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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Rosa Luxemburg - Einf&uuml;hrung in die National&ouml;konomie - III. 4</TITLE>
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<!--Hier war ein unzureichend terminierter Kommentar -->
<P ALIGN="CENTER"><A HREF="lu05_628.htm"><FONT SIZE=2>III. 3</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="lu05_en.htm"><FONT SIZE=2>Inhalt</FONT></A><FONT SIZE=2> | </FONT><A HREF="lu05_652.htm"><FONT SIZE=2>IV. 1</FONT></A></P>
<FONT SIZE=2><P>Rosa Luxemburg - Gesammelte Werke. Herausgegeben vom Institut f&uuml;r Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 5. Berlin/DDR. 1975. "Einf&uuml;hrung in die National&ouml;konomie", S. 643-652.</P>
<P>1. Korrektur<BR>
Erstellt am 06.01.1999.</FONT> </P>
<FONT SIZE=4><P ALIGN="CENTER">III. 4</P>
</FONT><B><P><A NAME="S643">|643|</A></B> Wer an das Studium der Wirtschaftsgeschichte herantritt, wer die verschiedenen Formen kennenlernen will, in denen sich die &ouml;konomischen Verh&auml;ltnisse der Gesellschaft in ihrer historischen Entwicklung dargestellt haben, mu&szlig; sich vor allem dar&uuml;ber klarwerden, welches Merkmal der &ouml;konomischen Verh&auml;ltnisse er zum Pr&uuml;fstein und zum Ma&szlig;stab dieser Entwicklung nehmen soll. Um sich in der F&uuml;lle der Erscheinungen auf einem bestimmten Gebiete zurechtzufinden und namentlich um ihre historische Reihenfolge aufzufinden, mu&szlig; man volle Klarheit &uuml;ber dasjenige Moment erlangen, das gewisserma&szlig;en die innere Achse ist, um die sich die Erscheinungen drehen. Morgan hat zum Beispiel als Ma&szlig;stab der Kulturgeschichte und Pr&uuml;fstein ihrer jeweiligen H&ouml;he ein ganz bestimmtes Moment: die Entwicklung der Produktionstechnik, genommen. Er hat damit in der Tat das gesamte Kulturdasein der Menschheit sozusagen an der Wurzel gepackt, ihre Wurzel blo&szlig;gelegt. F&uuml;r unsere Zwecke, f&uuml;r die Wirtschaftsgeschichte, gen&uuml;gt der Morgansche Ma&szlig;stab nicht. Die Technik der gesellschaftlichen Arbeit zeigt genau die jeweilig erreichte Stufe in der Beherrschung der &auml;u&szlig;eren Natur durch die Menschen. Jeder neue Schritt in der Vervollkommnung der Produktionstechnik ist zugleich ein Schritt in der Unterjochung der physischen Natur durch den menschlichen Geist und deshalb ein Schritt in der Entwicklung der allgemeinen menschlichen Kultur. Wollen wir jedoch speziell die Formen der Produktion in der Gesellschaft untersuchen, dann gen&uuml;gt uns das Verh&auml;ltnis der Menschen zur Natur nicht, uns interessiert dann in erster Linie eine andere Seite der menschlichen Arbeit: die Verh&auml;ltnisse, in denen die Menschen bei der Arbeit <I>zueinander </I>stehen, das hei&szlig;t, uns interessiert nicht die Technik der Produktion, sondern ihre gesellschaftliche Organisation. Es ist f&uuml;r die Kulturstufe eines primitiven Volkes sehr bezeichnend, wenn wir wissen, da&szlig; dieses Volk die T&ouml;pferscheibe kennt und T&ouml;pferei betreibt. Morgan nimmt diesen bedeutenden Fortschritt in der Technik zum Markstein einer ganzen Kulturperiode, die er als den &Uuml;bergang von der Wildheit zur Barbarei bezeichnet. &Uuml;ber die Produktionsform dieses Volkes k&ouml;nnen wir auf Grund der angef&uuml;hrten Tatsache noch sehr wenig urteilen. Dazu m&uuml;&szlig;ten wir erst eine ganze Reihe von Umst&auml;nden erfahren, wie zum Beispiel, wer in der Gesellschaft die T&ouml;pferkunst betreibt, ob alle Mitglieder der Gesellschaft oder aber nur ein Teil, etwa ein Geschlecht, die Frauen, die Gemeinschaft mit T&ouml;pfen versorgt, ob die hergestellten Produkte der T&ouml;pferkunst nur f&uuml;r den eigenen Gebrauch der Gemeinschaft, etwa des Dorfes, <A NAME="S644"><B>|644|</A></B> verwendet werden oder aber zum Austausch mit anderen dienen, ob die Produkte jeder Person, die die T&ouml;pferei betreibt, nur von ihr selbst benutzt werden oder aber s&auml;mtliche hergestellte Dinge insgemein allen Mitgliedern der Gemeinschaft dienen. Man sieht, es sind mannigfaltige gesellschaftliche Beziehungen, die den Charakter der Produktionsform in einer Gesellschaft bestimmen k&ouml;nnen: Arbeitsteilung, Verteilung der Produkte unter die Konsumenten, Austausch. Aber all diese Seiten des wirtschaftlichen Lebens sind selbst bestimmt durch einen ausschlaggebenden Faktor der Produktion. Da&szlig; die Verteilung der Produkte sowie der Austausch selbst nur Folgeerscheinungen sein k&ouml;nnen, erhellt auf den ersten Blick. Damit die Produkte unter die Konsumenten verteilt oder ausgetauscht werden k&ouml;nnen, m&uuml;ssen sie vor allem erst hergestellt werden. Die Produktion selbst also ist das erste und wichtigste Moment des wirtschaftlichen Lebens der Gesellschaft. Im Prozesse der Produktion aber ist das entscheidende: In welchem Verh&auml;ltnisse stehen die Arbeitenden zu ihren Produktionsmitteln? Jede Arbeit erfordert bestimmte Rohstoffe, eine bestimmte Arbeitsst&auml;tte und dann - bestimmte Werkzeuge. Wir wissen bereits, eine wie hohe Bedeutung den Werkzeugen der Arbeit und ihrer Herstellung im Leben der menschlichen Gesellschaft zukommt. Die menschliche Arbeitskraft tritt hinzu, um mit diesen Werkzeugen und den &uuml;brigen toten Produktionsmitteln die Arbeit zu verrichten und die zum Leben der Gesellschaft n&ouml;tigen Konsummittel im weitesten Sinne herzustellen. Das Verh&auml;ltnis nun der arbeitenden Menschen zu ihren Produktionsmitteln ist die erste Frage der Produktion und ihr ausschlaggebender Faktor. Wir meinen hier nicht das <I>technische </I>Verh&auml;ltnis, nicht die gr&ouml;&szlig;ere oder geringere Vollkommenheit der Produktionsmittel, mit denen die Menschen arbeiten, nicht die Art und Weise, wie sie bei ihrer Arbeit verfahren. Wir meinen das <I>gesellschaftliche </I>Verh&auml;ltnis von menschlicher Arbeitskraft und den toten Produktionsmitteln, n&auml;mlich die Frage, <I>wem die Produktionsmittel geh&ouml;ren</I>. Im Laufe der Zeiten hat sich dieses Verh&auml;ltnis vielfach ge&auml;ndert. Jedesmal &auml;nderte sich aber damit auch der ganze Charakter der Produktion, die Gestaltung der Arbeitsteilung, die Verteilung der Produkte, die Richtung und der Umfang des Austausches und schlie&szlig;lich das ganze materielle und geistige Leben der Gesellschaft. Je nachdem die Arbeitenden ihre Produktionsmittel gemeinsam besitzen oder jeder einzelne f&uuml;r sich oder gar nicht besitzen, sondern umgekehrt zusammen mit den Produktionsmitteln selbst als Produktionsmittel Eigentum Nichtarbeitender sind oder als Unfreie an die Produktionsmittel gefesselt oder als Freie, die keine Produktionsmittel besitzen, gezwungen sind, ihre Arbeitskraft <A NAME="S645"><B>|645|</A></B> als Produktionsmittel zu verkaufen - haben wir eine kommunistische Produktionsform oder kleinb&auml;uerliche und handwerksm&auml;&szlig;ige oder eine Sklavenwirtschaft oder auf H&ouml;rigkeit beruhende Fronwirtschaft oder endlich kapitalistische Wirtschaft mit Lohnsystem. Und jede dieser Wirtschaftsformen hat ihre eigent&uuml;mliche Art der Arbeitsteilung, der Verteilung der Produkte, des Austausches, des sozialen, rechtlichen und geistigen Lebens. Es gen&uuml;gte in der Wirtschaftsgeschichte der Menschen, da&szlig; sich das Verh&auml;ltnis zwischen Arbeitenden und den Produktionsmittel radikal ver&auml;nderte, damit jedesmal auch alle anderen Seiten des wirtschaftlichen, politischen und geistigen Lebens sich radikal ver&auml;nderten, damit eine ganz neue Gesellschaft entsteht. Es besteht freilich zwischen allen diesen Seiten des &ouml;konomischen Lebens der Gesellschaft eine fortw&auml;hrende Wechselwirkung. Nicht blo&szlig; das Verh&auml;ltnis der Arbeitskraft zu den Produktionsmitteln beeinflu&szlig;t die Arbeitsteilung, die Verteilung der Produkte, den Austausch, sondern auch diese wirken ihrerseits auf jenes Produktionsverh&auml;ltnis zur&uuml;ck. Aber die Art der Einwirkung ist eine verschiedene. Die auf jeder Wirtschaftsstufe vorherrschende Art der Arbeitsteilung, der Verteilung der Reicht&uuml;mer, namentlich der Austausch, m&ouml;gen das Verh&auml;ltnis zwischen der Arbeitskraft und den Produktionsmitteln, aus denen sie selbst erwachsen sind, nach und nach unterw&uuml;hlen. Ihre Form wird erst dann ver&auml;ndert, wenn in dem veraltet gewordenen Verh&auml;ltnis zwischen Arbeitskraft und Produktionsmitteln eine radikale Umw&auml;lzung, eine f&ouml;rmliche Revolution stattgefunden hat. So bilden die jeweiligen Umw&auml;lzungen in dem Verh&auml;ltnis von Arbeitskraft und Produktionsmitteln die sichtbaren gro&szlig;en Meilensteine auf dem Wege der Wirtschaftsgeschichte, sie geben die nat&uuml;rlichen Epochen in dem &ouml;konomischen Werdegang der menschlichen Gesellschaft ab.</P>
<P>Wie wichtig es f&uuml;r das Verst&auml;ndnis der Wirtschaftsgeschichte ist, sich &uuml;ber das Wesentliche dieser Geschichte klarzuwerden, es vom Unwesentlichen zu unterscheiden, zeigt eine Pr&uuml;fung derjenigen Einteilung der Wirtschaftsgeschichte, die heute die gangbarste und gefeiertste in der b&uuml;rgerlichen National&ouml;konomie in Deutschland ist. Wir meinen die Einteilung des Professors B&uuml;cher. In seiner "Entstehung der Volkswirtschaft" setzt Professor B&uuml;cher auseinander, wie wichtig eine richtige Einteilung der Wirtschaftsgeschichte in Epochen f&uuml;r ihr Verst&auml;ndnis ist. Seiner Gepflogenheit gem&auml;&szlig; tritt er aber nicht einfach an die Frage heran, um uns das Werk seiner rationellen Untersuchungen vorzuf&uuml;hren, sondern bereitet uns erst auf die richtige W&uuml;rdigung seines Werkes vor, indem er sich &uuml;ber die Unzul&auml;nglichkeit aller seiner Vorg&auml;nger mit breiter Behaglichkeit ausl&auml;&szlig;t.</P>
<B><P><A NAME="S646">|646|</A></B> "Die erste Frage", sagt er, "welche sich der National&ouml;konom zu stellen hat, der die Wirtschaft eines Volkes in einer weit zur&uuml;ckliegenden Epoche verstehen will, wird die sein: Ist die Wirtschaft Volkswirtschaft; sind ihre Erscheinungen wesensgleich mit derjenigen unserer heutigen Verkehrswirtschaft, oder sind beide wesentlich voneinander verschieden? Diese Frage aber kann nur beantwortet werden, wenn man es nicht verschm&auml;ht, die &ouml;konomischen Erscheinungen der Vergangenheit mit denselben Mitteln der begrifflichen Zergliederung, der psychologisch-isolierenden Deduktion zu untersuchen, die sich an der Wirtschaft der Gegenwart in den H&auml;nden der Meister der alten 'abstrakten' National&ouml;konomie so gl&auml;nzend bew&auml;hrt haben.</P>
<P>Man wird der neueren 'historischen' Schule den Vorwurf nicht ersparen k&ouml;nnen, da&szlig; sie, anstatt durch derartige Untersuchungen in das Wesen fr&uuml;herer Wirtschaftsepochen einzudringen, fast unbesehen die gewohnten, von den Erscheinungen der modernen Volkswirtschaft abstrahierten Kategorien auf die Vergangenheit &uuml;bertragen oder da&szlig; sie an den verkehrswirtschaftlichen Begriffen so lange herumgeknetet hat, bis sie wohl oder &uuml;bel f&uuml;r alle Wirtschaftsepochen passend erschienen ... Nirgends ist dies deutlicher zu erkennen als an der Art, wie man die Unterschiede der gegenw&auml;rtigen Wirtschaftsweise der Kulturv&ouml;lker gegen&uuml;ber der Wirtschaft vergangener Epochen oder kulturarmer V&ouml;lker charakterisiert. Es geschieht das durch die Aufstellung sogenannter <I>Entwicklungsstufen</I>, in deren Bezeichnung man schlagwortartig die Grundz&uuml;ge des wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklungsganges zusammenfa&szlig;t ... Alle &auml;lteren derartigen Versuche leiden an dem &Uuml;belstande, da&szlig; sie nicht in das Wesen der Dinge hineinf&uuml;hren, sondern an der Oberfl&auml;che haftenbleiben."<A NAME="ZN1"><A HREF="lu05_643.htm#N1">(1)</A></A></P>
<P>Welche Einteilung der Wirtschaftsgeschichte schl&auml;gt nun Professor B&uuml;cher vor? H&ouml;ren wir zu.</P>
<P>"Wollen wir diese ganze Entwicklung unter <I>einem </I>Gesichtspunkte begreifen, so kann dies nur ein Gesichtspunkt sein, der mitten hineinf&uuml;hrt in die wesentlichen Erscheinungen der Volkswirtschaft, der uns aber auch zugleich das organisatorische Moment der fr&uuml;heren Wirtschaftsperioden aufschlie&szlig;t. Es ist dies kein anderer als das Verh&auml;ltnis, in welchem die Produktion der G&uuml;ter zur Konsumtion derselben steht, erkennbar an der L&auml;nge des Weges, welchen die G&uuml;ter vom Produzenten bis zum Konsumenten zur&uuml;cklegen. Unter diesem Gesichtspunkte gelangen wir dazu, die gesamte wirtschaftliche Entwicklung, wenigstens f&uuml;r die zentral- und west- <A NAME="S647"><B>|647|</A></B> europ&auml;ischen V&ouml;lker, wo sie sich mit hinreichender Genauigkeit historisch verfolgen l&auml;&szlig;t, in drei Stufen zu teilen:</P>
<P>1. <I>die Stufe der geschlossenen Hauswirtschaft </I>(reine Eigenproduktion, tauschlose Wirtschaft), auf welcher die G&uuml;ter in derselben Wirtschaft verbraucht werden, in der sie entstanden sind;</P>
<P>2. <I>die Stufe der Stadtwirtschaft </I>(Kundenproduktion oder Stufe des direkten Austausches), auf welcher die G&uuml;ter aus der produzierenden Wirtschaft unmittelbar in die konsumierende &uuml;bergehet;</P>
<P>3. <I>die Stufe der Volkswirtschaft </I>(Warenproduktion, Stufe des G&uuml;terumlaufs), auf welcher die G&uuml;ter in der Regel eine Reihe von Wirtschaften passieren m&uuml;ssen, ehe sie zum Verbrauch gelangen."<A NAME="ZN2"><A HREF="lu05_643.htm#N2">(2)</A></A></P>
<P>Dieses Schema der Wirtschaftsgeschichte ist zun&auml;chst durch das interessant, was es <I>nicht </I>enth&auml;lt. F&uuml;r Professor B&uuml;cher beginnt die Wirtschaftsgeschichte mit der Markgenossenschaft der europ&auml;ischen Kulturv&ouml;lker, also bereits mit dem h&ouml;heren Ackerbau. Die ganze jahrtausendelange Zeitstrecke der primitiven Produktionsverh&auml;ltnisse, die dem h&ouml;heren Ackerbau vorausgingen, Verh&auml;ltnisse, in denen sich jetzt noch zahlreiche V&ouml;lkerschaften befinden, charakterisiert B&uuml;cher, wie wir wissen, als "Nichtwirtschaft", als Periode seiner famosen "individuellen Nahrungssuche" und der "Nichtarbeit". Die Wirtschaftsgeschichte beginnt Professor B&uuml;cher somit mit jener sp&auml;testen Form des Urkommunismus, in der mit der Ans&auml;ssigkeit und dem h&ouml;heren Ackerbau bereits die Ans&auml;tze der unvermeidlichen Zersetzung und des &Uuml;bergangs zur Ungleichheit, Ausbeutung und Klassengesellschaft gegeben sind. Grosse bestreitet den Kommunismus in der ganzen Entwicklungsperiode vor der ackerbauenden Markgenossenschaft. B&uuml;cher streicht jene Periode &uuml;berhaupt aus der Wirtschaftsgeschichte.</P>
<P>Die zweite Stufe der "geschlossenen Stadtwirtschaft" ist eine andere epochemachende Entdeckung, die wir dem "genialen Blick" des Leipziger Professors verdanken, wie Schurtz sagen w&uuml;rde. Wenn die "geschlossene Hauswirtschaft" zum Beispiel einer Markgenossenschaft dadurch charakterisiert war, da&szlig; sie einen Kreis von Personen umschlo&szlig;, die alle ihre &ouml;konomischen Bed&uuml;rfnisse innerhalb dieser Hauswirtschaft befriedigten, so ist in der mittelalterlichen Stadt Mittel- und Westeuropas - denn diese nur versteht B&uuml;cher unter seiner "Stadtwirtschaft" - gerade das Gegenteil der Fall. In der mittelalterlichen Stadt gibt es nicht irgendeine gemeinsame "Wirtschaft", sondern - um im eigenen Jargon des Professors B&uuml;cher zu reden - ebensoviel "Wirtschaften" wie Werkst&auml;tten und Haushaltungen der Zunfthandwerker, von denen jede f&uuml;r sich - wenn auch unter allge- <A NAME="S648"><B>|648|</A></B> meinen Zunft und Stadtregeln - produzierte, verkaufte und konsumierte. Aber auch im ganzen bildete die mittelalterliche Zunftstadt in Deutschland oder in Frankreich kein "abgeschlossenes" Wirtschaftsgebiet, denn ihre Existenz war gerade auf den gegenseitigen Austausch mit dem platten Lande gest&uuml;tzt, von dem sie Nahrungsmittel und Rohstoffe bezog und f&uuml;r das sie gewerbliche Produkte verfertigte. B&uuml;cher konstruiert sich um jede Stadt einen geschlossenen Umkreis des platten Landes, den er in seine "Stadtwirtschaft" einschlie&szlig;t, indem er bequemlichkeitshalber den Austausch zwischen Stadt und Land nur zum Austausch mit <I>Bauern </I>der n&auml;chsten Umgebung reduziert. Die Fronh&ouml;fe der reichen Feudalherren, die die besten Kunden des st&auml;dtischen Handels waren und die teils weit von der Stadt auf dem Lande zerstreut, teils mitten in der Stadt - namentlich in den kaiserlichen und bisch&ouml;flichen St&auml;dten - ihren Hauptsitz hatten, hier aber ein eigenes Wirtschaftsgebiet bildeten, l&auml;&szlig;t er ganz au&szlig;er Betracht, ebenso wie er vom ausw&auml;rtigen Handel, der f&uuml;r die mittelalterlichen Wirtschaftsverh&auml;ltnisse und namentlich f&uuml;r die Schicksale der St&auml;dte die gr&ouml;&szlig;te Bedeutung hatte, ganz absieht. Das wirklich Charakteristische aber f&uuml;r die mittelalterlichen St&auml;dte: da&szlig; sie Mittelpunkte der <I>Warenproduktion </I>waren, die hier zum erstenmal zur herrschenden Produktionsform - wenn auch auf beschr&auml;nktem Territorium - geworden war, beachtet Professor B&uuml;cher nicht. Umgekehrt beginnt bei ihm die Warenproduktion erst in der "Volkswirtschaft" - bekanntlich pflegt die b&uuml;rgerliche National&ouml;konomie mit dieser Fiktion das gegenw&auml;rtige kapitalistische Wirtschaftssystem zu bezeichnen, also eine "Stufe" des Wirtschaftslebens, f&uuml;r die es gerade charakteristisch ist, da&szlig; sie eben nicht Warenproduktion, sondern <I>kapitalistische </I>Produktion ist. Grosse nennt die Warenproduktion schlechthin "Industrie", daf&uuml;r verwandelt Professor B&uuml;cher Industrie schlechthin in "Warenproduktion", um die &Uuml;berlegenheit eines &Ouml;konomieprofessors &uuml;ber einen simplen Soziologen zu beweisen.</P>
<P>Doch wenden wir uns von diesen Nebens&auml;chlichkeiten zur Hauptfrage. Professor B&uuml;cher stellt als erste "Stufe" seiner Wirtschaftsgeschichte die "geschlossene Hauswirtschaft" auf. Was versteht er darunter? Wir haben bereits erw&auml;hnt, da&szlig; diese Stufe mit der ackerbauenden Dorfgemeinschaft beginnt. Aber au&szlig;er der primitiven Markgenossenschaft z&auml;hlt Professor B&uuml;cher zur Stufe der "geschlossenen Hauswirtschaft" noch andere historische Formen, n&auml;mlich die antike Sklavenwirtschaft der Griechen und R&ouml;mer und den mittelalterlichen feudalen Fronhof. Die gesamte Wirtschaftsgeschichte der Kulturmenschheit, von der grauen Vorzeit einschlie&szlig;lich des klassischen Altertums und des ganzen Mittelalters bis an die <A NAME="S649"><B>|649|</A></B> Schwelle der Neuzeit, findet sich umfa&szlig;t als eine "Stufe" der Produktion, der als zweite Stufe die mittelalterliche europ&auml;ische Zunftstadt und als dritte - die heutige kapitalistische Wirtschaft entgegengestellt wird. In der Wirtschaftsgeschichte Professor B&uuml;chers rangieren also die kommunistische Dorfgemeinde, die irgendwo im Gebirgstal des F&uuml;nfstromlandes in Indien ihr stilles Dasein fristet, das Hauswesen des Perikles in der Glanzzeit der athenischen Kulturbl&uuml;te und der feudale Hof des Bischofs von Bamberg im Mittelalter als eine und dieselbe "Wirtschaftsstufe". Aber jedes Kind, das einige oberfl&auml;chliche Kenntnisse aus den Schulb&uuml;chern der Geschichte sein eigen nennt, mu&szlig; begreifen, da&szlig; hier Verh&auml;ltnisse unter einen Hut gebracht worden sind, die grundverschieden waren. Dort in den kommunistischen Agrargemeinden allgemeine Gleichheit der Bauernmasse im Besitz und Recht, keine St&auml;ndeunterschiede oder h&ouml;chstens in keimartigem Zustand - hier im antiken Griechenland und Rom ebenso wie im feudalen mittelalterlichen Europa schroffste Ausbildung von St&auml;nden in der Gesellschaft, Freie und Sklaven, Herren und Leibeigene, Bevorrechtete und Rechtlose, Reichtum und Armut oder Elend. Dort allgemeine Arbeitspflicht, hier gerade ein Gegensatz zwischen geknechteter Masse der Arbeitenden und der herrschenden Minderheit von Nichtarbeitenden. Und wiederum zwischen der antiken Sklavenwirtschaft der Griechen oder R&ouml;mer und der mittelalterlichen Feudalwirtschaft bestand ein so gewaltiger Unterschied, da&szlig; die antike Sklaverei letzten Endes den Untergang der griechisch-r&ouml;mischen Kultur hervorgebracht hat, w&auml;hrend der mittelalterliche Feudalismus das st&auml;dtische Zunfthandwerk mit dem st&auml;dtischen Handel und auf diesem Wege in letzter Linie den heutigen Kapitalismus aus seinem Scho&szlig;e erzeugt hat. Wer also alle diese so himmelweiten &ouml;konomischen und sozialen Formen und historischen Epochen unter einen Begriff, unter ein Schema bringt. mu&szlig; einen gar originellen Ma&szlig;stab an die Wirtschaftsepochen anlegen. Welchen Ma&szlig;stab Professor B&uuml;cher anwendet, um die Nacht seiner "geschlossenen Hauswirtschaft" zu schaffen, in der alle Katzen grau sind, setzt er uns selbst auseinander, indem er in liebensw&uuml;rdigster Weise in Klammern unserer Begriffsstutzigkeit zu Hilfe kommt. "Tauschlose Wirtschaft" hei&szlig;t jene von dem Beginn der geschriebenen Geschichte bis zur Neuzeit sich erstreckende erste "Stufe", der die mittelalterliche Stadt als "Stufe des direkten Austausches" und das heutige Wirtschaftssystem als "Stufe des G&uuml;terumlaufs" angereiht werden. Also Nichtaustausch, einfacher Austausch oder komplizierter Austausch - mit etwas gew&ouml;hnlicheren Worten: Fehlen des Handels, einfacher Handel, entwickelter Welthandel -, das ist der Ma&szlig;stab, den Professor B&uuml;cher an <A NAME="S650"><B>|650|</A></B> die Wirtschaftsepochen anlegt. Ob der Kaufmann schon auf der Welt ist oder nicht, ob er mit dem Produzenten eine und dieselbe Person oder eine besondere Person darstellt - das ist das Haupt- und Grundproblem der Wirtschaftsgeschichte. Schenken wir dem Professor in diesem Augenblick seine "tauschlose Wirtschaft", die nichts anderes ist als ein professorales Hirngespinst, das nirgends auf der platten Erde noch entdeckt wurde und in Anwendung auf das antike Griechenland und Rom wie auf das feudale Mittelalter seit dem 10. Jahrhundert eine historische Phantasie von verbl&uuml;ffender K&uuml;hnheit darstellt. Aber als Ma&szlig;stab der Produktionsentwicklung &uuml;berhaupt nicht Produktionsverh&auml;ltnisse, sondern Austauschverh&auml;ltnisse, den Kaufmann als Mittelpunkt des Wirtschaftssystems und Ma&szlig; aller Dinge zu nehmen, wo er noch gar nicht existiert - welche gl&auml;nzenden Resultate der "begrifflichen Zergliederung, der psychologisch-isolierenden Deduktion" und vor allem, welches "Eindringen in das Wesen der Dinge", das jedes "An-der-Oberfl&auml;che-Haften" verschm&auml;ht! Ist da nicht das alte anspruchslose Schema der "historischen Schule": die Einteilung der Wirtschaftsgeschichte in drei Epochen der "Naturalwirtschaft, Geldwirtschaft und Kreditwirtschaft" viel besser und n&auml;her der Wahrheit als das pr&auml;tenti&ouml;se Eigenfabrikat Professor B&uuml;chers, der erst &uuml;ber alle "&auml;lteren derartigen Versuche" die Nase r&uuml;mpft, um hinterdrein genau dasselbe abgekanzelte "Haften an der Oberfl&auml;che" des Austausches zum Grundgedanken zu nehmen und ihn nur durch sein pedantisches Ausspinnen in ein v&ouml;llig schiefes Schema zu verzerren.</P>
<P>Das "Haften an der Oberfl&auml;che" der Wirtschaftsgeschichte ist eben kein Zufall bei der b&uuml;rgerlichen Wissenschaft. Die einen von den b&uuml;rgerlichen Gelehrten, wie Friedrich List, machen Einteilungen nach der &auml;u&szlig;eren Natur der wichtigsten Nahrungsquelle und stellen Epochen der J&auml;gerei, der Viehzucht, des Ackerbaues und des Gewerbes auf - Einteilungen, die nicht einmal f&uuml;r eine &auml;u&szlig;ere Kulturgeschichte ausreichen. Andere, wie Professor Hildebrand, teilen nach der &auml;u&szlig;eren Form des Austausches die Wirtschaftsgeschichte in Natural-, Geld- und Kreditwirtschaft ein oder, wie B&uuml;cher, in tauschlose Wirtschaft, in eine solche mit direktem Austausch und eine dritte mit Warenumlauf. Noch andere, wie Grosse, nehmen zum Ausgangspunkt bei der Beurteilung der Wirtschaftsform die Verteilung der G&uuml;ter. Mit einem Wort, die Gelehrten der Bourgeoisie schieben in den Vordergrund der geschichtlichen Betrachtung Austausch, Verteilung, Konsumtion - alles, nur nicht die gesellschaftliche Form der <I>Produktion</I>, das hei&szlig;t dasjenige, was gerade in jeder historischen Epoche ausschlaggebend ist und woraus sich Austausch und seine Formen, Verteilung und Konsum- <A NAME="S651"><B>|651|</A></B> tion in ihrer besonderen Gestalt, jedesmal als logische Folgen ergeben. Warum dies? Aus demselben Grunde, der sie bewegt, "die Volkswirtschaft", das hei&szlig;t die kapitalistische Produktionsweise, als die h&ouml;chste und letzte Stufe der Geschichte der Menschheit hinzustellen und ihre weitere weltwirtschaftliche Entwicklung mit ihren revolution&auml;ren Tendenzen in Abrede zu stellen. Die gesellschaftliche Gestaltung der Produktion, das hei&szlig;t die Frage nach dem Verh&auml;ltnis der Arbeitenden zu den Produktionsmitteln, ist der Kernpunkt jeder wirtschaftlichen Epoche, sie ist aber auch der wunde Punkt jeder Klassengesellschaft. Die Entfremdung der Produktionsmittel aus den H&auml;nden der Arbeitenden in dieser oder jener Form ist die gemeinsame Grundlage aller Klassengesellschaft, weil sie die Grundbedingung jeder Ausbeutung und Klassenherrschaft ist, Von dieser wunden Stelle die Aufmerksamkeit abzulenken, sie auf alle &Auml;u&szlig;erlichkeiten und Nebens&auml;chlichkeiten zu konzentrieren ist nicht sowohl bewu&szlig;tes Streben des b&uuml;rgerlichen Gelehrten als vielmehr die instinktive Abneigung der Klasse, die er geistig repr&auml;sentiert, vom Baume der Erkenntnis die gef&auml;hrliche Frucht zu kosten. Und ein ganz moderner gefeierter Professor wie B&uuml;cher beweist diesen Klasseninstinkt mit "genialem Blick", wenn er ganze gewaltige Epochen, wie Urkommunismus, Sklaverei, Fronwirtschaft, mit ihren grunds&auml;tzlich verschiedenen Typen der Stellung der Arbeitskraft zu den Produktionsmitteln mit leichter Hand in ein kleines Schubfach seines Schemas streicht, w&auml;hrend er sich daf&uuml;r in eine umfangreiche Haarspalterei in bezug auf die Geschichte des Gewerbes einl&auml;&szlig;t, in der er das "Hauswerk (in Klammern: Hausflei&szlig;)", "Lohnwerk", "Handwerk", die "St&ouml;rarbeit", und wie der abgeschmackte Kram sonst lautet, mit pedantischer Wichtigtuerei auseinanderlegt und ans Licht h&auml;lt und wendet. Auch die Ideologen der ausgebeuteten Volksmassen, die ersten Kommunisten, die &auml;lteren Vertreter des Sozialismus irrten im Dunkeln, hingen mit ihrer Predigt der Gleichheit unter den Menschen in der Luft, solange sie ihre Anklagen und ihren Kampf haupts&auml;chlich gegen die ungerechte Verteilung oder - wie im 19. Jahrhundert einige Sozialisten - gegen die modernen Formen des Austausches richteten. Erst nachdem sich die besten F&uuml;hrer der Arbeiterklasse dar&uuml;ber klarwurden, da&szlig; die Verteilung und der Austausch selbst in ihrer Form von der Organisation der Produktion abh&auml;ngen, in dieser aber das Verh&auml;ltnis der Arbeitenden zu den Produktionsmitteln entscheidend ist, erst dann wurden die sozialistischen Bestrebungen auf festen wissenschaftlichen Boden gestellt. Und aus dieser einheitlichen Auffassung heraus trennt sich die wissenschaftliche Stellung des Proletariats von der der Bourgeoisie am Eingang in die Wirtschafts- <B>|652|</B> geschichte, wie sie sich an der Schwelle der National&ouml;konomie von ihr trennte. Liegt es im Klasseninteresse der Bourgeoisie, den Kernpunkt der Wirtschaftsgeschichte - die Gestaltung des Verh&auml;ltnisses der Arbeitskraft zu den Produktionsmitteln - in seinem historischen Wandel zu vertuschen, so gebietet das Interesse des Proletariats umgekehrt, dieses Verh&auml;ltnis in den Vordergrund zu r&uuml;cken, zum Ma&szlig;stab der &ouml;konomischen Struktur der Gesellschaft zu machen. Und zwar ist es f&uuml;r Arbeiter nicht blo&szlig; erforderlich, die gro&szlig;en Meilensteine der Geschichte zu beachten, die die uralte kommunistische Gesellschaft von der sp&auml;teren Klassengesellschaft abgrenzen, sondern ebensosehr auch die Unterscheidungen zwischen den verschiedenen historischen Formen der Klassengesellschaft selbst. Nur wer sich &uuml;ber die spezifischen &ouml;konomischen Eigent&uuml;mlichkeiten der urkommunistischen Gesellschaft, aber nicht minder &uuml;ber die Besonderheiten der antiken Sklavenwirtschaft und der mittelalterlichen Fronwirtschaft klare Rechenschaft ablegt, kann mit voller Gr&uuml;ndlichkeit erfassen, warum die heutige kapitalistische Klassengesellschaft zum erstenmal geschichtliche Handhaben zur Verwirklichung des Sozialismus bietet und worin der fundamentale Unterschied der sozialistischen Weltwirtschaft der Zukunft von den primitiven kommunistischen Gruppen der Urzeit besteht.</P>
<P><HR></P>
<P>Fu&szlig;noten von Rosa Luxemburg</P>
<P><A NAME="N1">(1)</A> [Karl] B&uuml;cher: Die Entstehung der Volkswirtschaft. [Vortrage und Versuche, T&uuml;bingen 1906], S. 86 - 88. <A HREF="lu05_643.htm#ZN1">&lt;=</A></P>
<P><A NAME="N2">(2)</A> [Karl] B&uuml;cher: Die Entstehung der Volkswirtschaft. [Vortrage und Versuche, T&uuml;bingen 1906], S. 91. <A HREF="lu05_643.htm#ZN2">&lt;=</A></P>
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