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<TITLE>John Reed: 10 Tage die die Welt erschütterten</TITLE>
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<BODY bgcolor="#FFFFFF">
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<I></I>I. HINTERGRUND
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Gegen Ende September 1917 besuchte mich ein ausländischer Professor
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der Soziologie in Petrograd. Ihm war von Männern der Wirtschaft und
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von Intellektuellen erzählt worden, daß die Revolution im Abebben
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sei. Der Herr Professor schrieb darüber einen Artikel und durchreiste
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dann das Land; er besuchte Fabrikstädte und Dorfgemeinden, wo zu seinem
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großen Erstaunen die Revolution ihren Schritt eher zu beschleunigen
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schien. Unter den Lohnarbeitern und der werktätigen Landbevölkerung
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ertönte immer öfter der Ruf: ÆAlles Land den Bauern!" ÆAlle
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Fabriken den Arbeitern!" Wenn der Herr Professor die Front besucht hätte,
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so hätte erhören können, wie in der ganzen Armee von nichts
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als dem Frieden die Rede war...Der Herr Professor war verwirrt; ohne Grund;
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beide Beobachtungen waren richtig. Die besitzenden Klassen wurden konservativer,
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die Volksmassen radikaler.
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In den Reihen der Geschäftswelt und in der Intelligenz herrschte allgemein
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das Gefühl, daß die Revolution weit genug gegangen sei und schon
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zu lange währe; daß es an der Zeit sei, Ruhe zu schaffen. Dieser
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Auffassung waren auch die herrschenden Ægemäßigten"
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sozialistischen Gruppen, die Menschewiki- ÆOboronzy" und
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Sozialrevolutionäre, die die Provisorische Kerenskiregierung
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unterstützten. Am14. Oktober erklärte das offizielle Organ der
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Ægemäßigten" Sozialisten:
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ÆDas Drama der Revolution hat zwei Akte: Die Zerstörung der alten
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Ordnung und die Schaffung der neuen. Der erste Akt hat lange genug gedauert.
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Jetzt ist es an der Zeit, den zweiten zu beginnen und ihn so schnell als
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möglich zu Ende zu führen. Von einem großen Revolutionär
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stammt das Wort: ÆEilen wir uns Freunde, die Revolution zu beenden.
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Wer sie zu lange währen läßt, läuft Gefahr, um ihre
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Früchte zu kommen"...."
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Die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernmassen waren dagegen der festen
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Überzeugung, Daß der Æerste Akt" noch lange nicht zu Ende
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gespielt war. An der Front stießen überall Armeekomitees mit den
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Offizieren zusammen, die sich noch immer nicht gewöhnen konnten, die
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Soldaten als Menschen zu behandeln; im Hinterland wurden die von den Bauern
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gewählten Bodenkomitees eingesperrt, wo sie sich unterfingen, die von
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der Regierung angeordneten Bestimmungen über den Grund und Boden
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durchzuführen; und die Arbeiter in der Fabriken mußten einen schweren
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Kampf gegen schwarze Listen und Aussperrungen führen. Die
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zurückkehrenden politischen Verbannten wurden als Æunerwünschte
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Bürger" nicht ins Land hineingelassen, und in manchen Fällen wurden
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Menschen, die aus dem Auslande in ihre Dörfer zurückkehrten, wegen
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der im Jahre1905 begangenen politischen Handlungen verfolgt und eingekerkert.
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Auf die mannigfaltige Unzufriedenheit des Volkes hatten die
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Ægemäßigten" Sozialisten nur eine Antwort: Die Konstituierende
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Versammlung abzuwarten, die im Dezember zusammentreten sollte. Aber die Massen
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waren damit nicht zufrieden. Die Konstituierende Versammlung war gut und
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schön, doch es gab gewisse klar umrissene Dinge, um derentwillen die
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russische Revolution gemacht worden war, für die die revolutionären
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Märtyrer, die in den Massengräbern des Marsfeldes lagen, ihr Blut
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vergossen hatten; diese galt es zu verwirklichen, mit oder ohne Konstituierende
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Versammlung: Frieden, Land, Kontrolle der Arbeiter über die Industrie.
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Die Konstituierende Vesammlung war bisher immer wieder vertagt worden - und
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würde wahrscheinlich noch einmal vertagt werden, so lange vielleicht,
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bis das Volk ruhig genug geworden war, um auf einen Teil seiner Forderungen
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zu verzichten. Acht Monate Revolution waren bereits ins Land gegangen, und
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wenig genug zu sehen.....Inzwischen begannen die Soldaten, die Friedensfrage
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auf eigene Faust zu lösen, indem sie einfach desertierten; die Bauern
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brannten die Gutshäuser nieder und setzten sich in den Besitz der
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großen Güter; die Arbeiter streikten....Die Fabrikanten, Gutsbesitzer
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und Offiziere der Armee setzten ihren ganzen Einfluß ein, um jedes
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demokratische Zugeständnis zu verhindern.... Die Politik der Provisorischen
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Regierung schwankte zwischen wertlosen Reformen und brutaler Unterdrückung.
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Ein Befehl des sozialistischen Arbeitsministers ordnete an, daß die
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Arbeiterkomitees fortan nur nach Feierabend zusammentreten dürften.
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Bei den Truppen an der Front wurden die ÆAgitatoren" der oppositionellen
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politischen Parteien verhaftet, die radikalen Zeitungen verboten und die
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Todesstrafe gegen revolutionäre Propagandisten angewandt. Versuche wurden
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unternommen, die Roten Garden zu entwaffnen. Kosaken wurden in die Provinzen
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geschickt, damit sie dort die Ordnung wiederherstellten.....
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Diese Maßnahmen wurden von den Ægemäßigten" Sozialisten
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und ihren Führern im Ministerium, die die Zusammenarbeit mit den besitzenden
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Klassen für notwendig hielten, gutgeheißen. Die Volksmassen wandten
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sich in schnellem Tempo von ihnen ab und gingen zu den Bolschewiki über,
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die für Frieden, Land für die Kontrolle der Arbeiter über
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die Industrie und für eine Regierung der Arbeiterklasse waren. Im September
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1917 spitzten sich die Dinge zur Krise zu. Gegen den überwältigenden
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Willen des Landes gelang es Kernski und den Ægemäßigten"
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Sozialisten, eine Koalitionsregierung mit den besitzenden Klassen zu errichten;
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das Resultat war, daß die Menschewiki und Sozialrevolutionäre
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das Vertrauen des Volkes endgültig verloren. Ein Artikel im ÆRabotschi
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Put" (Der Arbeiterweg) um die Mitte des Oktobers unter dem Titel ÆDie
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sozialistischen Minister" brachte die Meinung der Volksmassen wie folgt zum
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Ausdruck:
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ÆHier eine Liste ihrer Leistungen:
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<I>Zereteli:</I> entwaffnete die Arbeiter mit Hilfe des Generals Polowzew,
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brachte den revolutionären Soldaten eine Niederlage bei und stimmte
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der Todesstrafe in der Armee zu.
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<I>Skobelew: </I>begann mit dem Versprechen, eine hundertprozentige Steuer
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auf die Profite der Kapitalisten zu legen, und endete - und endete mit dem
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Versuch, die Arbeiterkomitees in den Werkstätten und Fabriken
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aufzulösen.
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<I>Awxentjew:</I> warf einige Hundert Bauern ins Gefängnis, die Mitglieder
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der Bodenkomitees, und unterdrückte Dutzende von Arbeiter- und
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Soldatenzeitungen.
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<I>Tschernow: </I>unterzeichnete das Kaiserliche Manifest, das die
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Auflösung des finnischen Landtages anordnete.
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<I>Sawinkow: </I>schloß ein offenes Bündnis mit dem General Kornilow.
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Wenn es diesem Retter des Landes nicht gelang, Petrograd zu verraten, so
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ist das auf Gründe zurückzuführen, die seinem Einfluß
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nicht unterlagen.
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<I>Sarudny: </I> kerkerte mit Zustimmung Alexinskis und Kerenskis Tausende
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revolutionäre Arbeiter, Soldaten und Matrosen ein.
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<I>Nikitin: </I>handelte als ordinärer Polizist gegen die
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Eisenbahner.<I></I>
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<I>Kerenski: </I>über den sagt man am besten gar nichts. Die Liste seiner
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Leistungen würde zu lang werden....."
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Ein Delegiertenkongress der Baltischen Flotte in Helsingfors beschloß
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eine Resolution, die wie folgt begann:
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ÆWir fordern die sofortige Entfernung des ,Sozialisten` und politischen
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Abenteurers Kerenski aus der Provisorischen Regierung, der die große
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Revolution und mit ihr die revolutionären Massen durch seine schamlosen
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politischen Erpressungen im Interesse der Bourgeoisie zugrunde richtet..."
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Das unmittelbare Ergebnis alles dessen war der Aufstieg der Bolschewiki.....
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Seit dem März 1917, als der Ansturm der Arbeiter und Soldaten auf den
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Taurischen Palast die widerstrebende Reichsduma zwang, die Macht in Rußland
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zu übernehmen, waren es die Massen des Volkes, die Arbeiter, Soldaten
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und Bauern, die jeden Wechsel im Fortgang der Revolution erzwangen. Sie
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stürzten das Ministerium Miljukows; ihr Sowjet war es, der der Welt
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die russischen Friedensvorschläge verkündete: ÆKeine Annexionen,
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keine Entschädigungen, Selbstbestimmungsrecht der Völker!" und
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wieder, im Juli, war es die spontane Erhebung des unorganisierten Proletariats,
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das zum zweiten Male den Taurischen Palast stürmte und die Forderung
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erhob: Übernahme der Regierungsgewalt in Rußland durch die Sowjets.
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Die Bolschewiki, zu der Zeit eine kleine politische Sekte, stellten sich
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an die Spitze der Bewegung. Das Ergebnis des völligen Mißerfolgs
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der Erhebung war, daß sich die öffentliche Meinung gegen sie kehrte.
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Ihre führerlosen Massen fluteten in das Wiborgviertel zurück, das
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Saint Antoine von Petrograd. Dann folgte eine wilde Bolschewistenhetze: Hunderte
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wurden eingekerkert, darunter Trotzki, Frau Kollontai und Kamenew; Lenin
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und Sinojew mußten sich verbergen, gehetzt von der Justiz; die
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bolschewistischen Zeitungen wurden unterdrückt. Provokateure und
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Reaktionäre wurden nicht müde, die Bolschewiki als deutsche Agenten
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zu bezeichnen, bis sich in der ganzen Welt Leute fanden, die das glaubten.
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Aber die Provisorische Regierung konnte ihre Anklagen nicht beweisen; die
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Dokumente, die die prodeutsche Verschwörertätigkeit der Bolschewiki
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beweisen sollten, wurden als Fälschungen enthüllt. Und die Bolschewiki
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wurden, einer nach dem anderen, aus den Gefängnissen entlassen, ohne
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jeden Prozeß, gegen nominelle oder ohne jede Bürgschaft, bis nur
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sechs Verhaftete übrigblieben. Die Machtlosigkeit und Unentschlossenheit
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der ständig wechselnden Provisorischen Regierung war allein schon ein
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unwiderlegbares Argument. Die Bolschewiki stellten erneut die den Massen
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so wertvolle Losung auf: ÆAlle Macht den Sowjets!", und sie taten das
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nicht aus Selbstsucht; zu der Zeit gehörte die Mehrheit in den Sowjets
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den Ægemäßigten" Sozialisten, ihren wütendsten Gegnern.
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Doch mehr noch; sie übernahmen die elementaren, einfachen wünsche
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der Arbeiter, Soldaten und Bauern und schufen daraus ihr Aktionsprogramm.
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Und während die sozialpatriotischen Menschewiki und
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Sozialrevolutionäre sich in der Politik des Kompromisses mit der Bourgeoisie
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verwirrten, eroberten die Bolschewiki schnell die russischen Massen. Im Juli
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waren sie noch gehetzt und verachtet, im September waren die Arbeiter der
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Hauptstadt, die Matrosen der Baltischen Flotte und die Soldaten bereits fast
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ganz auf ihrer Seite. Die Kommunalwahlen, die im September in den großen
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Städten stattfanden, waren dafür bezeichnend; nur acht Prozent
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der Gewählten waren Menschewiki und Sozialrevolutionäre gegenüber
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mehr als siebzig Prozent im Juni...Es bleibt ein Umstand, der geeignet ist,
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den nichtrussischen Beobachter zu verwirren: das Zentralexekutivkomitee der
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Sowjets, die zentralen Armee- und Flottenkomitees und die Zentralkomitees
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einiger Gewerkschaften, vor allem die der Post - und Telegrafenarbeiter und
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der Eisenbahner, waren den Bolschewiki entschieden feindlich. Alle diese
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Zentralkomitees waren in der Mitte des Sommers oder sogar vorher gewählt
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worden, als die Menschewiki und Sozialrevolutionäre noch eine ungeheure
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Anhängerschaft hatten; jetzt schoben sie Neuwahlen immer wieder hinaus
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oder verhinderten sie sogar. So hätte beispielsweise den Bestimmungen
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der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten gemäß der
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Gesamtrussische Sowjetkongreß zum September einberufen werden müssen;
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doch das Zentralexekutivkomitee wollte ihn nicht zusammentreten lassen unter
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dem Vorwand, daß die Konstituierende Versammlung in spätestens
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zwei Monaten tagen würde, womit, so deuteten sie an, die Aufgabe der
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Sowjets erledigt wäre und sie abzutreten hätten. Mittlerweile eroberten
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die Bolschewiki im ganzen Lande einen nach dem anderen die örtlichen
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Sowjets, die lokalen Gewerkschaftsorganisationen und die unteren Soldaten-
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und Matrosenmassen. Die Bauernsowjets blieben noch konservativ, weil in den
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rückständigen ländlichen Gebieten das politische Bewußtsein
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sich nur langsam entwickelte; außerdem hatte seit einer ganzen Generation
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die Agitation in den Händen der Sozialrevolutionäre gelegen......Doch
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selbst unter den Bauern begann sich ein revolutionärer Flügel zu
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bilden. Das zeigte sich klar im Oktober, als sich der linke Flügel der
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Sozialrevolutionäre abspaltete und eine neue politische Partei bildete,
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die Partei der linken Sozialrevolutionäre. Gleichzeitig waren allenthalben
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Anzeichen vorhanden, daß die Reaktion wieder Selbstvertrauen gewann.
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In der Troizki- Komödie in Petrograd wurde beispielsweise eine Burleske
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mit dem Titel ÆDie Sünden des Zaren" von einer Monarchistengruppe
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gestört, die die Schauspieler zu lynchen drohte, weil sie Æden
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Zaren beleidigt" hatten. Gewisse Zeitungen begannen nach einem Ærussischen
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Napoleon" zu rufen. Es war damals bei der bürgerlichen Intelligenz
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üblich, die Arbeiterdeputierten als ÆHundedeputierte" zu bezeichnen.
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Am 15. Oktober hatte ich eine Unterhaltung mit einem russischen
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Großkapitalisten, Stepan Georgijewitsch Lianosow, bekannt als der
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Ærussische Rockefeller", seiner politischen Parteizugehörigkeit
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nach ein Kadett. ÆDie Revolution", sagte dieser, Æist eine Krankheit.
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Früher oder später werden die fremden Mächte eingreifen
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müssen, gerade so, wie man eingreifen muß, um ein krankes Kind
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zu heilen oder es laufen zu lehren. Natürlich wird das mehr oder weniger
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unangenehm sein, aber die Nationen müssen sich klarwerden über
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die Gefahr des Bolschewismus in ihren eigenen Ländern, über die
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Gefährlichkeit so ansteckender Ideen wie die der proletarischen Diktatur
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und der sozialen Weltrevolution...es besteht <I>eine </I>Möglichkeit
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daß das Eingreifen nicht notwendig ist: das Transportwesen ist
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zerstört, die Fabriken schließen ihre Tore, die Deutschen sind
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im Vormarsch. Der Hunger und die Niederlage möchten vielleicht das russische
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Volk zur Vernunft bringen....."
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<P>
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Herr Lianosow erklärte entschieden, daß sich die Kaufleute und
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Fabrikanten unter keinen Umständen mit der Existenz der Fabrikkomitees
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abfinden oder zugeben könnten, daß die Arbeiter irgendeinen
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Einfluß auf die Leitung der Industrie gewinnen. ÆWas die Bolschewiki
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anbelangt, so könnte man mit ihnen auf zweierlei Art fertig werden:
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die Regierung kann Petrograd räumen, dann den Belagerungszustand
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erklären, womit der Militärkommandant des Gebietes die
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Möglichkeit erhalten würde, mit diesen Herrschaften, ungehindert
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durch gesetzliche Formalitäten, abzurechnen.....<I>Oder aber, falls
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die Konstituierende Versammlung irgendwelche utopischen Neigungen zeigen
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sollte, kann sie mit Waffengewalt auseinandergetrieben werden......."</I>
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<P>
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Der Winter rückte heran - der schreckliche russische Winter. Ich hörte
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Kapitalisten über ihn wie folgt sprechen:"Der Winter war immer
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Rußlands bester Freund. Vielleicht wird er uns jetzt von der Revolution
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befreien." An der frierenden Front fuhren die Armeen fort, zu hungern und
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zu sterben, ohne Begeisterung. Der Eisenbahnverkehr brach zusammen, die
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Lebensmittel wurden knapp, die Fabriken schlossen die Tore. Die verzweifelten
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Massen beschuldigten die Bourgeoisie, das Leben des Volkes zu sabotieren
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und die Niederlage an der Front herbeizuführen. Riga war preisgegeben
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worden, unmittelbar nachdem der General Kornilow in aller Öffentlichkeit
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erklärt hatte: ÆVielleicht ist Riga der Preis, den wir zahlen
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müssen, um das Land zum Bewußtsein seiner Pflicht zu bringen."
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Für Amerikaner mag es unglaublich klingen, daß der Klassenkampf
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sich dermaßen zuspitzen kann. Aber ich habe persönlich an der
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Nordfront mit Offizieren gesprochen, die offen den militärischen
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Zusammenbruch der Zusammenarbeit mit den Soldatenkomitees vorzogen. Der
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Sekretär der Petrograder Organisation der Kadettenpartei erzählte
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mir, daß der Zusammenbruch des ökonomischen Lebens des Landes
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ein Teil der Kampagne war, die die Revolution diskreditieren sollte. Ein
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Ententediplomat, dessen Namen ich zu verschweigen versprochen habe,
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|
bestätigte mir dies aus eigener Kenntnis. Ich weiß von gewissen
|
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|
Kohlenbergwerken in der Nähe von Charkow, die von ihren Besitzern in
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Brand gesteckt und unter Wasser gesetzt wurden, von Textilfabriken in Moskau,
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|
deren Ingenieure die Maschinen vor ihrer Flucht zerstört hatten, von
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|
hohen Eisenbahnbeamten, die von den Arbeitern dabei ertappt wurden, als sie
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|
die Lokomotiven zu zerstören im Begriff waren.....Ein großer Teil
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der besitzenden Klasse zog die Deutschen der Revolution vor - selbst der
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Provisorischen Regierung - und zögerte nicht, dies auszusprechen. In
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|
der russischen Familie, bei der ich wohnte, war der Gegenstand der Unterhaltung
|
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bei Tisch fast immer das Kommen der Deutschen, die ÆRuhe und Ordnung"
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bringen würden....Ich verlebte einmal einen Abend im Hause eines Moskauer
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Kaufmanns; beim Tee fragten wir die elf Personen am Tisch, wen sie
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vorzögen, ÆWilhelm oder die Bolschewiki". Zehn stimmten für
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Wilhelm..... Die Spekulanten nützten die allgemeine Desorganisierung
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aus, um Reichtümer anzuhäufen, die sie in phantastischen Schwelgereien
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vergeudeten oder dazu verwendeten, die Staatsbeamten zu bestechen. Lebensmittel
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und Brennmaterial wurden versteckt oder im geheimen nach Schweden verkauft.
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In den ersten vier Monaten der Revolution beispielsweise wurden die
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Lebensmittelreserven fast in voller Öffentlichkeit aus den großen
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städtischen Speichern Petrograds geplündert, bis von den
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Getreidevorräten, die für zwei Jahre bestimmt waren, kaum genug
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übrig war, um die Stadt einen Monat lang zu versorgen..... Nach dem
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offiziellen Bericht des letzten Ernährungsministers in der Provisorischen
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|
Regierung wurde der Kaffee in Wladiwostok im Großeinkauf für zwei
|
||
|
Rubel das Pfund gekauft, während die Konsumenten in Petrograd dreizehn
|
||
|
Rubel zahlen mußten. In den Geschäften der großen Städte
|
||
|
waren große Mengen an Lebensmitteln und Kleidung; aber nur die Reichen
|
||
|
konnten sie kaufen. Ich kannte in einer Provinzstadt eine Kaufmannsfamilie,
|
||
|
die sich der Spekulation zugewandt hatte. Marodeure werden solche von den
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||
|
Russen genannt. Die drei Söhne hatten sich vom Militärdienst
|
||
|
gedrückt. Der eine spekulierte in Lebensmitteln. Der zweite verkaufte
|
||
|
im geheimen Gold aus den Lena- Gruben an geheimnisvolle Interessenten in
|
||
|
Finnland. Der dritte besaß die Aktienmehrheit in einer Schokoladenfabrik,
|
||
|
die die örtliche Genossenschaften versorgte - unter der Bedingung, daß
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|
die Genossenschaften ihm lieferten, was er brauchte . Während die
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||
|
Volksmassen auf ihre Brotkarten ein Viertelpfund Schwarzbrot erhielten, hatte
|
||
|
er im Überfluß Weißbrot, Zucker, Tee, Kuchen und Butter....Das
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||
|
hinderte diese saubere Familie nicht, die erschöpften Soldaten, die
|
||
|
an der Front infolge der Kälte und des Hungers nicht mehr kämpfen
|
||
|
konnten , als ÆFeiglinge" zu beschimpfen, und daß sie sich
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||
|
Æschämten" ÆRussen" zu sein.....Und als die Bolschewiki
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große Mengen versteckter Vorräte entdeckten und beschlagnahmten,
|
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|
bezeichneten sie diese als ÆRäuber".Unter all dieser
|
||
|
äußeren Korruptheit arbeiteten die alten reaktionären
|
||
|
Kräfte, die sich seit dem Sturz Nikolaus`II. Nicht geändert hatten,
|
||
|
im geheimen still und sehr aktiv. Die Agenten der berüchtigten Ochrana
|
||
|
waren noch immer in Funktion, für und gegen den Zaren, für und
|
||
|
gegen Kerenski - je nachdem, von wem sie bezahlt wurden......Geheime
|
||
|
Organisationen aller Art, wie die Schwarzhunderter, waren eifrig bemüht,
|
||
|
in der einen oder anderen Weise die Reaktion wiederherzustellen. In dieser
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||
|
Atmosphäre der Fäulnis, der halben Wahrheiten ließ sich,
|
||
|
tagaus, tagein, nur ein klarer Ton vernehmen, der Ruf der Bolschewiki:
|
||
|
ÆAlle Macht den Sowjets!", ÆAlle Macht den Vertretern der Millionen
|
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|
und aber Millionen Arbeiter, Soldaten und Bauern!", ÆLand, Brot!",
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ÆSchluß mit dem sinnlosen Krieg!", ÆSchluß mit der
|
||
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Geheimdiplomatie!", ÆSchluß mit der Spekulation und dem
|
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|
Verrat!"...."Die Revolution ist in Gefahr und mit ihr die Sache des Volkes
|
||
|
in der ganzen Welt!"
|
||
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<P>
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Der Kampf zwischen dem Proletariat und dem Bürgertum, zwischen den Sowjets
|
||
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und der Regierung, der in den ersten Märztagen begonnen hatte, war seinem
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Gipfel nahe. Rußland, das mit einem Satze aus dem tiefsten Mittelalter
|
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ins zwanzigste Jahrhundert gesprungen war, bot der erstaunten Welt das Schauspiel
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des tödlichen Kampfes zweier Systeme der Revolution - der formal politischen
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|
und der sozialen. Was für eine unglaubliche Lebenskraft offenbarte diese
|
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|
russische Revolution, nach all den Monaten des Hungers und der
|
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Enttäuschung! Die Bourgeoisie hätte ihr Rußland besser kennen
|
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sollen. Lange noch wird es dauern, bis die ÆKrankheit" der Revolution
|
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in Rußland ihren Lauf genommen hat.....
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||
|
<P>
|
||
|
Blickt man zurück, so scheint Rußland vor dem Novemberaufstand
|
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einem anderen Zeitalter anzugehören, fast unglaublich konservativ. So
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schnell haben wir uns dem neuen, schnelleren Leben angepaßt. In dem
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Maße, wie das russische politische Leben sich radikalisierte, bis die
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Kadetten als Volksfeinde geächtet wurden, wurde Kerenski Æein
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Konterrevolutionär"; die Ægemäßigten" sozialistischen
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Führer, Zereteli, Dan, Liber, Goz und Awxentjew, waren zu reaktionär
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für ihre Gefolgschaft, und Männer wie Wiktor Tschernow, ja sogar
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Maxim Gorki gehörten zum rechten Flügel.... Gegen Mitte Dezember
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1917 besuchte eine gruppe sozialrevolutionäre Führer privatim Sir
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George Buchanan, den britischen Gesandten, und sie baten ihn inständig,
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nichts davon zu erwähnen, daß sie bei ihm gewesen waren, weil
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sie als Æzu weit rechts stehend" betrachtet wurden. ÆMan bedenke",
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sagte Buchanan, Ædaß noch vor einem Jahr die englische Regierung
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mir Anweisung gab, Miljukow nicht zu empfangen, weil er so ein gefährlicher
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Linker war."
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Der September und der Oktober sin die schlimmsten Monate im russischen Jahr,
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besonders in Petrograd. Aus einem trostlos grauen Himmel, der die kürzer
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werdenden Tage noch dunkler machte, strömte unaufhörlicher Regen.
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Der Schmutz in den Straßen lag tief, schlüpfrig, von schweren
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Stiefeln zerfurcht, schlimmer als gewöhnlich, weil die Stadtverwaltung
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völlig zusammengebrochen war. Vom finnischen Meerbusen her fegte ein
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feuchter wind, die Straßen waren in kalten Nebel gehüllt. Des
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Nachts waren aus Gründen der Sparsamkeit und aus Furcht vor Zeppelinen
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die Straßen nur ganz unzureichend beleuchtet; in den Privatwohnungen
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und Mietshäusern brannte das elektrische Licht von sechs Uhr bis
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Mitternacht. Wollte man außer dieser Zeit Licht haben, so war man auf
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Kerzen angewiesen, die fast zwei Rubel das Stück kosteten. Petroleum
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war kaum zu haben. Dabei war es von drei Uhr nachmittags bis zehn Uhr vormittags
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finster. Überfälle und Einbrüche nahmen zu. In den
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Mietshäusern mußten die Männer jede Nacht mit geladenen Gewehren
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Wachdienst verrichten. Dies alles schon unter der Provisorischen Regierung.
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Mit jeder Woche wurden die Lebensmittel knapper. Die tägliche Brotration
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fiel von anderthalb russischen Pfund auf ein Pfund, dann auf drei viertel,
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auf ein halbes und auf ein viertel. Gegen Ende gab es eine Woche, wo Brot
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überhaupt nicht ausgegeben wurde. Auf Zucker hatte man Anrecht von zwei
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Pfund im Monat, vorausgesetzt, daß man überhaupt welchen erhielt,
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was selten der fall war. Eine Schokoladentafel oder ein Pfund Bonbons, ohne
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jeden Geschmack, kostete allenthalben sieben bis zehn Rubel, das entspricht
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mindestens einem Dollar. Milch gab es für die Hälfte der
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Säuglinge in der Stadt; die Mehrzahl der Hotels und Privathaushaltungen
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bekam sie monatelang nicht zu Gesicht. In der Obstsaison wurden Äpfel
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und Birnen für etwas weniger als einen Rubel das Stück an den
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Straßenecken verkauft....Um Milch, Brot, Zucker und Tabak mußte
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man stundenlang im kalten Regen anstehen. Als ich einmal aus einer die ganze
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Nacht währenden Versammlung nach Hause kam, sah ich, wie die Menschen,
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meist Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm, sich bereits vor Morgengrauen
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anzustellen begannen....Carlyle hat in seiner Geschichte der Französischen
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Revolution das französische Volk als das Volk bezeichnet, das in der
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Kunst des Anstehens alle anderen Völker übertreffe. Rußland
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hatte schon im Jahre 1915, unter der gesegneten Regierung Nikolaus`, Gelegenheit,
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sich in dieser Kunst zu üben, und dann, ohne Unterbrechung, bis zum
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Sommer 1917, wo das Anstehen um alle Dinge der gewöhnliche Zustand wurde.
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Man muß sich die ärmlich gekleideten Menschen vorstellen, wie
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sie mitten im russischen Winter oft den ganzen Tag in den froststarren
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Straßen Petrograds standen! Ich habe in den Schlangen zugehört
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und den bitteren Unterton der Unzufriedenheit vernommen, wenn er sich hier
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und da sogar durch die wie ein Wunder anmutende Gutmütigkeit des russischen
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Volkes Bahn brach. Dabei hatten alle Theater Abend für Abend, auch des
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Sonntags, Hochbetrieb. Die Karsawina zeigte sich in einem neuen Ballett im
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Marientheater, und alle tanzbegeisterten Russen gingen hin, sie zu sehen.
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Schaljapin sang. Im Alexandratheater wurde Meyerholds Inszenierung von Tolstois
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ÆDer Tod Iwans des Schrecklichen" gegeben. Und bei dieser Vorstellung
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erinnere ich mich, einen Zögling der Kaiserlichen Pagenschule in Galauniform
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beobachtet zu haben, der in den Pausen jedesmal aufstand und vor der leere,
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ihrer Adler beraubten kaiserlichen Loge seine Ehrenbezeugungen machte....
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Das Kriwoje-Serkalo - Theater brachte eine prunkvolle Aufführung von
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Schnitzlers ÆReigen".
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Obgleich die Eremitage und andere Gemäldegalerien nach Moskau
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übergeführt worden waren, gab es wöchentlich
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Gemäldeausstellungen Scharen von Studentinnen liefen zu den Vorlesungen
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über Kunst, Literatur und Philosophie. Es war eine ausnehmend günstige
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Zeit für Theosophen. Und die Heilsarmee, die zum erstenmal in Rußland
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zugelassen war, bedeckte die Mauern mit Einladungen zu ihren Versammlungen,
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die die russischen Hörer amüsierten und in Erstaunen versetzten....Wie
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immer in solchen Zeiten, ging das tägliche Leben in der Stadt seinen
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gewohnten Trott und ignorierte die Revolution soweit wie möglich. Die
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Poeten machten Verse - doch nicht über die Revolution. Die realistische
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Maler malten Szenen aus der mittelalterlichen Geschichte Rußlands -
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alles mögliche, nur nicht die Revolution. Die jungen Damen aus der Provinz
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kamen in die Hauptstadt um Französisch zu lernen und ihre Stimme zu
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kultivieren, und die lustigen, jungen Offiziere trugen ihre goldverbrämten
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Uniformen und ihre kostbar ziselierten kaukasischen Säbel in den Salons
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der Hotels spazieren. Die Damen der Beamtenschaft trafen sich an den Nachmittagen
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zum Tee, wobei jede ihr goldenes oder silbernes, mit Edelsteinen besetztes
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Zuckerdöschen und einen halben Laib Brot in ihrem Muff mit sich brachte
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- und wünschten sich den Zaren zurück, oder das die Deutschen kommen
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sollten, oder irgend etwas, was das schwierige Dienstbotenproblem zu lösen
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geeignet wäre.....Die Tochter eines meiner Bekannten bekam eines Nachmittags
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einen hysterischen Anfall, weil die Straßenbahnschaffnerin sie
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ÆGenossin" genannt hatte. Um sie herum war das ganze große
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Rußland in Bewegung, schwanger mit einer neuen sozialen Ordnung. Die
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Dienstboten, die man gewohnt war, wie Tiere zu behandeln und mit einem
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Bettelpfennig zu entlohnen, begannen aufsässig zu werden. Ein Paar Schuhe
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kostete über hundert Rubel, und da die Löhne in der Regel nicht
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mehr als fünfunddreißig Rubel im Monat betrugen, weigerten sich
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die Dienstboten, um Lebensmittel anzustehen und dabei ihr Schuhzeug zu verderben.
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Aber - was weitaus schlimmer war - in dem neuen Rußland durfte jeder
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Mann und jede Frau wählen; es gab Arbeiterzeitungen, die ganz neue und
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erstaunliche Dinge schrieben; es gab Sowjets, und es gab Gewerkschaften.
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Die Droschkenkutscher Hatten einen Verband; sie waren auch im Petrograder
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Sowjet vertreten. Und die Kellner und Hotelbediensteten waren organisiert
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und weigerten sich, Trinkgelder zu nehmen. An den Wänden der Restaurants
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klebten sie Zettel an, auf denen zu lesen stand: ÆKeine Trinkgelder!"
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oder auch: Æ Die Tatsache, daß ein Mann seinen Lebensunterhalt
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verdient, indem er bei Tisch aufwartet, gibt niemandem das Recht, ihn durch
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Trinkgeldgeben zu beleidigen."
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An der Front setzten sich die Soldaten mit den Offizieren auseinander und
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lernten es, sich mit Hilfe ihrer Komitees selbst zu regieren. In den Fabriken
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erlangten die Fabrikkomitees, diese einzigartigen russischen Organisationen,
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Erfahrung und Stärke und kamen zum Bewußtsein ihrer historischen
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Mission durch den Kampf mit der alten Ordnung. Ganz Rußland lernte
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lesen. Und es <I>las </I>- Politik, Ökonomie, Geschichte. Das Volk wollte
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<I>Wissen</I>....In jeder Großstadt, fast in jeder Stadt, an der ganzen
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Front hatte jede politische Partei ihre Zeitung, manchmal mehrere.
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Hunderttausende von Flugblättern wurden von Tausenden Organisationen
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verteilt, überschwemmten die Armee, die Dörfer, die Fabriken, die
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Straßen. Der Drang nach Wissen, so lange unterdrückt, brach sich
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in der Revolution mit Ungestüm Bahn. Allein aus dem Smolny-Institut
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gingen in den ersten sechs Monaten täglich Tonnen, Wagenladungen Literatur
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ins Land. Rußland saugte den Lesestoff auf, unersättlich, wie
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heißer Sand das Wasser. Und es waren nicht Fabeln, die verschlungen
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wurden, keine Geschichtslügen, keine verwässerte Religion oder
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der billige Roman, der demoralisiert - es waren soziale und ökonomische
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Theorien, philosophische Schriften, die Werke Tolstois, Gogols und Gorkis...Und
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dann das gesprochene Wort, neben dem Carlyles ÆFlut der französischen
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Rede" wie ein armseliges Rinnsal anmutet: Vorlesungen, Debatten, Reden; in
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Theatern, Zirkussen, Schulen, Klubs, in den Sitzungen der Sowjets, der
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Gewerkschaften, in den Kasernen.... Versammlungen in den
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Schützengräben an der Front, auf den Dorfplätzen, in den
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Fabriken...Was für ein Anblick, die Arbeiter der Putilow- Werke,
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vierzigtausend Mann stark, herausströmen zu sehen, um die Sozialdemokraten
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zu hören, die Sozialrevolutionäre, die Anarchisten - wer immer
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etwas zu sagen hatte, solange er reden wollte. Monatelang war in Petrograd,
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in ganz Rußland jede Straßenecke eine öffentliche Tribüne.
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In den Eisenbahnen, in den Straßenbahnwagen, überall improvisierte
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Debatten, überall...Und die Gesamtrussischen Konferenzen und Kongresse,
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die die Menschen zweier Kontinente in Verbindung brachten - Kongresse der
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Sowjets, der Genossenschaften, der Semstwos, der Nationalitäten, der
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Priester, der Bauern, der politischen Parteien; die Demokratische Beratung,
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die Moskauer Beratung, der Rat der Russischen Republik. In Petrograd tagten
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ständig drei oder vier Kongresse. In den Versammlungen wurde jeder Versuch,
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die Redezeit einzuschränken, abgelehnt. Jedermann hatte vollkommene
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Freiheit, auszusprechen, was er auf dem Herzen hatte...Wir waren bei der
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Zwölften Armee an der Front, die eben von Riga gekommen war, wo hungernde
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und barfüßige Soldaten in dem Moder der Schützengräben
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dahinkrankten; kaum sahen sie uns, als sie auch schon aufsprangen, mit ihren
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mageren Gesichtern und ihren blaugefrorenen Gliedern, die durch ihre zerrissenen
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Kleider schimmerten. Und das erste, was sie fragten, war: ÆHabt ihr
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was zu lesen?"
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Wenn aber auch an äußeren und sichtbaren Zeichen der Wandlung
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kein Mangel war: zum Beispiel die Statue der ÆGroßen Katharina"
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vor dem alexandratheater eine kleine rote Fahne in der Hand hielt und andere
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- etwas verblichen - von allen öffentlichen Gebäuden herabwehten;
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die kaiserlichen Insignien und Adler teils heruntergerissen, teils verdeckt
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waren; an der Stelle der brutalen zaristischen Polizisten in den Straßen
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eine sanfte unbewaffnete Bürgermiliz patroullierte - so gab es dennoch
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zahllose wunderliche Anachronismen. Beispielsweise existierte noch immer
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die Rangordnung, die Peter der Große Rußland mit eiserner Hand
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aufgezwungen hatte. Fast jedermann, vom Schulbuben angefangen, hatte seine
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vorgeschriebene Uniform, mit den Abzeichen des Kaisers auf den Knöpfen
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und Achselstücken. Von fünf Uhr nachmittags an waren die Straßen
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gefüllt mit alten Herren in Uniform, die Aktenmappen trugen und von
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der Arbeit in den riesengroßen kasernengleichen Ministerien oder
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Regierungsinstitutionen kamen, wo ihre Tätigkeit darin bestehen mochte,
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auszurechnen, wie lange es währen würde, bis der Tod eines ihrer
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Vorgesetzten sie zum Rang eines Assessors oder Geheimrats aufsteigen lassen
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würde mit der Aussicht auf Pensionierung, mit einem einträglichen
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Ruhegehalt und womöglich mit dem St. Annenkreuz..... Dem Senator Sokolow
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ist es passiert, in einem Moment, als die Revolution ihre höchste Welle
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erreicht hatte, daß er eines Tages zu einer Senatssitzung in Zivilkleidung
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erschien und nicht zugelassen wurde, weil er nicht die vorgeschriebene Livree
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des Zarendienstes trug! Gegen diesen Hintergrund einer ganzen Nation in
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Gärung und Auflösung rollte die Erhebung der russischen Massen
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heran....
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