ihn seit Tagen
und Wochen rasend machte. Sie sausten durch Tschapei, durch die zerst&ouml;rten,
von den Geschossen aufgerissenen Stra&szlig;en, wimmelnd von ratlosen Menschen.
Sie fuhren l&auml;ngs des Kanals, er sp&uuml;rte die M&uuml;ndungen der Pistolen
hart, schon nicht mehr kalt; sie befahlen ihm jede seiner Bewegungen. Aber
seine Gedanken entgingen ihnen. Sein Auftrag und sein Entschlu&szlig;.
<P>
Bei der Wendung am Br&uuml;ckenkopf begriff der Chauffeur Wu Pei-li, was
jetzt von ihm verlangt wurde. Er drehte das Steuer, und er fuhr das Auto
mit den zwei Generalst&auml;blern und ihrer Ordonnanz und den zwei Zivilpersonen
und sich selbst in einem k&uuml;hnen, dem Ged&auml;chtnis des Volkes f&uuml;r
immer eingebrannten Bogen in den Flu&szlig;.
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