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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Kurt Eisner - Sittenbilder des Kapitalismus</TITLE>
<META name="BOOKTITLE" content="Zwischen Kapitalismus und Kommunismus">
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<P><SMALL>Kurt Eisner: Zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Reden und Aufs&auml;tze. Edition Suhrkamp.<BR>
1. Korrektur<BR>
Erstellt am 20.11.1999</SMALL></P><H2>Kurt Eisner</H2>
<H1>Sittenbilder des Kapitalismus</H1>
<P><SMALL>in: Vorw&auml;rts, 7.1., 8.4., 3.6., 24.6. 1900; 20.3.1904</SMALL></P>
<HR size="1">
<P>Man kann unserer Zeit und unserem Deutschland jeden Vorwurf anheften, nur den
einen nicht, da&szlig; man sich &uuml;berm&auml;&szlig;iger
Gef&uuml;hlsweichheit hingebe. Im Gegenteil: Die Anklage, wir seien ein Volk
von Dichtern und Denkern, wird als die schwerste Beleidigung empfunden. Energie
ist alles, und die Gewalt der st&auml;rkeren Muskeln - seien sie von Fleisch,
Stahl oder Gold - regiert, den humanit&auml;tsduseligen Schlappiers zum Trotz.
Wir achten nicht das Selbstbestimmungsrecht fremder V&ouml;lker, sondern wir
kultivieren sie mit Schnaps, Blei, Strick und Bibel. Wir vernichten
unz&auml;hliges Leben, zertreten es in Not und Siechtum. Wir legen den freien
Geist an die w&uuml;rgenden Ketten wirtschaftlicher Abh&auml;ngigkeit. Wir
beten zum Kleinkalibrigen und Panzerschiff und erstreben nur ein Ziel: so stark
zu sein, um v&ouml;llig r&uuml;cksichtslos sein zu d&uuml;rfen. Das tun wir
alles und sch&auml;men uns nicht. Lachend schreiten wir &uuml;ber die Leiber
und Seelen derer, die man im veralteten Deutsch der Heiligen Schrift
N&auml;chste nennt, w&auml;hrend sie f&uuml;r die realpolitische Betrachtung
Konkurrenten, Feinde sind.
<P>Die Verletzung der Person, die Beeintr&auml;chtigung, Sch&auml;digung und
Zerst&ouml;rung fremden Daseins erscheint inmitten unseres Kulturlebens in
mannigfachen Arten. Dabei ist das Ma&szlig; der Sch&auml;dlichkeit durchaus
nicht das Ma&szlig; der Beurteilung. Der im Krieg organisierte Massentotschlag
erscheint wie ein furchtbares, unentrinnbares, in seiner erbarmungslosen
Gewaltt&auml;tigkeit zugleich heroisches Schicksal; und wenn die Kraft und
Bl&uuml;te eines Volks sinnlos geopfert wird - was gilts, die
Geschichtsfabulisten weisen uns die historische Notwendigkeit des glorreichen
Ereignisses nach (...).
<P>Aus unz&auml;hligen Rinnsalen l&auml;&szlig;t der giftmischende Kapitalismus
unabl&auml;ssig Tod und Siechtum in die Leiber der besitzlosen Arbeitssklaven
str&ouml;men. Wir begn&uuml;gen uns, bedauernd die Berufskrankheiten zu
beschreiben, die fr&uuml;hes Sterben bewirken, und, an die grausige Erscheinung
wie an ein Unvermeidliches gewohnt, werden wir uns kaum v&ouml;llig
bewu&szlig;t, da&szlig; diese Massenvergiftung, die der Mehrheit der Menschen
den gr&ouml;&szlig;eren Teil des von der Natur gew&auml;hrten Lebens
widernat&uuml;rlich raubt, das fluchtw&uuml;rdigste Verbrechen ist.
<I>(1900)</I></P>
<P>Die Lust am Grausigen fand in diesen Tagen reiche S&auml;ttigung und der
Lokalreporter &uuml;ppigen Zeilenlohn: Ein Knabe, der seinen Lehrherrn
n&auml;chtlich zu ermorden sucht, um sein Geld zu rauben; ein Wegelagerer, der
in der n&auml;chsten Umgebung von Berlin Radfahrer &uuml;berf&auml;llt,
erschl&auml;gt und auspl&uuml;ndert; eine in der t&auml;glichen Geldmisere
krankhaft gereizte Frau, die sich mit ihren vier Kindern aus dem Fenster vier
Stock abw&auml;rts auf den Hof st&uuml;rzt; und endlich der
Kriminalproze&szlig;, in dem ein moderner Zauberer und Geisterbeschw&ouml;rer,
ein Doktor Faustus des weltst&auml;dtischen Hinterhauses, sich wegen der
gewinns&uuml;chtigen Vergiftung einer armen gl&auml;ubigen N&auml;rrin zu
verantworten hat. Nimmt man hinzu die endlosen Betrachtungen &uuml;ber Ritual-
und S&uuml;hnemord, die auf der H&ouml;he unserer Zeit gesponnen werden, so
spannt sich vor uns ein unheimlich d&uuml;steres Kulturbild, das mit Blut
gepinselt und mit den Schwefelflammen beleuchtet ist, die von dem Spelunkenherd
her&uuml;berlohen, in denen die drei Hexen des Hungers, der Geldgier und des
Aberglaubens das Geschick dieser Tage bestimmen. Die d&uuml;nne Humusschicht
der modernen Kultur scheint wie lockerer Flugsand in Nichts verweht, und
unendlich breitet sich das &ouml;de Brachfeld, nach Blut riechend, &uuml;ber
ihm hallend ein Wimmern der Verzweiflung und ein Gel&auml;chter des Wahnsinns,
am Rande ein Irrenhaus, eine Idiotenanstalt, ein Selbstm&ouml;rderkirchhof, ein
Hungerturm und in der Mitte ein Schafott, &uuml;ber dem ein aus den Wolken
h&auml;ngendes Riesenbeil glei&szlig;t - sonst nichts auf der ganzen Welt. Alle
Kulturarbeit der Menschheit zerronnen, die M&uuml;hen der Jahrtausende
zertreten, die Vernunft nur ein schillernder Traum und die menschliche
G&uuml;te ein leerer Einfall sonder Kraft und Wirkung. Narren, die pfeifen, und
Narren, die tanzen, bis aus dem Hinterhalt Hunger und Mord w&uuml;rgend
st&uuml;rzen - dann hat auch diese Herrlichkeit die verdiente Ruhe. Die
Boxerplakate, die europ&auml;ische Journalisten-Phantasie &uuml;ber die
wei&szlig;en Teufel zusammenfabuliert hat, wirken wie edle Kulturbl&uuml;ten
angesichts der schmutzigen Gew&auml;chse, die aus der abendl&auml;ndischen
Barbarei wuchern. Die hektographierten Berichte der Lokalreporter schreiben die
wahre Geschichte unsrer Zeit, und wenn sich die Gemeinheit und der Jammer, der
sich in diesen Dingen enth&uuml;llt, aufbl&auml;ht, frisiert und einen stolzen
Purpurmantel um die edle Bl&ouml;&szlig;e wirft, dann steht vor uns die
gro&szlig;e, die hohe Politik der Staatsm&auml;nner, die die Geschichte der
V&ouml;lker nach dem Vorbild der lokalen Verbrechen, Selbstmorde, Gaunereien
und Verr&uuml;cktheiten zu leiten bem&uuml;ht sind.
<P>All jene Sensationsf&auml;lle der letzten Woche, die das Herz der
Zeitungskapitalisten erheitern, den Stumpfsinn der parteilosen Philister
woll&uuml;stig kitzeln und das Gem&uuml;t des Kulturmenschen mit tiefer Sorge
erf&uuml;llen, alle diese epileptischen Krampferscheinungen einer morschen
Gesellschaft bewegen sich um ein Motiv:<BR>
das Geld. Man mordet, um zu rauben, man zerschmettert sich und den Kindern das
Leben, um der Qual zu entgehen, welche der t&auml;gliche Kampf um das Brot
zeugt, man verb&uuml;ndet sich mit den wildesten D&auml;monen menschlichen
Aberwitzes, um aus der Dummheit und Not Gewinn zu ziehen.
<P>Am niederdr&uuml;ckendsten aber wirkt gerade diese Verbindung materiellen und
geistigen Elends (...). Die dumpfe Unbefriedigung, in der unz&auml;hlige
Menschen unsrer Zivilisation materiell und geistig leben, erkl&auml;rt die
M&ouml;glichkeit solcher Erscheinungen, in denen die Gespenster eines im
Wahnsinn und Verbrechen konzentrierten Mittelalters umzugehen scheinen. Kein
heller Schein der modernen Vernunftfreiheit hat jemals diese Gehirne
erleuchtet, in denen die Dressur in unverstandener religi&ouml;ser Dogmatik die
Empf&auml;nglichkeit f&uuml;r jene rohe und plumpe Mystik vorbereitet hat, zu
der sich die Siechen fl&uuml;chten, wenn sie der zerrenden wirtschaftlichen
Not, dem seelischen Ungen&uuml;gen, der geschlechtlichen Entbehrung, dem
k&ouml;rperlichen Leiden eine Hilfe suchen. Sie wenden sich an den
geheimnisvollen Spuk, an das M&ouml;gliche des Unm&ouml;glichen, an das absurde
Wunder. Und nicht nur die arme N&auml;herin sieht in dem Kaffeesatz eines
Betr&uuml;gers den Quell allen Gl&uuml;cks und aller Weisheit, auch die
Besitzenden haben sich l&auml;ngst wieder der d&uuml;mmsten und albernsten
Magie ergeben.
<I>(1900)</I>
<P>Man durchwandere abends die Stra&szlig;en einer Gro&szlig;stadt, man schaue in
die hellerleuchteten Prachtcafes und Bierpal&auml;ste, man besuche die
Destillen und steige in die Kellerlokale hinab, man durchwandere die
Tingel-Tangel: alles St&auml;tten des Lebensgenusses in seiner
konzentriertesten und brutalsten Form, des Am&uuml;sements. Zwar gibt es ja
auch Theater, in denen wirkliche Kunst dem gel&auml;uterten Geschmack einen
erlesenen Genu&szlig; bereitet, allein auf jeden wahren Kunsttempel, auf dessen
Alt&auml;ren freilich nicht immer die echte Kunst geopfert wird, kommt ein
halbes Dutzend solcher Musentempel, die dem Kult des Grotesken, Trivialen,
Obsz&ouml;nen, Frechen und Albernen geweiht sind. Und dieser Kult z&auml;hlt
viel mehr begeisterte Verehrer, als der der wahren Kunst. (...)
<P>Der Kapitalismus kennt nur das Surrogat des Lebensgenusses, das Am&uuml;sement.
Die Form der kapitalistischen Arbeitsteilung, die den einen ein sybaritisches
Lotterleben erm&ouml;glicht, w&auml;hrend sie die anderen zur Tretm&uuml;hle
einer die intellektuelle und physische Kraft absorbierenden Arbeitsfron
verdammt, l&auml;&szlig;t nicht dem edlen Lebensgenu&szlig;, sondern nur dem
barbarischen Am&uuml;sement Raum.
<I>
(1900)
</I>
<P>Satiriker und Kulturpolitiker haben schlimme Zeiten. Der Satiriker ist nicht
mehr gewachsen der F&uuml;lle satirischer Tatsachen, die jeder Tag
ansp&uuml;lt. Da hilft kein k&uuml;nstliches Wortesch&auml;rfen, kein
phantastisch-greller Einfall mehr, auch der brennendste Teufelswitz
verd&uuml;nnt und schw&auml;cht nur den schreienden Hohn des Geschehens selbst.
Nicht einmal &uuml;bertreiben lassen sich mehr die Geschehnisse, durch
karikierende Beziehungen werden ihre Formen nicht grotesker. Der Scharfsinn des
Sp&ouml;tters ist entbehrlich geworden. Sogar die blo&szlig;e gestempelte
Bildunterschrift &#187;Kommentar &uuml;berfl&uuml;ssig&#171; ist ein verbogenes
Ausrufungszeichen, das den Ausruf der Tatsachen knebelt.
<P>Mu&szlig; der Satiriker den Witz im Stall behalten, so hat auch der
Kulturkritiker nicht mehr die M&ouml;glichkeit, durch das Pathos der Anklage,
durch die Dialektik der Emp&ouml;rung die nat&uuml;rliche Wucht der Ereignisse
zu steigern und dem Bewu&szlig;tsein der Menschen aufpeitschend
einzupr&auml;gen. Die Superlative des Wortes reichen nicht mehr heran an die
Superlative der Dinge. Die &#187;Besprechung&#171; der Angelegenheiten
t&ouml;tet nur ihre innere Wirkung. Die Nachricht allein wird zum Nachrichter,
jede kritische Zutat erstickt die Grausamkeit des immanenten Urteils. Zudem
vermag keine Gei&szlig;el mehr die abgestumpften Nerven zu reizen. Wir haben
uns an alles gew&ouml;hnt, an das Tollste und Ruchloseste. Die Dinge erreichen
schnell die Grenze, wo sie f&uuml;r die Empfindung nicht mehr &uuml;berboten
werden k&ouml;nnen. Vorg&auml;nge, die vordem ein Jahrzehnt hindurch die
Menschen erregten, haben heute nur noch den Wert von Neuigkeiten, die man unter
tausend anderen fl&uuml;chtig in der Zeitung liest und vergi&szlig;t. Vergebens
ist das Bem&uuml;hen der Sehns&uuml;chtigen der Kultur, die Gewissen zu
sch&uuml;ren, die Schlafenden wachzuschreien. Und wirft man die
Fackelbr&auml;nde aufreizender Wahrheit unter sie, so wickeln sie
die Fackeln in ihre gutgepolsterten Schlafr&ouml;cke und zeigen, wie leicht und
ungef&auml;hrlich ihre Flammen erstickt
werden k&ouml;nnen; kaum ein Wollh&auml;rchen wird bei der Prozedur
versehrt.
<I>(1904)</I>
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<P><SMALL>Pfad: &raquo;../ke/&laquo;<BR>
Verkn&uuml;pfte Dateien: &raquo;<A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">../css/format.css</A>&laquo;</SMALL></P>
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