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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<TITLE>Rosa Luxemburg - Die Krise der Sozialdemokratie - III</TITLE>
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<H2>Rosa Luxemburg - Die Krise der Sozialdemokratie</H2>
<H1><!-- #BeginEditable "%DCberschrift" -->III.<BR>
Das Aufkommen des Imperialismus<!-- #EndEditable --></H1>
<HR size="1">
<!-- #BeginEditable "Text" -->
<P>Allein noch tiefere Zusammenh&auml;nge und gr&uuml;ndlichere Einsichten
bereiteten unsere Partei darauf vor, das wahre Wesen, die wirklichen Ziele
dieses Krieges zu durchschauen und sich von ihm in keiner Hinsicht &uuml;berraschen
zu lassen. Die Vorg&auml;nge und Triebkr&auml;fte, die zum 4. August 1914
f&uuml;hrten, waren keine Geheimnisse. Der Weltkrieg wurde seit Jahrzehnten
vorbereitet, in breitester &Ouml;ffentlichkeit, im hellichten Tage, Schritt
f&uuml;r Schritt und Stunde um Stunde. Und wenn heute verschiedene Sozialisten
der &raquo;Geheimdiplomatie&laquo;, die diese Teufelei hinter den Kulissen
zusammengebraut h&auml;tte, grimmig die Vernichtung ansagen, so schreiben
sie den armen Schelmen unverdient geheime Zauberkraft zu, wie der Botokude,
der seinen Fetisch f&uuml;r den Ausbruch des Gewitters peitscht. Die sogenannten
Lenker der Staatsgeschicke waren diesmal, wie stets, nur Schachfiguren,
von &uuml;berm&auml;chtigen historischen Vorg&auml;ngen und Verlagerungen
in der Erdrinde der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft geschoben. Und wenn
jemand diese Vorg&auml;nge und Verlagerungen die ganze Zeit &uuml;ber mit
klarem Auge zu erfassen bestrebt und f&auml;hig war, so war es die deutsche
Sozialdemokratie.</P>
<P>Zwei Linien der Entwicklung in der j&uuml;ngsten Geschichte f&uuml;hren
schnurgerade zu dem heutigen Kriege. Eine leitet noch von der Periode der
Konstituierung der sogenannten Nationalstaaten, das hei&szlig;t der modernen
kapitalistischen Staaten, vom Bismarckschen Kriege gegen Frankreich her.
Der Krieg von 1870, der durch die Annexion Elsa&szlig;-Lothringens die
franz&ouml;sische Republik in die Arme Ru&szlig;lands geworfen, die Spaltung
Europas in zwei feindliche Lager und die &Auml;ra des wahnwitzigen Wettr&uuml;stens
er&ouml;ffnet hat, schleppte den ersten Z&uuml;ndstoff zum heutigen Weltbrande
herbei. Noch w&auml;hrend Bismarcks Truppen in Frankreich standen, schrieb
<B>Marx</B> an den Braunschweiger Ausschu&szlig;:</P>
<P><SMALL>&raquo;Wer nicht ganz vom Geschrei des Augenblicks &uuml;bert&auml;ubt
ist, oder ein Interesse hat, das deutsche Volk zu &uuml;bert&auml;uben,
mu&szlig; einsehen, da&szlig; der Krieg von 1870 ganz so notwendig einen
Krieg zwischen Deutschland und Ru&szlig;land im Scho&szlig;e tr&auml;gt,
wie der Krieg von 1866 den Krieg von 1870. Ich sage notwendig, unvermeidlich,
au&szlig;er im unwahrscheinlichen Falle eines vorherigen Ausbruchs einer
Revolution in Ru&szlig;land. Tritt dieser unwahrscheinliche Fall nicht
ein, so mu&szlig; der Krieg zwischen Deutschland und Ru&szlig;land schon
jetzt als un fait accompli [eine vollendete Tatsache] behandelt werden.
Es h&auml;ngt ganz vom jetzigen Verhalten der deutschen Sieger ab, ob dieser
Krieg n&uuml;tzlich oder sch&auml;dlich. Nehmen sie Elsa&szlig; und Lothringen,
so wird Frankreich mit Ru&szlig;land Deutschland bekriegen. Es ist &uuml;berfl&uuml;ssig,
die unheilvollen Folgen zu deuten.&laquo;</SMALL>
</P>
<P>Diese Prophezeiung wurde damals verlacht; man hielt das Band, das Preu&szlig;en
mit Ru&szlig;land verkn&uuml;pfte, f&uuml;r so stark, da&szlig; es als
Wahnsinn galt, auch nur daran zu denken, das autokratische Ru&szlig;land
k&ouml;nnte sich mit dem republikanischen Frankreich verb&uuml;nden. Die
Vertreter dieser Auffassung wurden als reine Tollh&auml;usler hingestellt.
Und doch ist alles, was Marx vorausgesagt hat, bis zum letzten Buchstaben
eingetroffen. &raquo;Das ist eben&laquo; &shy; sagt Auer in seiner &raquo;Sedanfeier&laquo; &shy; &raquo;sozialdemokratische Politik, die klar sieht, was ist, und sich
darin von jener Alltagspolitik unterscheidet, welche blind vor jedem Erfolg
sich auf den Bauch wirft.&laquo; </P>
<P>Allerdings darf der Zusammenhang nicht in der Weise aufgefa&szlig;t
werden, als ob die seit 1870 f&auml;llige Vergeltung f&uuml;r den Bismarckschen
Raub nunmehr Frankreich wie ein unabwendbares Schicksal zur Kraftprobe
mit dem Deutschen Reich getrieben h&auml;tte, als ob der heutige Weltkrieg
in seinem Kern die viel verschriene &raquo;Revanche&laquo; f&uuml;r Elsa&szlig;-Lothringen
w&auml;re. Dies die bequeme nationalistische Legende der deutschen Kriegshetzer,
die von dem finsteren rachebr&uuml;tenden Frankreich fabeln, das seine
Niederlage &raquo;nicht vergessen konnte&laquo;, wie die Bismarckschen Pre&szlig;trabanten
im Jahre 1866 von der entthronten Prinzessin &Ouml;sterreich fabelten,
die ihren ehemaligen Vorrang vor dem reizenden Aschenbr&ouml;del Preu&szlig;en &raquo;nicht vergessen konnte&laquo;. In Wirklichkeit war die Rache f&uuml;r
Elsa&szlig;-Lothringen nur noch theatralisches Requisit einiger patriotischer
Hansw&uuml;rste, der &raquo;Lion de Belfort&laquo; ein altes Wappentier geworden.</P>
<P>In der Politik Frankreichs war die Annexion l&auml;ngst &uuml;berwunden,
von neuen Sorgen &uuml;berholt, und weder die Regierung noch irgendeine
ernste Partei in Frankreich dachte an einen Krieg mit Deutschland wegen
der Reichslande. Wenn das Bismarcksche Verm&auml;chtnis der erste Schritt
zu dem heutigen Weltbrand wurde, so vielmehr in dem Sinne, da&szlig; es
einerseits Deutschland wie Frankreich und damit ganz Europa auf die absch&uuml;ssige
Bahn des milit&auml;rischen Wettr&uuml;stens gesto&szlig;en, andererseits
das B&uuml;ndnis Frankreichs mit Ru&szlig;land und Deutschlands mit &Ouml;sterreich
als unabwendbare Konsequenz herbeigef&uuml;hrt hat. Damit war dort eine
au&szlig;erordentliche St&auml;rkung des russischen Zarismus als Machtfaktor
der europ&auml;ischen Politik gegeben &shy; begann doch gerade seitdem
das systematische Wettkriechen zwischen Preu&szlig;en-Deutschland und der
franz&ouml;sischen Republik um die Gunst Ru&szlig;lands &shy;, hier war
die politische Zusammenkoppelung des Deutschen Reichs mit &Ouml;sterreich-Ungarn
bewirkt; dessen Kr&ouml;nung, wie die angef&uuml;hrten Worte des deutschen
Wei&szlig;buchs zeigen, die &raquo;Waffenbr&uuml;derschaft&laquo; im heutigen
Krieg ist.
<P></P>
<P>So hat der Krieg von 1870 in seinem Gefolge die &auml;u&szlig;ere politische
Gruppierung Europas um die Achse des deutsch-franz&ouml;sischen Gegensatzes
wie die formale Herrschaft des Militarismus im Leben der europ&auml;ischen
V&ouml;lker eingeleitet. Diese Herrschaft und jene Gruppierung hat die
geschichtliche Entwicklung aber seitdem mit einem ganz neuen Inhalt gef&uuml;llt.
Die zweite Linie, die im heutigen Weltkrieg m&uuml;ndet und die Marxens
Prophezeiung so gl&auml;nzend best&auml;tigt, r&uuml;hrt von Vorg&auml;ngen
internationaler Natur her, die Marx nicht mehr erlebt hat: von der imperialistischen
Entwicklung der letzten 25 Jahre.</P>
<P>Der kapitalistische Aufschwung, der nach der Kriegsperiode der sechziger
und siebziger Jahre in dem neukonstituierten Europa Platz gegriffen und
der namentlich nach &Uuml;berwindung der langen Depression, die dem Gr&uuml;nderfieber
und dem Krach des Jahres 1873 gefolgt war, in der Hochkonjunktur der neunziger
Jahre einen nie dagewesenen H&ouml;hepunkt erreicht hatte, er&ouml;ffnete
bekanntlich eine neue Sturm- und Drangperiode der europ&auml;ischen Staaten:
ihre Expansion um die Wette nach den nichtkapitalistischen L&auml;ndern
und Zonen der Welt. Schon seit den achtziger Jahren macht sich ein neuer
besonders energischer Drang nach Kolonialeroberungen geltend. England bem&auml;chtigt
sich &Auml;gyptens und schafft sich in S&uuml;dafrika ein gewaltiges Kolonialreich,
Frankreich besetzt Tunis in Nordafrika und Tonkin in Ostasien, Italien
fa&szlig;t Fu&szlig; in Abessinien, Ru&szlig;land bringt in Zentralasien
seine Eroberungen zum Abschlu&szlig; und dringt in der Mandschurei vor,
Deutschland erwirbt in Afrika und der S&uuml;dsee die ersten Kolonien,
endlich treten auch die Vereinigten Staaten in den Reigen und erwerben
mit den Philippinen &raquo;Interessen&laquo; in Ostasien. Diese Periode der
fieberhaften Zerpfl&uuml;ckung Afrikas und Asiens, die, von dem chinesisch-japanischen
Krieg im Jahre 1895 an, fast eine ununterbrochene Kette blutiger Kriege
entfesselte, gipfelt in dem gro&szlig;en Chinafeldzug und schlie&szlig;t
mit dem russisch-japanischen Kriege des Jahres 1904 ab.</P>
<P>Alle diese Schlag auf Schlag erfolgten Vorg&auml;nge schufen neue au&szlig;ereurop&auml;ische
Gegens&auml;tze nach allen Seiten: zwischen Italien und Frankreich in Nordafrika,
zwischen Frankreich und England in &Auml;gypten, zwischen England und Ru&szlig;land
in Zentralasien, zwischen Ru&szlig;land und Japan in Ostasien, zwischen
Japan und England in China, zwischen den Vereinigten Staaten und Japan
im Stillen Ozean &shy; ein bewegliches Meer, ein Hin- und Herwogen von
scharfen Gegens&auml;tzen und vor&uuml;bergehenden Allianzen, von Spannungen
und Entspannungen, bei denen alle paar Jahre ein partieller Krieg zwischen
den europ&auml;ischen
M&auml;chten auszubrechen drohte, aber immer wieder
hinausgeschoben wurde. Es war daraus f&uuml;r jedermann klar: 1. da&szlig;
der heimliche, im stillen arbeitende Krieg aller kapitalistischen Staaten
gegen alle auf dem R&uuml;cken asiatischer und afrikanischer V&ouml;lker
fr&uuml;her oder sp&auml;ter zu einer Generalabrechnung f&uuml;hren, da&szlig;
der in Afrika und Asien ges&auml;te Wind einmal nach Europa als f&uuml;rchterlicher
Sturm zur&uuml;ckschlagen mu&szlig;te, um so mehr, als der st&auml;ndige
Niederschlag der asiatischen und afrikanischen Vorg&auml;nge die steigenden
R&uuml;stungen in Europa waren, 2. da&szlig; der europ&auml;ische Weltkrieg
zur Entladung kommen w&uuml;rde, sobald die partiellen und abwechselnden
Gegens&auml;tze zwischen den imperialistischen Staaten eine Zentralisationsachse,
<B>einen</B> &uuml;berwiegenden starken Gegensatz finden w&uuml;rden, um
den sie sich zeitweilig gruppieren k&ouml;nnen. Diese Lage wurde geschaffen
mit dem Auftreten des deutschen Imperialismus.
<P></P>
<P>In Deutschland kann das Aufkommen des Imperialismus, das auf die k&uuml;rzeste
Zeitspanne zusammengedr&auml;ngt ist, in Reinkultur beobachtet werden.
Der beispiellose Aufschwung der Gro&szlig;industrie und des Handels seit
der Reichsgr&uuml;ndung hat hier in den achtziger Jahren zwei charakteristische
eigenartige Formen der Kapitalakkumulation hervorgebracht: die st&auml;rkste
Kartellentwicklung Europas und die gr&ouml;&szlig;te Ausbildung sowie Konzentration
des Bankwesens in der ganzen Welt. Jene hat die Schwerindustrie, das hei&szlig;t
gerade den an Staatslieferungen, an milit&auml;rischen R&uuml;stungen wie
an imperialistischen Unternehmungen (Eisenbahnbau, Ausbeutung von Erzlagern
usw.) unmittelbar interessierten Kapitalzweig zum einflu&szlig;reichsten
Faktor im Staate organisiert. Dieses hat das Finanzkapital zu einer geschlossenen
Macht von gr&ouml;&szlig;ter, stets gespannter Energie zusammengepre&szlig;t,
zu einer Macht, die gebieterisch schaltend und waltend in Industrie, Handel
und Kredit des Landes, gleich ausschlaggebend in Privat- wie in Staatswirtschaft,
schrankenlos und sprunghaft ausdehnungsf&auml;hig, immer nach Profit und
Bet&auml;tigung hungernd, unpers&ouml;nlich, daher gro&szlig;z&uuml;gig,
wagemutig und r&uuml;cksichtslos, international von Hause aus, ihrer ganzen
Anlage nach auf die Weltb&uuml;hne als den Schauplatz ihrer Taten zugeschnitten
war.</P>
<P>F&uuml;gt man hierzu das st&auml;rkste, in seinen politischen Initiativen
sprunghafteste pers&ouml;nliche Regiment und den schw&auml;chsten, jeder
Opposition unf&auml;higen Parlamentarismus, dazu alle b&uuml;rgerlichen
Schichten im schroffen Gegensatz zur Arbeiterklasse zusammengeschlossen
und hinter der Regierung verschanzt, so konnte man voraussehen, da&szlig;
dieser junge, kraftstrotzende, von keinerlei Hemmungen beschwerte Imperialismus,
der auf die Weltb&uuml;hne mit ungeheuren Appetiten trat, als die Welt
bereits so gut wie verteilt war, sehr rasch zum unberechenbaren Faktor
der allgemeinen Beunruhigung werden mu&szlig;te.</P>
<P>Dies k&uuml;ndigte sich bereits durch den radikalen Umschwung in der
milit&auml;rischen Politik des Reiches Ende der neunziger Jahre an, mit
den beiden einander &uuml;berst&uuml;rzenden Flottenvorlagen der Jahre
1898 und 1899, die in beispielloser Weise auf pl&ouml;tzliche Verdoppelung
der Schlachtflotte, einen gewaltigen, nahezu auf zwei Jahrzehnte berechneten
Bauplan der Seer&uuml;stungen bedeuteten. Dies war nicht blo&szlig; eine
weitgreifende Umgestaltung der Finanzpolitik und der Handelspolitik des
Reiches &shy; der Zolltarif des Jahres 1902 war nur der Schatten, der den
beiden Flottenvorlagen folgte &shy; in weiterer logischer Konsequenz der
Sozialpolitik und der ganzen inneren Klassen- und Parteiverh&auml;ltnisse.
Die Flottenvorlagen bedeuteten vor allem einen demonstrativen Wechsel im
Kurs der ausw&auml;rtigen Politik des Reiches, wie sie seit der Reichsgr&uuml;ndung
ma&szlig;gebend war. W&auml;hrend die Bismarcksche Politik auf dem Grundsatz
basierte, da&szlig; das Reich eine Landmacht sei und bleiben m&uuml;sse,
die deutsche Flotte aber h&ouml;chstens als &uuml;berfl&uuml;ssiges Requisit
der K&uuml;stenverteidigung gedacht war &shy; erkl&auml;rte doch der Staatssekret&auml;r
Hollmann selbst im M&auml;rz 1897 in der Budgetkommission des Reichstags: &raquo;F&uuml;r den K&uuml;stenschutz brauchen wir gar keine Marine; die
K&uuml;sten sch&uuml;tzen sich von selbst&laquo; -, wurde jetzt ein ganz
neues Programm aufgestellt: Deutschland sollte zu Lande und zur See die
erste Macht werden. Damit war die Wendung von der Bismarckschen kontinentalen
Politik zur Weltpolitik, von der Verteidigung zum Angriff als Ziel der
R&uuml;stungen gegeben. Die Sprache der Tatsachen war so klar, da&szlig;
im Deutschen Reichstag selbst der n&ouml;tige Kommentar geliefert wurde.
Der damalige F&uuml;hrer des Zentrums, Lieber, sprach schon am 11. M&auml;rz
1896, nach der bekannten Rede des Kaisers beim f&uuml;nfundzwanzigsten
Jubil&auml;um des Deutschen Reiches, die als Vorbote der Flottenvorlagen
das neue Programm entwickelt hatte, von uferlosen Flottenpl&auml;nen&laquo;,
gegen die man sich entschieden verwahren m&uuml;sse. Ein anderer Zentrumsf&uuml;hrer,
Sch&auml;dler, rief im Reichstag am 23. M&auml;rz 1898 bei der ersten Flottenvorlage: &raquo;Das Volk hat die Anschauung, wir k&ouml;nnen nicht die erste Macht
zu Lande und die erste Macht zur See sein. Wenn mir soeben zugerufen wird,
das wollen wir gar nicht &shy; ja, meine Herren, Sie sind am Anfange davon;
und zwar an einem sehr dicken Anfang.&laquo; Und als die zweite Vorlage
kam, erkl&auml;rte derselbe Sch&auml;dler im Reichstag am 8. Februar 1900,
nachdem er auf all die fr&uuml;heren Erkl&auml;rungen, da&szlig; man an
keine neue Flottenvorlage denke, hingewiesen hatte: &raquo;Und heute diese
Novelle, <B>die nichts mehr und nichts weniger inauguriert, als die Schaffung
der Weltflotte, als Unterlage der Weltpolitik</B>, durch Verdoppelung unserer
Flotte unter Bindung auf fast zwei Jahrzehnte hinaus.&laquo; &Uuml;brigens
sprach die Regierung selbst das politische Programm des neuen Kurses offen
aus: am 11. Dezember 1899 sagte von B&uuml;low, damals Staatssekret&auml;r
des Ausw&auml;rtigen Amtes, bei der Begr&uuml;ndung der zweiten Flottenvorlage:
Wenn die Engl&auml;nder von einem greater Britain [gr&ouml;&szlig;eren
Britannien], wenn die Franzosen von einer nouvelle France [neuen Frankreich]
reden, wenn die Russen sich Asien erschlie&szlig;en, haben auch wir Anspruch
auf <B>ein gr&ouml;&szlig;eres Deutschland</B>... Wenn wir uns nicht eine
Flotte schaffen, die ausreicht, unseren Handel und unsere Landsleute in
der Fremde, unsere Missionen und
die Sicherheit unserer K&uuml;sten zu
sch&uuml;tzen, so gef&auml;hrden wir die vitalsten Interessen des Landes ...
In dem kommenden Jahrhundert wird das deutsche Volk <B>Hammer oder Ambo&szlig;
sein</B>.&laquo; Streifte man die Redefloskeln von dem K&uuml;stenschutz,
den Missionen und dem Handel ab, so bleibt das lapidare Programm: Gr&ouml;&szlig;eres
Deutschland, Politik des Hammers f&uuml;r andere V&ouml;lker.
<P></P>
<P>Gegen wen sich diese Provokationen in erster Linie richteten, war allen
klar: die neue aggressive Flottenpolitik sollte Deutschland zum Konkurrenten
der ersten Seemacht, Englands, machen. Und sie ist auch nicht anders in
England verstanden worden. Die Flottenreform und die Programmreden, die
sie begleiteten, riefen in England die gr&ouml;&szlig;te Beunruhigung hervor,
die seitdem nicht nachgelassen hat. Im M&auml;rz 1910 sagte im englischen
Unterhause Lord Robert Cecil bei der Flottendebatte wieder: er fordere
jedermann heraus, irgendeinen denkbaren Grund daf&uuml;r anzugeben, da&szlig;
Deutschland eine riesige Flotte baue, es sei denn, da&szlig; damit beabsichtigt
werde, einen Kampf mit England aufzunehmen. Der Wettkampf zur See, der
auf beiden Seiten seit anderthalb Jahrzehnten dauerte, zuletzt der fieberhafte
Bau von Dreadnoughts und &Uuml;berdreadnoughts, das war bereits der Krieg
zwischen Deutschland und England. Die Flottenvorlage vom 11. Dezember 1899
war eine Kriegserkl&auml;rung Deutschlands, die England am 4. August 1914
quittierte.</P>
<P>Wohlgemerkt hatte dieser Kampf zur See nicht das geringste gemein mit
einem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf um den Weltmarkt. &raquo;Das englische
Monopol&laquo; auf dem Weltmarkt, das angeblich die kapitalistische Entwicklung
Deutschlands einschn&uuml;rte und von dem heute so viel gefaselt wird,
geh&ouml;rt in das Reich der patriotischen Kriegslegenden, die auch auf
die immergrimmige franz&ouml;sische &raquo;Revanche&laquo; nicht verzichten
k&ouml;nnen. Jenes &raquo;Monopol&laquo; war schon seit den achtziger Jahren
zum Schmerz englischer Kapitalisten ein M&auml;rchen aus alten Zeiten geworden.
Die industrielle Entwicklung Frankreichs, Belgiens, Italiens, Ru&szlig;lands,
Indiens, Japans, vor allem aber Deutschlands und der Vereinigten Staaten
hatte jenem Monopol aus der ersten H&auml;lfte des 19. Jahrhunderts und
bis in die sechziger Jahre ein Ende bereitet. Neben England trat in den
letzten Jahrzehnten ein Land nach dem anderen auf den Weltmarkt, der Kapitalismus
entwickelte sich naturgem&auml;&szlig; und mit Sturmschritt zur kapitalistischen
Weltwirtschaft.</P>
<P>Die englische Seeherrschaft aber, die heute sogar manchen deutschen
Sozialdemokraten den ruhigen Schlaf raubt und deren Zertr&uuml;mmerung
nach diesen Braven f&uuml;r das Wohlergehen des internationalen Sozialismus
dringend notwendig erscheint, diese Seeherrschaft &shy; eine Folge der
Ausdehnung des britischen Reichs auf f&uuml;nf Weltteile - st&ouml;rte
den deutschen Kapitalismus bisher so wenig, da&szlig; dieser vielmehr unter
ihrem &raquo;Joch&laquo; mit unheimlicher Schnelligkeit zu einem ganz robusten
Burschen mit drallen Backen aufgewachsen ist. Ja, gerade England selbst
und seine Kolonien sind der wichtigste Eckstein des deutschen gro&szlig;industriellen
Aufschwungs, wie auch umgekehrt Deutschland f&uuml;r das britische Reich
der wichtigste und unentbehrliche Abnehmer geworden ist. Weit entfernt,
einander im Wege zu stehen, sind die britische und die deutsche gro&szlig;kapitalistische
Entwicklung aufs h&ouml;chste aufeinander angewiesen und in einer weitgehenden
Arbeitsteilung aneinander gekettet, was namentlich durch den englischen
Freihandel in weitestem Ma&szlig;e beg&uuml;nstigt wird. Der deutsche Warenhandel
und dessen Interessen auf dem Weltmarkt hatten also mit dem Frontwechsel
in der deutschen Politik und mit dem Flottenbau gar nichts zu tun.
<P></P>
<P>Ebensowenig f&uuml;hrte der bisherige deutsche Kolonialbesitz an sich
zu einem gef&auml;hrlichen Weltgegensatz und zur Seekonkurrenz mit England.
Die deutschen Kolonien bedurften keiner ersten Seemacht zu ihrem Schutze,
weil sie bei ihrer Beschaffenheit kaum jemand, England am wenigsten, dem
Deutschen Reich neidete. Da&szlig; sie jetzt im Kriege von England und
Japan weggenommen worden sind, da&szlig; der Raub den Besitzer wechselt,
ist eine &uuml;bliche Ma&szlig;nahme und Wirkung des Krieges, so gut wie
jetzt der Appetit der deutschen Imperialisten ungest&uuml;m nach Belgien
schreit, ohne da&szlig; vorher, im Frieden, ein Mensch, der nicht ins Irrenhaus
gesperrt werden wollte, den Plan h&auml;tte entwickeln d&uuml;rfen, Belgien
zu schlucken. Um S&uuml;dost- und S&uuml;dwestafrika, um das Wilhelmsland
oder um Tsingtau w&auml;re es nie zu einem Krieg zu Lande oder zur See
zwischen Deutschland und England gekommen, war doch knapp vor dem Ausbruch
des heutigen Krieges zwischen Deutschland und England sogar ein Abkommen
fix und fertig, das eine g&uuml;tliche Verteilung der portugiesischen Kolonien
in Afrika zwischen den beiden M&auml;chten einleiten sollte.</P>
<P>Die Entfaltung der Seemacht und des weltpolitischen Paniers auf deutscher
Seite k&uuml;ndigte also neue und gro&szlig;artige Streifz&uuml;ge des
deutschen Imperialismus in der Welt an. Es wurde mit der erstklassigen aggressiven
Flotte und mit den parallel zu ihrem Ausbau einander &uuml;berst&uuml;rzenden
Heeresvergr&ouml;&szlig;erungen erst ein Apparat f&uuml;r k&uuml;nftige
Politik geschaffen, deren Richtung und Ziele unberechenbaren M&ouml;glichkeiten
T&uuml;r und Tor &ouml;ffneten. Der Flottenbau und die R&uuml;stungen wurden
an sich zum grandiosen Gesch&auml;ft der deutschen Gro&szlig;industrie,
sie er&ouml;ffneten zugleich unbegrenzte Perspektiven f&uuml;r die weitere
Operationslust des Kartell- und Bankkapitals in der weiten Welt. Damit
war das Einschwenken s&auml;mtlicher b&uuml;rgerlicher Parteien unter die
Fahne des Imperialismus gesichert. Dem Beispiel der Nationalliberalen als
des Kerntrupps der imperialistischen Schwerindustrie folgte das Zentrum,
das gerade mit der Annahme der von ihm so laut denunzierten weltpolitischen
Flottenvorlage im Jahre 1900 definitiv zur Regierungspartei wurde; dem
Zentrum trabte bei dem Nachz&uuml;gler des Flottengesetzes - dem Hungerzolltarif
&shy; der Freisinn nach; die Kolonne schlo&szlig; das Junkertum, das sich
aus einem trutzigen Gegner der &raquo;gr&auml;&szlig;lichen Flotte&laquo; und des Kanalbaus zum eifrigen
Krippenreiter und Parasiten des Wassermilitarismus,
des Kolonialraubs und der mit ihnen verbundenen Zollpolitik bekehrt hatte.
Die Reichstagswahlen von 1907, die sogenannten Hottentottenwahlen,
enth&uuml;llten das ganze b&uuml;rgerliche Deutschland in einem Paroxismus
der imperialistischen Begeisterung unter einer Fahne fest zusammengeschlossen,
das Deutschland von B&uuml;lows, das sich berufen f&uuml;hlt, als Hammer
der Welt aufzutreten. Und auch diese Wahlen - mit ihrer geistigen Pogromatmosph&auml;re
&shy; ein Vorspiel zu dem Deutschland des 4. August &shy; waren eine Herausforderung
nicht blo&szlig; an die deutsche Arbeiterklasse, sondern an die &uuml;brigen
kapitalistischen Staaten, eine gegen niemand im besonderen, aber gegen
alle insgesamt ausgestreckte geballte Faust.
<P></P>
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<HR size="1" align="left" width="200">
<P><SMALL>Quelle: &raquo;die nicht mehr existierende Website "Unser Kampf" auf fr<66>her "http://felix2.2y.net/deutsch/index.html"&laquo;<BR>
Pfad: &raquo;../lu/&laquo;<BR>
Verkn&uuml;pfte Dateien: &raquo;<A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">../css/format.css</A>&laquo;</SMALL>
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