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2022-08-25 20:29:11 +02:00
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<title>"Neue Rheinische Zeitung" - Der 24. Juni</title>
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<p align="center"><a href="me05_118.htm"><font size="2">Der 23. Juni</font></a> <font size=
"2">|</font> <a href="../me_nrz48.htm"><font size="2">Inhalt</font></a> <font size="2">|</font>
<a href="me05_128.htm"><font size="2">Der 25. Juni</font></a></p>
<small>Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 123-127<br>
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971</small> <br>
<br>
<h1>Der 24. Juni</font></p>
<p><font size="2">["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 28 vom 28. Juni 1848]</font></p>
<p><b><a name="S123">&lt;123&gt;</a></b> Die ganze Nacht war Paris milit&auml;risch besetzt.
Starke Piketts Truppen standen auf den Pl&auml;tzen und auf den Boulevards.</p>
<p>Um vier Uhr morgens ert&ouml;nte der Generalmarsch. Ein Offizier und mehrere Mann
Nationalgarde gingen in jedes Haus und holten die Leute ihrer Kompanie heraus, die sich nicht
freiwillig gestellt hatten.</p>
<p>Um dieselbe Zeit ert&ouml;nt der Kanonendonner wieder, am heftigsten in der Gegend der
Br&uuml;cke Saint Michel, dem Verbindungspunkt der Insurgenten des linken Ufers und der
Cit&eacute;. Der General Cavaignac, heute morgen mit der Diktatur bekleidet, brennt vor
Begierde, sie gegen die Emeute auszu&uuml;ben. Am vorigen Tage wurde die Artillerie nur
ausnahmsweise angewandt, und man scho&szlig; meistens nur mit Kart&auml;tschen; heute aber wird
an allen Punkten Artillerie nicht nur gegen die Barrikaden aufgefahren, sondern auch gegen die
H&auml;user; nicht nur mit Kart&auml;tschen wird geschossen, sondern mit <i>Kanonenkugeln</i>,
mit <i>Granaten</i> und mit <i>kongrevischen Raketen</i>.</p>
<p>Im oberen Teile des Faubourg Saint Denis begann morgens ein heftiger Kampf. Die Insurgenten
hatten in der N&auml;he der Nordbahn ein im Bau begriffenes Haus und mehrere Barrikaden
besetzt. Die erste Legion der Nationalgarde griff an, ohne jedoch irgendeinen Vorteil zu
erringen. Sie verscho&szlig; ihre Munition und hatte an f&uuml;nfzig Tote und Verwundete. Kaum
da&szlig; sie ihre Position solange hielt, bis die Artillerie herankam (gegen 10 Uhr), die das
Haus und die Barrikaden in den Grund scho&szlig;. Die Truppen besetzten die Nordbahn wieder.
Der Kampf in dieser ganzen Gegend (Clos Saint Lazare &lt;Siehe <a href="me05_128.htm#S130">"Der
25. Juni", S. 130</a>&gt; genannt, was die "K&ouml;ln[ische] Zeitung" in den "Hofraum von Saint
Lazare" verwandelt) dauerte indes noch lange fort und wurde mit gro&szlig;er Erbitterung <a
name="S124"><b>&lt;124&gt;</b></a> gef&uuml;hrt. "Es ist eine wahre Metzelei", schreibt der
Korrespondent eines belgischen Blattes. An den Barrieren Rochechouart und Poissonni&egrave;re
erhoben sich starke Barrikaden; die Verschanzung an der All&eacute;e Lafayette war ebenfalls
wieder aufgeworfen und wich erst nachmittags den Kanonenkugeln.</p>
<p>In den Stra&szlig;en Saint Martin, Rambuteau und du Grand Chantier konnten die Barrikaden
ebenfalls erst mit H&uuml;lfe der Kanonen genommen werden.</p>
<p>Das Caf&eacute; Cuisinier gegen&uuml;ber der Br&uuml;cke Saint Michel ist von den
Kanonenkugeln zusammengeschossen worden.</p>
<p>Der Hauptkampf fand aber nachmittags gegen drei Uhr statt auf dem Blumenquai, wo der
ber&uuml;hmte Kleiderladen "Zur sch&ouml;nen G&auml;rtnerin" von 600 Insurgenten besetzt und in
eine Festung verwandelt war. Artillerie und Linieninfanterie greifen an. Ein Winkel der Mauer
wird niedergeschmettert. Cavaignac, der hier das Feuer selbst kommandiert, fordert die
Insurgenten auf, sich zu ergeben, er werde sie sonst alle &uuml;ber die Klinge springen lassen.
Die Insurgenten wiesen dies zur&uuml;ck. Die Kanonade beginnt von neuem, und endlich werden
Brandraketen und Granaten hineingeworfen. Das Haus wird total zusammengeschossen, achtzig
Insurgenten liegen unter den Tr&uuml;mmern begraben.</p>
<p>Im Faubourg Saint Jacques, in der Gegend des Panth&eacute;on, hatten die Arbeiter sich
ebenfalls nach allen Seiten hin verschanzt. Jedes Haus mu&szlig;te belagert werden wie in
Saragossa. Die Anstrengungen des Diktators Cavaignac, diese H&auml;user zu st&uuml;rmen, waren
so fruchtlos, da&szlig; der brutale algierische Soldat erkl&auml;rte, er werde sie in Brand
stecken lassen, wenn die Besatzung sich nicht ergebe.</p>
<p>In der Cit&eacute; schossen M&auml;dchen aus den Fenstern auf die Soldaten und die
B&uuml;rgerwehr. Man mu&szlig;te auch hier die Haubitzen wirken lassen, um irgendeinen Erfolg
zu erzielen.</p>
<p>Das elfte Bataillon der Mobilgarde, das sich auf Seite der Insurgenten schlagen wollte,
wurde von den Truppen und der Nationalgarde niedergemacht. So sagt man wenigstens.</p>
<p>Gegen Mittag war die Insurrektion entschieden im Vorteil. Alle Faubourgs, die Vorst&auml;dte
Les Batignolles, Montmartre, La Chapelle und La Villette, kurz, der ganze &auml;u&szlig;ere
Rand von Paris, von den Batignolles bis zur Seine und die gr&ouml;&szlig;te H&auml;lfte des
linken Seineufers war in ihren H&auml;nden. Hier hatten sie 13 Kanonen erobert, die sie nicht
anwandten. Im Zentrum drangen sie in der Cit&eacute; und in der untern Gegend der Stra&szlig;e
Saint Martin vor aufs Stadthaus, das durch Massen von Truppen gedeckt war. Aber dennoch,
erkl&auml;rte Bastide in der Kammer, werde es in einer Stunde vielleicht von den Insurgenten <a
name="S125"><b>&lt;125&gt;</b></a> genommen sein, und in der Bet&auml;ubung, die diese
Nachricht hervorrief, wurde die Diktatur und der Belagerungszustand beschlossen. Kaum damit
ausgestattet, griff Cavaignac zu den &auml;u&szlig;ersten, den rohsten Mitteln, wie sie noch
nie in einer zivilisierten Stadt angewandt worden sind, wie sie selbst Radetzky in Mailand
anzuwenden zauderte. Das Volk war wieder zu gro&szlig;m&uuml;tig. H&auml;tte es auf die
Brandraketen und Haubitzen mit Brennen geantwortet, es w&auml;re am Abend Sieger gewesen. Aber
es dachte nicht daran, gleiche Waffen zu gebrauchen wie seine Gegner.</p>
<p>Die Munition der Insurgenten bestand meist aus Schie&szlig;baumwolle, die in gro&szlig;en
Massen im Faubourg Saint Jacques und im Marais fabriziert wurde. Auf dem Platz Maubert war eine
Kugelgie&szlig;erei angelegt.</p>
<p>Die Regierung bekam fortw&auml;hrend Unterst&uuml;tzung. Die ganze Nacht hindurch kamen
Truppen nach Paris; die Nationalgarde von Pontoise, Rouen, Meulan, Mantes, Amiens, Havre kam
an; Truppen von Orleans, Artillerie und Pioniere kamen von Arras und Douai, ein Regiment kam
von Orl&eacute;ans. Am 24. morgens kamen 500.000 Patronen und zw&ouml;lf St&uuml;ck
Gesch&uuml;tz von Vincennes in die Stadt; die Eisenbahnarbeiter an der Nordbahn &uuml;brigens
haben die Schienen zwischen Paris und Saint Denis ausgehoben, damit keine Verst&auml;rkungen
mehr ankommen.</p>
<p>Diesen vereinigten Kr&auml;ften und dieser unerh&ouml;rten Brutalit&auml;t gelang es am
Nachmittage des 24., die Insurgenten zur&uuml;ckzudr&auml;ngen.</p>
<p>Mit welcher Wut sich die Nationalgarde schlug und wie sehr sie wu&szlig;te, da&szlig; es in
diesem Kampf um ihre Existenz gehe, zeigt sich darin, da&szlig; nicht nur Cavaignac, sondern
die Nationalgarde selbst das ganze Viertel des Pantheon <i>in Brand stecken wollte</i>!</p>
<p>Drei Punkte waren als Hauptquartiere der angreifenden Truppen designiert: die Porte Saint
Denis, wo General Lamorici&egrave;re kommandierte, das H&ocirc;tel de Ville &lt;Stadthaus&gt;,
wo General Duvivier mit 14 Bataillonen stand, und der Platz der Sorbonne, von wo aus General
Damesme das Faubourg Saint Jacques bek&auml;mpfte.</p>
<p>Gegen Mittag wurden die Zug&auml;nge des Platzes Maubert genommen und der Platz selbst
zerniert. Um ein Uhr fiel der Platz; f&uuml;nfzig Mann Mobilgarde fielen dabei! Um dieselbe
Zeit wurde nach heftiger und anhaltender Kanonade das Panth&eacute;on genommen oder vielmehr
&uuml;bergeben. Die f&uuml;nfzehnhundert Insurgenten, die hier verschanzt waren, kapitulierten
- wahrscheinlich infolge der Drohung des Herrn Cavaignac und der wutschnaubenden Bourgeois, das
ganze Viertel den Flammen zu &uuml;bergeben.</p>
<p><b><a name="S126">&lt;126&gt;</a></b> Um dieselbe Zeit drangen die "Verteidiger der Ordnung"
immer weiter vor auf den Boulevards und nahmen die Barrikaden der umliegenden Stra&szlig;en. In
der Templestra&szlig;e waren die Arbeiter bis zur Ecke der Stra&szlig;e de la Corderie
zur&uuml;ckgedr&auml;ngt; in der Stra&szlig;e Boucherat schlug man sich noch, ebenfalls
jenseits des Boulevard im Faubourg du Temple. In der Stra&szlig;e Saint Martin fielen noch
einzelne Flintensch&uuml;sse; an der Pointe Saint Eustache hielt sich noch eine Barrikade.</p>
<p>Abends gegen sieben Uhr wurden dem General Lamorici&egrave;re zwei Bataillone Nationalgarde
von Amiens zugef&uuml;hrt, die er sofort zur Umzingelung der Barrikaden hinter dem
Ch&acirc;teau d'Eau &lt;Wasserschlo&szlig;&gt; verwandte. Das Faubourg Saint Denis war um diese
Zeit ruhig und frei, desgleichen beinahe das ganze linke Seineufer. Die Insurgenten waren in
einem Teile des Marais und dem Faubourg Saint Antoine zerniert. Diese beiden Viertel sind indes
durch den Boulevard Beaumarchais und den dahinterliegenden Kanal Saint Martin getrennt, und
dieser war frei f&uuml;r das Milit&auml;r.</p>
<p>Der General Damesme, Kommandant der Mobilgarde, wurde bei der Barrikade in der Stra&szlig;e
de l'Estrapade von einer Kugel in den Schenkel getroffen. Die Wunde ist nicht gef&auml;hrlich.
Auch die Repr&auml;sentanten Bixio und Dorn&egrave;s sind nicht so gef&auml;hrlich verwundet,
als man anfangs glaubte.</p>
<p>Die Wunde des Generals Bedeau ist ebenfalls leicht.</p>
<p>Um neun Uhr war das Faubourg Saint Jacques und das Faubourg Saint Marceau so gut wie
genommen. Der Kampf war ungemein heftig gewesen. Hier kommandierte jetzt der General
Br&eacute;a.</p>
<p>Der General Duvivier im H&ocirc;tel de Ville hatte weniger Erfolg gehabt. Doch waren auch
hier die Insurgenten zur&uuml;ckgedr&auml;ngt.</p>
<p>Der General Lamorici&egrave;re hatte nach heftigem Widerstand die Faubourgs
Poissonni&egrave;re, Saint Denis und Saint Martin bis zu den Barrieren frei gemacht. Nur im
Clos Saint Lazare hielten sich die Arbeiter noch; sie hatten sich im Hospital Louis-Philippe
verschanzt.</p>
<p>Dieselbe Nachricht stattete der Pr&auml;sident &lt;Senard&gt; der Nationalversammlung um
halb zehn Uhr abends ab. Er mu&szlig;te sich indes mehreremal selbst widerrufen. Er gab zu,
da&szlig; man sich im Faubourg Saint Martin noch stark sch&ouml;sse.</p>
<p>Der Stand der Dinge am 24. abends war also der:</p>
<p>Die Insurgenten behaupteten noch etwa die H&auml;lfte des Terrains, das sie am Morgen des
23. besetzt hielten. Dies Terrain machte den &ouml;stlichsten Teil von Paris aus, die Faubourgs
St. Antoine, du Temple, St. Martin und den <a name="S127"><b>&lt;127&gt;</b></a> Marais. Das
Clos St. Lazare und einige Barrikaden am Pflanzengarten bildeten ihre vorgeschobenen
Posten.</p>
<p>Der ganze &uuml;brige Teil von Paris war in den H&auml;nden der Regierung.</p>
<p>Was am meisten auff&auml;llt bei diesem verzweifelten Kampfe, ist die Wut, mit der die
"Verteidiger der Ordnung" k&auml;mpften. Sie, die fr&uuml;her f&uuml;r jeden Tropfen
"B&uuml;rgerblut" so zarte Nerven hatten, die selbst sentimentale Anf&auml;lle hatten &uuml;ber
den Tod der Munizipalgardisten am 24. Februar, diese Bourgeois schie&szlig;en die Arbeiter
nieder wie die wilden Tiere. In den Reihen der Nationalgarde, in der Nationalversammlung kein
Wort von Mitleid, von Vers&ouml;hnung, keine Sentimentalit&auml;t irgendeiner Art, wohl aber
ein gewaltsam losbrechender Ha&szlig;, eine kalte Wut gegen die emp&ouml;rten Arbeiter. Die
Bourgeoisie f&uuml;hrt mit klarem Bewu&szlig;tsein einen Vernichtungskrieg gegen sie. Ob sie
f&uuml;r den Augenblick siegt, oder ob sie gleich unterliegt, die Arbeiter werden eine
f&uuml;rchterliche Rache an ihr nehmen. Nach einem solchen Kampfe wie dem der drei Junitage ist
nur noch <i>Terrorismus</i> m&ouml;glich, sei er von der einen oder der andern Partei
ausge&uuml;bt.</p>
<p>Wir teilen noch einiges aus einem Briefe eines Kapit&auml;ns der republikanischen Garde
&uuml;ber die Ereignisse des 23. und 24. mit.</p>
<p><font size="2">"Ich schreibe Ihnen beim Knattern der Musketen, beim Donnern der Kanonen. Um
2 Uhr nahmen wir an der Spitze der Notre-Dame-Br&uuml;cke drei Barrikaden; sp&auml;ter
r&uuml;ckten wir nach der Stra&szlig;e St. Martin und durchschritten sie in ihrer ganzen
L&auml;nge. Als wir auf den Boulevard kommen, sehen wir, da&szlig; er verlassen und leer ist
wie um 2 Uhr morgens. Wir steigen das Faubourg du Temple hinauf; ehe wir an die Kaserne kommen,
machen wir halt. Zweihundert Schritt weiter erhebt sich eine formidable Barrikade,
gest&uuml;tzt auf mehrere andere, verteidigt von etwa 2.000 Menschen. Wir parlamentieren mit
ihnen w&auml;hrend zweier Stunden. Umsonst. Gegen 6 Uhr r&uuml;ckt endlich die Artillerie
heran; da er&ouml;ffnen die Insurgenten das Feuer zuerst.</font></p>
<p>Die Kanonen antworteten und bis 9 Uhr zersplitterten Fenster und Ziegel von dem Donner der
Gesch&uuml;tze; es ist ein entsetzliches Feuer. Das Blut flie&szlig;t in Str&ouml;men,
w&auml;hrend sich zu gleicher Zeit ein f&uuml;rchterliches Gewitter entladet. Soweit man sehen
kann, ist das Stra&szlig;enpflaster von Blut ger&ouml;tet. Meine Leute fallen unter den Kugeln
der Insurgenten; sie verteidigen sich wie L&ouml;wen. Zwanzigmal st&uuml;rmen wir, zwanzig mal
werden wir zur&uuml;ckgeschlagen. Die Zahl der Toten ist immens, die Zahl der Verwundeten noch
viel gr&ouml;&szlig;er. Um 9 Uhr nahmen wir die Barrikade mit dem Bajonette. Heute (24. Juni)
um 3 Uhr morgens sind wir noch immer auf den Beinen. Fortw&auml;hrend donnert das
Gesch&uuml;tz. Das Panth&eacute;on ist das Zentrum. Ich bin in der Kaserne. Wir bewachen die
Gefangenen, die man jeden Augenblick hereinbringt. Es sind viele Verwundete darunter. <i>Manche
erschie&szlig;t man sogleich</i>. Von 112 meiner Leute habe ich 53 verloren."</p>
<p>Geschrieben von Friedrich Engels.</p>
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</html>