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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<META HTTP-EQUIV="Content-Type" CONTENT="text/html; charset=ISO-8859-1">
<META NAME="Author" CONTENT="Friedrich Engels">
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<META NAME="Date" CONTENT="1998-01-18">
<TITLE>Friedrich Engels - Revolution und Konterrevolution in Deutschland - XV</TITLE>
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<P><SMALL>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 8, "Revolution und Konterrevolution in Deutschland", S. 85-88 <BR>
Dietz Verlag, Berlin/DDR, 1960 </SMALL></P>
<P ALIGN="CENTER"><A HREF="me08_080.htm"><FONT SIZE=2>XIV - [Die Wiederherstellung der Ordnung - Reichstag und Kammern]</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="me08_003.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="me08_089.htm"><FONT SIZE=2>XVI - [Die Nationalversammlung und die Regierungen]</FONT></A></P>
<FONT SIZE=5><STRONG><P ALIGN="CENTER">XV<BR>
[Preu&szlig;ens Triumph]</P>
</FONT><P><A NAME="S85">&lt;85&gt;</A> </STRONG>Wir kommen jetzt zu dem letzten Kapitel in der Geschichte der deutschen Revolution: dem Konflikt der Nationalversammlung mit den Regierungen der verschiedenen Staaten, namentlich Preu&szlig;ens, der Erhebung von S&uuml;d- und Westdeutschland und ihrer schlie&szlig;lichen Niederwerfung durch Preu&szlig;en.</P>
<P>Wir haben bereits die Frankfurter Nationalversammlung an der Arbeit gesehen. Wir haben gesehen, wie sie von &Ouml;sterreich mit Fu&szlig;tritten traktiert, von Preu&szlig;en beschimpft, wie ihr von den kleineren Staaten der Gehorsam verweigert, wie sie zum Narren gehalten wurde von ihrer eigenen ohnm&auml;chtigen Zentral"regierung", die sich wiederum von allen und jedem F&uuml;rsten an der Nase herumf&uuml;hren lie&szlig;. Zuletzt nahmen die Dinge jedoch eine f&uuml;r diese schw&auml;chliche, schwankende, abgeschmackte gesetzgebende Versammlung bedrohliche Gestalt an. Wohl oder &uuml;bel mu&szlig;te sie sich zu dem Schlusse bequemen, da&szlig; der "erhabene Gedanke der deutschen Einheit in seiner Verwirklichung bedroht sei", was nicht mehr und nicht weniger bedeutete, als da&szlig; die Frankfurter Versammlung mit allem, was sie getan und noch tun wollte, sich h&ouml;chstwahrscheinlich in blauen Dunst aufl&ouml;sen w&uuml;rde. Deshalb machte sie sich allen Ernstes an die Arbeit, um so schnell wie m&ouml;glich ihr gro&szlig;es Werk zu vollenden, die "Reichsverfassung".</P>
<P>Dabei ergab sich jedoch eine Schwierigkeit. Welcher Art sollte die Exekutivgewalt sein? Ein Vollzugsausschu&szlig;? Nein, da&szlig; hie&szlig;e, dachten sie in ihrer Weisheit, Deutschland zur Republik machen. Ein "Pr&auml;sident"? Das w&auml;re auf das gleiche hinausgelaufen. Also mu&szlig;te man die alte Kaiserw&uuml;rde wieder hervorkramen. Aber - da nat&uuml;rlich ein F&uuml;rst Kaiser werden sollte - wer sollte es sein? Nat&uuml;rlich keiner der dii minorum gentium &lt;G&ouml;tter kleineren Geschlechts&gt; von Reu&szlig;-Greiz-Schleiz-Lobenstein-Ebersdorf bis Bayern; weder &Ouml;sterreich noch Preu&szlig;en h&auml;tte sich das bieten lassen. Nur &Ouml;sterreich oder Preu&szlig;en konnte es sein. Aber wer <A NAME="S86"><STRONG>&lt;86&gt;</A></STRONG> von den beiden? Kein Zweifel, w&auml;ren die sonstigen Umst&auml;nde g&uuml;nstiger gewesen, die erhaben Versammlung s&auml;&szlig;e noch heute beisammen und diskutierte &uuml;ber dieses wichtige Dilemma, ohne zu einem Entschlu&szlig; kommen zu k&ouml;nnen, h&auml;tte nicht die &ouml;sterreichische Regierung den gordischen Knoten durchhauen und ihr die M&uuml;he erspart.</P>
<P>&Ouml;sterreich wu&szlig;te sehr wohl, da&szlig; von dem Augenblick, in dem es vor Europa wieder als der Herr aller seiner Provinzen, als starke europ&auml;ische Gro&szlig;macht auftreten konnte, schon allein das Gesetz der politischen Schwerkraft den Rest Deutschlands in seinen Machtbereich ziehen w&uuml;rde, ohne da&szlig; es dazu der Autorit&auml;t bedurfte, die ihm eine von der Frankfurter Nationalversammlung zugesprochene Kaiserkrone verleihen konnte. &Ouml;sterreich war viel st&auml;rker, viel freier in seinen Bewegungen, seit es die machtlose deutsche Kaiserkrone abgesch&uuml;ttelt - eine Krone, die seiner eigenen selbst&auml;ndigen Politik hinderlich war, ohne seiner Macht innerhalb wie au&szlig;erhalb Deutschlands auch nur ein Jota hinzuzuf&uuml;gen. Und gesetzt den Fall, da&szlig; &Ouml;sterreich sich aus Italien und Ungarn zur&uuml;ckziehen m&uuml;&szlig;te, dann w&auml;re es auch um seine Macht in Deutschland geschehen, und es k&ouml;nnte niemals wieder den Anspruch auf eine Krone erheben, die ihm entglitten, als es sich im Vollbesitz seiner Macht befand. Daher erkl&auml;rte sich &Ouml;sterreich sofort gegen jede Restauration des Kaisertums und verlangte rundheraus die Wiederherstellung des Deutschen Bundestags als der einzigen deutschen Zentralregierung, die in den Vertr&auml;gen von 1815 erw&auml;hnt und anerkannt war, und am 4. M&auml;rz 1849 erlie&szlig; es jene Verfassung, die nichts anderes bezweckte, als &Ouml;sterreich zu einer unteilbaren, zentralisierten selbst&auml;ndigen Monarchie zu erkl&auml;ren, v&ouml;llig getrennt sogar von jenem Deutschland, das die Frankfurter Versammlung wieder aufrichten wollte.</P>
<P>Diese offene Kriegserkl&auml;rung lie&szlig; den Frankfurter Neunmalweisen in der Tat keine andere Wahl, als &Ouml;sterreich aus Deutschland auszuschlie&szlig;en und aus dem Rest dieses Landes eine Art lower empire, ein "Kleindeutschland" zu schaffen, dessen ziemlich sch&auml;biger Kaisermantel Seiner Majest&auml;t, dem K&ouml;nig von Preu&szlig;en, um die Schultern gelegt werden sollte. Das war, wie man sich erinnern wird, die Wiederbelebung eines alten Plans, den einige sechs oder sieben Jahre vorher eine Gesellschaft s&uuml;d- und mitteldeutscher liberaler Doktrin&auml;re ausgeheckt, die in den entw&uuml;rdigenden Umst&auml;nden, unter denen man jetzt ihre alte Schrulle als "neuesten Schachzug" zur Rettung des Vaterlandes wieder hervorholte, eine F&uuml;gung Gottes erblickten.</P>
<P>Die Versammlung brachte also im Februar und M&auml;rz 1849 die Debatte &uuml;ber die Reichsverfassung samt Grundrechten und Reichswahlgesetz zum Abschlu&szlig;, jedoch nicht ohne sich in sehr vielen Punkten zu den widersprechensten Konzessionen gen&ouml;tigt zu sehen - heute an die konservative <A NAME="S87"><STRONG>&lt;87&gt;</A></STRONG> oder, richtiger, reaktion&auml;re Partei, morgen an die radikaleren Gruppen der Versammlung. Es war eine offenkundige Tatsache, da&szlig; die F&uuml;hrung der Versammlung, die fr&uuml;her in den H&auml;nden der Rechten und des rechten Zentrums (der Konservativen und Reaktion&auml;re) gelegen, allm&auml;hlich, wenn auch nur langsam, auf die Linke des Hauses, auf die Demokraten, &uuml;berging. Die ziemlich fragw&uuml;rdige Stellung der &ouml;sterreichischen Abgeordneten in einer Versammlung, die ihr Heimatland aus Deutschland ausgeschlossen hatte, in der sie aber gleichwohl auch weiterhin sitzen und abstimmen sollten, beg&uuml;nstigte diese Verschiebung ihres Gleichgewichts; daher befanden sich das linke Zentrum und die Linke mit Hilfe der &ouml;sterreichischen Stimmen schon Ende Februar sehr h&auml;ufig in der Mehrheit, w&auml;hrend an anderen Tagen die konservative Gruppe der &Ouml;sterreicher ganz pl&ouml;tzlich spa&szlig;eshalber mit der Rechten stimmte und dadurch den Ausschlag wieder zugunsten der anderen Seite gab. Sie wollte die Versammlung durch diese j&auml;hen soubresauts &lt;Spr&uuml;nge&gt; in Verruf bringen, was jedoch ganz unn&ouml;tig war, da die Masse des Volkes von der v&ouml;lligen Hohlheit und Nichtigkeit all dessen, was von Frankfurt kam, l&auml;ngst &uuml;berzeugt war. Welcher Art die Verfassung war, die mittlerweile bei solchem Hin- und Herspringen zustande gekommen, kann man sich leicht vorstellen.</P>
<P>Die Linke der Versammlung - diese Elite und dieser Stolz des revolution&auml;ren Deutschlands, wof&uuml;r sie sich selber hielt - war f&ouml;rmlich berauscht von den paar armseligen Erfolgen, die sie davongetragen, dank dem Wohlwollen oder, richtiger, &Uuml;belwollen einer Handvoll &ouml;sterreichischer Politiker, die auf Veranlassung und im Interesse des &ouml;sterreichischen Despotismus handelten. Jedesmal, wenn die Frankfurter Versammlung einem Vorschlag, der auch nur im entferntesten an ihre eigenen keineswegs klar umrissenen Grunds&auml;tze erinnerte, in hom&ouml;opathisch verd&uuml;nnter Form eine Art Sanktion erteilte, verk&uuml;ndeten diese Demokraten, sie h&auml;tten Vaterland und Volk gerettet. Diese armseligen Schwachk&ouml;pfe waren im ganzen Verlauf ihres meist recht obskuren Lebens so wenig an so etwas wie einen Erfolg gew&ouml;hnt, da&szlig; sie tats&auml;chlich glaubten, ihre lumpigen Amendements, die mit zwei oder drei Stimmen Mehrheit durchkamen, w&uuml;rden das Antlitz Europas ver&auml;ndern. Seit Beginn ihrer parlamentarischen Laufbahn waren sie mehr als jede andere Fraktion der Versammlung von jener unheilbaren Krankheit, dem <EM>parlamentarischen Kretinismus</EM>, verseucht, einem Leiden, das seine ungl&uuml;cklichen Opfer mit der erhabenen &Uuml;berzeugung erf&uuml;llt, da&szlig; die ganze Welt, deren Vergangenheit und deren Zukunft, durch die Stimmenmehrheit gerade jener Vertretungsk&ouml;rperschaft gelenkt und bestimmt wird, die die Ehre hat, sie zu ihren Mit- <A NAME="S88"><STRONG>&lt;88&gt;</A></STRONG> gliedern zu z&auml;hlen, und da&szlig; alles und jedes, was es au&szlig;erhalb der Mauern ihres Hauses gibt - Kriege, Revolutionen, Eisenbahnbauten, die Kolonisierung ganzer neuer Kontinente, kalifornische Goldfunde, zentralamerikanische Kan&auml;le, russische Armeen und was sonst vielleicht noch Anspruch erheben kann, die Geschicke der Menschheit zu beeinflussen -, da&szlig; all das nichts ist im Vergleich mit jenen unerme&szlig;lich wichtigen Ereignissen, die mit der ausnahmslos bedeutungsvollen Frage zusammenh&auml;ngen, der das hohe Haus gerade seine Aufmerksamkeit widmet. Dadurch, da&szlig; es der demokratischen Partei der Versammlung gelang, ein paar ihrer Zauberformeln in die "Reichsverfassung" einzuschmuggeln, ergab sich zun&auml;chst die Verpflichtung, sich f&uuml;r die Verfassung einzusetzen, obwohl sie in jedem wesentlichen Punkt ihren eigenen, oft verk&uuml;ndeten Grunds&auml;tzen direkt ins Gesicht schlug; und als diese Zwittersch&ouml;pfung schlie&szlig;lich von ihren Haupturhebern aufgegeben und den Demokraten vermacht wurde, nahmen diese die Erbschaft an und hielten wacker fest an dieser <EM>monarchischen</EM> Verfassung, auch wenn sie in Gegensatz gerieten zu allen, die <EM>jetzt</EM> ihre eigenen <EM>republikanischen</EM> Grunds&auml;tze verk&uuml;ndeten.</P>
<P>Man mu&szlig; jedoch zugeben, da&szlig; dieser Widerspruch nur ein scheinbarer war. Der unbestimmte, widerspruchsvolle, unausgereifte Charakter der Reichsverfassung spiegelte getreu die unreifen, verworrenen, einander widersprechenden politischen Ideen dieser Herrn Demokraten wider. Und wenn ihre eigenen Reden und Schriften - soweit sie schreiben konnten - das nicht gen&uuml;gend bewiesen, ihre Handlungen w&uuml;rden diesen Beweis erbringen; denn unter vern&uuml;nftigen Menschen versteht es sich von selbst, da&szlig; man einen Menschen nicht nach seinen Worten, sondern nach seinen Taten beurteilt, nicht danach, was er vorgibt zu sein, sondern danach, was er tut und was er wirklich ist; und die Taten dieser Helden der deutschen Demokratie sprechen, wie wir des weiteren noch sehen werden, laut genug f&uuml;r sich. Indessen, die Reichsverfassung mit all ihrem Drum und Dran wurde schlie&szlig;lich angenommen; und am 28. M&auml;rz wurde der K&ouml;nig von Preu&szlig;en mit 290 Stimmen bei 248 Enthaltungen und in Abwesenheit von etwa 200 Abgeordneten zum Kaiser von Deutschland (minus &Ouml;sterreich) gew&auml;hlt. Die Ironie der Geschichte war vollst&auml;ndig: die Kaiserposse, die Friedrich Wilhelm IV. in den Stra&szlig;en des erstaunten Berlin drei Tage nach der Revolution vom 18. M&auml;rz 1848 in einem Zustand auff&uuml;hrte, der anderswo unter das Trunkenheitsgesetz fiele - diese widerliche Posse erhielt genau ein Jahr sp&auml;ter die Sanktion der Versammlung, die angeblich ganz Deutschland vertrat. Das war also das Ergebnis der deutschen Revolution! </P></BODY>
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