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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<title>Lenin: Das revolution&auml;re Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen -- mlwerke.de</title>
<meta http-equiv="author" content="Wladimir Iljitsch Lenin">
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<h1>Das revolution&auml;re Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen</h1>
<p class="AutorInfo">Wladimir Iljitsch Lenin</p>
<p class="FirstPub">Geschrieben nicht vor dem 16. (29.) Oktober 1915 in deutscher Sprache</p>
<p class="TextQuelle">Seitenzahlen in diesem Text beziehen sich auf die Veröffentlichung in <em>Lenin Werke</em>, Band 21. <br>Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Dietz-Verlag Berlin, 1977. S. 412-421</p>
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<div id="Textteil">
<p><a class="Seitenzahl" name="S412">412</a><a class="SeiteVor" href="le21_412.htm#S415">&gt;</a>Das Zimmerwalder Manifest, sowie auch die Mehrheit der Programme oder der taktischen Resolutionen der sozialdemokratischen Parteien, proklamiert das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Gen. Parabellum<a class="FNzeichen" href="le21_412.htm#FNtext1" id="FNanker1">1</a> erkl&auml;rt in den Nr. 252 und 253 der „Berner Tagwacht" den „Kampf um das nicht existierende Selbstbestimmungsrecht" f&uuml;r illusorisch und stellt demselben den „revolution&auml;ren Massenkampf des Proletariats gegen den Kapitalismus" <em>entgegen, indem er versichert,</em> da&szlig; „wir gegen die Annexionen" seien (diese Versicherung ist <em>f&uuml;nf</em> Mal im Artikel des Gen. P. wiederholt worden) sowie auch gegen alle „nationalen Gewaltakte".</p>
<p>Die Motivierung des Standpunktes des Gen. P. reduziert sich darauf, da&szlig; jetzt alle nationalen Fragen, die elsa&szlig;-lothringische, die armenische usw., Fragen des Imperialismus seien; da&szlig; das Kapital &uuml;ber den Rahmen der nationalen Staaten hinausgewachsen sei; da&szlig; man nicht „das Rad der Geschichte zur&uuml;ckdrehen" k&ouml;nne zu dem &uuml;berlebten Ideal des Nationalstaates usw.</p>
<p>Wir wollen sehen, ob die Ausf&uuml;hrungen des Gen. P. richtig sind.</p>
<p>Erstens ist es eben Gen. P., der r&uuml;ckw&auml;rts und nicht vorw&auml;rts schaut, wenn er, seinen Feldzug gegen die &Uuml;bernahme „des Ideals des Nationalstaates" durch die Arbeiterklasse er&ouml;ffnend, seine Blicke auf England, Frankreich, Deutschland und Italien richtet, d.h. auf L&auml;nder, wo die nationale Befreiungsbewegung in der Vergangenheit liegt, und nicht auf den Osten, auf Asien, Afrika, die Kolonien, wo diese Bewegung nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart und in der Zukunft liegt. Es gen&uuml;gt, Indien, China, Persien und &Auml;gypten zu nennen.</p>
<p><a class="SeiteZurueck" href="le21_412.htm#S412">&lt;</a><a class="Seitenzahl" name="S415">415</a><a class="SeiteVor" href="le21_412.htm#S416">&gt;</a>
Weiter. Der Imperialismus bedeutet, da&szlig; das Kapital &uuml;ber den Rahmen des Nationalstaates hinausgewachsen ist, er bedeutet die Erweiterung und Versch&auml;rfung des nationalen Drucks auf einer neuen historischen Basis. Daraus folgt eben, im Gegensatz zu Gen. P., da&szlig; wir den revolution&auml;ren Kampf f&uuml;r den Sozialismus mit einem revolution&auml;ren Programm in der nationalen Frage <em>verbinden</em> m&uuml;ssen.</p>
<p>Bei Gen. P. kommt es so heraus, da&szlig; er <em>im Namen</em> der sozialistischen Revolution das konsequent revolution&auml;re Programm auf dem Gebiet der Demokratie mit Geringsch&auml;tzung beiseite schiebt. Das ist nicht richtig. Das Proletariat kann nicht anders siegen als durch die Demokratie, d. h. indem es die Demokratie vollst&auml;ndig verwirklicht, indem es mit jedem Schritt seiner Bewegung die demokratischen Forderungen in ihrer entschiedensten Formulierung verbindet. Es ist Unsinn, die sozialistische Revolution und den revolution&auml;ren Kampf gegen den Kapitalismus, <em>einer</em> der Fragen der Demokratie, in unserem Falle der nationalen Frage, <em>entgegen</em>zustellen. Wir m&uuml;ssen umgekehrt den revolution&auml;ren Kampf gegen den Kapitalismus mit dem revolution&auml;ren Programm und mit der revolution&auml;ren Taktik in bezug auf <em>alle</em> demokratischen Forderungen <em>verbinden:</em> die Forderungen der Republik, der Miliz, der Wahl der Beamten durch das Volk, der gleichen Rechte f&uuml;r Frauen, der Selbstbestimmung der Nationen usw. Solange der Kapitalismus fortbesteht, sind alle diese Forderungen nur ausnahmsweise und zudem nicht vollst&auml;ndig, nur verst&uuml;mmelt zu verwirklichen. Indem wir uns auf die schon verwirklichte Demokratie st&uuml;tzen, indem wir die Unvollst&auml;ndigkeit derselben unter dem Kapitalismus entlarven, fordern wir die Niederwerfung des Kapitalismus, die Expropriation der Bourgeoisie, als eine notwendige Basis f&uuml;r die Abschaffung des Massenelends sowie f&uuml;r die <em>volle</em> und <em>allseitige</em> Durchf&uuml;hrung <em>aller</em> demokratischen Umgestaltungen. Einige dieser Ma&szlig;nahmen werden vor der Niederwerfung der Bourgeoisie begonnen werden, andere <em>im Gange</em> dieser Niederwerfung, wieder andere nach derselben. Die sozialistische Revolution ist keineswegs eine einzige Schlacht, sondern im Gegenteil eine Epoche, bestehend aus einer ganzen Reihe von Schlachten um <em>alle</em> Fragen der &ouml;konomischen und politischen Umgestaltungen, die nur durch die Expropriation der Bourgeoisie vollendet werden k&ouml;nnen. Eben im Namen dieses Endzieles m&uuml;ssen wir <em>einer jeden</em> unserer demokratischen Forderungen eine konsequent revolution&auml;re Formulierung
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geben. Es ist denkbar, da&szlig; die Arbeiter eines gegebenen Landes die Bourgeoisie niederwerfen werden, <em>bevor</em> sie auch nur eine einzige demokratische Umgestaltung vollst&auml;ndig verwirklichen. Aber es ist ganz undenkbar, da&szlig; das Proletariat, als eine geschichtliche Klasse, die Bourgeoisie besiegen k&ouml;nnte, wenn es dazu nicht vorbereitet wird durch die Erziehung im Geiste des konsequentesten und revolution&auml;r entschiedensten Demokratismus.</p>
<p>Der Imperialismus ist die fortschreitende Unterdr&uuml;ckung der Nationen der Welt durch eine Handvoll Gro&szlig;m&auml;chte. Er ist die Epoche der Kriege zwischen ihnen um die Erweiterung und Festigung der nationalen Unterdr&uuml;ckung. Er ist die Epoche des Betruges an den Volksmassen durch die heuchlerischen Sozialpatrioten, d. h. durch die Leute, die <em>unter dem Vorwand</em> der „Freiheit der Nationen", des „Selbstbestimmungsrechts der Nationen", der „Vaterlandsverteidigung" die Unterdr&uuml;ckung der Mehrheit der Nationen der Welt durch die Gro&szlig;m&auml;chte rechtfertigen und verteidigen.</p>
<p>Eben deshalb mu&szlig; die Einteilung der Nationen in unterdr&uuml;ckende und unterdr&uuml;ckte den Zentralpunkt in den sozialdemokratischen Programmen bilden, da diese Einteilung <em>das Wesen</em> des Imperialismus ausmacht und von den Sozialpatrioten, Kautsky inbegriffen, <em>verlogenerweise</em> umgangen wird. Diese Einteilung ist nicht wesentlich vom Standpunkt des b&uuml;rgerlichen Pazifismus oder der kleinb&uuml;rgerlichen Utopie der friedlichen Konkurrenz der unabh&auml;ngigen Nationen unter dem Kapitalismus, aber sie ist eben das Wesentlichste vom Standpunkt des revolution&auml;ren Kampfes gegen den Imperialismus. Aus dieser Einteilung folgt <em>unsere</em> konsequent demokratische, revolution&auml;re, der allgemeinen Aufgabe des sofortigen Kampfes f&uuml;r den Sozialismus <em>entsprechende</em> Auffassung vom „Selbstbestimmungsrecht der Nationen". Im Namen dieses Rechtes, dessen aufrichtige Anerkennung der Sozialismus fordert, m&uuml;ssen die Sozialdemokraten der unterdr&uuml;ckenden Nationen die Freiheit der Absonderung f&uuml;r die unterdr&uuml;ckten Nationen fordern, - weil widrigenfalls die Anerkennung der Gleichberechtigung der Nationen und der internationalen Solidarit&auml;t der Arbeiter tats&auml;chlich nur eine hohle Phrase, nur eine Heuchelei bliebe. Die Sozialdemokraten der unterdr&uuml;ckten Nationen aber m&uuml;ssen die Forderung nach Einheit und Verschmelzung der Arbeiter der unterdr&uuml;ckten Nationen mit den Arbeitern der unterdr&uuml;ckenden Nationen als
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Hauptsache betrachten, - weil widrigenfalls diese Sozialdemokraten unwillk&uuml;rlich zu Verb&uuml;ndeten dieser oder jener nationalen <em>Bourgeoisie</em> werden, die <em>immer</em> die Interessen des Volkes und der Demokratie verr&auml;t, die <em>immer</em> ihrerseits bereit ist, Annexionen zu machen und andere Nationen zu unterdr&uuml;cken.</p>
<p>Als lehrreiches Beispiel kann dienen, wie die nationale Frage Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts gestellt wurde. Die kleinb&uuml;rgerlichen Demokraten, denen jedweder Gedanke an den Klassenkampf und an die sozialistische Revolution fremd war, malten sich eine Utopie der friedlichen Konkurrenz von freien und gleichen Nationen unter dem Kapitalismus aus. Die Proudhonisten „verneinten" ganz und gar die nationale Frage und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, und zwar vom Standpunkt der unmittelbaren Aufgaben der sozialen Revolution. Marx verspottete den franz&ouml;sischen Proudhonismus, zeigte seine Verwandtschaft mit dem franz&ouml;sischen Chauvinismus („ganz Europa m&uuml;sse und werde still auf dem Hintern sitzen, bis die Herren in Frankreich das Elend abgeschafft" ... „g&auml;nzlich unbewu&szlig;t scheinen sie unter Negation der Nationalit&auml;ten ihre Absorption in die franz&ouml;sische Musternation zu verstehn"). Marx forderte die <em>Trennung Irlands</em> von England - „obgleich nach der Trennung F&ouml;deration kommen mag" -, und zwar nicht vom Standpunkt der kleinb&uuml;rgerlichen Utopie des friedlichen Kapitalismus, nicht aus „Gerechtigkeit f&uuml;r Irland"{135}, sondern vom Standpunkt der Interessen des revolution&auml;ren Kampfes des Proletariats <em>der unterdr&uuml;ckenden, d.h. der englischen Nation</em> gegen den Kapitalismus. Es war eben die Freiheit <em>dieser</em> Nationen, die durch die Unterdr&uuml;ckung einer fremden Nation unterbunden und verst&uuml;mmelt wurde. Es war eben der Internationalismus des <em>englischen</em> Proletariats, der eine heuchlerische Phrase bleiben mu&szlig;te, wenn <em>dieses</em> Proletariat die Abtrennung Irlands nicht forderte. Ohne jemals Anh&auml;nger von Kleinstaaten, von staatlicher Zerst&uuml;ckelung im allgemeinen, vom f&ouml;deralistischen Prinzip zu sein, betrachtete Marx die Abtrennung der unterdr&uuml;ckten Nation als einen Schritt zur F&ouml;deration - folglich nicht zur Zerst&uuml;ckelung, sondern zur Konzentration, zur politischen und &ouml;konomischen Konzentration, aber zur Konzentration auf der Basis des Demokratismus. Vom Standpunkt des Gen. P. f&uuml;hrte Marx wahrscheinlich einen „illusorischen Kampf", indem er die Forderung der Separation Irlands aufstellte. In der Tat aber war <em>nur</em>
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diese Forderung das konsequent revolution&auml;re Programm, nur sie entsprach dem Internationalismus, nur sie vertrat die Konzentration auf eine <em>nicht</em> imperialistische Art.</p>
<p>Der Imperialismus unserer Tage hat dazu gef&uuml;hrt, da&szlig; die Unterdr&uuml;ckung der Nationen durch Gro&szlig;m&auml;chte eine allgemeine Erscheinung geworden ist. Eben der Standpunkt des Kampfes gegen die Sozialpatrioten der Gro&szlig;machtnationen, die jetzt einen imperialistischen Krieg um die Festigung der Unterdr&uuml;ckung der Nationen f&uuml;hren und die die Mehrheit der Nationen der Welt und der Bev&ouml;lkerung der Erde unterdr&uuml;cken - eben dieser Standpunkt mu&szlig; der entscheidende, kardinale, grundwichtige Punkt in dem sozialdemokratischen nationalen Programm werden.</p>
<p>Wir wollen die heutigen Richtungen des sozialdemokratischen Gedankens in dieser Frage Revue passieren lassen. Die kleinb&uuml;rgerlichen Utopisten, die von Gleichheit und Frieden der Nationen unter dem Kapitalismus tr&auml;umen, haben den Sozialimperialisten Platz gemacht. Indem Gen. P. gegen die ersteren Krieg f&uuml;hrt, k&auml;mpft er gegen Windm&uuml;hlen, da er unwillk&uuml;rlich den letzteren in die H&auml;nde arbeitet. Was ist das Programm der Sozialchauvinisten in der nationalen Frage?</p>
<p>Entweder verneinen sie ganz und gar das Selbstbestimmungsrecht, indem sie Argumente in der Art jener des Gen. P. anf&uuml;hren (Cunow, Parvus, die russischen Opportunisten Semkowski, Libman usw.). Oder sie erkennen das Selbstbestimmungsrecht in offensichtlich heuchlerischer Weise an, n&auml;mlich sie wenden dieses Recht eben nicht auf solche Nationen an, die von ihrer eigenen Nation oder von deren milit&auml;rischen Verb&uuml;ndeten unterdr&uuml;ckt werden (Plechanow, Hyndman, alle frankophilen Sozialpatrioten, Scheidemann und Co. usw.). Es ist indes Kautsky, der die plausibelste und eben darum die f&uuml;r das Proletariat sch&auml;dlichste Formulierung der sozialchauvinistischen L&uuml;ge gibt. In Worten ist er <em>f&uuml;r</em> das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in Worten ist er daf&uuml;r, da&szlig; die sozialdemokratische Partei „die Selbst&auml;ndigkeit der Nationen allseitig (!!) und r&uuml;ckhaltlos (<abbr title="Haltet das Lachen zur&uuml;ck, Freunde!">risum teneatis, amici!</abbr>) achtet und fordert" (Die Neue Zeit, 33, II, S. 241; 21. V. 1915). <em>In Wirklichkeit</em> aber pa&szlig;t er das nationale Programm dem herrschenden Sozialchauvinismus an, f&auml;lscht und verst&uuml;mmelt es, stellt die Pflichten der Sozialisten der unter-
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dr&uuml;ckenden Nationen nicht genau fest, ja falsifiziert sogar geradezu das demokratische Prinzip, indem er sagt, die „staatliche Selbst&auml;ndigkeit" f&uuml;r jede Nation zu verlangen hie&szlig;e <em>„zu viel"</em> verlangen (Die Neue Zeit, 33, II, S. 77; 16. IV. 1915). Es gen&uuml;ge, nach seiner weisen Meinung, die „nationale Autonomie"!! Eben die wichtigste Frage, die die imperialistische Bourgeoisie nicht zu ber&uuml;hren erlaubt, die Frage von <em>den Grenzen des Staats,</em> der sich auf der Unterdr&uuml;ckung der Nationen aufbaut, wird von Kautsky umgangen! Eben das Wichtigste im nationalen Programm der sozialdemokratischen Partei wirft Kautsky zum Wohlgefallen dieser Bourgeoisie hinaus! Die Bourgeoisie ist bereit, jede beliebige „Gleichberechtigung" der Nationen und jede beliebige „nationale Autonomie" zu versprechen, nur damit das Proletariat im Rahmen der Gesetzlichkeit bleibe und sich in der Frage von den <em>Grenzen</em> des Staates der Bourgeoisie „friedlich" unterwerfe! Kautsky formuliert das nationale Programm der Sozialdemokratie nicht revolution&auml;r, sondern reformistisch.</p>
<p>Das nationale Programm des Gen. P. oder, richtiger, seine <em>Versicherungen:</em> „wir sind gegen die Annexionen", unterschreiben der Parteivorstand, Kautsky, Plechanow und Co. mit beiden H&auml;nden, und zwar eben darum, weil dieses Programm die herrschenden Sozialpatrioten nicht entlarvt. Dieses Programm k&ouml;nnen auch die b&uuml;rgerlichen Pazifisten unterschreiben. Das vortreffliche <em>allgemeine</em> Programm des Gen. P. - „der revolution&auml;re Massenkampf gegen den Kapitalismus" - dient ihm, ebenso wie den Proudhonisten der sechziger Jahre, nicht dazu, um im Zusammenhang damit, in seinem Geiste, ein ebenso unvers&ouml;hnliches, ebenso revolution&auml;res Programm in der nationalen Frage auszuarbeiten, sondern nur dazu, um hier das Feld vor den Sozialpatrioten zu r&auml;umen! Die Mehrheit der Sozialisten der Welt geh&ouml;rt in unserer imperialistischen Epoche Nationen an, die andere Nationen unterdr&uuml;cken und diese Unterdr&uuml;ckung zu erweitern suchen. Eben deshalb wird unser „Kampf gegen Annexionen" inhaltslos bleiben, ein f&uuml;r die Sozialpatrioten gar nicht gef&auml;hrlicher Kampf bleiben, wenn wir nicht erkl&auml;ren: Derjenige Sozialist einer unterdr&uuml;ckenden Nation, der nicht im Frieden wie auch im Kriege die <em>Separation</em> der unterdr&uuml;ckten Nationen propagiert, ist kein Sozialist und kein Internationalist, sondern ein Chauvinist! Derjenige Sozialist einer unterdr&uuml;ckenden Nation, der nicht eine solche Propaganda den Verboten der Regierungen zum Trotz, d.h. in einer freien, d.h. in einer illegalen
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Presse treibt, bleibt nur ein heuchlerischer Anh&auml;nger der Gleichberechtigung aller Nationen.</p>
<p>&Uuml;ber Ru&szlig;land, das seine b&uuml;rgerlich-demokratische Revolution noch nicht vollendet hat, hat Gen. P. nur einen einzigen Satz gesagt:</p>
<p>„Selbst das wirtschaftlich sehr zur&uuml;ckgebliebene Ru&szlig;land hat in der Haltung der polnischen, lettischen, armenischen Bourgeoisie gezeigt, da&szlig; nicht nur die milit&auml;rische Bewachung es ist, die die V&ouml;lker in diesem 'Zuchthaus der V&ouml;lker' zusammenh&auml;lt, sondern Bed&uuml;rfnisse der kapitalistischen Expansion, f&uuml;r die das ungeheure Territorium ein gl&auml;nzender Boden der Entwicklung ist."</p>
<p>Das ist kein „sozialdemokratischer Standpunkt", sondern ein b&uuml;rgerlich-liberaler, kein internationalistischer, sondern ein gro&szlig;russisch-chauvinistischer. Es ist zu bedauern, da&szlig; Gen. P., der so vortrefflich gegen den deutschen Sozialpatriotismus k&auml;mpft, den russischen Chauvinismus augenscheinlich zu wenig kennt. Um aus seinem Satz einen sozialdemokratischen Satz zu machen und daraus sozialdemokratische Folgerungen zu ziehen, m&ouml;chten wir diesen Satz etwa in folgender Weise ab&auml;ndern und vervollst&auml;ndigen:</p>
<p>Ru&szlig;land ist ein Zuchthaus der V&ouml;lker nicht nur wegen des feudal-milit&auml;rischen Charakters des Zarismus, nicht nur deswegen, weil die gro&szlig;russische Bourgeoisie den Zarismus unterst&uuml;tzt, sondern auch deswegen, weil die polnische usw. Bourgeoisie den Interessen der kapitalistischen Expansion die Freiheit der Nationen, wie den Demokratismus &uuml;berhaupt, geopfert hat. Das Proletariat Ru&szlig;lands kann weder an der Spitze des Volkes die demokratische Revolution siegreich vollenden (das ist seine n&auml;chste Aufgabe) noch Hand in Hand mit seinen Br&uuml;dern, den Proletariern Europas, f&uuml;r die sozialistische Revolution k&auml;mpfen, ohne sofort, uneingeschr&auml;nkt und „r&uuml;ckhaltlos" die Freiheit der Separation aller vom Zarismus unterdr&uuml;ckten Nationen von Ru&szlig;land zu fordern. Wir fordern das nicht unabh&auml;ngig von unserem revolution&auml;ren Kampf f&uuml;r den Sozialismus, sondern deswegen, weil dieser Kampf nichts als ein leeres Wort bleiben wird, wenn wir ihn nicht mit der revolution&auml;ren Stellung aller demokratischen Fragen, darunter auch der nationalen Frage, verbinden. Wir fordern das Selbstbestimmungsrecht, <em>d.h.</em> die Unabh&auml;ngigkeit, <em>d.h.</em> die Freiheit der Separation der unterdr&uuml;ckten Nationen nicht deshalb, weil wir von der wirtschaftlichen Zerst&uuml;ckelung oder vom Ideal der Klein-
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staaten tr&auml;umen, sondern im Gegenteil, weil wir Gro&szlig;staaten und die Ann&auml;herung, ja die Verschmelzung der Nationen w&uuml;nschen, aber auf wahrhaft demokratischer, wahrhaft internationalistischer Grundlage, die ohne die Freiheit der Separation <em>undenkbar</em> ist. Wie Marx im Jahre 1869 die Separation Irlands forderte, nicht zur Zerst&uuml;ckelung, sondern f&uuml;r den weiteren freien Bund Irlands mit England, nicht aus „Gerechtigkeit f&uuml;r Irland", sondern vom Standpunkt der Interessen des revolution&auml;ren Kampfes des englischen Proletariats, ebenso betrachten wir auch die Weigerung der Sozialisten Ru&szlig;lands, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen im oben entwickelten Sinne zu fordern, als einen direkten Verrat an der Demokratie, am Internationalismus, am Sozialismus.</p>
</div> <!-- Textteil -->
<div id="Fussnoten">
<div class="Fussnote" id="Fussnote1">
<p><a class="FNzeichen" name="FNtext1" href="le21_412.htm#FNanker1">1</a>&nbsp;
Karl Radek, russisch Карл Бернгардович Радек/Karl Berngardowitsch Radek, gebürtig Karol Sobelsohn; Pseudonyme Parabellum und Struthahn; * 31. Oktober 1885 in Lemberg, Galizien, Österreich-Ungarn; † vermutlich 19. Mai 1939 in Nertschinsk, Sowjetunion. Polnisch-russisch-deutscher Revolutionär und Kommunist.
</p>
</div> <!-- Fussnote1-->
</div> <!-- Fussnoten -->
<div id="Abspann">
<p class="TextQuelle">Nach dem deutschsprachigen Manuskript, verglichen mit der von N. K. Krupskaja angefertigten und von W. I. Lenin korrigierten russischen &Uuml;bersetzung.</p>
</div> <!-- Abspann -->
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