MLWerke Marx/Engels - Werke Artikel und Korrespondenzen 1881

Seitenzahlen verweisen auf:    Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 4. Auflage 1973, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962, Berlin/DDR. S. 251-253.
Korrektur:    1
Erstellt:    18.07.1999

Friedrich Engels

Das Lohnsystem

Geschrieben am 15./16. Mai 1881.
Aus dem Englischen.


["The Labour Standard" Nr. 3 vom 21. Mai 1881, Leitartikel]

|251| In einem früheren Artikel untersuchten wir den altehrwürdigen Wahlspruch "Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!" mit dem Ergebnis, daß der gerechteste Tagelohn unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen unvermeidlich gleichbedeutend ist mit der allerungerechtesten Teilung des vom Arbeiter geschaffenen Produkts, da der größere Teil dieses Produkts in die Tasche des Kapitalisten fließt, während der Arbeiter gerade mit soviel vorliebnehmen muß, wie er benötigt, sich arbeitsfähig zu erhalten und sein Geschlecht fortzupflanzen.

Das ist ein Gesetz der politischen Ökonomie oder, mit anderen Worten, ein Gesetz der gegenwärtigen ökonomischen Organisation der Gesellschaft, das mächtiger ist als alle ungeschriebenen und geschriebenen Gesetze Englands zusammen, das Kanzleigericht eingeschlossen. Solange die Gesellschaft in zwei feindliche Klassen geteilt ist: auf der einen Seite die Kapitalisten, die die Gesamtheit der Produktionsmittel - Grund und Boden, Rohstoffe, Maschinen - monopolisieren; auf der anderen Seite die Arbeiter, die arbeitende Bevölkerung, die jeglichen Eigentums an den Produktionsmitteln beraubt sind und nichts besitzen als die eigene Arbeitskraft - solange diese gesellschaftliche Organisation besteht, wird das Lohngesetz allmächtig bleiben und jeden Tag aufs neue die Ketten schmieden, die den Arbeiter zum Sklaven seines eigenen vom Kapitalisten monopolisierten Produkts machen.

Die englischen Trade-Unions haben jetzt seit fast sechzig Jahren gegen dieses Gesetz angekämpft - mit welchem Ergebnis? Ist es ihnen gelungen, die Arbeiterklasse aus der Knechtschaft zu befreien, in der das Kapital - |252| das Produkt ihrer eigenen Hände - sie hält? Haben sie auch nur eine einzige Gruppe der Arbeiterklasse in den Stand gesetzt, sich über die Lage von Lohnsklaven zu erheben, Eigentümer ihrer eigenen Produktionsmittel, der in ihrem Gewerbe benötigten Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen und damit auch Eigentümer des Produkts ihrer eigenen Arbeit zu werden? Es ist allgemein bekannt, daß sie das nicht nur nicht getan, sondern niemals auch nur versucht haben.

Wir wollen keineswegs behaupten, die Trade-Unions seien nutzlos, weil sie das nicht getan haben. Im Gegenteil, die Trade-Unions sind in England wie in jedem anderen Industrieland für die Arbeiterklasse eine Notwendigkeit in ihrem Kampf gegen das Kapital. Die durchschnittliche Lohnhöhe entspricht der Summe der notwendigen Bedarfsgegenstände, die zur Erhaltung und Fortpflanzung der arbeitenden Bevölkerung eines Landes entsprechend dem in diesem Lande üblichen Lebensstandard ausreichen. Dieser Lebensstandard kann für verschiedene Schichten der Arbeiter sehr verschieden sein. Das große Verdienst der Trade-Unions in ihrem Kampf um Erhöhung der Löhne und Verringerung der Arbeitszeit besteht darin, daß sie danach streben, den Lebensstandard zu erhalten und zu heben. Es gibt im Londoner Eastend viele Erwerbszweige, deren Arbeit nicht weniger qualifiziert und genauso schwer ist wie die der Maurer und ihrer Handlanger, und dennoch erhalten sie kaum die Hälfte von deren Löhnen. Warum? Einfach, weil eine machtvolle Organisation die eine Gruppe in den Stand setzt, als Norm, nach der sich ihre Löhne richten, einen verhältnismäßig hohen Lebensstandard zu behaupten, während die andere Gruppe, unorganisiert und ohnmächtig, sich nicht nur den unvermeidlichen, sondern auch den willkürlichen Übergriffen der Unternehmer fügen muß: ihr Lebensstandard wird schrittweise gesenkt, sie lernt von immer geringeren Löhnen zu leben, und ihre Löhne fallen naturgemäß bis auf jenes Niveau, mit dem sie sich selbst als ausreichend abgefunden hat.

Das Lohngesetz ist also nicht derart, daß es eine unbeweglich starre Linie zöge. Innerhalb gewisser Grenzen ist es keineswegs unerbittlich. Jederzeit (große Depressionen ausgenommen) gibt es in jedem Erwerbszweig einen gewissen Spielraum, innerhalb dessen die Lohnhöhe durch die Ergebnisse des Kampfes zwischen den beiden miteinander kämpfenden Parteien verändert werden kann. Die Löhne werden in jedem Fall durch Feilschen festgesetzt, und beim Feilschen hat der, welcher am längsten und wirksamsten Widerstand leistet, die größte Aussicht, mehr zu erhalten, als ihm zusteht. Wenn der einzelne Arbeiter mit dem Kapitalisten handelseins zu werden versucht, wird er leicht geschlagen und muß sich ihm auf Gnade |253| und Ungnade ergeben; wenn aber die Arbeiter eines ganzen Gewerbes eine mächtige Organisation bilden, unter sich einen Fonds sammeln, um imstande zu sein, den Unternehmern nötigenfalls die Stirn zu bieten, und sich dadurch in die Lage versetzen, als eine Macht mit den Unternehmern zu verhandeln, dann, und nur dann, haben die Arbeiter Aussicht, wenigstens das bißchen zu erhalten, das bei der ökonomischen Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft als ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk bezeichnet werden kann.

Das Lohngesetz wird durch den gewerkschaftlichen Kampf nicht verletzt; im Gegenteil, er bringt es voll zur Geltung. Ohne den Widerstand durch die Trade-Unions erhält der Arbeiter nicht einmal das, was ihm nach den Regeln des Lohnsystems zusteht. Nur die Furcht vor den Trade-Unions kann den Kapitalisten zwingen, dem Arbeiter den vollen Marktwert seiner Arbeitskraft zu zahlen. Wollt ihr Beweise haben? Seht euch die Löhne an, die den Mitgliedern der großen Trade-Unions gezahlt werden, und vergleicht sie mit den Löhnen in den zahllosen kleinen Gewerben im Londoner Eastend, jenem stagnierenden Pfuhl des Elends.

Die Trade-Unions greifen demnach nicht das Lohnsystem an. Aber nicht hoher oder niedriger Lohn bestimmt die wirtschaftliche Erniedrigung der Arbeiterklasse: dieser Erniedrigung liegt die Tatsache zugrunde, daß die Arbeiterklasse, statt für ihre Arbeit das volle Arbeitsprodukt zu erhalten, sich mit einem Teil ihres eigenen Produkts begnügen muß, den man Lohn nennt. Der Kapitalist eignet sich das ganze Produkt an (und bezahlt daraus den Arbeiter), weil er der Eigentümer der Arbeitsmittel ist. Und darum gibt es keine wirkliche Befreiung der Arbeiterklasse, solange sie nicht Eigentümerin aller Arbeitsmittel geworden ist - des Grund und Bodens, der Rohstoffe, der Maschinen etc. - und damit auch Eigentümerin des vollen Produkts ihrer eigenen Arbeit.


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