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<!-- Last revised 05 Dez, 1996 -->
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<TITLE>Rosa Luxemburg: Die russische Revolution</TITLE>
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<script src="http://www.mlwerke.de/scripte/Dokident.js" type="text/javascript" language="JavaScript"></script>
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<A name="top"><H2>Rosa Luxemburg</BIG></H2></A>
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<A name="quelle">Quelle: Politische Schriften, Band 3, Europäische
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Verlagsanstalt, Frankfurt a. Main, 1968, Seite 106- 141</A>
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Zuerst veröffentlicht 1922 von Paul Levi nach dem handschriftlichen
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Manuskript aus dem Nachlaß.
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<H1>Die russische Revolution</H1>
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<h3>I </h3>
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Die russische Revolution ist das gewaltigste Faktum des Weltkrieges. Ihr
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Ausbruch, ihr beispielloser Radikalismus, ihre dauerhafte Wirkung strafen
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am besten die Phrase Lügen, mit der die offizielle deutsche Sozialdemokratie
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den Eroberungsfeldzug des deutschen Imperialismus im Anfang diensteifrig
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ideologisch bemäntelt hat: die Phrase von der Mission der deutschen
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Bajonette, den Zarismus zu stürzen und seine unterdrückten Völker
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zu befreien. Der gewaltige Umfang, den die Revolution in Rußland angenommen
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hat, die tiefgehende Wirkung, womit sie alle Klassenverhältnisse
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erschüttert, sämtliche sozialen und wirtschaftlichen Probleme
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aufgerollt, sich folgerichtig vom ersten Stadium der bürgerlichen Republik
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voranbewegt hat - wobei der Sturz des Zarismus nur eine knappe Episode, beinahe
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eine Lappalie geblieben ist -, all dies zeigt auf flacher Hand, daß
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die Befreiung Rußlands nicht das Werk des Krieges und der
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militärischen Niederlage des Zarismus war, nicht das Verdienst "deutscher
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Bajonette in deutschen Fäusten", wie die "Neue Zeit" unter der Redaktion
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Kautskys im Leitartikel versprach, sondern daß sie im eigenen Lande
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tiefe Wurzeln hatte und innerlich vollkommen reif war. Das Kriegsabenteuer
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des deutschen Imperialismus unter dem ideologischen Schilde der deutschen
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Sozialdemokratie hat die Revolution in Rußland nicht herbeigeführt,
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sondern nur für eine Zeitlang, anfänglich - nach ihrer ersten
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steigenden Sturmflut in den Jahren 1911-1913 - unterbrochen und dann - nach
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ihrem Ausbruch - ihr die schwierigsten, abnormalsten Bedingungen geschaffen.
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Dieser Verlauf ist aber für jeden denkenden Beobachter auch ein schlagender
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Beweis gegen die doktrinäre Theorie, die Kautsky mit der Partei der
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Regierungssozialdemokraten teilt, wonach Rußland als wirtschaftlich
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zurückgebliebenes, vorwiegend agrarisches Land für die soziale
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Revolution und für eine Diktatur des Proletariats noch nicht reif
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wäre. Diese Theorie, die in Rußland nur eine BÜRGERLICHE
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Revolution für angängig hält - aus welcher Auffassung sich
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dann auch die Taktik der Koalition der Sozialisten in Rußland mit dem
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bürgerlichen Liberalismus ergibt -, ist zugleich diejenige des
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opportunistischen Flügels in der russischen Arbeiterbewegung, der
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sogenannten Menschewiki unter der bewährten Führung Axelrods und
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Dans. Beide: die russischen wie die deutschen Opportunisten treffen in dieser
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grundsätzlichen Auffassung der russischen Revolution, aus der sich die
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Stellungnahme zu den Detailfragen der Taktik von selbst ergibt, vollkommen
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mit den deutschen Regierungssozialisten zusammen: nach der Meinung aller
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drei hätte die russische Revolution bei jenem Stadium halt machen sollen,
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das sich die Kriegführung des deutschen Imperialismus nach der Mythologie
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der deutschen Sozialdemokratie zur edlen Aufgabe stellt: beim Sturz des Zarismus.
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Wenn sie darüber hinausgegangen ist, wenn sie die Diktatur des Proletariats
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zur Aufgabe gestellt hat, so ist das nach jener Doktrin ein einfacher Fehler
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des radikalen Flügels der russischen Arbeiterbewegung, der Bolschewiki,
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gewesen, und alle Unbilden, die der Revolution in ihrem weiteren Verlauf
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zugestoßen sind, alle Wirren, denen sie zum Opfer gefallen, stellen
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sich eben als ein Ergebnis dieses verhängnisvollen Fehlers dar. THEORETISCH
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läuft diese Doktrin, die vom Stampferischen Vorwärts wie von Kautsky
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gleichermaßen als Frucht "marxistischen Denkens" empfohlen wird, auf
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die originelle "marxistische" Entdeckung hinaus, daß die sozialistische
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Umwälzung eine nationale, sozusagen häusliche Angelegenheit jedes
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modernen Staates für sich sei. In dem blauen Dunst des abstrakten Schemas
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weiß ein Kautsky natürlich sehr eingehend die weltwirtschaftlichen
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Verknüpfungen des Kapitals auszumalen, die aus allen modernen Ländern
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einen zusammenhängenden Organismus machen. Rußlands Revolution
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- eine Frucht der internationalen Entwicklung und der Agrarfrage - ist aber
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unmöglich in den Schranken der bürgerlichen Gesellschaft zu
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lösen.
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PRAKTISCH hat diese Doktrin die Tendenz, die Verantwortlichkeit des
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internationalen, in erster Linie des deutschen Proletariats, für die
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Geschichte der russischen Revolution abzuwälzen, die internationalen
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Zusammenhänge dieser Revolution zu leugnen. Nicht Rußlands Unreife,
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sondern die Unreife des deutschen Proletariats zur Erfüllung der
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historischen Aufgaben hat der Verlauf des Krieges und der russischen Revolution
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erwiesen, und dies mit aller Deutlichkeit hervorzukehren ist die erste Aufgabe
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einer kritischen Betrachtung der russischen Revolution. Die Revolution
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Rußlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen
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Ereignissen abhängig. Daß die Bolschewiki ihre Politik gänzlich
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auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das
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glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer
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grundsätzlichen Festigkeit, des kühnen Wurfs ihrer Politik. Darin
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ist der gewaltige Sprung sichtbar, den die kapitalistische Entwicklung in
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dem letzten Jahrzehnt gemacht hat. Die Revolution 1905-1907 fand nur ein
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schwaches Echo in Europa. Sie mußte deshalb ein Anfangskapitel bleiben.
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Fortsetzung und Lösung war an die europäische Entwicklung gebunden.
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Es ist klar, daß nicht kritikloses Apologetentum, sondern nur eingehende
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nachdenkliche Kritik imstande ist, die Schätze an Erfahrungen und Lehren
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zu heben. Es wäre in der Tat eine wahnwitzige Vorstellung, daß
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bei dem ersten welthistorischen Experiment mit der Diktatur der Arbeiterklasse,
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und zwar unter den denkbar schwersten Bedingungen: mitten im Weltbrand und
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Chaos eines imperialistischen Völkermordens in der eisernen Schlinge
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der reaktionärsten Militärmacht Europas, unter völligem Versagen
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des internationalen Proletariats, daß bei einem Experiment der
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Arbeiterdiktatur unter so abnormen Bedingungen just alles, was in Rußland
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getan und gelassen wurde, der Gipfel der Vollkommenheit gewesen sei. Umgekehrt
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zwingen die elementaren Begriffe der sozialistischen Politik und die Einsicht
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in ihre notwendigen historischen Voraussetzungen zu der Annahme, daß
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unter so fatalen Bedingungen auch der riesenhafteste Idealismus und die
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sturmfeste revolutionäre Energie nicht Demokratie und nicht Sozialismus,
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sondern nur ohnmächtige, verzerrte Anläufe zu beiden zu verwirklichen
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imstande seien.
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Sich dies in allen tiefgehenden Zusammenhängen und Wirkungen klar vor
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die Augen zu führen, ist geradezu elementare Pflicht der Sozialisten
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in allen Ländern; denn nur an einer solchen bitteren Erkenntnis ist
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die ganze größe der eigenen Verantwortung des internationalen
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Proletariats für die Schicksale der russischen Revolution zu ermessen.
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Andererseits kommt nur auf diesem Wege die entscheidende Wichtigkeit des
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geschlossenen internationalen Vorgehens der proletarischen Revolution zur
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Geltung - als eine Grundbedingung, ohne die auch die größte
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Tüchtigkeit und die höchsten Opfer des Proletariats in einem einzelnen
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Lande sich unvermeidlich in ein Wirrsal von Widersprüchen und Fehlgriffen
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verwickeln müssen.
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Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß die klugen Köpfe an der
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Spitze der russischen Revolution, daß Lenin und Trotzki auf ihrem
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dornenvollen, von Schlingen aller Art umstellten Weg gar manchen entscheidenden
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Schritt nur unter größten inneren Zweifeln und mit dem heftigsten
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inneren Widerstreben taten und daß ihnen selber nichts ferner liegen
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kann, als all ihr unter dem bitteren Zwange und Drange in gärendem Strudel
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der Geschehnisse eingegebenes Tun und Lassen von der Internationale als erhabenes
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Muster der sozialistischen Politik hingenommen zu sehen, für das nur
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kritiklose Bewunderung und eifrige Nachahmung am Platze wäre.
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Es wäre ebenso verfehlt, zu befürchten, eine kritische Sichtung
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der bisherigen Wege, die die russische Revolution gewandelt, sei eine
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gefährliche Untergrabung des Ansehens und des faszinierenden Beispiels
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der russischen Proletarier, das allein die fatale Trägheit der deutschen
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Massen überwinden könne. Nichts verkehrter als dies. Das Erwachen
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der revolutionären Tatkraft der Arbeiterklasse in Deutschland kann
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nimmermehr im Geiste der Bevormundungsmethoden der deutschen Sozialdemokratie
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seligen Angedenkens durch irgendeine fleckenlose Autorität, sei es die
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der eigenen "Instanzen" oder die des "russischen Beispiels", hervorgezaubert
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werden. Nicht durch Erzeugung einer revolutionären Hurrastimmung, sondern
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umgekehrt: nur durch Einsicht in den ganzen furchtbaren Ernst, die ganze
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Kompliziertheit der Aufgaben, aus politischer Reife und geistiger
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Selbständigkeit, aus kritischer Urteilsfähigkeit der Massen, die
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von der deutschen Sozialdemokratie unter verschiedensten Vorwänden
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jahrzehntelang systematisch ertötet wurde, kann die geschichtliche
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Aktionsfähigkeit des deutschen Proletariats geboren werden. Sich kritisch
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mit der russischen Revolution in allen historischen Zusammenhängen
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auseinanderzusetzen, ist die beste Schulung der deutschen wie der internationalen
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Arbeiter für die Aufgaben, die ihnen aus der gegenwärtigen Situation
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erwachsen.
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<h3>II </h3>
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Die erste Periode der russischen Revolution von deren Ausbruch im März
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bis zum Oktoberumsturz entspricht in ihrem allgemeinen Verlauf genau dem
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Entwicklungsschema sowohl der großen englischen wie der großen
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französischen Revolution. Er ist der typische Werdegang jeder ersten
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großen Generalauseinandersetzung der im Schoße der bürgerlichen
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Gesellschaft erzeugten revolutionären Kräfte mit den Fesseln der
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alten Gesellschaft.
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Ihre Entfaltung bewegt sich naturgemäß auf aufsteigender Linie:
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von gemäßigten Anfängen zu immer größerer
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Radikalisierung der Ziele und parallel damit von der Koalition der Klassen
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und Parteien zur Alleinherrschaft der radikalen Partei.
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Im ersten Moment im März 1917 standen an der Spitze der Revolution die
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"Kadetten", d.h. die liberale Bourgeoisie. Der allgemeine erste Hochgang
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der revolutionären Flut riß alle und alles mit: die vierte Duma,
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das reaktionärste Produkt des aus dem Staatsstreich hervorgegangenen
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Vierklassenwahlrechts verwandelte sich plötzlich in ein Organ der
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Revolution. Sämtliche bürgerlichen Parteien, einschließlich
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der nationalistischen Rechten, bildeten plötzlich eine Phalanx gegen
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den Absolutismus. Dieser fiel auf den ersten Ansturm fast ohne Kampf, wie
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ein abgestorbenes Organ, das nur angerührt zu werden brauchte, um dahin
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zu fallen. Auch der kurze Veruch der liberalen Bourgeoisie, wenigstens die
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Dynastie und den Thron zu retten, zerschnellte in wenigen Stunden. Der
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reißende Fortgang der Entwicklung übersprang in Tagen und Stunden
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Strecken, zu denen Frankreich einst Jahrzehnte brauchte. Hier zeigte sich,
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daß Rußland die Resultate der europäischen Entwicklung eines
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Jahrhunderts realisierte und vor allem - daß die Revolution des Jahres
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1917 eine direkte Fortsetzung der von 1905-1907, nicht ein Geschenk der deutschen
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"Befreier" war. Die Bewegung im März 1917 knüpfte unmittelbar dort
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an, wo sie vor zehn Jahren ihr Werk abgebrochen hatte. Die demokratische
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Republik war das fertige, innerlich reife Produkt gleich des ersten Ansturms
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der Revolution.
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Jetzt begann aber die zweite, schwierige Aufgabe. Die treibende Kraft der
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Revolution war vom ersten Augenblick an die Masse des städtischen
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Proletariats. Seine Forderungen erschöpften sich aber nicht in der
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politischen Demokratie, sondern richteten sich auf die brennende Frage der
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internationalen Politik: sofortigen Frieden. Zugleich stürzte sich die
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Revolution auf die Masse des Heeres, das dieselbe Forderung nach sofortigem
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Frieden erhob, und auf die Masse des Bauerntums, das die Agrarfrage, diesen
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Drehpunkt der Revolution schon seit 1905, in den Vordergrund schob. Sofortiger
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Frieden und Land - mit diesen beiden Zielen war die innere Spaltung der
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revolutionären Phalanx gegeben. Die Forderung des sofortigen Friedens
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setzte sich in schärfsten Widerspruch mit der imperialistischen Tendenz
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der liberalen Bourgeoisie, deren Wortführer Miljukow war; die Landfrage
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war das Schreckgespenst zunächst für den anderen Flügel der
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Bourgeoisie: für das Landjunkertum, sodann aber, als Attentat auf das
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heilige Privateigentum überhaupt, ein wunder Punkt für die gesamten
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bürgerlichen Klassen.
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So begann am andern Tage nach dem ersten Siege der Revolution ein innerer
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Kampf in ihrm Schoße um die beiden Brennpunkte: Frieden und Landfrage.
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Die liberale Bourgeoisie begann eine Taktik der Verschleppung und der
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Ausflüchte. Die Arbeitermassen, die Armee, das Bauerntum drängten
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immer ungestümer. Es unterliegt keinem Zweifel, daß mit der Frage
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des Friedens und der Landfrage auch die Schicksale selbst der politischen
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Demokratie der Republik verknüpft waren. Die bürgerlichen Klassen,
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die, von der ersten Sturmwelle der Revolution überspült, sich bis
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zur republikanischen Staatsform hatten mit fortreißen lassen, begannen
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alsbald nach rückwärts Stützpunkte zu suchen und im Stillen
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die Konterrevolution zu organisieren. Der Kaledinsche Kosakenfeldzug gegen
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Petersburg hat dieser Tendenz deutlichen Ausdruck gegeben. Wäre dieser
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Vorstoß von Erfolg gekrönt gewesen, dann war nicht nur die Friedens-
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und die Agrarfrage, sondern auch das Schicksal der Demokratie, der Republik
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selbst besiegelt. Militärdiktatur mit einer Schreckensherrschaft gegen
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das Proletariat und dann Rückkehr zur Monarchie wären die
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unausbleibliche Folge gewesen.
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Daran kann man das Utopische und im Kern Reaktonäre der Taktik ermessen,
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von der sich die russischen Sozialisten der Kautskyschen Richtung, die
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Menschewiki, leiten ließen. In die Fiktion von dem bürgerlichen
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Charakter der russischen Revolution festgebissen - dieweil ja Rußland
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für die soziale Revolution noch nicht reif sei - klammerten sie sich
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verzweifelt an die Koalition mit den bürgerlichen Liberalen, d.h. an
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die gewaltsame Verbindung derjenigen Elemente, die, durch den natürlichen
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inneren Gang der revolutionären Entwicklung gespalten, in schärfsten
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Widerspruch zueinander geraten waren. Die Axelrods, Dans wollten um jeden
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Preis mit denjenigen Klassen und Parteien zusammenarbeiten, von denen der
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Revolution und ihrer ersten Errungenschaft, der Demokratie, die
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größten Gefahren drohten.
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Es ist geradezu erstaunlich zu beobachten, wie dieser fleißige Mann
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(Kautsky) in den vier Jahren des Weltkrieges durch seine unermüdliche
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Schreibarbeit ruhig und methodisch ein theoretisches Loch nach dem andern
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in den Sozialismus reißt, eine Arbeit, aus der der Sozialismus wie
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ein Sieb ohne eine heile Stelle hervorgeht. Der kritiklose Gleichmut, mit
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dem seine Gefolgschaft dieser fleißigen Arbeit ihres offiziellen
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Theoretikers zusieht und seine immer neuen Entdeckungen schluckt, ohne mit
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der Wimper zu zucken, findet nur ihre Analogie in dem Gleichmut, mit dem
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die Gefolgschaft der Scheidemann und Co. zusieht, wie diese letzteren den
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Sozialismus praktisch durchlöchern. In der Tat ergänzen sich die
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beiden Arbeiten vollkommen, und Kautsky, der offizielle Tempelwächter
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des Marxismus, verrichtet seit Ausbruch des Krieges in Wirklichkeit nur
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theoretisch dasselbe, was die Scheidemänner praktisch: 1. Die
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Internationale, ein Instrument des Friedens; 2. Abrüstung und
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Völkerbund, Nationalismus; endlich 3. Demokratie, NICHT Sozialismus.
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<P>
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In dieser Situation gebührt denn der bolschewistischen Richtung das
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geschichtliche Verdienst, von Anfang an diejenige Taktik proklamiert und
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mit eiserner Konsequenz verfolgt zu haben, die allein die Demokratie retten
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und die Revolution vorwärts treiben konnte. Die ganze Macht
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ausschließlich in die Hände der Arbeiter- und Bauernmasse, in
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die Hände der Sowjets - dies war in der Tat der einzige Ausweg aus der
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Schwierigkeit, in die die Revolution geraten war, das war der Schwertstreich,
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womit der gordische Knoten durchhauen, die Revolution aus dem Engpaß
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hinausgeführt und vor ihr das freie Blachfeld einer ungehemmten weiteren
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Entfaltung geöffnet wurde.
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<P>
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Die Lenin-Partei war somit die einzige in Rußland, welche die wahren
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Interessen der Revolution in jener ersten Periode begriff, sie war ihr
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vorwärtstreibendes Element, als in diesem Sinne die einzige Partei,
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die wirklich sozialistische Politik treibt.
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<P>
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<P>
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Dadurch erklärt sich auch, daß die Bolschewiki, im Beginn der
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|
Revolution eine von allen Seiten verfemte, verleumdete und gehetzte Minderheit,
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in kürzester Zeit an die Spitze der Revolution geführt wurden und
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alle wirklichen Volksmassen: das städtische Proletariat, die Armee,
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das Bauerntum, sowie die revolutionären Elemente der Demokratie, den
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linken Flügel der Sozialisten-Revolutionäre, unter ihrer Fahne
|
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sammeln konnten.
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<P>
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<P>
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Die wirkliche Situation der russischen Revolution erschöpfte sich nach
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wenigen Monaten in der Alternative: Sieg der Konterrevolution oder Diktatur
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des Proletariats, Kaledin oder Lenin. Das war die objektive Lage, die sich
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|
in jeder Revolution sehr bald, nachdem der erste Rausch verflogen ist, ergibt
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|
und die sich in Rußland aus den konkreten brennenden Fragen nach dem
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Frieden und der Landfrage ergab, für die im Rahmen der bürgerlichen
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Revolution keine Lösung vorhanden war.
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<P>
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<P>
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Die russische Revolution hat hier nur bestätigt die Grundlehre jeder
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großen Revolution, deren Lebensgesetz lautet: entweder muß sie
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sehr rasch und entschlossen vorwärtsstürmen, mit eiserner Hand
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alle Hindernisse niederwerfen und ihre Ziele immer weiter stecken, oder sie
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wird sehr bald hinter ihren schwächeren Ausgangspunkt zurückgeworfen
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und von der Konterrevolution erdrückt. Ein Stillstehen, ein Trippeln
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auf demselben Fleck, ein Selbstbescheiden mit dem ersten einmal erreichten
|
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Ziel gibt es in der Revolution nicht. Und wer diese hausbackenen Weisheiten
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aus den parlamentarischen Froschmäusekriegen auf die revolutionäre
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Taktik übertragen will, zeigt nur, daß ihm die Psychologie, das
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Lebensgesetz selbst der Revolution ebenso fremd wie alle historische Erfahrung
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ein Buch mit sieben Siegeln ist.
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<P>
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<P>
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Der Verlauf der englischen Revolution seit ihrem Ausbruch 1642. Wie die Logik
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der Dinge dazu trieb, daß erst die schwächlichen Schwankungen
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der Presbyterianer, der zaudernde Krieg gegen die royalistische Armee, in
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dem die presbyterianischen Häupter einer entscheidenden Schlacht und
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einem Siege über Karl I. geflissentlich auswichen, es zur unabweisbaren
|
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Notwendigkeit machten, daß die Independenten sie aus dem Parlament
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vertrieben und die Gewalt an sich rissen. Und ebenso war es weiter innerhalb
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des Independenten-Heeres die untere kleinbürgerliche Masse der Soldaten,
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die Lilburnschen "Gleichmacher", die die Stoßkraft der ganzen
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Independentenbewegung bildeten, sowie endlich die proletarischen Elemente
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der Soldatenmasse, die in der Digger-Bewegung ihren Ausdruck fanden, ihrerseits
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den Sauerteig der demokratischen "Gleichmacher"-Partei darstellten.
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Ohne die geistige Wirkung der revolutionären proletarischen Elemente
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auf die Soldatenmasse, ohne den Druck der demokratischen Soldatenmasse auf
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die bürgerliche Oberschicht der Independentenpartei wäre es weder
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zur "Reinigung" des Langen Parlamentes von den Presbyterianern noch zur
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siegreichen Beendigung des Krieges mit dem Heer der Kavaliere und mit den
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Schotten, noch zum Prozeß und zur Hinrichtung Karls I., noch zur
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Abschaffung der Lordskammer und zur Proklamierung der Republik gekommen.
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Wie war es in der großen französischen Revolution? Die Machtergreifung
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der Jakobiner erwies sich hier nach vierjährigen Kämpfen als das
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einzige Mittel, die Errungenschaften der Revolution zu retten, die Republik
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zu verwirklichen, den Feudalismus zu zerschmettern, die revolutionäre
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Verteidigung nach innen wie nach außen zu organisieren, die Konspiration
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der Konterrevolution zu erdrücken, die revolutionäre Welle aus
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Frankreich über ganz Europa zu verbreiten.
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Kautsky und seine russischen Gesinnungsgenossen, die der russischen Revolution
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ihren "bürgerlichen Charakter" der ersten Phase bewahrt wissen wollten,
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sind ein genaues Gegenstück zu jenen deutschen und englischen Liberalen
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des vorigen Jahrhunderts, die in der großen französischen Revolution
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die zwei Phasen unterschieden: die "gute" Revolution der ersten girondistischen
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Phase und die "schlechte" seit dem jakobinischen Umsturz. Die liberale Seichtheit
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der Geschichtsauffassung brauchte natürlich nicht zu begreifen, daß
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ohne den Umsturz der "maßlosen" Jakobiner auch die ersten zaghaften
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und halben Errungenschaften der ersten girondistischen Phase alsbald unter
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den Trümmern der Revolution begraben worden wären, daß die
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wirkliche Alternative zu der Jakobiner-Diktatur, wie sie der eherne Gang
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der geschichtlichen Entwicklung im Jahre 1793 stellte, nicht die
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"gemäßigte" Demokratie war, sondern - Restauration der Bourbonen!
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Der "goldene Mittelweg" läßt sich eben in keiner Revolution
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aufrechterhalten, ihr Naturgesetz fordert eine rasche Entscheidung: entweder
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wird die Lokomotive volldampf den geschichtlichen Anstieg bis zum
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äußersten Punkt vorangetrieben, oder sie rollt durch die eigene
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Schwerkraft wieder in die Ausgangsniederung zurück und reißt
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diejenigen, die sie auf halbem Wege mit ihren schwachen Kräften aufhalten
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wollten, rettungslos in den Abgrund mit.
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Dadurch erklärt sich, daß in jeder Revolution nur diejenige Partei
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die Führung und die Macht an sich zu reißen vermag, die den Mut
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hat, die vorwärtstreibende Parole auszugeben und alle Konsequenzen daraus
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zu ziehen. Daraus erklärt sich die klägliche Rolle der russischen
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Menschewiki, der Dan, Zeretelli u.a., die, anfänglich von ungeheurem
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Einfluß auf die Massen, nach längerem Hin- und Herpendeln, nachdem
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sie sich gegen die Übernahme der Macht und Verantwortung mit Händen
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und Füßen gesträubt hatten, ruhmlos von der Bühne weggefegt
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worden sind.
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Die Lenin-Partei war die einzige, die das Gebot und die Pflicht einer wirklich
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revolutionären Partei begriff, die durch die Losung: alle Macht in die
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Hände des Proletariats und des Bauerntums, den Fortgang der Revolution
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gesichert hat.
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Damit haben die Bolschewiki die berühmte Frage nach der "Mehrheit des
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Volkes" gelöst, die den deutschen Sozialdemokraten seit jeher wie ein
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Alp auf der Brust liegt. Als eingefleischte Zöglinge des parlamentarischen
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Kretinismus übertragen sie auf die Revolution einfach die hausbackene
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Weisheit der parlamentarischen Kinderstube: um etwas durchzusetzen, müsse
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man erst die Mehrheit haben. Also auch in der Revolution: zuerst werden wir
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eine "Mehrheit". Die wirkliche Dialektik der Revolutionen stellt aber diese
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parlamentarische Maulwurfsweisheit auf den Kopf: nicht durch Mehrheit zur
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revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit
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geht der Weg. Nur eine Partei, die zu führen, d.h. vorwärtszutreiben
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versteht, erwirbt sich im Sturm die Anhängerschaft. Die Entschlossenheit,
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mit der Lenin und Genossen im entscheidenden Moment die einzige
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vorwärtstreibende Losung ausgegeben haben: die ganze Macht in die
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Hände des Proletariats und der Bauern, hat sie fast über Nacht
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aus einer verfolgten, verleumdeten Minderheit, deren Führer sich wie
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Marat in den Kellern verstecken mußten, zur absoluten Herrin der Situation
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gemacht.
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Die Bolschewiki haben auch sofort als Zweck dieser Machtergreifung das ganze
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und weitgehendste revolutionäre Programm aufgestellt: nicht etwa Sicherung
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der bürgerlichen Demokratie, sondern Diktatur des Proletariats zum Zwecke
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der Verwirklichung des Sozialismus. Sie haben sich damit das unvergängliche
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geschichtliche Verdienst erworben, zum erstenmal die Endziele des Sozialismus
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als unmittelbares Programm der praktischen Politik zu proklamieren.
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Was eine Partei in geschichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, revolutionärem
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Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben Lenin, Trotzki und
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Genossen vollauf geleistet. Die ganze revolutionäre Ehre und
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Aktionsfähigkeit, die der Sozialdemokratie im Westen gebrach, war in
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den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktober-Aufstand war nicht nur eine
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tatsächliche Rettung für die russische Revolution, sondern auch
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eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus.
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<h3>III</h3>
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Die Bolschewiki sind die historischen Erben der englischen Gleichmacher und
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der französischen Jakobiner. Aber die konkrete Aufgabe, die ihnen in
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der russischen Revolution nach der Machtergreifung zugefallen ist, war
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unvergleichlich schwieriger als diejenige ihrer geschichtlichen Vorgänger.
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(Bedeutung der Agrarfrage. Schon 1905. Dann in der 3. Duma die rechten Bauern!
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Bauernfrage und Verteidigung, Armee.) Gewiß war die Losung der
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unmittelbaren sofortigen Ergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch
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die Bauern die kürzeste, einfachste und lapidarste Formel, um zweierlei
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zu erreichen: den Großgrundbesitz zu zertrümmern und die Bauern
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sofort an die revolutionäre Regierung zu fesseln. Als politische
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Maßnahme zur Befestigung der proletarisch-sozialistischen Regierung
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war dies eine vorzügliche Taktik. Sie hatte aber leider ihre zwei Seiten,
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und die Kehrseite bestand darin, daß die unmittelbare Landergreifung
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durch die Bauern mit sozialistischer Wirtschaft meist gar nichts gemein hat.
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Die sozialistische Umgestaltung der Wirtschaftsverhältnisse setzt in
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Bezug auf die Agrarverhältnisse zweierlei voraus. - Zunächst die
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Nationalisierung gerade des Großgrundbesitzes als der technisch
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fortschrittlichsten Konzentration der agrarischen Produktionsmittel und Methoden,
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die allein dem Ausgangspunkt, der sozialistischen Wirtschaftsweise auf dem
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Lande dienen kann. Wenn man natürlich dem Kleinbauern seine Parzelle
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nicht wegzunehmen braucht und es ihm ruhig anheimstellen kann, sich durch
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die Vorteile des gesellschaftlichen Betriebes freiwillig zuerst für
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den genossenschaftlichen Zusammenschluß und schließlich für
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die Einordnung in den sozialen Gesamtbetrieb gewinnen zu lassen, so muß
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|
jede sozialistische Wirtschaftsreform auf dem Lande selbstverständlich
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mit dem Groß- und Mittelgrundbesitz anfangen. Sie muß hier das
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Eigentumsrecht vor allem auf die Nation oder, was bei sozialistischer Regierung
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dasselbe ist, wenn man will, auf den Staat übertragen; denn nur dies
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gewährt die Möglichkeit, die landwirtschaftliche Produktion nach
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zusammenhängenden großen sozialistischen Gesichtspunkten zu
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organisieren.
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Zweitens aber ist eine der Voraussetzungen dieser Umgestaltung, daß
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die Trennung der Landwirtschaft von der Industrie, dieser charakteristische
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Zug der bürgerlichen Gesellschaft, aufgehoben wird, um einer gegenseitigen
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Durchdringung und Verschmelzung beider, einer Ausgestaltung sowohl der Agrar-
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wie der Industrieproduktion nach einheitlichen Gesichtspunkten Platz zu machen.
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Wie im einzelnen die praktische Bewirtschaftung sein mag: ob durch
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städtische Gemeinden, wie die einen vorschlagen, oder vom staatlichen
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Zentrum aus - auf jeden Fall ist Voraussetzung eine einheitlich
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durchgeführte, vom Zentrum aus eingeleitete Reform und als ihre
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Voraussetzung Nationalisierung des Grund und Bodens. Nationalisierung des
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großen und mittleren Grundbesitzes, Vereinigung der Industrie und der
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Landwirtschaft, das sind zwei grundlegende Gesichtspunkte jeder sozialistischen
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Wirtschaftsreform, ohne die es keinen Sozialismus gibt.
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<P>
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<P>
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Daß die Sowjet-Regierung in Rußland diese gewaltigen Reformen
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nicht durchgeführt hat - wer kann ihr das zum Vorwurf machen! Es wäre
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ein übler Spaß, von Lenin und Genossen zu verlangen oder zu erwarten,
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daß sie in der kurzen Zeit ihrer Herrschaft mitten im reißenden
|
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Strudel der inneren und äußeren Kämpfe, von zahllosen Feinden
|
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|
und Widerständen ringsum bedrängt, eine der schwierigsten, ja,
|
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|
wir können ruhig sagen: die schwierigste Aufgabe der sozialistischen
|
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Umwälzung lösen oder auch nur in Angriff nehmen sollten! Wir werden
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uns, einmal zur Macht gelangt, auch im Westen und unter den günstigsten
|
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Bedingungen an dieser harten Nuß manchen Zahn ausbrechen, ehe wir nur
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aus den gröbsten der tausend komplizierten Schwierigkeiten dieser
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|
Riesenaufgabe heraus sind!
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<P>
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<P>
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Eine sozialistische Regierung, die zur Macht gelangt ist, muß auf jeden
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Fall eins tun: Maßnahmen ergreifen, die in der Richtung auf jene
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grundlegenden Voraussetzungen einer späteren sozialistischen Reform
|
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der Agrarverhältnisse liegen, sie muß zum mindesten alles vermeiden,
|
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was ihr den Weg zu jenen Maßnahmen verrammelt.
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<P>
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<P>
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Die Parole nun, die von den Bolschewiki herausgegeben wurde: sofortige
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Besitzergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern,
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mußte geradezu nach der entgegengesetzten Richtung wirken. Sie ist
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nicht nur keine sozialistische Maßnahme, sondern sie schneidet den
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Weg zu einer solchen ab, sie türmt vor der Umgestaltung der
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|
Agrarverhältnisse im sozialistischen Sinne unüberwindliche
|
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|
Schwierigkeiten auf.
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<P>
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Die Besitzergreifung der Ländereien durch die Bauern auf die kurze und
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lapidare Parole Lenins und seiner Freunde hin: Geht und nehmet euch das Land!
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|
führte einfach zur plötzlichen chaotischen Überführung
|
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des Großgrundbesitzes in bäuerlichen Grundbesitz. Was geschaffen
|
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|
wurde, ist nicht gesellschaftliches Eigentum, sondern neues Privateigentum,
|
|||
|
und zwar Zerschlagung des großen Eigentums in mittleren und kleineren
|
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Besitz, des relativ fortgeschrittenen Großbetriebes in primitiven
|
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Kleinbetrieb, der technisch mit den Mitteln aus der Zeit der Pharaonen arbeitet.
|
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|
Nicht genug: durch diese Maßnahme und die chaotische, rein
|
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willkürliche Art ihrer Ausführung wurden die Eigentumsunterschiede
|
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|
auf dem Lande nicht beseitigt, sondern nur verschärft. Obwohl die
|
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Bolschewiki die Bauernschaft aufforderten, Bauernkomitees zu bilden, um die
|
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|
Besitzergreifung der adligen Ländereien irgendwie zu einer Kollektivaktion
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zu machen, so ist es klar, daß dieser allgemeine Rat an der wirklichen
|
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|
Praxis und den wirklichen Machtverhältnissen auf dem Lande nichts zu
|
|||
|
ändern vermochte. Ob mit oder ohne Komitees, sind die reichen Bauern
|
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und Wucherer, welche die Dorfbourgeoisie bildeten und in jedem russischen
|
|||
|
Dorf die tatsächliche lokale Macht in ihren Händen haben, sicher
|
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|
die Hauptnutznießer der Agrarrevolution geworden. Unbesehen kann jeder
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|
sich an den Fingern abzählen, daß im Ergebnis der Aufteilung des
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|||
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Landes die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit im Schoße des
|
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Bauerntums nicht beseitigt, sondern nur gesteigert, die Klassengegensätze
|
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dort verschärft worden sind. Diese Machtverschiebung hat aber ZUUNGUNSTEN
|
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|
der proletarischen und sozialisitschen Interessen stattgefunden. Früher
|
|||
|
stand einer sozialistischen Reform auf dem Lande allenfalls der Widerstand
|
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|
einer kleinen Kaste adeliger und kapitalistischer Großgrundbesitzer
|
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|
sowie eine kleine Minderheit der reichen Dorfbourgeoisie entgegen, deren
|
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|
Expropriation durch eine revolutionäre Volksmasse ein Kinderspiel ist.
|
|||
|
Jetzt, nach der "Besitzergreifung" steht als Feind jeder sozialistischen
|
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|
Vergesellschaftung der Landwirtschaft eine enorm angewachsene und starke
|
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|
Masse des besitzenden Bauerntums entgegen, daß sein neuerworbenes Eigentum
|
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|
gegen alle sozialistischen Attentate mit Zähnen und Nägeln verteidigen
|
|||
|
wird. Jetzt ist die Frage der künftigen Sozialisierung der Landwirtschaft,
|
|||
|
also der Produktion überhaupt in Rußland, zur Gegensatz- und
|
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Kampffrage zwischen dem städtischen Proletariat und der Bauernmasse
|
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|
geworden. Wie scharf der Gegensatz schon jetzt geworden ist, beweist der
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Boykott der Bauern den Städten gegenüber, denen sie die Lebensmittel
|
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vorenthalten, um damit Wuchergeschäfte zu machen, genau wie die
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|
preußischen Junker. Der französische Parzellenbauer war zum tapfersten
|
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Verteidiger der großen französischen Revolution geworden, die
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ihn mit dem konfiszierten Land der Emigranten ausgestattet hatte. Er trug
|
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|
als napoleonischer Soldat die Fahne Frankreichs zum Siege, durchquerte ganz
|
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Europa und zertrümmerte den Feudalismus in einem Lande nach dem anderen.
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Lenin und seine Freunde mochten eine ähnliche Wirkung von ihrer Agrarparole
|
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|
erwartet haben. Indes der russische Bauer hat, nachdem er vom Lande auf eigene
|
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|
Faust Besitz ergriffen, nicht im Traume daran gedacht, Rußland und
|
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die Revolution, der er das Land verdankte, zu verteidigen. Er verbiß
|
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|
sich in seinen neuen Besitz und überließ die Revolution ihren
|
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|
Feinden, den Staat dem Zerfall, die städtische Bevölkerung dem
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|
Hunger.
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<P>
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Lenins Rede über notwendige Zentralisation in der Industrie,
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|
Nationalisierung der Banken, des Handels und der Industrie. Warum nicht des
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|
Grund und Bodens? Hier im Gegenteil, Dezentralisation und Privateigentum.
|
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|
<P>
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|
<P>
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|
Lenins eigenes Agrarprogramm vor der Revolution war anders. Die Losung
|
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|
übernommen von den vielgeschmähten Sozialisten-Revolutionären
|
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|
oder richtiger: von der spontanen Bewegung der Bauernschaft.
|
|||
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<P>
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<P>
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|
Um sozialistische Grundsätze in die Agrarverhältnisse
|
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|
einzuführen, suchte die Sowjetregierung nunmehr aus Proletariern - meist
|
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|
städtischen, arbeitslosen Elementen - Agrarkommunen zu schaffen. Allein
|
|||
|
es läßt sich leicht im voraus erraten, daß die Ergebnisse
|
|||
|
dieser Anstrengungen, gemessen an dem ganzen Umfang der Agrarverhältnisse,
|
|||
|
nur verschwindend winzig bleiben mußten und für die Beurteilung
|
|||
|
der Frage gar nicht in Betracht fallen. (Nachdem man den Großgrundbesitz,
|
|||
|
den geeignetsten Ansatzpunkt für die sozialistische Wirtschaft, in
|
|||
|
Kleinbetrieb zerschlagen, sucht man jetzt aus kleinen Anfängen
|
|||
|
kommunistische Musterbetriebe aufzubauen.) Unter den gegebenen
|
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|
Verhältnissen beanspruchen diese Kommunen nur den Wert eines Experiments,
|
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|
nicht einer umfassenden sozialen Reform. Getreidemonopol mit Prämien.
|
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|
JETZT post festum wollen sie den Klassenkampf ins Dorf hineintragen!
|
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<P>
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<P>
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Die Leninsche Agrarreform hat dem Sozialismus auf dem Lande eine neue
|
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mächtige Volksschicht von Feinden geschaffen, deren Widerstand viel
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gefährlicher und zäher sein wird, als es derjenige der adligen
|
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|
Großgrundbesitzer war.
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<P>
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<P>
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|
Daß sich die militärischen Niederlage in den Zusammenbruch und
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|
Zerfall Rußlands verwandelte, dafür haben die Bolschewiki einen
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|
Teil der Schuld. Diese objektiven Schwierigkeiten der Lage haben sich die
|
|||
|
Bolschewiki aber selbst in hohem Maße verschärft durch eine Parole,
|
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|
die sie in den Vordergrund ihrer Politik geschoben haben: das sogenannte
|
|||
|
Selbstbestimmungsrecht der Nationen oder, was unter dieser Phrase in Wirklichkeit
|
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|
steckte, den staatlichen Zerfall Rußlands. Die mit doktrinärer
|
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|
Hartnäckigkeit immer wieder proklamierte Formel von dem Recht der
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|||
|
verschiedenen Nationalitäten des Russischen Reichs, ihre Schicksale
|
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|
selbständig zu bestimmen "bis einschließlich der staatlichen
|
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|
Lostrennung von Rußland", war ein besonderer Schlachtruf Lenins und
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|
Genossen während ihrer Opposition gegen den Miljukowschen wie den
|
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|
Kerenskischen Imperialismus, sie bildete die Achse ihrer inneren Politik
|
|||
|
nach dem Oktoberumschwung, und sie bildete die ganze Plattform der Bolschewiki
|
|||
|
in Brest-Litowsk, ihre einzige Waffe, die sie der Machtstellung des deutschen
|
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|
Imperialismus entgegenzustellen hatten.
|
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<P>
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|||
|
<P>
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|
Zunächst frappiert an der Hartnäckigkeit und starren Konsequenz,
|
|||
|
mit der Lenin und Genossen an dieser Parole festhielten, daß sie sowohl
|
|||
|
in krassem Widerspruch zu ihrem sonstigen ausgesprochenen Zentralismus der
|
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|
Politik wie auch zu der Haltung steht, die sie den sonstigen demokratischen
|
|||
|
Grundsätzen gegenüber eingenommen haben. Während sie
|
|||
|
gegenüber der konstituierenden Versammlung, dem allgemeinen Wahlrecht,
|
|||
|
der Presse- und Versammlungsfreiheit, kurz dem ganzen Apparat der demokratischen
|
|||
|
Grundfreiheiten der Volksmassen, die alle zusammen das "Selbstbestimmungsrecht"
|
|||
|
in Rußland selbst bildeten, eine sehr kühle Geringschätzung
|
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|
an den Tag legten, behandelten sie das Selbstbestimmungsrecht der Nationen
|
|||
|
als ein Kleinod der demokratischen Politik, dem zuliebe alle praktischen
|
|||
|
Gesichtspunkte der realen Kritik zu schweigen hätten. Während sie
|
|||
|
sich von der Volksabstimmung zur konstituierenden Versammlung in Rußland,
|
|||
|
einer Volksabstimmung auf Grund des demokratischsten Wahlrechts der Welt
|
|||
|
und in voller Freiheit einer Volksrepublik, nicht im geringsten hatten imponieren
|
|||
|
lassen und von sehr nüchternen, kritischen Erwägungen ihre Resultate
|
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|
einfach für null und nichtig erklärten, verfochten sie in Brest
|
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|
die "Volksabstimmung" der fremden Nationen Rußlands über ihre
|
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|
staatliche Zugehörigkeit als das wahre Palladium jeglicher Freiheit
|
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|
und Demokratie, unverfälschte Quintessenzen des Völkerwillens und
|
|||
|
als die höchste entscheidende Instanz in Fragen des politischen Schicksals
|
|||
|
der Nationen.
|
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|
<P>
|
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|
<P>
|
|||
|
Der Widerspruch, der hier klafft, ist um so unverständlicher, als es
|
|||
|
sich bei den demokratischen Formen des politischen Lebens in jedem Lande,
|
|||
|
wie wir das noch weiter sehen werden, tatsächlich um höchst wertvolle,
|
|||
|
ja, unentbehrliche Grundlagen der sozialistischen Politik handelt, während
|
|||
|
das famose "Selbstbestimmungsrecht der Nationen" nichts als hohle
|
|||
|
kleinbürgerliche Phraseologie und Humbug ist.
|
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<P>
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<P>
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|
In der Tat, was soll dieses Recht bedeuten? Es gehört zum Abc der
|
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|
sozialistischen Politik, daß sie wie jede Art Unterdrückung so
|
|||
|
auch die einer Nation durch die andere bekämpft.
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<P>
|
|||
|
<P>
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|
Wenn trotz alledem sonst so nüchterne und kritische Politiker wie Lenin
|
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|
und Trotzki mit ihren Freunden, die für jede Art utopische Phraseologie
|
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|
wie Abrüstung, Völkerbund usw. nur ein ironisches Achselzucken
|
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haben, diesmal eine hohle Phrase von genau derselben Kategorie geradezu zu
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ihrem Steckenpferd machten, so geschah es, wie es uns scheint, aus einer
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Art Opportunitätspolitik. Lenin und Genossen rechneten offenbar darauf,
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|
daß es kein sicheres Mittel gäbe, die vielen fremden
|
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Nationalitäten im Schoße des russischen Reiches an die Sache der
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Revolution, an die Sache des sozialistischen Proletariats zu fesseln, als
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wenn man ihnen im Namen der Revolution und des Sozialismus die
|
|||
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äußerste unbeschränkteste Freiheit gewährte, über
|
|||
|
ihre Schicksale zu verfügen. Es war dies eine Analogie zu der Politik
|
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der Bolschewiki den russischen Bauern gegenüber, deren Landhunger die
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Parole der direkten Besitzergreifung des adeligen Grund und Bodens befriedigt
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und die dadurch an die Fahne der Revolution und der proletarischen Regierung
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gefesselt werden sollten. In beiden Fällen ist die Berechnung leider
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gänzlich fehlgeschlagen. Während Lenin und Genossen offenbar
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erwarteten, daß sie als Verfechter der nationalen Freiheit, und zwar
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"bis zur staatlichen Absonderung", Finnland, die Ukraine, Polen, Litauen,
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die Baltenländer, die Kaukasier usw. zu ebenso vielen treuen
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Verbündeten der russischen Revolution machen würden, erlebten wir
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das umgekehrte Schauspiel: eine nach der anderen von diesen "Nationen" benutzte
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die frisch geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen
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Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbünden und
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unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution nach Rußland selbst
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zu tragen. Das Zwischenspiel mit der Ukraine in Brest, das eine entscheidende
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Wendung jener Verhandlungen und der ganzen inner- und außenpolitischen
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Situationen der Bolschewiki herbeigeführt hatte, ist dafür ein
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Musterbeispiel. Das Verhalten Finnlands, Polens, Litauens, der
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Baltenländer, der Nationen des Kaukasus zeigt überzeugendsterweise,
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daß wir hier nicht etwa mit einer zufälligen Ausnahme, sondern
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mit einer typischen Entscheidung zu tun haben.
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<P>
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Freilich, es sind in allen diesen Fällen in Wirklichkeit nicht die
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"Nationen", die jene reaktionäre Politik betätigen, sondern nur
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die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Klassen, die im schärfsten
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Gegensatz zu den eigenen proletarischen Massen das "nationale
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Selbstbestimmungsrecht" zu einem Werkzeug ihrer konterrevolutionären
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Klassenpolitik verkehrten. Aber - damit kommen wir gerade zum Knotenpunkt
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der Frage - darin liegt eben der utopisch-kleinbürgerliche Charakter
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dieser nationalistischen Phrase, daß sie in der rauhen Wirklichkeit
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der Klassengesellschaft, zumal in der Zeit aufs äußerste
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verschärfter Klassengegensätze, sich einfach in ein Mittel der
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bürgerlichen Klassenherrschaft verwandelt. Die Bolschewiki sollten zu
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ihrem und der Revolution größten Schaden darüber belehrt
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werden, daß es eben unter der Herrschaft des Kapitalismus keine
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Selbstbestimmung der Nation gibt, daß sich in einer Klassengesellschaft
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jede Klasse der Nation anders "selbstzubestimmen" strebt und daß für
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die bürgerlichen Klassen die Gesichtspunkte der nationalen Freiheit
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hinter denen der Klassenherrschaft völlig zurücktreten. Das finnische
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Bürgerum wie das ukrainische Kleinbürgertum waren darin vollkommen
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einig, die deutsche Gewaltherrschaft der nationalen Freiheit vorzuziehen,
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wenn diese mit den Gefahren des "Bolschewismus" verbunden werden sollte.
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<P>
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<P>
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Die Hoffnung, diese realen Klassenverhältnisse etwa durch
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"Volksabstimmungen", um die sich alles in Brest drehte, in ihr Gegenteil
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umzukehren und im Vertrauen auf die revolutionäre Volksmasse ein
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Mehrheitsvotum für den Zusammenschluß mit der russischen Revolution
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zu erzielen, war, wenn sie von Lenin-Trotzki ernst gemeint war, ein
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unbegreiflicher Optimismus, und wenn sie nur ein taktischer Florettstoß
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im Duell mit der deutschen Gewaltpolitik sein sollte, ein gefährliches
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Spiel mit dem Feuer. Auch ohne die deutsche militärische Okkupation
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hätte die famose "Volksabstimmung", wäre es in den Randländern
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zu einer solchen gekommen, bei der geistigen Verfassung der Bauernmasse und
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großer Schichten noch indifferenter Proletarier, bei der reaktionären
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Tendenz des Kleinbürgertums und den tausend Mitteln der Beeinflussung
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der Abstimmung durch die Bourgeoisie, mit aller Wahrscheinlichkeit allenthalben
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ein Resultat ergeben, an dem die Bolschewiki wenig Freude erlebt hätten.
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Kann es doch in Sachen dieser Volksabstimmungen über die nationale Frage
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als unverbrüchliche Regel gelten, daß die herrschenden Klassen
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sie entweder, wo ihnen eine solche nicht in den Kram paßt, zu verhindern
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wissen oder, wo sie zustande käme, ihre Resultate durch all diese Mittel
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und Mittelchen zu beeinflussen wüßten, die es auch bewirken, daß
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wir auf dem Wege von Volksabstimmungen keinen Sozialismus einführen
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können.
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<P>
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Daß überhaupt die Frage der nationalen Bestrebungen und
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Sondertendenzen mitten in die revolutionären Kämpfe hineingeworfen,
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ja, durch den Brester Frieden in den Vordergrund geschoben und gar zum
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Schibboleth der sozialistischen und revolutionären Politik gestempelt
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wurde, hat die größte Verwirrung in die Reihen des Sozialismus
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getragen und die Position des Proletariats gerade in den Randländern
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erschüttert. In Finnland hatte das sozialistische Proletariat, solange
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es als ein Teil der geschlossenen revolutionären Phalanx Rußlands
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kämpfte, bereits eine beherrschende Machtstellung; es besaß die
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Mehrheit im Landtag, in der Armee, es hatte die Bourgeoisie völlig zur
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Ohnmacht herabgedrückt und war der Herr der Situation im Lande. Die
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russische Ukraine war zu Beginn des Jahrhunderts, als die Narreteien des
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"ukrainischen Nationalismus" mit den Karbowentzen und den "Universals" und
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das Steckenpferd Lenins von einer "selbständigen Ukraine" noch nicht
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erfunden waren, die Hochburg der russischen revolutionären Bewegung
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gewesen. Von dort aus, aus Rostow, aus Odessa, aus dem Donez-Gebiete flossen
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die ersten Lavaströme der Revolution (schon um das Jahr 1902-04) und
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entzündeten ganz Südrußland zu einem Flammenmeer, so den
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Ausbruch von 1905 vorbereitend; dasselbe wiederholte sich in der jetzigen
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Revolution, in der das südrussische Proletariat die Elitetruppen der
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proletarischen Phalanx stellte. Polen und die Baltenländer waren seit
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1905 die mächtigsten und zuverlässigsten Herde der Revolution,
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in denen das sozialistische Proletariat eine hervorragende Rolle spielte.
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<P>
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<P>
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Wie kommt es, daß in allen diesen Ländern plötzlich die
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Konterrevolution triumphiert? Die nationalistische Bewegung hat eben das
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Proletariat dadurch, daß sie es von Rußland losgerissen hat,
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gelähmt und der nationalen Bourgeoisie in den Randländern ausgeliefert.
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Statt gerade im Geiste der reinen internationalen Klassenpolitik, die sie
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sonst vertraten, die kompakteste Zusammenfassung der revolutionären
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Kräfte auf dem ganzen Gebiet des Reiches anzustreben, die Integrität
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des russischen Reiches als Revolutionsgebiet mit Zähnen und Nägeln
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zu verteidigen, die Zusammengehörigkeit und Unzertrennlichkeit der
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Proletarier aller Länder im Bereiche der russischen Revolution als oberstes
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Gebot der Politik allen nationalistischen Sonderbestrebungen entgegenzustellen,
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haben die Bolschewiki durch die dröhnende nationalistische Phraseologie
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von dem "Selbstbestimmungsrecht bis zur staatlichen Lostrennung" gerade umgekehrt
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der Bourgeoisie in allen Randländern den erwünschtesten,
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glänzendsten Vorwand, geradezu das Banner für ihre
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konterrevolutionären Bestrebungen geliefert. Statt die Proletarier in
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den Randländern vor jeglichem Separatismus als vor rein bürgerlichem
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Fallstrick zu warnen, haben sie vielmehr die Massen in allen Randländern
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durch ihre Parole verwirrt und der Demagogie der bürgerlichen Klassen
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ausgeliefert. Sie haben durch diese Forderung des Nationalismus den Zerfall
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Rußlands selbst herbeigeführt, vorbereitet und so den eigenen
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Feinden das Messer in die Hand gedrückt, das sie der russischen Revolution
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ins Herz stoßen sollten.
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<P>
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<P>
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Freilich, ohne die Hilfe des deutschen Imperialismus, ohne "die deutschen
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Gewehrkolben in deutschen Fäusten", wie die "Neue Zeit" Kautskys schrieb,
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wären die Lubinskys und die anderen Schufterles der Ukraine sowie die
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Erichs und Mannerheims in Finnland und die baltischen Barone mit den
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sozialistischen Proletariermassen ihrer Länder nimmermehr fertig geworden.
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Aber der nationale Separatismus war das trojanische Pferd, in dem die deutschen
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"Genossen" mit Bajonetten in den Fäusten in alle jene Länder eingezogen
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kamen. Die realen Klassengegensätze und die militärischen
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Machtverhältnisse haben die Intervention Deutschlands herbeigeführt.
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Aber die Bolschewiki haben die Ideologie geliefert, die diesen Feldzug der
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Konterrevolution maskiert hatte, sie haben die Position der Bourgeoisie
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gestärkt und die der Proletarier geschwächt. Der beste Beweis ist
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die Ukraine, die eine so fatale Rolle in den Geschicken der russischen Revolution
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spielen sollte. Der ukrainische Nationalismus war in Rußland ganz anders
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als etwa der tschechische, polnische oder finnische, nichts als eine einfache
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Schrulle, eine Fatzkerei von ein paar Dutzend kleinbürgerlichen
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Intelligenzlern, ohne die geringsten Wurzeln in den wirtschaftlichen, politischen
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oder geistigen Verhältnissen des Landes, ohne jegliche historische
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Tradition, da die Ukraine niemals eine Nation oder einen Staat gebildet hatte,
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|
ohne irgendeine nationale Kultur, außer den reaktionärromantischen
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Gedichten Schewtschenkos. Es ist förmlich, als wenn eines schönen
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Morgens die von der Wasserkante auf den Fritz Reuter hin eine neue plattdeutsche
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Nation und Staat gründen wollten. Und diese lächerliche Posse von
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ein paar Universitätsprofessoren und Studenten bauschten Lenin und Genossen
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durch ihre doktrinäre Agitation mit dem "Selbstbestimmungsrecht bis
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einschließlich usw." künstlich zu einem politischen Faktor auf.
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Sie verliehen der anfänglichen Posse eine Wichtigkeit, bis die Posse
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zum blutigsten Ernst wurde: nämlich nicht zu einer ernsten nationalen
|
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Bewegung, für die es nach wie vor gar keine Wurzeln gibt, sondern zum
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Aushängeschild und zur Sammelfahne der Konterrevolution! Aus diesem
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Windei krochen in Brest die deutschen Bajonette.
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<P>
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<P>
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Diese Phrasen haben in der Geschichte der Klassenkämpfe zu Zeiten eine
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sehr reale Bedeutung. Es ist das fatale Los des Sozialismus, daß er
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in diesem Weltkrieg dazu ausersehen war, ideologische Vorwände für
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die konterrevolutionäre Politik zu liefern. Die deutsche Sozialdemokratie
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beeilte sich beim Ausbruch des Krieges, den Raubzug des deutschen Imperialismus
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mit einem ideologischen Schild aus der Rumpelkammer des Marxismus zu
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schmücken, indem sie ihn für den von unseren Altmeistern
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herbeigesehnten Befreierfeldzug gegen den russischen Zarismus erklärte.
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Den Antipoden der Regierungssozialisten, den Bolschewiki, war es beschieden,
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|
mit der Phrase von der Selbstbestimmung der Nationen Wasser auf die Mühle
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der Konterrevolution zu liefern und damit eine Ideologie nicht nur für
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die Erdrosselung der russischen Revolution selbst, sondern für die geplante
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konterrevolutionäre Liquidierung des ganzen Weltkrieges zu liefern.
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Wir haben allen Grund, uns die Politik der Bolschewiki in dieser Hinsicht
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sehr gründlich anzusehen. Das "Selbstbestimmungsrecht der Nationen",
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verkoppelt mit dem Völkerbund und der Abrüstung von Wilsons Gnaden,
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bildet den Schlachtruf, dem sich die bevorstehende Auseinandersetzung des
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internationalen Sozialismus mit der bürgerlichen Welt abspielen wird.
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Es liegt klar zu Tage, daß die Phrase von der Selbstbestimmung und
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die ganze nationale Bewegung, die gegenwärtig die größte
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Gefahr für den internationalen Sozialismus bildet, gerade durch die
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russische Revolution und die Brester Verhandlungen eine außerordentliche
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Stärkung erfahren haben. Wir werden uns mit dieser Plattform noch eingehend
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zu befassen haben. Die tragischen Schicksale dieser Phraseologie in der
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russischen Revolution, in deren Stacheln sich die Bolschewiki verfangen und
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blutig ritzen sollten, muß dem internationalen Proletariat als warnendes
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Exempel dienen.
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<P>
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<P>
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Nun folgte aus alledem die Diktatur Deutschlands. Vom Brester Frieden bis
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zum "Zusatzvertrag"! Die 200 Sühneopfer in Moskau. Aus dieser Lage ergab
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sich der Terror und die Erdrückung der Demokratie.
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<P>
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<P>
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<h3>IV</h3>
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<P>
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<P>
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Wir wollen dies an einigen Beispielen näher prüfen.
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<P>
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<P>
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Eine hervorragende Rolle in der Politik der Bolschewiki spielte die bekannte
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Auflösung der konstituierenden Versammlung im November 1917. Diese
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|
Maßnahme war bestimmend für ihre weitere Postition, sie war
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gewissermaßen der Wendepunkt ihrer Taktik. Es ist eine Tatsache, daß
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Lenin und Genossen bis zu ihrem Oktobersiege die Einberufung der
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Konstitutionsversammlung stürmisch forderten, daß gerade die
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Verschleppungspolitik der Kerenski-Regierung in dieser Sache einen Anklagepunkt
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der Bolschewiki gegen jene Regierung bildete und ihnen zu heftigsten
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Ausfällen Anlaß gab. Ja, Trotzki sagt in seinem interessanten
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Schriftchen "Von der Oktoberrevolution bis zum Brester Friedensvertrag",
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der Oktoberumschwung sein geradezu "eine Rettung für die Konstituante"
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gewesen, wie für die Revolution überhaupt. "Und als wir sagten",
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fährt er fort, "daß der Eingang zur konstituierenden Versammlung
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nicht über das Vorparlament Zeretellis, sondern über die
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Machtergreifung der Sowjets führe, waren wir vollkommen aufrichtig."
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<P>
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<P>
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Und nun war nach diesen Ankündigungen der erste Schritt Lenins nach
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der Oktoberrevolution - die Auseinandertreibung derselben konstituierenden
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Versammlung, zu der sie den Eingang bilden sollte. Welche Gründe konnten
|
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für eine so verblüffende Wendung maßgebend sein? Trotzki
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äußert sich darüber in der erwähnten Schrift
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ausführlich, und wir wollen seine Argumente hierher setzen:
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<P>
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<P>
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"Wenn die Monate, die der Oktoberrevolution vorangingen, eine Zeit der
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Linksverschiebung der Massen und des elementaren Zustroms der Arbeiter, Soldaten
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und Bauern zu den Bolschewiki waren, so drückte sich innerhalb der Partei
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der Sozialisten-Revolutionäre dieser Prozeß in der Verstärkung
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des linken Flügels auf Kosten des rechten aus. Aber immer noch dominierten
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in den Parteilisten der Sozialisten-Revolutionäre zu drei Vierteln die
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|
alten Namen des rechten Flügels ...
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<P>
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<P>
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Dazu kam noch der Umstand, daß die Wahlen selbst im Laufe der ersten
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Wochen nach dem Oktoberumsturz stattfanden. Die Nachricht von der
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|
Veränderung, die stattgefunden habe, verbreitete sich
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|
verhältnismäßig langsam in konzentrischen Kreisen, von der
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Hauptstadt nach der Provinz und aus den Städten nach den Dörfern.
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Die Bauernmassen waren sich an vielen Orten recht wenig klar über das,
|
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was in Petrograd und Moskau vorging. Sie stimmten für "Land und Freiheit"
|
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und stimmten für ihre Vertreter in den Nationalkomitees, die meistens
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|
unter dem Banner der "Narodniki" standen. Damit aber stimmten sie für
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Kerenski und Awxentjew, die dieses Landkomitee auflösten und verhaften
|
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ließen ... Dieser Sachverhalt gibt eine klare Vorstellung, in welchem
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Maße die Konstituante hinter der Entwicklung des politischen Kampfes
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und den Parteigruppierungen zurückgeblieben war."
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<P>
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Das alles ist ganz ausgezeichnet und sehr überzeugend. Nur muß
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man sich wundern, daß so kluge Leute wie Lenin und Trotzki nicht auf
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die nächstliegende Schlußfolgerung geraten sind, die sich aus
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den obigen Tatsachen ergab. Da die konstituierende Versammlung lange vor
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dem entscheidenden Wendepunkt, dem Oktoberumschwung, gewählt und in
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|
ihrer Zusammensetzung das Bild der überholten Vergangenheit, nicht der
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|
neuen Sachlage spiegelte, so ergab sich von selbst der Schluß, daß
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|
sie eben die verjährte, also totgeborene konstituierende Versammlung
|
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|
kassierten und ungesäumt Neuwahlen zu einer neuen Konstituante ausschrieben!
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Sie wollten und durften die Geschicke der Revolution nicht einer Versammlung
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anvertrauen, die das gestrige Kerenskische Rußland, die Periode der
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Schwankungen und der Koalition mit der Bourgeoisie spiegelte. Wohlan, es
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|
blieb nur übrig, sofort an ihre Stelle eine aus dem erneuerten,
|
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|
weitergegangenen Rußland hervorgegangene Versammlung einzuberufen.
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|
Statt dessen schließt Trotzki aus der speziellen Unzulänglichkeit
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|
der im Oktober zusammengetretenen konstituierenden Versammlung, ja er
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|
verallgemeinert sie zu der Untauglichkeit jeder aus dem allgemeinen Volkswahlen
|
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|
hervorgegangenen Volksvertretung während der Revolution überhaupt.
|
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<P>
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<P>
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"Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt häufen
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|
die arbeitenden Massen in kürzester Zeit eine Menge politischer Erfahrung
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|
an und steigen in ihrer Entwicklung schnell von einer Stufe auf die andere.
|
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|
Der schwerfällige Mechanismus der demokratischen Institutionen kommt
|
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|
dieser Entwicklung um so weniger nach, je größer das Land und
|
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|
je unvollkommener sein technischer Apparat ist." (Trotzki S. 93)
|
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<P>
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<P>
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|
Hier haben wir schon den "Mechanismus der demokratischen Institution
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|
überhaupt". Demgegenüber ist zunächst hervorzuheben, daß
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|
in dieser Einschätzung der Vertreterinstitutionen eine etwas schematische,
|
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|
steife Auffassung zum Ausdruck kommt, der die historische Erfahrung gerade
|
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|
aller revolutionären Epochen nachdrücklich widerspricht. Nach Trotzkis
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|
Theorie widerspiegelt jede gewählte Versammlung ein für allemal
|
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|
nur die geistige Verfassung, politische Reife und Stimmung ihrer
|
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|
Wählerschaft just in dem Moment, wo sie zur Wahlurne schritt. Die
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|||
|
demokratische Körperschaft ist demnach stets das Spiegelbild der Masse
|
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vom Wahltermin, gleichsam wie der Herschelsche Sternhimmel uns stets die
|
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|
Weltkörper nicht wie sie sind zeigt, da wir auf sie blicken, sondern
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|
wie sie im Moment der Versendung ihrer Lichtboten aus unermeßlicher
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|
Weite zur Erde waren. Jeder lebendige geistige Zusammenhang zwischen den
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einmal Gewählten und der Wählerschaft, jede dauernde Wechselwirkung
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zwischen beiden wird hier geleugnet.
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<P>
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<P>
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Wie sehr widerspricht dem alle geschichtliche Erfahrung! Diese zeigt uns
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umgekehrt, daß das lebendige Fluidum der Volksstimmung beständig
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die Vertretungskörperschaften umspült, in sie eindringt, sie lenkt.
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|
Wie wäre es sonst möglich, daß wir in jedem bürgerlichen
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Parlament zu Zeiten die ergötzlichsten Kapriolen der "Volksvertreter"
|
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erleben, die, plötzlich von einem neuen "Geist" belebt, ganz unerwartete
|
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Töne hervorbringen, daß die vertrocknetsten Mumien sich zu Zeiten
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jugendlich gebärden und die verschiedenen Scheidemännchen auf einmal
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in ihrer Brust revolutionäre Töne finden - wenn es in den Fabriken,
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Werkstätten und auf der Straße rumort?
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<P>
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|
<P>
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|
Und diese ständige lebendige Einwirkung der Stimmung und der politischen
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Reife der Massen auf die gewählten Körperschaften sollte gerade
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in einer Revolution vor dem starren Schema der Parteischilder und Wahllisten
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versagen? Gerade umgekehrt! Gerade die Revolution schafft durch ihre Gluthitze
|
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jene dünne, vibrierende, empfängliche politische Luft, in der die
|
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Wellen der Volksstimmung, der Pulsschlag des Volkslebens augenblicklich in
|
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wunderbarster Weise auf die Vertretungskörperschaften einwirken. Gerade
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darauf beruhen ja immer die bekannten effektvollen Szenen aus dem Anfangsstadium
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aller Revolutionen, wo alte reaktionäre oder höchst
|
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gemäßigte unter altem Regime aus beschränktem Wahlrecht
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gewählte Parlamente plötzlich zu heroischen Wortführern des
|
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|
Umsturzes, zu Stürmern und Drängern werden. Das klassische Beispiel
|
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|
bietet ja das berühmte "Lange Parlament" in England, das, 1642 gewählt
|
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und zusammengetreten, sieben Jahre lang auf dem Posten blieb und in seinem
|
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Innern alle Wechsel-Verschiebungen der Volksstimmung, der politischen Reife,
|
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der Klassenspaltung, des Fortgangs der Revolution bis zu ihrem Höhepunkt,
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von der anfänglich devoten Plänkelei mit der Krone unter einem
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auf Knien liegenden "Sprecher" bis zur Abschaffung des Hauses der Lords,
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Hinrichtung Karls und Proklamierung der Republik widerspiegelt.
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<P>
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<P>
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Und hat sich nicht dieselbe wunderbare Wandlung in den Generalstaaten
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Frankreichs, im Zensusparlament Louis Philipps, ja - das letzte frappanteste
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Beispiel liegt Trotzki so nahe - in der vierten russischen Duma wiederholt,
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die im Jahre des Heils 1909, unter der starrsten Herrschaft der Konterrevolution
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gewählt, im Februar 1917 plötzlich den Johannistrieb des Umsturzes
|
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verspürte und zum Ausgangspunkt der Revolution ward?
|
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<P>
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Das alles zeigt, daß "der schwerfällige Mechanismus der demokratischen
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Institutionen" einen kräftigen Korrektor hat - eben in der lebendigen
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Bewegung der Masse, in ihrem unausgesetzten Druck. Und je demokratischer
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die Institution, je lebendiger und kräftiger der Pulsschlag des politischen
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Lebens der Masse ist, um so unmittelbarer und genauer ist die Wirkung - trotz
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starrer Parteischilder, veralteter Wahllisten etc. Gewiß, jede
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demokratische Institution hat ihre Schranken und Mängel, was sie wohl
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mit sämtlichen menschlichen Institutionen teilt. Nur ist das Heilmittel,
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das Trotzki und Lenin gefunden: die Beseitigung der Demokratie überhaupt,
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noch schlimmer als das Übel, dem es steuern soll: es verschüttet
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nämlich den lebendigen Quell selbst, aus dem heraus alle angeborenen
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Unzulänglichkeiten der sozialen Institutionen allein korrigiert werden
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können. Das aktive, ungehemmte, energiesche politische Leben der breitesten
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Volksmassen.
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Nehmen wir ein anderes frappantes Beispiel: das von der Sowjetregierung
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ausgearbeitete Wahlrecht. Es ist nicht ganz klar, welche praktische Bedeutung
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diesem Wahlrecht beigemessen ist. Aus der Kritik Trotzkis und Lenins an den
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demokratischen Institutionen geht hervor, daß sie Volksvertretungen
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aus allgemeinen Wahlen grundsätzlich ablehnen und sich nur auf die Sowjets
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stützen wollen. Weshalb dann überhaupt ein allgemeines Wahlrecht
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ausgearbeitet wurde, ist eigentlich nicht ersichtlich. Es ist uns auch nicht
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bekannt, daß dieses Wahlrecht irgendwie ins Leben eingeführt worden
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wäre; von Wahlen zu einer Art Volksvertretung auf seiner Grundlage hat
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man nichts gehört. Wahrscheinlicher ist die Annahme, daß es nur
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ein theoretisches Produkt sozusagen vom grünen Tisch aus geblieben ist;
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aber so wie es ist, bildet es ein sehr merkwürdiges Produkt der
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bolschewistischen Diktaturtheorie. Jedes Wahlrecht, wie überhaupt jedes
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politische Recht, ist nicht nach irgendwelchen abstrakten Schemen der
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"Gerechtigkeit" und ähnlicher bürgerlich demokratischer Phraseologie
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zu messen, sondern an den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen,
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auf die es zugeschnitten ist. Das von der Sowjetregierung ausgearbeitete
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Wahlrecht ist eben auf die Übergangsperiode von der
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bürgerlich-kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsform berechnet,
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auf die Periode der proletarischen Diktatur. Im Sinne der Auslegung von dieser
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Diktatur, die Lenin-Trotzki vertreten, wird das Wahlrecht nur denjenigen
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verliehen, die von eigener Arbeit leben, und allen anderen verweigert.
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Nun ist es klar, daß ein solches Wahlrecht nur in einer Gesellschaft
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Sinn hat, die auch wirtschaftlich in der Lage ist, allen, die arbeiten wollen,
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ein auskömmliches, kulturwürdiges Leben von eigener Arbeit zu
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ermöglichen. Trifft das auf das jetzige Rußland zu? Bei den ungeheuren
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Schwierigkeiten, mit denen das vom Weltmarkt abgesperrte, von seinen wichtigsten
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Rohstoffquellen abgeschnürte Sowjetrußland zu ringen hat, bei
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der allgemeinen, furchtbaren Zerrüttung des Wirtschaftslebens, bei dem
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schroffen Umsturz der Produktionsverhältnisse infolge der Umwälzungen
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der Eigentumsverhältnisse in der Landwirtschaft wie in der Industrie
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und im Handel liegt es auf der Hand, daß ungezählte Existenzen
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ganz plötzlich entwurzelt, aus ihrer Bahn herausgeschleudert werden,
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ohne jede objektive Möglichkeit, in dem wirtschaftlichen Mechanismus
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irgendeine Verwendung für ihre Arbeitskraft zu finden. Das bezieht sich
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nicht bloß auf die Kapitalisten- und Grundbesitzerklasse, sondern auch
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auf die breite Schicht des Mittelstandes und auf die Arbeiterklasse selbst.
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Ist es doch Tatsache, daß das Zusammenschrumpfen der Industrie ein
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massenhaftes Abfluten des städtischen Proletariats aufs platte Land
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hervorgerufen hat, das in der Landwirtschaft Unterkunft sucht. Unter solchen
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Umständen ist ein politisches Wahlrecht, das den allgemeinen Arbeitszwang
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zur wirtschaftlichen Voraussetzung hat, eine ganz unbegreifliche Maßregel.
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Der Tendenz nach soll es die Ausbeuter allein politisch rechtlos machen.
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Und während produktive Arbeitskräfte massenhaft entwurzelt werden,
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sieht sich die Sowjetregierung umgekehrt vielfach gezwungen, die nationale
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Industrie den früheren kapitalistischen Eigentümern sozusagen in
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Pacht zu überlassen. Desgleichen sah sich die Sowjetregierung gezwungen,
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auch mit den bürgerlichen Konsumgenossenschaften ein Kompromiß
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zu schließen. Ferner hat sich die Benutzung von bürgerlichen
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Fachleuten als unumgänglich erwiesen. Eine andere Folge derselben Richtung
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ist, daß wachsende Schichten des Proletariats als Rotgardisten etc.
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vom Staate aus öffentlichen Mitteln erhalten werden. In Wirklichkeit
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macht es rechtlos breite und wachsende Schichten des Kleinbürgertums
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und des Proletariats, für die der wirtschaftliche Organismus keinerlei
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Mittel zur Ausübung des Arbeitszwanges vorsieht.
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Das ist eine Ungereimtheit, die das Wahlrecht als ein utopisches, von der
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sozialen Wirklichkeit losgelöstes Phantasieprodukt qualifiziert. Und
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gerade deshalb ist es kein ernsthaftes Werkzeug der proletarischen Diktatur.
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Ein Anachronismus, eine Vorwegnahme der rechtlichen Lage, die auf einer schon
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fertigen sozialistischen Wirtschaftsbasis am Platze ist, nicht in der
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Übergangsperiode der proletarischen Diktatur.
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Als der ganze Mittelstand, die bürgerliche und kleinbügerliche
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Intelligenz nach der Oktoberrevolution die Sowjetregierung monatelang
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boykottierten, den Eisenbahn-, Post- und Telegraphenverkehr, den Schulbetrieb,
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den Verwaltungsapparat lahmlegten und sich auf diese Weise gegen die
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Arbeiterregierung auflehnten, da waren selbstverständlich alle
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Maßregeln des Druckes gegen sie: durch Entziehung politischer Rechte,
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wirtschaftlicher Existenzmittel etc. geboten, um den Widerstand mit eiserner
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Faust zu brechen. Da kam eben die sozialistische Diktatur zum Ausdruck, die
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vor keinem Machtaufgebot zurückschrecken darf, um bestimmte Maßnahmen
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im Interesse des Ganzen zu erzwingen oder zu verhindern. Hingegen ein Wahlrecht,
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das eine allgemeine Entrechtung ganz breiter Schichten der Gesellschaft
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ausspricht, das sie politisch außerhalb des Rahmens der Gesellschaft
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stellt, während es für sie wirtschaftlich innerhalb dieses Rahmens
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selbst keine Platz zu schaffen imstande ist, eine Entrechtung nicht als konkrete
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Maßnahme zu einem konkreten Zweck, sondern als allgemeine Regel von
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dauernder Wirkung, das ist nicht eine Notwendigkeit der Diktatur, sondern
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eine lebensunfähige Improvisation. Sowohl Sowjets als Rückgrat
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wie Konstituante und allgemeines Wahlrecht.
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<P>
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Die Bolschewiki bezeichneten die Sowjets als reaktionär, weil die Mehrheit
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darin Bauern seien (Bauerndelegierte und Soldatendelegierte). Nachdem sich
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die Sowjets auf ihre Seite stellten, wurden sie die richtigen Vertreter der
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Volksmeinung. Aber dieser plötzliche Umschwung hing nur mit Frieden
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und Landfrage zusammen.
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Doch mit der konstituierenden Versammlung und dem Wahlrecht ist die Frage
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nicht erschöpft: Es kam nicht nur Abschaffung der wichtigsten demokratischen
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Garantien eines gesunden öffentlichen Lebens und der politischen
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Aktivität der arbeitenden Massen in Betracht: der Pressefreiheit, des
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Vereins- und Versammlungsrechts, ohne die alle Gegner der Sowjetregierung
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vogelfrei geworden sind. Für diese Eingriffe reicht die obige Argumentation
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Trotzkis über die Schwerfälligkeit der demokratischen Wahlkörper
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nicht entfernt aus. Hingegen ist es eine offenkundige, unbestreitbare Tatsache,
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daß ohne freie, ungehemmte Presse, ohne ungehindertes Vereins- und
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Versammlungsleben gerade die Herrschaft breiter Volksmassen völlig undenkbar
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ist.
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Lenin sagt: der bürgerliche Staat sei ein Werkzeug zur Unterdrückung
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der Arbeiterklasse, der sozialistische zur Unterdrückung der Bourgeoisie.
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Es sei bloß gewissermaßen der auf den Kopf gestellte kapitalistische
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Staat. Diese vereinfachte Auffassung sieht von dem Wesentlichsten ab: die
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bürgerliche Klassenherrschaft braucht keine politische Schulung und
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Erziehung der ganzen Volksmasse, wenigstens nicht über gewisse enggezogene
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Grenzen hinaus. Für die proletarische Diktatur ist sie das Lebenselement,
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die Luft, ohne die sie nicht zu existieren vermag.
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"Dank dem offenen und unmittelbaren Kampf um die Regierungsgewalt häufen
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die arbeitenden Massen in kürzester Zeit eine Menge politischer Erfahrung
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an und steigen in ihrer Entwicklung schnell von Stufe zu Stufe." Hier widerlegt
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Trotzki sich selbst und seine eigenen Parteifreunde. Eben weil dies zutrifft,
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haben sie durch Erdrückung des öffenlichen Lebens die Quelle der
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politischen Erfahrung und das Steigen der Entwicklung verstopft. Oder aber
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müßte man annehmen, daß die Erfahrung und Entwicklung bis
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zur Machtergreifung der Bolschewiki nötig war, den höchsten Grad
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erreicht hatte und von nun an überflüssig wurde. (Rede Lenins:
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Rußland ist überzeugt für den Sozialismus!!!)
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<P>
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In Wirklichkeit umgekehrt! Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki
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mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensivste politische
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Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung.
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Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder
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einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit.
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Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus
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der "Gerechtigkeit", sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende
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der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt,
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wenn die "Freiheit" zum Privilegium wird.
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<P>
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Die Bolschewiki werden selbst mit der Hand auf dem Herzen nicht leugnen wollen,
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daß sie auf Schritt und Tritt tasten, versuchen, experimentieren, hin-
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und herprobieren mußten und daß ein gut Teil ihrer Maßnahmen
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keine Perle darstellt. So muß und wird es uns allen gehen, wenn wir
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daran gehen - wenn auch nicht überall so schwierige Verhältnisse
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herrschen mögen.
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<P>
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Die stillschweigende Voraussetzung der Diktaturtheorie im Lenin-Trotzkischen
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Sinn ist, daß die sozialistische Umwälzung eine Sache sei, für
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die ein fertiges Rezept in der Tasche der Revolutionspartei liege, dies dann
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nur mit Energie verwirklicht zu werden brauche. Dem ist leider - oder je
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nachdem: zum Glück - nicht so. Weit entfernt, eine Summe fertiger
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Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden hätte, ist die praktische
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Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und
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rechtlichen Systems eine Sache, die völlig im Nebel der Zukunft liegt.
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Was wir in unserem Programm besitzen, sind nur wenige große Wegweiser,
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die die Richtung anzeigen, in der die Maßnahmen gesucht werden
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müssen, dazu vorwiegend negativen Charakters. Wir wissen so ungefähr,
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was wir zu allererst zu beseitigen haben, um der sozialistischen Wirtschaft
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die Bahn frei zu machen, welcher Art hingegen die tausend konkreten praktischen
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großen und kleinen Maßnahmen sind, um die sozialistischen
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Grundzüge in die Wirtschaft, in das Recht, in alle gesellschaftlichen
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Beziehungen einzuführen, darüber gibt kein sozialistisches
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Parteiprogramm und kein sozialistisches Lehrbuch Aufschluß. Das ist
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kein Mangel, sondern gerade der Vorzug des wissenschaftlichen Sozialismus
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vor dem utopischen. Das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann
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nur ein geschichtliches Produkt sein, geboren aus der eigenen Schule der
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Erfahrung, in der Stunde der Erfüllung, aus dem Werden der lebendigen
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Geschichte, die genau wie die organische Natur, deren Teil sie letzten Endes
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ist, die schöne Gepflogenheit hat, zusammen mit einem wirklichen
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gesellschaftlichen Bedürfnis stets auch die Mittel zu seiner Befriedigung,
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mit der Aufgabe zugleich die Lösung hervorzubringen. Ist dem aber so,
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dann ist es klar, daß der Sozialismus sich seiner Natur nach nicht
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oktroyieren läßt, durch Ukase einführen. Er hat zur Voraussetzung
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eine Reihe Gewaltmaßnahmen - gegen Eigentum usw. Das Negative, den
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Abbau kann man dekretieren, den Aufbau, das Positive nicht. Neuland. Tausend
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Probleme. Nur Erfahrung ist imstande, zu korrigieren und neue Wege zu
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eröffnen. Nur ungehemmt schäumendes Leben verfällt auf tausend
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neue Formen, Improvisationen, erhellt schöpferische Kraft, korrigiert
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selbst alle Fehlgriffe. Das öffentliche Leben der Staaten mit
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beschränkter Freiheit ist eben deshalb so dürftig, so armselig,
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so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschließung der
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Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts
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absperrt. (Beweis: die Jahre 1905 und die Monate Februar-Oktober 1917.) Wie
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dort politisch, so auch ökonomisch und sozial. Die ganze Volksmasse
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muß daran teilnehmen. Sonst wird der Sozialismus vom grünen Tisch
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eines Dutzends Intellektueller dekretiert, oktroyiert.
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<P>
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Unbedingt öffentliche Kontrolle notwendig. Sonst bleibt der Austausch
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der Erfahrungen nur in dem geschlossenen Kreis der Beamten der neuen Regierung.
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Korruption unvermeidlich. (Lenins Worte, Mitteilungsblatt Nr. 29.) Die Praxis
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des Sozialismus erfordert eine ganze geistige Umwälzung in den durch
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Jahrhunderte der bürgerlichen Klassenherrschaft degradierten Massen.
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Soziale Instinkte anstelle egoistischer, Masseninitiative anstelle der
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Trägheit, Idealismus, der über alle Leiden hinweg trägt usw.
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usw. Niemand weiß das besser, schildert das eindringlicher, wiederholt
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das hartnäckiger als Lenin.
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Nur vergreift er sich völlig im Mittel.
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Dekret, diktatorische Gewalt der Fabrikaufseher, drakonische Strafen,
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Schreckensherrschaft, das sind alles Palliative. Der einzige Weg zur Wiedergeburt
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ist die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkteste
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breiteste Demokratie, öffentliche Meinung. Gerade die Schreckensherrschaft
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demoralisiert.
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<P>
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Fällt das alles weg, was bleibt in Wirklichkeit? Lenin und Trotzki haben
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an Stelle der aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen
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Vertretungskörperschaften die Sowjets als die einzige wahre Vertretung
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der arbeitenden Massen hingestellt. Aber mit dem Erdrücken des politischen
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Lebens im ganzen Lande muß auch das Leben in den Sowjets immer mehr
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erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit,
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freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen
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Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das
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tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft
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allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher
|
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Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen
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leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite
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der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um
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den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen
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einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur
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allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur
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einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im bürgerlichen Sinne, im Sinne
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|
der Jakobiner-Herrschaft (das Verschieben der Sowjet-Kongresse von drei Monaten
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|
auf sechs Monate!). Ja noch weiter: solche Zustände müssen eine
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|
Verwilderung des öffentlichen Lebens zeitigen: Attentate,
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|
Geiselerschießungen usw.
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|
<!-- Das folgende bis zum schlie<69>enden Kommentar geh<65>rt eigentlich in eine Fu<46>note. Siehe R.L. Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 361 -->
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<P>
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|
Lenins Rede über Disziplin und Korruption.
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<P>
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<P>
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|
Ein Problem für sich von hoher Wichtigkeit in jeder Revolution bildet
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der Kampf mit dem Lumpenproletariat. Auch wir in Deutschland und allerorts
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werden damit zu tun haben. Das lumpenproletarische Element haftet tief der
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|||
|
bürgerlichen Gesellschaft an, nicht nur als besondere Schicht, als sozialer
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|||
|
Abfall, der namentlich in Zeiten riesig anwächst, wo die Mauern der
|
|||
|
Gesellschaftsordnung zusammenstürzen, sondern als integrierendes Element
|
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|
der gesamten Gesellschaft. Die Vorgänge in Deutschland - und mehr oder
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|
minder in allen andern Staaten - haben gezeigt, wie leicht alle Schichten
|
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|
der bürgerlichen Gesellschaft der Verlumpung anheimfallen. Abstufungen
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|
zwischen kaufmännischem Preiswucher, Schlachtschitzen-Schiebungen, fiktiven
|
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|
Gelegenheitsgeschäften, Lebensmittelfälschung, Prellerei,
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|
Beamtenunterschlagung, Diebstahl, Einbruch und Raub flossen so ineinander,
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|
daß die Grenze zwischen dem ehrbaren Bürgertum und dem Zuchthaus
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|
verschwand. Hier wiederholt sich dieselbe Erscheinung wie die
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|
regelmäßige rasche Verlumpung bürgerlicher Zierden, wenn
|
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|
sie in überseeische koloniale Verhältnisse auf fremden sozialen
|
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|
Boden verpflanzt werden. Mit der Abstreifung der konventionellen Schranken
|
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|
und Stützen für Moral und Recht fällt die bürgerliche
|
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|
Gesellschaft, deren innerstes Lebensgesetz die tiefste Unmoral: die Ausbeutung
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|
des Menschen durch den Menschen, unmittelbar und hemmungslos einfacher Verlumpung
|
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|
anheim. Die proletarische Revolution wird überall mit diesem Feind und
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|
Werkzeug der Konterrevolution zu ringen haben.
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<P>
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|
Und doch ist auch in dieser Beziehung der Terror ein stumpfes, ja zweischneidiges
|
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Schwert. Die drakonischste Feldjustiz ist ohnmächtig gegen Ausbrüche
|
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des lumpenproletarischen Unwesens. Ja, jedes dauernde Regiment des
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|
Belagerungszustandes führt unweigerlich zur Willkür, und jede
|
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|
Willkür wirkt depravierend auf die Gesellschaft. Das einzige wirksame
|
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|
Mittel in der Hand der proletarischen Revolution sind auch hier: radikale
|
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|
Maßnahmen politischer und sozialer Natur, rascheste Umwandlung der
|
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sozialen Garantien des Lebens der Masse und - Entfachung des revolutionären
|
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|
Idealismus, der sich nur in uneingeschränkter politischer Freiheit durch
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intensiv aktives Leben der Massen auf die Dauer halten läßt.
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<P>
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Wie gegen Krankheitsinfektionen und -keime die freie Wirkung der Sonnenstrahlen
|
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das wirksamste, reinigende und heilende Mittel ist, so ist die Revolution
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selbst und ihr erneuerndes Prinzip, das von ihr hervorgerufenen geistige
|
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|
Leben, Aktivität und Selbstverantwortung der Massen, also die breiteste
|
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|
politische Freiheit als ihre Form, die einzige heilende und reinigende Sonne.
|
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<P>
|
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|
<P>
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|
Anarchie wird auch bei uns und überall unvermeidlich sein.
|
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|
Lumpenproletarisches Element haftet der bürgerlichen Gesellschaft an
|
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|
und läßt sich nicht von ihr trennen:
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<P>
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|
Beweise:
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<P>
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|
1. Ostpreußen, die "Kosaken"-Plünderungen.
|
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<P>
|
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|
2. Der generelle Ausbruch von Raub und Diebstahl in Deutschland ("Schiebungen",
|
|||
|
Post- und Eisenbahnpersonal, Polizei, völlige Verwischung der Grenzen
|
|||
|
zwischen der wohlgeordneten Gesellschaft und dem Zuchthaus).
|
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<P>
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|
3. Die rapide Verlumpung der Gewerkschaftsführer. Dagegen sind die
|
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|
drakonischen Terrormaßnahmen machtlos. Im Gegenteil, sie korrumpieren
|
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|
noch mehr. Das einzige Gegengift: Idealismus und soziale AKTIVITÄT der
|
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|
Massen, unbeschränkte politische Freiheit.
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<P>
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|
Das ist ein übermächtiges objektives Gesetz, dem sich keine Partei
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zu entziehen vermag.
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<P>
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<P>
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|
Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie ist eben der, daß sie
|
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|
die Diktatur, genau wie Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. "Diktatur
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|
ODER Demokratie" heißt die Fragestellung sowohl bei den Bolschewiki
|
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|
wie bei Kautsky. Dieser entscheidet sich natürlich für die Demokratie,
|
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|
und zwar für die BÜRGERLICHE Demokratie, da er sie eben als die
|
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Alternative der sozialistischen Umwälzung hinstellt. Lenin-Trotzki
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entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie
|
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und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d.h. für Diktatur
|
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|
nach bürgerlichem Muster. Es sind zwei Gegenpole, beide gleich weit
|
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entfernt von der wirklichen sozialistischen Politik. Das Proletariat kann,
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wenn es die Macht ergreift, nimmermehr nach dem guten Rat Kautskys unter
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dem Vorwand der "Unreife des Landes" auf die sozialistische Umwälzung
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verzichten und sich nur der Demokratie widmen, ohne an sich selbst, an der
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Internationale, an der Revolution Verrat zu üben. Es soll und muß
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eben sofort sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster,
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rücksichtslosester Weise in Angriff nehmen, also Diktatur ausüben,
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aber Diktatur der KLASSE, nicht einer Partei oder Clique, Diktatur der Klasse,
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d.h. in breitester Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter
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Teilnahme der Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie. "Als Marxisten
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sind wir nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen", schreibt
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Trotzki. Gewiß, wir sind nie Götzendiener der formalen Demokratie
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gewesen. Wir sind auch nie Götzendiener des Sozialismus oder des Marxismus
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gewesen. Folgt etwa daraus, daß wir auch den Sozialismus, den Marxismus,
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wenn er uns unbequem wird, a la Cunow-Lensch-Parvus, in die Rumpelkammer
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werfen dürfen? Trotzki und Lenin sind die lebendige Verneinung dieser
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Frage. Wir sind nie Götzendiener der formalen Demokratie gewesen, das
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heißt nur: Wir unterscheiden stets den sozialen Kern von der politischen
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Form der BÜRGERLICHEN Demokratie, wir enthüllten stets den herben
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Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen
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Schale der formalen Gleichheit und Freiheit - nicht um diese zu verwerfen,
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sondern um die Arbeiterklasse dazu anzustacheln, sich nicht mit der Schale
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zu begnügen, vielmehr die politische Macht zu erobern, um sie mit neuem
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sozialen Inhalt zu füllen. Es ist die historische Aufgabe des Proletariats,
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wenn es zur Macht gelangt, an Stelle der bürgerlichen Demokratie
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sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen.
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Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn
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der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges
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Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll
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sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie
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beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des
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Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die
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sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats.
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Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der ART DER VERWENDUNG DER
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DEMOKRATIE, nicht in ihrer ABSCHAFFUNG, in energischen, entschlossenen Eingriffen
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in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der
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bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische
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Umwälzung nicht verwirklichen läßt. Aber diese Diktatur muß
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das Werk der KLASSE, und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im
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Namen der Klasse sein, d.h. sie muß auf Schritt und Tritt aus der aktiven
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Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung
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stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der
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wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen.
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Genauso würden auch bisher die Bolschewiki vorgehen, wenn sie nicht
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unter dem furchtbaren Zwang des Weltkriegs, der deutschen Okkupation und
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aller damit verbundenen abnormen Schwierigkeiten litten, die jede von den
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besten Absichten und den schönsten Grundsätzen erfüllte
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sozialistische Politik verzerren müssen.
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Ein krasses Argument dazu bildet die so reichliche Anwendung des Terrors
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durch die Räteregierung, und zwar namentlich in der letzten Periode
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vor dem Zusammenbruch des deutschen Imperialismus, seit dem Attentat auf
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den deutschen Gesandten. Die Binsenweisheit, daß Revolutionen nicht
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mit Rosenwasser getauft werden, ist an sich ziemlich dürftig.
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Alles, was in Rußland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche
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Kette von Ursachen und Wirkungen, deren Ausgangspunkte und Schlußsteine:
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das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Rußlands
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durch den deutschen Imperialismus. Es hieße, von Lenin und Genossen
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übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter
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solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Diktatur
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des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft
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hervorzuzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung,
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ihre vorbildliche Tatkraft und ihre unverbrüchliche Treue dem
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internationalen Sozialismus wahrhaftig geleistet, was unter so verteufelt
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schwierigen Verhältnissen zu leisten war. Das Gefährliche beginnt
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dort, wo sie aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen
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aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und
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dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik
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zur Nachahmung empfehlen wollen. Wie sie sich damit selbst völlig
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unnötig im Lichte stehen und ihr wirkliches, unbestreitbares historisches
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Verdienst unter den Scheffel notgedrungener Fehltritte stellen, so erweisen
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sie dem internationalen Sozialismus, demzuliebe und um dessentwillen sie
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gestritten und gelitten, einen schlechten Dienst, wenn sie in seine Speicher
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als neue Erkenntnisse all die von Not und Zwang in Rußland eingegebenen
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Schiefheiten eintragen wollen, die letzten Endes nur Ausstrahlungen des
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Bankerotts des internationalen Sozialismus in diesem Weltkriege waren.
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Mögen die deutschen Regierungssozialisten schreien, die Herrschaft der
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Bolschewiki in Rußland sei ein Zerrbild der Diktatur des Proletariats.
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Wenn sie es war oder ist, so nur, weil sie eben ein Produkt der Haltung des
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deutschen Proletariats war, die ein Zerrbild auf sozialistischen Klassenkampf
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war. Wir alle stehen unter dem Gesetz der Geschichte, und die sozialistische
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Gesellschaftsordnung läßt sich eben nur international
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durchführen. Die Bolschewiki haben gezeigt, daß sie alles
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können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen der
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historischen Möglichkeiten zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht
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Wunder wirken wollen. Denn eine mustergültige und fehlerfreie proletarische
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Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus
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erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande wäre
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ein Wunder. Worauf es ankommt, ist, in der Politik der Bolschewiki das
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Wesentliche vom Unwesentlichen, den Kern von dem Zufälligen zu
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unterscheiden. In dieser letzten Periode, in der wir vor entscheidenden
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Endkämpfen in der ganzen Welt stehen, war und ist das wichtigste Problem
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des Sozialismus geradezu die brennende Zeitfrage: nicht diese oder jene
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Detailfrage der Taktik, sondern: die Aktionsfähigkeit des Proletariats,
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die Tatkraft der Massen, der Wille zur Macht des Sozialismus überhaupt.
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In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten,
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die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis
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jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab's
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gewagt!
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Dies ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem
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Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung
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der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung
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des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und
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die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt
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mächtig vorangetrieben zu haben. In Rußland konnte das Problem
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nur gestellt werden. Es konnte nicht in Rußland gelöst werden.
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Und in DIESEM Sinne gehört die Zukunft überall dem "Bolschewismus".
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