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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>Leo Trotzki: Ihre Moral und unsere</TITLE>
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<H2>Leo Trotzki</H2>
<H1><!-- #BeginEditable "Titel" -->Ihre Moral und unsere<!-- #EndEditable --></H1>
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<H3>Moralausd&uuml;nstungen</H3>
<P>In einer Epoche der siegreichen Reaktion beginnen die Herren Demokraten, Sozialdemokraten, Anarchisten und &uuml;brigen Vertreter des &raquo;linken&laquo; Lagers das Doppelte ihres gew&ouml;hnlichen Quantums von Moralausd&uuml;nstungen auszuscheiden, gleich Leuten, die vor Furcht doppelt stark schwitzen. Diese Moralisten wenden sich, indem sie die zehn Gebote oder die Bergpredigt neu umschreiben, nicht so sehr an die siegreiche Reaktion, wie an jene Revolution&auml;re, die unter deren Verfolgung leiden und die mit ihren &raquo;Exzessen&laquo; und &raquo;amoralischen&laquo; Grunds&auml;tzen die Reaktion &raquo;provozieren&laquo; und ihr eine moralische Rechtfertigung geben. &Uuml;berdies verordnen sie ein einfaches aber sicheres Mittel, um die Reaktion zu vermeiden: wir m&uuml;ssen nur danach streben, uns selbst moralisch zu erneuern. Gratismuster moralischer Vollkommenheit werden von allen beteiligten Redaktionen an Interessenten abgegeben.
<p>
Die Klassenbasis dieser falschen und hochtrabenden Predigt ist die kleinb&uuml;rgerliche Intelligenz. Die politische Basis: deren Ohnmacht und Verwirrung angesichts der herannahenden Reaktion. Die psychologische Basis: deren Bestreben, das Gef&uuml;hl der eigenen Minderwertigkeit zu &uuml;berwinden, indem sie mit dem Bart des Propheten Mummenschanz treibt.
<p>
Die Lieblingsmethode des moralisierenden Philisters besteht darin, das Verhalten der Reaktion mit dem der Revolution zu identifizieren. Dabei erzielt er nur Erfolg, indem er sich auf formale Analogien st&uuml;tzt. F&uuml;r ihn sind Zarismus und Bolschewismus Zwillinge. Ebenso entdeckt er, da&szlig; Faschismus und Kommunismus Zwillinge sind. Er tr&auml;gt ein Inventar zusammen aus den gemeinsamen Z&uuml;gen von Katholizismus - oder genauer von Jesuitismus - und Bolschewismus. Hitler und Mussolini, die ihrerseits genau die gleiche Methode benutzen, enth&uuml;llen, da&szlig; Liberalismus, Demokratie und Bolschewismus nur verschiedene Erscheinungsformen ein und desselben &Uuml;bels sind. Die Auffassung, da&szlig; Stalinismus und Trotzkismus &raquo;wesentlich&laquo; ein und dasselbe sind, erfreut sich jetzt der vereinten Zustimmung von Liberalen, Demokraten, frommen Katholiken, Idealisten, Pragmatikern und Anarchisten. Die Stalinisten sind offenbar nur deshalb nicht in der Lage, sich dieser &raquo;Volksfront&laquo; anzuschlie&szlig;en, weil sie zuf&auml;llig mit der Ausrottung der Trotzkisten besch&auml;ftigt sind.
<p>
Charakteristisch f&uuml;r diese Analogien und &Auml;hnlichkeiten ist, da&szlig; man bei ihrer Anwendung die materielle Grundlage der verschiedenen Str&ouml;mungen, d.h. deren Klassennatur und dadurch deren objektive historische Rolle, vollst&auml;ndig ignoriert. Stattdessen nimmt man irgendeine &auml;u&szlig;erliche und zweitrangige Erscheinung zum Ausgangspunkt der Beurteilung und Wertung der verschiedenen Str&ouml;mungen, und zwar meistens deren Verh&auml;ltnis zu irgendeinem abstrakten Prinzip, welches f&uuml;r den betreffenden Kritiker einen besonderen berufsm&auml;&szlig;igen Wert besitzt. So sind Freimaurer, Darwinisten, Marxisten und Anarchisten f&uuml;r den r&ouml;mischen Papst Zwillinge, weil sie alle gottesl&auml;sterlich die unbefleckte Empf&auml;ngnis leugnen. F&uuml;r Hitler sind Liberalismus und Marxismus Zwillinge, weil sie nichts von &raquo;Blut und Ehre&laquo; wissen wollen. F&uuml;r einen Demokraten sind Faschismus und Bolschewismus Zwillinge, weil sie sich nicht dem allgemeinen Stimmrecht unterwerfen. Und so weiter. Unzweifelhaft haben die oben zusammengestellten Str&ouml;mungen einige gemeinsame Z&uuml;ge. Aber der Kern der Sache liegt darin, da&szlig; sich die Entwicklung der Menschheit weder im allgemeinen Stimmrecht noch in &raquo;Blut und Ehre&laquo;, noch im Dogma der unbefleckten Empf&auml;ngnis ersch&ouml;pft. Der historische Proze&szlig; dr&uuml;ckt in erster Linie den Klassenkampf aus; &uuml;berdies wenden verschiedene Klassen im Namen verschiedener Ziele in gewissen Augenblicken gleiche Mittel an. Im Wesen kann es gar nicht anders sein. Einander bek&auml;mpfende Heere sind immer mehr oder weniger symmetrisch; g&auml;be es nichts Gemeinsames in ihren Kampfmethoden, k&ouml;nnten sie einander keine Schl&auml;ge zuf&uuml;gen.
<p>
Ein unwissender Bauer oder Kr&auml;mer, der weder den Ursprung noch den Sinn des Kampfes zwischen Proletariat und Bourgeoisie begreift, wird, wenn er entdeckt, da&szlig; er sich zwischen den beiden Feuern befindet, beide kriegf&uuml;hrenden Lager mit dem gleichen Ha&szlig; betrachten.
<p>
Und wer sind alle diese demokratischen Moralisten? Ideologen der Zwischenschichten, die zwischen die beiden Feuer geraten sind, oder sich vor diesem Schicksal f&uuml;rchten. Verst&auml;ndnislosigkeit gegen&uuml;ber den gro&szlig;en historischen Bewegungen, eine verh&auml;rtete konservative Mentalit&auml;t, selbstzufriedene Beschr&auml;nktheit und primitivste politische Feigheit zeichnen die Propheten dieses Typus aus. Mehr als alles andere w&uuml;nscht der Moralist, die Geschichte m&ouml;ge ihn mit seinen B&uuml;chlein, kleinen Zeitschriften, Abonnements, seinem gesunden Menschenverstand und seinen moralischen Schreibheften in Ruhe lassen. Aber die Geschichte l&auml;&szlig;t ihn nicht in Ruhe. Sie pufft ihn bald von links und bald von rechts. Es ist klar: Revolution und Reaktion, Zarismus und Bolschewismus, Kommunismus, Stalinismus und Trotzkismus - das alles sind Zwillinge. Wer immer daran zweifelt, der mag die symmetrischen Beulen auf der rechten wie auf der linken Sch&auml;delh&auml;lfte unserer Moralisten nachf&uuml;hlen.
<p>
<h3>Marxistische Amoral und ewige Wahrheiten</h3>
<P>Die volkst&uuml;mlichste und eindrucksvollste der gegen die bolschewistische &raquo;Amoral&laquo; gerichteten Anklagen gr&uuml;ndet sich auf die sogenannte jesuitische Maxime des Bolschewismus: &raquo;Der Zweck heiligt die Mittel&laquo;. Von hier aus ist es nicht weit zur n&auml;chsten Schlu&szlig;folgerung: da die Trotzkisten, wie alle Bolschewiken (oder Marxisten), die Prinzipien der Moral nicht anerkennen, gibt es folglich keinen &raquo;prinzipiellen&laquo; Unterschied zwischen Trotzkismus und Stalinismus. Was zu beweisen war.
<p>
Eine ganz und gar vulg&auml;re und zynische amerikanische Monatsschrift veranstaltete eine Enqu&egrave;te &uuml;ber die Moralphilosophie des Bolschewismus. Die Enqu&egrave;te hatte, wie gebr&auml;uchlich, gleichzeitig den Zielen der Ethik wie denen der Reklame zu dienen. Der unnachahmliche H.G. Wells, dessen gro&szlig;e Einbildungskraft nur durch seine homerische Selbstzufriedenheit &uuml;bertroffen wird, z&ouml;gerte nicht, sich mit den reaktion&auml;ren Snobs des Common Sense zu solidarisieren. Insofern war alles in Ordnung. Aber selbst solche Teilnehmer, die es f&uuml;r notwendig hielten, den Bolschewismus zu verteidigen, taten dies in der Mehrzahl der F&auml;lle nicht ohne sch&uuml;chterne Ausfl&uuml;chte (Eastman). Die Grunds&auml;tze des Marxismus sind nat&uuml;rlich schlecht, aber unter den Bolschewiken gab es nichtsdestoweniger wertvolle Leute. Wahrhaftig, solche &raquo;Freunde&laquo; sind gef&auml;hrlicher als Feinde.
<p>
K&ouml;nnten wir uns dazu entschlie&szlig;en, die Herren Entlarver ernst zu nehmen, dann m&uuml;&szlig;ten wir sie an erster Stelle fragen: Was sind eure eignen moralischen Prinzipien? Das ist eine Frage, auf die wir kaum eine Antwort erhalten werden. Nehmen wir f&uuml;r einen Augenblick an, weder pers&ouml;nliche noch soziale Ziele k&ouml;nnten die Mittel heiligen. Dann ist es offenbar notwendig, Kriterien au&szlig;erhalb der historischen Gesellschaft und der Ziele, die sie sich im Laufe ihrer Entwicklung steckt, zu suchen. Aber wo? Wenn nicht auf Erden, so im Himmel. Die Pfaffen haben seit langem unfehlbare Moralkriterien in der g&ouml;ttlichen Offenbarung entdeckt. Kleine weltliche Pfaffen reden &uuml;ber ewige moralische Wahrheiten, ohne deren Ursprung zu erw&auml;hnen. Wir sind jedoch zu dem Schlu&szlig; berechtigt: da diese Wahrheiten ewig sind, m&uuml;ssen sie nicht nur vor der Erscheinung des Halbaffen-Halbmenschen auf der Erde, sondern sogar vor der Entstehung des Sonnensystems existiert haben. Woher sind sie also gekommen? Die Theorie der ewigen Moral kann keineswegs ohne Gott bestehen.
<p>
Sofern sich die Moralisten der angels&auml;chsischen Schule nicht auf den rationalistischen Utilitarismus, die Ethik der b&uuml;rgerlichen Buchf&uuml;hrung beschr&auml;nken, erscheinen sie alle als die bewu&szlig;ten oder unbewu&szlig;ten Sch&uuml;ler des Grafen Shaftesbury, der - zu Anfang des 18. Jahrhunderts! - die Moralurteile von einem besonderen &raquo;moralischen Sinn&laquo; ableitete, der nach seiner Voraussetzung dem Menschen ein f&uuml;r allemal verliehen war. Eine Moral &uuml;ber den Klassen f&uuml;hrt unvermeidlich zu der Anerkennung einer besonderen Substanz, eines &raquo;moralischen Sinns&laquo; oder &raquo;Gewissens&laquo;, zur Anerkennung von irgendetwas Absolutem, was nichts anderes ist als das philosophisch-feige Synonym f&uuml;r Gott. Wenn wir die Moral unabh&auml;ngig von den &raquo;Zielen&laquo;, d.h. von der Gesellschaft betrachten, erweist sie sich letzten Endes, gleichg&uuml;ltig ob wir sie von &raquo;ewigen Wahrheiten&laquo; oder von der &raquo;menschlichen Natur&laquo; ableiten, als eine Form der &raquo;Naturtheologie&laquo;. Der Himmel bleibt die einzige befestigte Position f&uuml;r milit&auml;rische Operationen gegen den dialektischen Materialismus.
<p>
Zu Ende des letzten Jahrhunderts entstand in Ru&szlig;land eine ganze Schule von &raquo;Marxisten&laquo;, (Struwe, Berdjaew, Bulgakow u.a.), die die marxistische Lehre mit einem sich selbst gen&uuml;genden, d.h. &uuml;ber den Klassen stehenden moralischen Prinzip zu erg&auml;nzen w&uuml;nschten. Diese Leute begannen nat&uuml;rlich mit Kant und dem kategorischen Imperativ. Wie aber endeten sie? Struwe ist heute Minister a.D. des Barons Wrangel und ein treuer Sohn der Kirche; Bulgakow ist ein orthodoxer Priester; Berdjaew legt die Apokalypse in verschiedenen Sprachen aus. Diese auf den ersten Blick &uuml;berraschenden Wandlungen erkl&auml;ren sich keineswegs durch die &raquo;slawische Seele&laquo; - Struwe hat eine deutsche Seele - sondern durch die Wucht des sozialen Kampfes in Ru&szlig;land. Der Grundzug dieser Metamorphose ist im wesentlichen international.
<p>
Der klassische philosophische Idealismus stellte, insoweit er seinerzeit versuchte, die Moral zu verweltlichen, d.h. von ihrer religi&ouml;sen Sanktion zu befreien, einen gewaltigen Schritt vorw&auml;rts dar (Hegel). Aber nachdem sich die Moralphilosophie vom Himmel losgel&ouml;st hatte, mu&szlig;te sie irdische Wurzeln finden. Es war eine der Aufgaben des Materialismus, diese Wurzeln zu entdekken. Nach Shaftesbury kam Darwin, nach Hegel - Marx. Wer heute an &raquo;ewige moralische Wahrheiten&laquo; appelliert, versucht, das Rad r&uuml;ckw&auml;rts zu drehen. Der philosophische Idealismus ist nur ein &Uuml;bergangsstadium: von der Religion zum Materialismus, oder umgekehrt, vom Materialismus zur Religion.
<p>
<h3>&raquo;Der Zweck heiligt die Mittel&laquo;</h3>
<P>Der Jesuitenorden, der in der ersten H&auml;lfte des 16. Jahrhunderts zur Bek&auml;mpfung des Protestantismus gegr&uuml;ndet wurde, lehrte &uuml;brigens niemals, da&szlig; jedes Mittel, selbst wenn es vom Gesichtspunkt der katholischen Moral verbrecherisch war, erlaubt sei, wenn es nur zum &raquo;Ziel&laquo;, d.h. zum Triumph des Katholizismus f&uuml;hre. Solch eine innerlich widerspruchsvolle und psychologisch absurde Lehre wurde den Jesuiten von ihren protestantischen und teilweise katholischen Gegnern b&ouml;swillig zugeschrieben, die sich in der Wahl der Mittel, um ihre Ziele zu erreichen, nicht genierten. Die jesuitischen Theologen, die sich wie die Theologen anderer Schulen mit der Frage der pers&ouml;nlichen Verantwortung befa&szlig;ten, lehrten in Wirklichkeit, da&szlig; das Mittel an sich eine gleichg&uuml;ltige Angelegenheit sein kann, und da&szlig; die moralische Berechtigung oder Beurteilung des gegebenen Mittels sich aus dem Ziel ergibt. So ist Schie&szlig;en an und f&uuml;r sich eine neutrale Angelegenheit; Schie&szlig;en auf einen tollen Hund, der ein Kind bedroht - eine Tugend; Schie&szlig;en mit dem Ziel zu verletzen oder zu morden - ein Verbrechen. Die Ausf&uuml;hrungen der Theologen dieses Ordens gingen &uuml;ber solche Gemeinpl&auml;tze nicht hinaus.
<p>
Was ihre praktische Moralphilosophie angeht, waren die Jesuiten keineswegs schlimmer als andere M&ouml;nche oder katholische Priester, sie waren ihnen im Gegenteil &uuml;berlegen; jedenfalls waren sie ausdauernder, k&uuml;hner und scharfsichtiger. Die Jesuiten stellten eine streng zentralisierte, aggressive, k&auml;mpferische Organisation dar, die nicht nur f&uuml;r die Feinde, sondern auch f&uuml;r die Verb&uuml;ndeten gef&auml;hrlich war. In seiner Psychologie und in der Methode seines Handelns unterschied sich der Jesuit der &raquo;heroischen&laquo; Periode von einem durchschnittlichen Pfaffen wie der Krieger der Kirche von ihrem Kr&auml;mer. Wir haben keinen Grund, einen der beiden zu idealisieren. Aber es ist ganz und gar unw&uuml;rdig, einen fanatischen Krieger mit den Augen eines stumpfen und tr&auml;gen Kr&auml;mers zu betrachten. Wenn wir auf der Ebene der rein formalen oder psychologischen Verwandtschaften verbleiben, dann kann man, wenn man will, sagen, da&szlig; die Bolschewiki sich zu den Demokraten und Sozialdemokraten aller Schattierungen verhalten wie die Jesuiten zur friedlichen Hierarchie. Im Vergleich zu den revolution&auml;ren Marxisten erscheinen die Sozialdemokraten und Zentristen wie Minderj&auml;hrige oder wie der Quacksalber im Vergleich zum Arzt: sie denken kein einziges Problem bis zu Ende, glauben an die Macht der Beschw&ouml;rung, gehen feig jeder Schwierigkeit aus dem Weg und hoffen auf ein Wunder. Die Opportunisten sind die friedlichen Kr&auml;mer der sozialistischen Idee, w&auml;hrend die Bolschewiki ihre eingefleischten Krieger sind. Daher der Ha&szlig; und die Verleumdung gegen die Bolschewiki von Seiten derer, die ihre historisch bedingten Schw&auml;chen im &Uuml;berflu&szlig;, jedoch keinen einzigen ihrer Vorz&uuml;ge besitzen.
<p>
Immerhin bleibt jedoch die Nebeneinanderstellung von Bolschewismus und Jesuitismus v&ouml;llig einseitig und oberfl&auml;chlich und ist eher literarischer als historischer Natur. Geht man von Charakter und Interessen derjenigen Klassen aus, auf die sich Jesuiten und Protestanten st&uuml;tzen, so stellten erstere die Reaktion und letztere den Fortschritt dar. Die Begrenztheit dieses &raquo;Fortschritts&laquo; fand wiederum ihren direkten Ausdruck in der Sittenlehre der Protestanten. So hinderten den Stadtb&uuml;rger Luther die von ihm &raquo;gereinigten&laquo; Lehren Christi keineswegs daran, dazu aufzurufen, die aufst&auml;ndischen Bauern wie &raquo;tolle Hunde&laquo; niederzumachen. Dr. Martin war offenbar, noch bevor dieser Grundsatz den Jesuiten zugeschrieben wurde, der Ansicht, &raquo;der Zweck heilige die Mittel&laquo;. Die mit dem Protestantismus konkurrierenden Jesuiten pa&szlig;ten sich ihrerseits in steigendem Ma&szlig;e dem Geist der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft an, und von den drei Gel&uuml;bden: Armut, Keuschheit und Gehorsam, blieb nur das dritte &uuml;brig und das sogar in &auml;u&szlig;erst abgemilderter Form. Vom Standpunkt des christlichen Ideals verfiel die Moral der Jesuiten in dem Ma&szlig;e, wie sie aufh&ouml;rten, Jesuiten zu sein. Die Krieger der Kirche wurden ihre B&uuml;rokraten und, wie alle B&uuml;rokraten, leidliche Spitzbuben.
<p>
<h3>Jesuitismus und Utilitarismus</h3>
<P>Diese kurze Diskussion gen&uuml;gt vielleicht, um zu zeigen, wieviel
Unwissenheit und Beschr&auml;nktheit erforderlich sind, um ernsthaft das &raquo;jesuitische&laquo; Prinzip: &raquo;Der Zweck heiligt die Mittel&laquo;, einer anderen,
scheinbar h&ouml;heren Moral gegen&uuml;berzustellen, in der jedes &raquo;Mittel&laquo; sein
eigenes Moraletikett tr&auml;gt etwa wie eine Ware mit festen Preisen in
einem Spezialgesch&auml;ft. Bemerkenswert ist, da&szlig; der gesunde
Menschenverstand des angels&auml;chsischen Philisters es fertig gebracht
hat, sich &uuml;ber das &raquo;jesuitische&laquo; Prinzip zu entr&uuml;sten und gleichzeitig
sich an der f&uuml;r die britische Philosophie so charakteristischen
utilitaristischen Sittenlehre zu inspirieren. Denn das Kriterium
Benthams und John Mills: &raquo;Das gr&ouml;&szlig;tm&ouml;gliche Gl&uuml;ck f&uuml;r die
gr&ouml;&szlig;tm&ouml;gliche Anzahl&laquo;, bedeutet, da&szlig; diejenigen Mittel sittlich sind,
die zur allgemeinen Wohlfahrt als dem h&ouml;heren Ziel f&uuml;hren. Der
angels&auml;chsische Utilitarismus stimmt also in seinen generellen
philosophischen Formulierungen v&ouml;llig mit dem &raquo;jesuitischen&laquo; Prinzip: &raquo;Der Zweck heiligt die Mittel&laquo;, &uuml;berein. Der Empirismus existiert
demnach, wie wir sehen, nur zu dem Zweck in der Welt, um uns von der
Notwendigkeit zu befreien, die Dinge miteinander ins Reine zu bringen.
<p>
Herbert Spencer, dessen Empirismus Darwin mit der Idee der Evolution
impfte, wie man gegen Pocken impft, lehrte, da&szlig; in der Sph&auml;re der
Moral die Entwicklung von &raquo;Empfindungen&laquo; zu &raquo;Ideen&laquo; fortschreitet. Die
Empfindungen richten sich nach dem Kriterium des unmittelbaren
Vergn&uuml;gens, w&auml;hrend die Ideen gestatten, sich von dem Kriterium des
zuk&uuml;nftigen, dauernden und h&ouml;heren Vergn&uuml;gens leiten zu lassen. &raquo;Vergn&uuml;gen&laquo; oder &raquo;Gl&uuml;ck&laquo; ist also auch hier Kriterium der Moral.
<p>
Aber die Breite und Tiefe des Inhalts dieses Kriteriums h&auml;ngt von
dem Ma&szlig;stab der &raquo;Entwicklung&laquo; ab. Auf diese Weise bewies auch Herbert
Spencer durch die Methoden seines eigenen &raquo;evolution&auml;ren&laquo; Utilitarismus, da&szlig; das Prinzip: der Zweck heiligt die Mittel, nichts
Unmoralisches enth&auml;lt.
<p>
Es w&auml;re jedoch naiv, von diesem abstrakten &raquo;Prinzip&laquo; eine Antwort
auf die praktische Frage zu erwarten: was d&uuml;rfen wir tun und was
nicht? &Uuml;berdies wirft nat&uuml;rlich das Prinzip, der Zweck heiligt die
Mittel, die Frage auf: und was heiligt das Ziel? Im praktischen Leben
wie im Verlauf der Geschichte ver&auml;ndern Ziel und Mittel fortlaufend
ihre Stellung. Eine im Bau befindliche Maschine ist nur insofern ein &raquo;Ziel&laquo; der Produktion, wie sie in eine andere Fabrik als &raquo;Mittel&laquo; eingeht. Die Demokratie ist in gewissen Perioden das &raquo;Ziel&laquo; des
Klassenkampfes nur, um danach in sein Mittel verwandelt zu werden.
Enth&auml;lt das jesuitische Prinzip auch nichts Unmoralisches, so ist es
jedoch andererseits weit davon entfernt, das Problem der Moral zu
l&ouml;sen.
<p>
Der &raquo;evolution&auml;re&laquo; Utilitarismus Spencers l&auml;&szlig;t uns ebenfalls auf
halbem Wege ohne Antwort stehen, da er, Darwin folgend, versucht, die
konkrete historische Moral in den f&uuml;r ein Herdentier
charakteristischen biologischen Bed&uuml;rfnissen oder &raquo;sozialen
Instinkten&laquo; aufzul&ouml;sen, w&auml;hrend der Begriff der Moral selbst erst in
einem antagonistischen Milieu, d.h. in einer von Klassen zerrissenen
Gesellschaft, entsteht.
<p>
Der b&uuml;rgerliche Evolutionarismus bleibt auf der Schwelle der
historischen Gesellschaft ohnm&auml;chtig stehen, weil er die treibende
Kraft in der Entwicklung historischer Formen, den Klassenkampf, nicht
erkennen will. Die Moral ist nur eine der ideologischen Funktionen in
diesem Kampf. Die herrschende Klasse zwingt ihre Ziele der
Gesellschaft auf und gew&ouml;hnt sie daran, alle solche Mittel, die ihren
Zielen widersprechen, als unmoralisch anzusehen. Das ist die
wichtigste Funktion der offiziellen Sittenlehre. Sie verfolgt die Idee
des &raquo;gr&ouml;&szlig;tm&ouml;glichen Gl&uuml;cks&laquo; nicht f&uuml;r die Mehrheit, sondern f&uuml;r eine
sich st&auml;ndig verringernde Minderheit. Durch Gewalt allein k&ouml;nnte sich
ein solches Regime auch nicht eine Woche lang halten. Es braucht den
moralischen Zement. Das Mischen dieses Zements bildet den Beruf der
kleinb&uuml;rgerlichen Theoretiker und Moralisten. Sie schillern zwar in
allen Regenbogenfarben, letzten Endes bleiben sie jedoch ohne Ausnahme
Apostel der Sklaverei und der Unterwerfung.
<p>
<h3>&raquo;Moralvorschriften, die f&uuml;r alle bindend sind.&laquo;</h3>
<P>Wer nicht zu Moses, Christus oder Mohammed zur&uuml;ckkehren will und wer
nicht mit eklektischem Hokuspokus zufrieden ist, mu&szlig; einsehen, da&szlig; die
Moral ein Produkt der historischen Entwicklung ist, da&szlig; es in ihr
nichts Unver&auml;nderliches gibt, da&szlig; sie sozialen Interessen dient, da&szlig;
diese Interessen widerspruchsvoll sind, da&szlig; die Moral mehr als
irgendeine andere ideologische Form Klassencharakter tr&auml;gt.
<p>
Aber existieren denn keine elementaren moralischen Vorschriften, die
sich in der Entwicklung der Menschheit als integraler Bestandteil der
Existenz jeder kollektiven K&ouml;rperschaft herausgebildet haben? Solche
Vorschriften existieren unzweifelhaft, aber ihr Aktionsradius ist
&auml;u&szlig;erst begrenzt und unstabil. Je sch&auml;rferen Charakter der
Klassenkampf annimmt, desto wirkungsloser werden die Normen, die &raquo;f&uuml;r
alle bindend sind.&laquo; Der Kulminationspunkt des Klassenkampfes ist der
B&uuml;rgerkrieg, der alle moralischen Bande zwischen den feindlichen
Klassen in die Luft sprengt.
<p>
Unter &raquo;normalen&laquo; Bedingungen befolgt ein &raquo;normaler&laquo; Mensch das
Gebot: &raquo;Du sollst nicht t&ouml;ten.&laquo; Aber wenn er unter der anormalen
Bedingung der Notwehr t&ouml;tet, verzeiht ihm der Richter seine Handlung.
Wenn er das Opfer eines M&ouml;rders wird, wird das Gericht den M&ouml;rder
t&ouml;ten. Die Notwendigkeit der Handlung des Gerichts als einer
Selbstverteidigung ergibt sich aus antagonistischen Interessen. Was
den Staat angeht, so beschr&auml;nkt er sich in Friedenszeiten auf
vereinzelte F&auml;lle des legalisierten Mords, um in Kriegszeiten das &raquo;bindende&laquo; Gebot: &raquo;Du sollst nicht t&ouml;ten&laquo; in sein Gegenteil zu
verwandeln. Die &raquo;humansten&laquo; Regierungen, die in Friedenszeiten den
Krieg &raquo;verabscheuen&laquo;, erkl&auml;ren w&auml;hrend des Krieges die Ausrottung
einer gr&ouml;&szlig;tm&ouml;glichen Zahl von Menschen zur h&ouml;chsten Pflicht ihrer
Armeen.
<p>
Die sogenannten &raquo;allgemein anerkannten&laquo; Moralvorschriften haben im
Wesen der Sache einen algebraischen, d.h. unbestimmten Charakter. Sie
dr&uuml;cken nur die Tatsache aus, da&szlig; der Mensch in seinem individuellen
Benehmen durch eine gewisse Anzahl allgemeiner Normen gebunden ist,
die sich aus seiner Existenz als Mitglied der Gesellschaft ergeben.
Die h&ouml;chste Verallgemeinerung dieser Normen ist der kategorische
Imperativ von Kant. Aber trotz der Tatsache, da&szlig; dieser Imperativ
einen hohen Rang im philosophischen Olymp einnimmt, enth&auml;lt er nichts
Kategorisches, weil er nichts Konkretes enth&auml;lt. Er ist eine Schale
ohne Kern.
<p>
Diese Leere in den f&uuml;r alle bindenden Vorschriften ergibt sich aus
der Tatsache, da&szlig; die Menschen in allen entscheidenden Fragen ihre
Klassenzugeh&ouml;rigkeit bedeutend tiefer und direkter empfinden als ihre
Zugeh&ouml;rigkeit zur &raquo;Gesellschaft&laquo;. Die &raquo;bindenden&laquo; Moralvorschriften
besitzen in Wirklichkeit Klasseninhalt. Das hei&szlig;t einen
antagonistischen Inhalt. Die sittliche Norm wird um so kategorischer,
je weniger sie f&uuml;r alle bindend ist. Die Solidarit&auml;t der Arbeiter, im
besonderen der Streikenden oder Barrikadenk&auml;mpfer, ist unvergleichlich &raquo;kategorischer&laquo; als die menschliche Solidarit&auml;t im allgemeinen.
<p>
Die Bourgeoisie, die das Proletariat an Vollst&auml;ndigkeit und
Unvers&ouml;hnlichkeit des Klassenbewu&szlig;tseins bei weitem &uuml;bertrifft, hat
ein Lebensinteresse daran, ihre Moralphilosophie den ausgebeuteten
Massen aufzuzwingen. Eben zu diesem Zweck werden die konkreten
Vorschriften des b&uuml;rgerlichen Katechismus hinter moralischen
Abstraktionen versteckt, die dem Patronat von Religion, Philosophie
oder von jenem Bastard, den man &raquo;gesunden Menschenverstand&laquo; nennt,
unterstellt werden. Der Appell an abstrakte Normen ist kein
uneigenn&uuml;tziger philosophischer Fehler, sondern ein notwendiges
Element in der Mechanik des Klassenbetrugs. Die Entlarvung dieses
Betrugs, der &uuml;ber eine vieltausendj&auml;hrige Tradition verf&uuml;gt, geh&ouml;rt
zur obersten Pflicht des proletarischen Revolution&auml;rs.
<p>
<h3>Die Krise der Demokratischen Moral</h3>
<P>Um den Sieg ihrer Interessen in gro&szlig;en Fragen zu sichern, sind die
herrschenden Klassen bereit, in zweitrangigen Fragen Konzessionen zu
machen, nat&uuml;rlich nur so lange, wie sich diese Konzessionen mit der
Buchf&uuml;hrung vertragen. In der Epoche des kapitalistischen Aufschwungs,
besonders in den letzten Jahrzehnten vor dem Weltkrieg, waren diese
Konzessionen durchaus real, zum mindesten in Bezug auf die oberen
Schichten des Proletariats. Die Industrie dehnte sich zu dieser Zeit
fast ununterbrochen aus. Der Reichtum der zivilisierten Nationen und
teilweise auch der arbeitenden Massen wuchs an. Die Demokratie schien
gesichert. Die Arbeiterorganisationen wuchsen. Gleichzeitig vertieften
sich die reformistischen Tendenzen. Die Beziehungen zwischen den
Klassen nahmen, wenigstens &auml;u&szlig;erlich, an Spannung ab. So entstanden
parallel mit den Normen der Demokratie und den Gewohnheiten der
Klassenzusammenarbeit gewisse elementare Moralvorschriften in den
Gesellschaftsbeziehungen. Der Eindruck einer stets freier, gerechter
und menschlicher werdenden Gesellschaft wurde geschaffen. Die
aufsteigende Linie des Fortschritts schien dem &raquo;gesunden
Menschenverstand&laquo; unendlich.
<p>
Stattdessen brach jedoch der Krieg aus mit seinem Gefolge von
Ersch&uuml;tterungen, Krisen, Katastrophen, Epidemien und Bestialit&auml;ten.
Das Wirtschaftsleben der Menschheit geriet in eine Sackgasse. Die
Klassengegens&auml;tze traten scharf und nackt hervor. Die
Sicherheitsventile der Demokratie begannen eins nach dem anderen zu
explodieren. Die elementaren Moralvorschriften erwiesen sich gar noch
zerbrechlicher als die demokratischen Einrichtungen und die
reformistischen Illusionen. L&uuml;genhaftigkeit, Verleumdung, Bestechung,
K&auml;uflichkeit, Zwang und Mord nahmen ungeahnte Ausma&szlig;e an. Dem
verdutzten Einfaltspinsel erschienen alle diese Laster als ein
vor&uuml;bergehendes Resultat des Krieges. In Wirklichkeit handelt es sich
um Erscheinungen des imperialistischen Niedergangs. Der Verfall des
Kapitalismus bestimmt den Verfall der heutigen Gesellschaft mit ihrem
Recht und ihrer Moral.
<p>
Die &raquo;Synthese&laquo; der imperialistischen Sch&auml;ndlichkeit ist der
Faschismus, das direkte Resultat des Bankerotts der b&uuml;rgerlichen
Demokratie angesichts der Aufgaben der imperialistischen Epoche.
Rudimente der Demokratie existieren nur noch in den reichen
kapitalistischen Aristokratien: Auf jeden &raquo;Demokraten&laquo; in England,
Frankreich, Holland und Belgien kommt eine bestimmte Anzahl von
Kolonialsklaven: &raquo;60 Familien&laquo; beherrschen die Demokratie der
Vereinigten Staaten, und so weiter. &Uuml;berdies befinden sich
faschistische Sch&ouml;&szlig;linge in allen Demokratien in raschem Wachstum. Der
Stalinismus ist einerseits das Produkt des imperialistischen Drucks
auf einen r&uuml;ckst&auml;ndigen und isolierten Arbeiterstaat, der auf seine
Art ein symmetrisches Komplement zum Faschismus darstellt. W&auml;hrend
idealistische Philister - die Anarchisten nat&uuml;rlich immer an der
Spitze - in ihrer Presse unerm&uuml;dlich die marxistische &raquo;Amoral&laquo; entlarven, geben die amerikanischen Trusts, nach Angabe von John L.
Lewis (C.I.0.), nicht weniger als 80 Millionen Dollar im Jahr f&uuml;r den
praktischen Kampf gegen die revolution&auml;re &raquo;Demoralisierung&laquo; aus, d.h.
f&uuml;r Spionage, Bestechung von Arbeitern, Justizverbrechen und heimliche
Morde. Der kategorische Imperativ w&auml;hlt bisweilen Umwege, um zum Sieg
zu gelangen! Der Gerechtigkeit halber wollen wir zugeben, da&szlig; die
ehrlichsten und gleichzeitig beschr&auml;nktesten kleinb&uuml;rgerlichen
Moralisten selbst heute noch in der idealisierten Erinnerung an die
Vergangenheit und in der Hoffnung auf ihre R&uuml;ckkehr leben. Sie
verstehen nicht, da&szlig; die Moral eine Funktion des Klassenkampfes ist,
da&szlig; die demokratische Moral der Epoche des liberalen und
fortschrittlichen Kapitalismus entspricht, da&szlig; die Zuspitzung des
Klassenkampfes, der seine letzte Phase durchl&auml;uft, diese Moral
endg&uuml;ltig und unwiderruflich zerst&ouml;rt hat, da&szlig; an ihre Stelle
einerseits die Moral des Faschismus, andererseits die Moral der
proletarischen Revolution trat.
<p>
<h3>&raquo;Der gesunde Menschenverstand&laquo;</h3>
<P>Die Demokratie und die &raquo;allgemein anerkannte&laquo; Moral sind nicht die
alleinigen Opfer des Imperialismus. Der dritte leidende M&auml;rtyrer ist
der &raquo;universale&laquo; gesunde Menschenverstand. Diese niedrigste Form des
Intellekts ist nicht nur unter allen Umst&auml;nden absolut erforderlich,
sondern unter gewissen Umst&auml;nden auch ausreichend. Das grundlegende
Kapital des gesunden Menschenverstandes besteht aus den elementaren
Schl&uuml;ssen der allgemeinen Erfahrung: man soll seine Finger nicht ins
Feuer stecken, m&ouml;glichst eine gerade Linie einschlagen, keinen
bissigen Hund reizen... und so weiter und so fort. In einem stabilen
sozialen Milieu reicht der gesunde Menschenverstand aus, um Gesch&auml;fte
zu machen, Kranke zu heilen, Artikel zu schreiben, Gewerkschaften zu
leiten, im Parlament abzustimmen, sich zu verheiraten und die Rasse zu
erneuern. Aber wenn derselbe gesunde Menschenverstand versucht, die
ihm gesetzten Grenzen zu &uuml;berschreiten, und die Ebene komplexer
Verallgemeinerung betritt, erweist er sich als eine Anh&auml;ufung von
Vorurteilen einer bestimmten Klasse und einer bestimmten Epoche. Schon
eine gew&ouml;hnliche kapitalistische Krise bringt den gesunden
Menschenverstand in eine Sackgasse; und gegen&uuml;ber solchen Katastrophen
wie Revolution, Konterrevolution und Krieg entlarvt sich der gesunde
Menschenverstand als vollkommener Narr. Um die katastrophalen
St&ouml;rungen des &raquo;normalen&laquo; Ablaufs der Dinge zu erfassen, ist jene
h&ouml;here Qualit&auml;t des lntellekts erforderlich, die bisher ihren
philosophischen Ausdruck nur im dialektischen Materialismus gefunden
hat.
<p>
Max Eastman, der mit Erfolg versucht, den &raquo;gesunden
Menschenverstand&laquo; mit einem &auml;u&szlig;erst anziehenden literarischen Stil
auszustatten, hat den Kampf gegen die Dialektik zu nichts weniger als
seinem Beruf gemacht. Eastman h&auml;lt ernsthaft die Verkupplung der
konservativen Banalit&auml;ten des gesunden Menschenverstandes mit gutem
Stil f&uuml;r &raquo;die Wissenschaft der Revolution&laquo;. Indem er die reaktion&auml;ren
Snobs des Common Sense unterst&uuml;tzt, offenbart er der Menschheit mit
unnachahmlicher Sicherheit: h&auml;tte Trotzki sich statt von der
marxistischen Doktrin vom gesunden Menschenverstand leiten lassen, er
w&uuml;rde ... die Macht nicht verloren haben. Jene innere Dialektik, die
bisher in der unvermeidlichen Aufeinanderfolge bestimmter Stadien in
allen Revolutionen aufgetreten ist, existiert f&uuml;r Eastman nicht. F&uuml;r
ihn erkl&auml;rt sich die Abl&ouml;sung der Revolution durch die Reaktion durch
ungen&uuml;genden Respekt vor dem gesunden Menschenverstand. Eastman
versteht nicht, da&szlig; es gerade Stalin war, der historisch gesehen dem
gesunden Menschenverstand, d.h. dessen Unzul&auml;nglichkeit, zum Opfer
fiel, weil die von ihm ausge&uuml;bte Macht dem Bolschewismus feindlichen
Zielen dient. Andererseits erlaubte uns die marxistische Doktrin, uns
rechtzeitig von der thermidorianischen B&uuml;rokratie zu trennen und
weiterhin den Zielen des internationalen Sozialismus zu dienen.
<p>
Jede Wissenschaft, und in diesem Sinne also auch die &raquo;Wissenschaft
der Revolution&laquo;, wird durch die Erfahrung gepr&uuml;ft. Da Eastman so gut
wei&szlig;, wie man die revolution&auml;re Macht unter der Bedingung der
Weltreaktion beh&auml;lt, wei&szlig; er hoffentlich auch, wie man die Macht
erobert. Es w&auml;re sehr zu w&uuml;nschen, da&szlig; er endlich seine Geheimnisse
enth&uuml;llt. Am besten w&uuml;rde er dies in der Form eines Programmentwurfs
f&uuml;r eine revolution&auml;re Partei tun unter dem Titel: Wie erobern und
behalten wir die Macht? Wir f&uuml;rchten jedoch, da&szlig; gerade der gesunde
Menschenverstand Eastman von solch einem gef&auml;hrlichen Unternehmen
abhalten wird. Und in diesem Falle m&uuml;ssen wir dem gesunden
Menschenverstand Recht geben.
<p>
Die marxistische Doktrin, die Eastman leider niemals verstand,
gestattete uns vorauszusehen, da&szlig; unter gewissen historischen
Umst&auml;nden der Sowjetthermidor mit einem ganzen Gefolge von Verbrechen
unvermeidlich war. Dieselbe Doktrin hat seit langem den Niedergang der
b&uuml;rgerlichen Demokratie und ihrer Moral vorausgesagt. Die Doktrin&auml;re
des &raquo;gesunden Menschenverstands&laquo; dagegen wurden von Faschismus und
Stalinismus &uuml;berrumpelt. Der gesunde Menschenverstand arbeitet mit
unver&auml;nderlichen Gr&ouml;&szlig;en in einer Welt, wo nur die Ver&auml;nderung
best&auml;ndig ist. Die Dialektik dagegen begreift alle Erscheinungen,
Einrichtungen und Normen in ihrem Entstehen, Bestehen und Vergehen.
Die dialektische Auffassung der Moral als eines abh&auml;ngigen und
verg&auml;nglichen Produktes des Klassenkampfes erscheint dem gesunden
Menschenverstand als &raquo;amoralische&laquo;. Und doch gibt es nichts Flacheres,
Schaleres, Selbstzufriedeneres und Zynischeres als die
Moralvorschriften des gesunden Menschenverstandes!
<p>
<h3>Die Moralisten der G.P.U.</h3>
<P>Die Moskauer Prozesse gaben Anla&szlig; zu einem Kreuzzug gegen die &raquo;Amoral&laquo; des Bolschewismus. Dieser Kreuzzug begann jedoch keineswegs
sofort. Die Wahrheit ist, da&szlig; die Moralisten in ihrer Mehrzahl die
direkten oder indirekten Freunde des Kremls waren. Als solche
versuchten sie lange, ihre Best&uuml;rzung zu verstecken, und taten gar,
als ob nichts Ungew&ouml;hnliches geschehen sei. Und doch waren die
Moskauer Prozesse alles andere als ein Zufall. Servile
Unterw&uuml;rfigkeit, Heuchelei, der offizielle Kult der L&uuml;ge, Bestechung
und andere Formen der Korruption begannen bereits in den Jahren 1924-
25 offensichtlich in Moskau aufzubl&uuml;hen. Die zuk&uuml;nftigen
Justizverbrechen wurden offen vor den Augen der ganzen Welt
vorbereitet. Es fehlte nicht an Warnungen. Die &raquo;Freunde&laquo; zogen jedoch
vor, nichts zu sehen. Kein Wunder: die Mehrzahl dieser Herren stand
seinerzeit der Oktoberrevolution in unvers&ouml;hnlicher Feindschaft
gegen&uuml;ber und vers&ouml;hnte sich erst mit der Sowjetunion in dem Ma&szlig;e, wie
ihre thermidorianische Entartung fortschritt: die kleinb&uuml;rgerlichen
Demokraten des Westens erkannten in den kleinb&uuml;rgerlichen Demokraten
des Ostens verwandte Seelen.
<p>
Glaubten diese Leute wirklich an die Moskauer Beschuldigungen? Nur
die Allerbeschr&auml;nktesten. Die anderen wollten sich nur durch
Aufdeckung der Wahrheit aus der Ruhe bringen lassen. Ist es
vern&uuml;nftig, auf die schmeichelhafte, bequeme und oft gut bezahlte
Freundschaft mit den Sowjetgesandtschaften zu verzichten? &Uuml;berdies -
oh, das verga&szlig;en sie nicht! - kann die indiskrete Wahrheit dem
Prestige der Sowjetunion schaden. Diese Leute deckten die Verbrechen
auf Grund von zweckm&auml;&szlig;igen Betrachtungen, d.h. sie wandten bedenkenlos
das Prinzip an: Der Zweck heiligt die Mittel.
<p>
Der Kronanwalt Pritt, der gerade zur rechten Zeit der
stalinistischen Themis unter den Rock blicken durfte und dort alles in
Ordnung fand, &uuml;bernahm die schamlose Initiative. Romain Rolland dessen
moralische Autorit&auml;t vom Staatsverlag der Sowjetunion hoch taxiert
wird, beeilte sich, eins seiner Manifeste loszulassen, in denen sich
melancholische Lyrik mit senilem Zynismus vereint. Die franz&ouml;sische
Liga f&uuml;r Menschenrechte, die 1917 &uuml;ber &raquo;die Amoral Lenins und
Trotzkis&laquo; wetterte, als diese das Milit&auml;rb&uuml;ndnis mit Frankreich
brachen, z&ouml;gerte nicht, Stalins Verbrechen im Jahre 1936 im Interesse
des franz&ouml;sisch-russischen Abkommens zu decken. Ein patriotischer
Zweck heiligt bekanntlich jedes Mittel. Die amerikanischen
Zeitschriften 'The Nation' und 'The New Republic' schlossen vor
Jagodas Taten die Augen, da ihre &raquo;Freundschaft&laquo; mit der Sowjetunion
ihre eigene Autorit&auml;t garantierte. Noch vor kaum einem Jahr waren
diese Herren keineswegs der Ansicht, Stalinismus und Trotzkismus seien
ein und dasselbe. Sie erkl&auml;rten sich offen f&uuml;r Stalin, f&uuml;r seine
Realpolitik, f&uuml;r seine Gerichtsbarkeit und f&uuml;r seinen Jagoda. An diese
Position klammerten sie sich, solange es ging.
<p>
Bis zum Augenblick der Hinrichtung Tuchatschewskis, Jakirs und der
anderen beobachtete die Gro&szlig;bourgeoisie der demokratischen L&auml;nder
nicht ohne Vergn&uuml;gen, wenn auch mit einer Mischung Unbehagen, die
Hinrichtung der Revolution&auml;re in der Sowjetunion. In diesem Sinne
entsprachen 'The Nation' und 'The New Republic', von Duranty, Louis
Fischer und dergleichen Prostituierten der Feder gar nicht zu reden,
voll und ganz den Interessen des &raquo;demokratischen&laquo; Imperialismus. Die
Hinrichtung der Gener&auml;le beunruhigte die Bourgeoisie und zwang sie zu
verstehen, da&szlig; die fortschreitende Zersetzung des stalinistischen
Apparats Hitler, Mussolini und dem Mikado die Aufgabe erleichtert. Die
'New York Times' begann vorsichtig, aber hartn&auml;ckig, ihren eigenen
Duranty zu korrigieren. Die Pariser 'Temps' stellte einige Spalten zur
Verf&uuml;gung, um Licht auf die Lage in der Sowjetunion zu werfen. Die
kleinb&uuml;rgerlichen Moralisten und Sykophanten waren schon von jeher
nichts anderes als das dienstfertige Echo der Kapitalistenklasse.
Au&szlig;erdem wurde es nach der Urteilsverk&uuml;ndung der Internationalen
Untersuchungskommission unter dem Vorsitz von John Dewey f&uuml;r jeden
Menschen mit auch nur einer Spur von Denkverm&ouml;gen klar, da&szlig; die
weitere offene Verteidigung der G.P.U. mit der Gefahr des politischen
und moralischen Todes gleichbedeutend war. Erst in diesem Augenblick
entschlossen sich die &raquo;Freunde&laquo;, die ewigen moralischen Wahrheiten auf
Gottes sch&ouml;ner Erde einzuf&uuml;hren, d.h. sich in die zweite
Sch&uuml;tzengrabenlinie zur&uuml;ckzuziehen.
<p>
Nicht den letzten Platz unter den Moralisten nehmen erschrockene
Stalinisten und Halb-Stalinisten ein. Eugene Lyons lebte Jahre
hindurch mit der thermidorianischen Clique im sch&ouml;nsten Einvernehmen
und f&uuml;hlte sich beinahe selbst als Bolschewik. Als er sich - aus
welchem Grunde ist uns gleichg&uuml;ltig - vom Kreml zur&uuml;ckzog, schwebte er
nat&uuml;rlich sofort in den Wolken des Idealismus. Liston Hook erfreute
sich bis vor kurzem eines solchen Vertrauens von Seiten der Komintern,
da&szlig; sie ihn mit der F&uuml;hrung der englischsprachlichen Propaganda f&uuml;r
das republikanische Spanien beauftragte. Das hinderte ihn nat&uuml;rlich
nicht daran, sobald er einmal seinen Posten aufgegeben hatte,
gleichzeitig das marxistische ABC aufzugeben. Der heimatlose Walter
Kriwitzki schlo&szlig; sich nach seinem Bruch mit der G.P.U. ohne Umschweife
der b&uuml;rgerlichen Demokratie an. Augenscheinlich ist dies auch die
Metamorphose des hochbejahrten Charles Rappoport. Leute dieses
Schlages - und sie sind zahlreich - suchen, nachdem sie den
Stalinismus &uuml;ber Bord geworfen haben, in den Postulaten der abstrakten
Sittenlehre eine Entsch&auml;digung f&uuml;r die von ihnen erlebten
Entt&auml;uschungen und die ihren Idealen zugef&uuml;gten Erniedrigungen. Fragt
sie: &raquo;Warum habt ihr das Lager der Komintern oder der G.P.U. mit dem
der Bourgeoisie vertauscht?&laquo; Ihre Antwort ist bereit: &raquo;Der Trotzkismus
ist nicht besser als der Stalinismus&laquo;.
<p>
<h3>Die Anordnung der politischen Schachfiguren</h3>
<P>&raquo;Trotzkismus ist revolution&auml;re Romantik; Stalinismus - Realpolitik.&laquo;
Von dieser banalen Gegen&uuml;berstellung, mit der der durchschnittliche
Philister bis gestern seine Freundschaft mit dem Thermidor gegen die
Revolution rechtfertigte, bleibt heute auch nicht die Spur zur&uuml;ck.
Trotzkismus und Stalinismus werden &uuml;berhaupt nicht mehr einander
gegen&uuml;bergestellt, sondern miteinander identifiziert. Sie werden
jedoch nur der Form, nicht dem Wesen nach miteinander identifiziert.
Nachdem sich die Demokraten auf den Meridian des &raquo;kategorischen
Imperativs&laquo; zur&uuml;ckgezogen haben, fahren sie in Wirklichkeit fort, die
G.P.U. zu verteidigen, nur auf eine verstecktere und perfidere Art.
Wer das Opfer verleumdet, hilft dem Henker. Hier wie sonst dient die
Moral der Politik.
<p>
Der demokratische Philister und der stalinistische B&uuml;rokrat sind,
wenn nicht gerade Zwillinge, so doch Br&uuml;der im Geiste. Jedenfalls
geh&ouml;ren sie dem gleichen politischen Lager an. Das gegenw&auml;rtige
Regierungssystem in Frankreich und - wenn wir die Anarchisten
hinzurechnen - in Spanien hat die Zusammenarbeit von Stalinisten,
Sozialdemokraten und Liberalen zur Grundlage. Die britische
Unabh&auml;ngige Arbeiterpartei sieht nur deshalb so mitgenommen aus, weil
sie sich eine Reihe von Jahren hindurch der Umarmung durch die
Komintern nicht entzogen hat. Die franz&ouml;sische Sozialistische Partei
schlo&szlig; die Trotzkisten gerade zu der Zeit aus ihren Reihen aus, als
sie die Verschmelzung mit den Stalinisten vorbereitete. Wenn die
Verschmelzung bisher nicht zustande kam, so nicht wegen prinzipieller
Meinungsverschiedenheiten - welche bleiben noch &uuml;brig? - sondern weil
die sozialdemokratischen Karrieristen f&uuml;r ihre Posten f&uuml;rchteten.
Norman Thomas erkl&auml;rte nach seiner R&uuml;ckkehr aus Spanien, da&szlig; die
Trotzkisten &raquo;objektiv&laquo; Franco helfen, und mit dieser subjektiven
Absurdit&auml;t leistete er den G.P.U.-Henkern einen objektiven Dienst.
Dieser Gerechte schlo&szlig; die amerikanischen &raquo;Trotzkisten&laquo; genau zu dem
Zeitpunkt aus seiner Partei aus, als die G.P.U. deren
Gesinnungsgenossen in der Sowjetunion und in Spanien niedermachte.
Trotz ihrer &raquo;Amoral&laquo; sind die Stalinisten in vielen demokratischen
L&auml;ndern mit Erfolg in den Regierungsapparat eingedrungen. In den
Gewerkschaften leben sie im besten Einvernehmen mit B&uuml;rokraten anderer
Schattierungen. Zwar nehmen die Stalinisten eine &auml;u&szlig;erst leichtfertige
Haltung gegen&uuml;ber dem Strafgesetzbuch ein und schrecken dadurch ihre &raquo;demokratischen&laquo; Freunde in friedlichen Zeiten ab; aber unter
au&szlig;erordentlichen Umst&auml;nden werden sie um so sicherer die F&uuml;hrer der
Kleinbourgeoisie gegen das Proletariat, wie es das spanische Beispiel
zeigt.
<p>
Die Zweite und die Amsterdamer Internationale &uuml;bernahmen nat&uuml;rlich
nicht die Verantwortung f&uuml;r die Justizverbrechen; dies &uuml;berlie&szlig;en sie
der Komintern. Sie selbst verhielten sich ruhig. Privat erkl&auml;rten sie,
da&szlig; sie vom Standpunkt der &raquo;Moral&laquo; gegen Stalin seien, vom Standpunkt
der Politik jedoch - f&uuml;r ihn. Erst als die Volksfront in Frankreich
unheilbare Risse bekam und die Sozialisten sich gezwungen sahen, an
den morgigen Tag zu denken, fand Leon Blum auf dem Boden seines
Tintenfasses die geeignete Formulierung seiner moralischen Entr&uuml;stung.
<p>
Otto Bauer verurteilte schonungsvoll die Wyschinskysche
Rechtsprechung, nur um Stalins Politik mit desto gr&ouml;&szlig;erer &raquo;Unparteilichkeit&laquo; unterst&uuml;tzen zu k&ouml;nnen. Das Schicksal des
Sozialismus, erkl&auml;rte Bauer k&uuml;rzlich, ist mit dem Schicksal der
Sowjetunion verbunden. &raquo;Und das Schicksal der Sowjetunion&laquo;, f&auml;hrt er
fort, &raquo;ist das Schicksal des Stalinismus, so lange nicht (!) die
innere Entwicklung der Sowjetunion selbst die stalinistische Phase der
Entwicklung &uuml;berwindet&laquo;. In diesem bemerkenswerten Satz spiegelt sich
der ganze Bauer, der ganze Austromarxismus, die ganze Heuchelei und
F&auml;ulnis der Sozialdemokratie! &raquo;So lange&laquo; die stalinistische B&uuml;rokratie
gen&uuml;gend stark ist, die fortschrittlichen Vertreter der &raquo;inneren
Entwicklung&laquo; abzuschlachten, h&auml;lt Bauer mit Stalin. Wenn die
revolution&auml;ren Kr&auml;fte Bauer zum Trotz Stalin st&uuml;rzen, dann wird Bauer
gro&szlig;z&uuml;gig die &raquo;innere Entwicklung&laquo; anerkennen - d.h. mit einer
Versp&auml;tung von wenigstens 10 Jahren.
<p>
Hinter den alten Internationalen zottelt das Londoner B&uuml;ro der
Zentristen einher, welches die Merkmale eines Kindergartens, einer
Schule f&uuml;r geistig zur&uuml;ckgebliebene J&uuml;nglinge und eines Invalidenheims
harmonisch in sich vereint. Der Sekret&auml;r des B&uuml;ros, Fenner Brockway,
begann mit der Erkl&auml;rung, da&szlig; eine Untersuchung der Moskauer Prozesse &raquo;der Sowjetunion schaden&laquo; k&ouml;nne, und schlug stattdessen eine
Untersuchung... der politischen T&auml;tigkeit Trotzkis durch eine &raquo;unparteiische&laquo; Kommission vor, die aus f&uuml;nf unvers&ouml;hnlichen Gegnern
Trotzkis bestehen sollte. Brandler und Lovestone solidarisierten sich
&ouml;ffentlich mit Jagoda, sie zogen sich erst von Jeschow zur&uuml;ck. Jacob
Walcher weigerte sich unter einem offensichtlich falschen Vorwand, vor
der von John Dewey geleiteten Internationalen Untersuchungskommission
eine f&uuml;r Stalin ung&uuml;nstige Zeugenaussage zu machen. Die verfaulte
Moral dieser Leute ist nur ein Produkt ihrer verfaulten Politik.
<p>
Die erb&auml;rmlichste Rolle d&uuml;rften jedoch die Anarchisten spielen. Wenn
Stalinismus und Trotzkismus ein und dasselbe sind, wie sie in jedem
Satz behaupten, weshalb sind dann die spanischen Anarchisten den
Stalinisten dabei behilflich, sich an den Trotzkisten und gleichzeitig
an den revolution&auml;ren Anarchisten zu r&auml;chen? Die ehrlicheren unter den
anarchistischen Theoretikern antworten: damit bezahlen wir die
Waffenlieferungen. Mit anderen Worten: das Ziel heiligt die Mittel.
Aber was ist ihr Ziel? Die Anarchie? Der Sozialismus? Nein, nur die
Rettung eben derselben b&uuml;rgerlichen Demokratie, die den Erfolg des
Faschismus vorbereitete. Niedrigen Zielen entsprechen niedrige Mittel.
Das ist die wirkliche Stellung der Figuren auf dem politischen
Schachbrett der Welt!
<p>
<h3>Der Stalinismus - ein Produkt der alten Gesellschaft</h3>
<P>Ru&szlig;land machte den grandiosesten Sprung vorw&auml;rts in der Geschichte,
einen Sprung, in dem die fortschrittlichen Kr&auml;fte des Landes ihren
Ausdruck fanden. In der gegenw&auml;rtigen Reaktion, deren Schwung dem der
Revolution proportional ist, nimmt die R&uuml;ckst&auml;ndigkeit ihre Rache. Der
Stalinismus verk&ouml;rpert diese Reaktion. Die Barbarei der alten
russischen Gesellschaft auf neuen sozialen Grundlagen erscheint um so
ekelhafter, als sie gezwungen ist sich hinter einer in der Geschichte
beispiellosen Heuchelei zu verstecken.
<p>
Die Liberalen und Sozialdemokraten des Westens, die die russische
Revolution gezwungen hatte an ihren vermoderten Ideen zu zweifeln,
bekamen nunmehr neuen Mut. Das moralische Krebsgeschw&uuml;r der
stalinistischen B&uuml;rokratie schien ihnen eine Wiederherstellung des
Liberalismus zu sein. Stereotype Spr&uuml;chlein werden ans Tageslicht
gezogen: &raquo;Jede Diktatur enth&auml;lt den Keim ihrer eigenen Entartung&laquo;, &raquo;nur die Demokratie garantiert die Entwicklung der Pers&ouml;nlichkeit&laquo;,
und so weiter. Vom theoretischen Standpunkt gesehen verbl&uuml;fft einen
die Gegen&uuml;berstellung von Demokratie und Diktatur, die im gegebenen
Fall eine Verurteilung des Sozialismus zu Gunsten der b&uuml;rgerlichen
Demokratie einschlie&szlig;t, durch ihren Grad an Unwissenheit und
Gewissenlosigkeit. Die Schande des Stalinismus, eine historische
Realit&auml;t, wird der Demokratie, einer suprahistorischen Abstraktion,
gegen&uuml;bergestellt. Jedoch besitzt die Demokratie ebenfalls ihre
Geschichte, in der es nicht an Sch&auml;ndlichkeiten fehlt. Um die
Sowjetb&uuml;rokratie zu charakterisieren, haben wir die Bezeichnungen
Thermidor und Bonapartismus der Geschichte der b&uuml;rgerlichen Demokratie
entlehnt, weil - m&ouml;gen die versp&auml;teten liberalen Doktrin&auml;re dies zur
Kenntnis nehmen, - die Demokratie keineswegs auf demokratischem Weg
zur Welt gekommen ist. Nur ein vulg&auml;rer Geist kann sich damit
begn&uuml;gen, auf dem Thema herumzukauen, da&szlig; der Bonapartismus &raquo;der
nat&uuml;rliche Spr&ouml;&szlig;ling&laquo; des Jakobinertums war, die historische Strafe
f&uuml;r die Verletzung der Demokratie und &auml;hnliches mehr. Ohne die
jakobinische Vergeltung am Feudalismus w&auml;re die Entstehung der
b&uuml;rgerlichen Demokratie absolut undenkbar. Die Konstruktion eines
Gegensatzes zwischen den konkreten historischen Etappen des
Jakobinertums, des Thermidors und Bonapartismus und der idealisierten
Abstraktion der &raquo;Demokratie&laquo; ist ebenso fehlerhaft wie die
Konstruktion eines Gegensatzes zwischen den Geburtswehen und dem
lebendigen Kind.
<p>
Der Stalinismus ist seinerseits keine Abstraktion der &raquo;Diktatur&laquo;,
sondern die ungeheure b&uuml;rokratische Reaktion gegen die proletarische
Diktatur in einem r&uuml;ckst&auml;ndigen und isolierten Land. Die
Oktoberrevolution vernichtete die Privilegien, f&uuml;hrte Krieg gegen die
soziale Ungleichheit, ersetzte die B&uuml;rokratie durch die
Selbstverwaltung der Arbeiter, schaffte die Geheimdiplomatie ab,
erstrebte die v&ouml;llige Durchsichtigkeit aller sozialen Verh&auml;ltnisse.
Der Stalinismus f&uuml;hrte die widerw&auml;rtigsten Privilegien wieder ein,
verlieh der Ungleichheit einen provokatorischen Charakter, erstickte
die Selbstt&auml;tigkeit der Massen in einem Polizeiabsolutismus, machte
aus der Verwaltung ein Monopol f&uuml;r die Kremloligarchie und erneuerte
den Machtfetischismus in einer Art und Weise, wie es sich die absolute
Monarchie nicht h&auml;tte tr&auml;umen lassen.
<p>
Die soziale Reaktion ist, wo immer sie auftritt, gezwungen, ihre
wahren Ziele zu verstecken. Je sch&auml;rfer der &Uuml;bergang von der
Revolution zur Reaktion, je abh&auml;ngiger die Reaktion von den
Traditionen der Revolution, d.h. je gr&ouml;&szlig;er ihre Furcht vor den Massen
- desto mehr ist sie gezwungen, im Kampf gegen die Vertreter der
Revolution zu L&uuml;ge und F&auml;lschung zu greifen. Die stalinistischen
Justizmorde sind kein Ergebnis der bolschewistischen &raquo;Amoral&laquo;. Wie
alle bedeutenden Ereignisse in der Geschichte sind sie ein Produkt des
konkreten sozialen Kampfes, und zwar des perfidesten und erbittertsten
von allen: des Kampfes einer neuen Aristokratie gegen die Massen, die
sie zur Macht brachten.
<p>
Es erfordert wirklich eine bodenlose intellektuelle und moralische
Stumpfheit, die reaktion&auml;re Polizeimoral des Stalinismus mit der
revolution&auml;ren Moral der Bolschewiken zu identifizieren. Die Partei
Lenins hat seit langem aufgeh&ouml;rt zu existieren - sie wurde zwischen
inneren Schwierigkeiten und dem Weltimperialismus zerrieben. An ihrer
Stelle erhob sich die stalinistische B&uuml;rokratie, dieser
&Uuml;bertragungsmechanismus des Imperialismus. Die B&uuml;rokratie ersetzte im
Weltma&szlig;stab den Klassenkampf durch die Klassenzusammenarbeit, den
Internationalismus durch den Sozialpatriotismus. Um die herrschende
Partei den Aufgaben der Reaktion anzupassen, &raquo;erneuerte&laquo; die
B&uuml;rokratie ihre Zusammensetzung, indem sie Revolution&auml;re hinrichtete
und Karrieristen rekrutierte.
<p>
Jede Reaktion erneuert, n&auml;hrt und kr&auml;ftigt diejenigen Elemente der
historischen Vergangenheit, denen die Revolution einen Streich
versetzte, ohne sie endg&uuml;ltig &uuml;berwinden zu k&ouml;nnen. Die Methoden des
Stalinismus treiben alle jene Methoden der L&uuml;ge, Brutalit&auml;t und
Gemeinheit, die den Herrschaftsmechanismus einer jeden
Klassengesellschaft, unter Einschlu&szlig; auch der Demokratie, darstellen,
zu ihrer h&ouml;chsten Spannung, zur Kulmination und dadurch zur
Absurdit&auml;t. Der Stalinismus ist nichts als eine Sammlung aller
Ungeheuerlichkeiten des historischen Staates, dessen boshafteste
Karikatur und abscheulichste Grimasse. Wenn die Vertreter der alten
Gesellschaft dem Krebsgeschw&uuml;r des Stalinismus puritanisch eine
sterilisierte demokratische Abstraktion gegen&uuml;berstellen, k&ouml;nnen wir
ihnen, wie der gesamten alten Gesellschaft, mit vollem Recht
empfehlen, sich in dem verzerrten Spiegel des Sowjetthermidors selbst
zu bewundern. Zwar &uuml;bertrifft die G.P.U. in der Nacktheit ihrer
Verbrechen bei weitem alle anderen Herrschaftsformen. Aber das erkl&auml;rt
sich aus dem ungeheuren Ausma&szlig; der Ereignisse, die das vom
verfallenden Weltimperialismus umgebene Ru&szlig;land ersch&uuml;ttern.
<p>
Unter den Liberalen und Radikalen gibt es eine Reihe von Leuten, die
sich die Methode der materialistischen Interpretation der Ereignisse
angeeignet haben und sich selbst f&uuml;r Marxisten halten. Dies hindert
sie jedoch nicht daran, b&uuml;rgerliche Journalisten, Professoren oder
Politiker zu bleiben. Ein Bolschewik, der die materialistische Methode
nicht auch in der Sph&auml;re der Moral anwendet, ist nat&uuml;rlich
unvorstellbar. Aber diese Methode dient ihm nicht allein zur
Interpretation der Ereignisse, sondern in erster Linie zur Schaffung
der revolution&auml;ren Partei des Proletariats. Ohne v&ouml;llige
Unabh&auml;ngigkeit von der Bourgeoisie und ihrer Moral ist diese Aufgabe
unm&ouml;glich zu erf&uuml;llen. Jedoch regiert gegenw&auml;rtig die b&uuml;rgerliche
&ouml;ffentliche Meinung in vollem Ausma&szlig; &uuml;ber die offizielle
Arbeiterbewegung, von William Green in den Vereinigten Staaten &uuml;ber
L&eacute;on Blum und Maurice Thorez in Frankreich bis zu Garcia Oliver in
Spanien. In dieser Tatsache findet der reaktion&auml;re Charakter der
gegenw&auml;rtigen Periode seinen sch&auml;rfsten Ausdruck.
<p>
Ein revolution&auml;rer Marxist kann eine historische Mission nicht
beginnen, ohne moralisch mit der b&uuml;rgerlichen &ouml;ffentlichen Meinung und
deren Agenturen im Proletariat gebrochen zu haben. Hierzu ist
moralischer Mut eines ganz anderen Kalibers erforderlich, als in
Versammlungen den Mund aufzurei&szlig;en und &raquo;Nieder mit Hitler!&laquo;, &raquo;Nieder
mit Franco!&laquo; zu schreien. Eben dieser entschlossene, v&ouml;llig
durchdachte, unbeugsame Bruch der Bolschewiken mit der konservativen
Moralphilosophie versetzt den demokratischen Phrasendreschern,
Salonpropheten und Kaffeehaushelden einen t&ouml;dlichen Schreck. Hieraus
leiten sich ihre Klagen &uuml;ber die &raquo;Amoral&laquo; der Bolschewiken ab. Da&szlig;
diese Leute b&uuml;rgerliche Moral mit Moral &raquo;im allgemeinen&laquo; identifizieren, kann vielleicht am besten auf dem &auml;u&szlig;ersten linken
Fl&uuml;gel der Kleinbourgeoisie, bei den zentristischen Parteien des
sogenannten Londoner B&uuml;ros, nachgewiesen werden. Da diese Organisation
das Programm der proletarischen Revolution anerkennt&laquo;, scheinen unsere
Differenzen mit ihr auf den ersten Blick zweitrangiger Natur. In
Wirklichkeit ist ihre &raquo;Anerkennung&laquo; wertlos, weil sie sie zu nichts
verpflichtet. Sie anerkennen&laquo; die proletarische Revolution, wie die
Kantianer den kategorischen lmperativ anerkennen, d.h. als ein
heiliges Prinzip, das jedoch im t&auml;glichen Leben unanwendbar ist. In
der Sph&auml;re der praktischen Politik vereinigen sie sich mit den
schlimmsten Feinden der Revolution (Reformisten und Stalinisten) zum
Kampf gegen uns. Ihr ganzes Denken ist mit Doppelz&uuml;ngigkeit und L&uuml;ge
durchtr&auml;nkt. Wenn sich die Zentristen im allgemeinen nicht zu gr&ouml;&szlig;eren
Verbrechen aufschwingen, so nur, weil sie ewig auf den Seitenwegen der
Politik verbleiben: sie sind sozusagen kleine Taschendiebe der
Geschichte. Eben deshalb f&uuml;hlen sie sich berufen, die Arbeiterbewegung
mit einer neuen Moral zu regenerieren.
<p>
Auf dem &auml;u&szlig;ersten linken Fl&uuml;gel dieser &raquo;linken&laquo; Br&uuml;derschaft steht
eine kleine und politisch v&ouml;llig bedeutungslose Gruppe deutscher
Emigranten, die das Blatt 'Neuer Weg' herausgeben. La&szlig;t uns tiefer
hinabsteigen und diesen &raquo;revolution&auml;ren&laquo; Ankl&auml;gern der
bolschewistischen &raquo;Amoral&laquo; lauschen. In einem zweideutigen und halb
lobenden Ton erkl&auml;rt der 'Neue Weg', da&szlig; sich die Bolschewiken von den
anderen Parteien durch ihren Verzicht auf Heuchelei vorteilhaft
unterscheiden - sie bekennen sich offen zu dem Prinzip, das andere nur
schweigend anwenden, n&auml;mlich &raquo;Der Zweck heiligt die Mittel&laquo;. Aber nach
der &Uuml;berzeugung des 'Neuen Weg' ist dieser &raquo;b&uuml;rgerliche&laquo; Satz mit
einer &raquo;gesunden sozialistischen Bewegung&laquo; unvereinbar. &raquo;Die L&uuml;ge und
Schlimmeres sind keine erlaubten Kampfmittel, wie Lenin noch annahm&laquo;.
Das Wort &raquo;noch&laquo; bedeutet augenscheinlich, da&szlig; Lenin seine Irrt&uuml;mer nur
deshalb nicht &uuml;berwand, weil er die Entdeckung des Neuen Weg nicht
mehr erlebte.
<p>
In der Formulierung: &raquo;L&uuml;ge und Schlimmeres&laquo; bedeutet &raquo;Schlimmeres&laquo; offenbar Gewalt, Mord und so weiter, da unter gleichen Bedingungen
Gewalt schlimmer ist als L&uuml;ge, und Mord - die extremste Form der
Gewalt. Wir kommen also zu dem Schlu&szlig;, da&szlig; L&uuml;ge, Gewalt und Mord mit
einer &raquo;gesunden sozialistischen Bewegung&laquo; unvereinbar sind. Was ist
jedoch unsere Beziehung zur Revolution? Der B&uuml;rgerkrieg ist der
grausamste aller Kriege. Er ist unter den heutigen Bedingungen der
Technik nicht nur ohne Gewalt gegen Unbeteiligte, sondern selbst ohne
Mord an Greisen und Kindern unvorstellbar. Mu&szlig; man an Spanien
erinnern? Die einzig m&ouml;gliche Antwort der &raquo;Freunde&laquo; des
republikanischen Spanien lautet: B&uuml;rgerkrieg ist besser als
faschistische Sklaverei. Aber diese vollkommen richtige Antwort
bedeutet nur, da&szlig; der Zweck (Demokratie oder Sozialismus) unter
gewissen Bedingungen solche Mittel wie Gewalt und Mord heiligt. Von
L&uuml;gen gar nicht zu reden! Ein Krieg ohne L&uuml;gen ist ebenso
unvorstellbar wie eine Maschine ohne &Ouml;l. Um die Cortessitzung (1.
Februar 1938) vor faschistischen Bomben zu sch&uuml;tzen, belog die
Barcelonaer Regierung sogar mehrmals vors&auml;tzlich die Journalisten und
ihre eigene Bev&ouml;lkerung. H&auml;tte sie &uuml;berhaupt anders handeln k&ouml;nnen?
Wer das Ziel Sieg &uuml;ber Franco, akzeptiert, mu&szlig; auch das Mittel
akzeptieren: den B&uuml;rgerkrieg mit seinem Gefolge von Schrecken und
Verbrechen. Aber nichtsdestoweniger sind doch L&uuml;ge und Gewalt &raquo;an
sich&laquo; zu verurteilen? Selbstverst&auml;ndlich: ebenso wie die
Klassengesellschaft, die sie erzeugt. Eine Gesellschaft ohne soziale
Widerspr&uuml;che wird nat&uuml;rlich eine Gesellschaft ohne L&uuml;ge und Gewalt
sein. Doch kann man zu dieser Gesellschaft nicht anders eine Br&uuml;cke
schlagen, als unter Anwendung von revolution&auml;ren, d.h. gewaltsamen
Mitteln. Die Revolution ist selbst ein Produkt der Klassengesellschaft
und tr&auml;gt notwendigerweise deren Z&uuml;ge. Vom Standpunkt der &raquo;ewigen
Wahrheiten&laquo; ist die Revolution nat&uuml;rlich &raquo;unmoralisch&laquo;. Aber das
besagt nur, da&szlig; die idealistische Moral konterrevolution&auml;r ist, d.h.
im Dienst der Ausbeuter steht.
<p>
&raquo;Der B&uuml;rgerkrieg&laquo;, wird der verdutzte Philosoph vielleicht
antworten, &raquo;ist aber eine beklagenswerte Ausnahme. In Friedenszeiten
sollte jedoch eine gesunde sozialistische Bewegung ohne Gewalt und
L&uuml;gen auskommen k&ouml;nnen&laquo;. Eine derartige Antwort stellt jedoch nur eine
pathetische Ausflucht dar. Es gibt keine un&uuml;berschreitbare Grenzlinie
zwischen &raquo;friedlichem&laquo; Klassenkampf und Revolution. Jeder Streik
enth&auml;lt alle Elemente des B&uuml;rgerkriegs im Keim. Jede Seite versucht,
den Gegner durch eine &uuml;bertriebene Darstellung ihrer
Kampfentschlossenheit und ihrer materiellen Hilfsquellen zu
beeindrucken. Durch ihre Presse, Agenten und Spione tun die
Kapitalisten ihr M&ouml;glichstes, die Streikenden einzusch&uuml;chtern und zu
demoralsieren. Die Streikwachen der Arbeiter sind ihrerseits
gezwungen, wo &Uuml;berzeugung nicht hilft, zur Gewalt zu greifen. So sind &raquo;L&uuml;ge und Schlimmeres&laquo; vom Klassenkampf, selbst in seiner
elementarsten Form, nicht zu trennen. Dem bleibt hinzuzuf&uuml;gen, da&szlig;
selbst die Begriffe von Wahrheit und L&uuml;ge aus sozialen Widerspr&uuml;chen
geboren wurden.
<p>
<h3>Die Revolution und die Einrichtung der Geisel</h3>
<P>Stalin verhaftet und erschie&szlig;t die Kinder seiner Gegner, nachdem
diese Gegner auf Grund falscher Anklagen hingerichtet worden sind.
Diejenigen Sowjetdiplomaten, die sich einen Ausdruck des Zweifels an
der Unfehlbarkeit Jagodas oder Jeshows erlaubten, zwingt Stalin, aus
dem Ausland zur&uuml;ckzukehren, indem er ihre Familien als Geiseln nimmt.
Die Moralisten des 'Neuen Weg' halten es f&uuml;r notwendig und an der
Zeit, uns bei dieser Gelegenheit an die Tatsache zu erinnern, da&szlig;
Trotzki im Jahre 1919 &raquo;ebenfalls&laquo; ein Gesetz &uuml;ber Geiseln einf&uuml;hrte
Aber hier m&uuml;ssen wir w&ouml;rtlich zitieren: &raquo;Die Haftbarmachung
unschuldiger Angeh&ouml;riger durch Stalin ist eine abscheuliche Barbarei.
Sie bleibt es aber auch, wenn sie von Trotzki dekretiert ist (1919).&laquo;
Da haben wir die idealistische Moral in ihrer ganzen Sch&ouml;nheit! Ihre
Kriterien sind so falsch wie die Normen der b&uuml;rgerlichen Demokratie -
in beiden F&auml;llen wird Gleichheit dort vorausgesetzt, wo es in
Wirklichkeit nicht die Spur davon gibt.
<p>
Wir wollen hier nicht auf der Tatsache bestehen, da&szlig; das Dekret von
1919 kaum zu einer einzigen Hinrichtung von Angeh&ouml;rigen jener
Offiziere f&uuml;hrte, deren Verrat nicht nur den Verlust unz&auml;hliger
Menschenleben verursachte, sondern die Revolution selbst mit direkter
Vernichtung bedrohte. Das ist letzten Endes nicht die Frage. Wenn die
Revolution von Anfang an weniger &uuml;berfl&uuml;ssige Gro&szlig;mut entfaltet h&auml;tte,
w&auml;ren Hunderttausende von Menschenleben gespart worden. So oder so
trage ich die volle Verantwortung f&uuml;r das Dekret von 1919. Es war eine
notwendige Ma&szlig;nahme im Kampf gegen die Unterdr&uuml;cker. Nur im
historischen Inhalt des Kampfes liegt die Rechtfertigung des Dekrets
wie im allgemeinen die Rechtfertigung des B&uuml;rgerkriegs, der ebenfalls
nicht ohne Berechtigung eine &raquo;abscheuliche Barbarei&laquo; genannt werden
kann.
<p>
Wir &uuml;berlassen es einem Emil Ludwig oder seinesgleichen, das
Portrait Abraham Lincolns mit rosigen Fl&uuml;gelchen an den Schultern zu
zeichnen. Lincolns Bedeutung liegt darin, da&szlig; er vor den sch&auml;rfsten
Mitteln nicht zur&uuml;ckschreckte, sobald er sie zur Erreichung des gro&szlig;en
historischen Ziels, das der jungen Nation von der Entwicklung gesteckt
wurde, notwendig erachtete. Die Frage geht nicht einmal darum, welches
der beiden kriegf&uuml;hrenden Lager die gr&ouml;&szlig;te Zahl von Opfern erlitt oder
verursachte. Die Geschichte hat verschiedene Ma&szlig;st&auml;be f&uuml;r die
Grausamkeit der Nordtruppen und der S&uuml;dtruppen im B&uuml;rgerkrieg. M&ouml;gen
ver&auml;chtliche Eunuchen nicht erz&auml;hlen, der Sklavenbesitzer, der durch
List und Gewalt den Sklaven in Ketten h&auml;lt, und der Sklave, der durch
List oder Gewalt die Ketten zerbricht, seien vor dem Gericht der Moral
gleich!
<p>
Nachdem die Pariser Kommune in Blut ertr&auml;nkt worden war und das
reaktion&auml;re Gesindel der ganzen Welt deren Banner in den Kot der
Schm&auml;hungen und Verleumdungen zog, pa&szlig;ten sich nicht wenige
demokratische Philister der Reaktion an und beschimpften die
Kommunarden wegen der Erschie&szlig;ung von 64 Geiseln mit dem Pariser
Erzbischof an der Spitze. Marx z&ouml;gerte keinen Augenblick, diese
Bluttat der Kommune zu verteidigen. In einer Adresse des Generalrats
der Ersten Internationale, in deren Zeilen man echte brodelnde Lava
versp&uuml;rt, ruft uns Marx zuerst ins Ged&auml;chtnis, da&szlig; die Bourgeoisie im
Kampfe sowohl gegen die Kolonialv&ouml;lker wie gegen die eigenen
arbeitenden Massen Geiseln genommen hat, danach erinnert er an die
systematische Erschie&szlig;ung der gefangenen Kommunek&auml;mpfer durch die
wahnsinnige Reaktion und f&auml;hrt fort: &raquo;...der Kommune blieb nichts
&uuml;brig, zum Schutz des Lebens dieser Gefangenen, als zur preu&szlig;ischen
Sitte des Geiselngreifens ihre Zuflucht zu nehmen. Das Leben der
Geiseln war aber und abermals verwirkt durch das anhaltende Erschie&szlig;en
von Gefangenen durch die Versailler. Wie konnte man ihrer noch l&auml;nger
schonen nach dem Blutbade, womit Mac-Mahons Pr&auml;torianer ihren
Einmarsch in Paris feierten? Sollte auch das letzte Gegengewicht gegen
die r&uuml;cksichtslose Wildheit der Bourgeoisieregierungen die Ergreifung
von Geiseln - zum blo&szlig;en Gesp&ouml;tt werden.&laquo; So verteidigte Marx die
Hinrichtung der Geiseln, trotzdem hinter seinem R&uuml;cken im Generalrat
nicht wenige Fenner Brockways, Norman Thomas und sonstige Otto Bauers
sa&szlig;en. Aber die Emp&ouml;rung des Weltproletariats gegen Greuel der
Versailler war so frisch, da&szlig; die reaktion&auml;ren Moralpfuscher vorzogen
zu schweigen und f&uuml;r sie g&uuml;nstigere Zeiten abzuwarten, die leider
allzubald eintreffen sollten. Erst nach dem endg&uuml;ltigen Triumph der
Reaktion richteten die kleinb&uuml;rgerlichen Moralisten zusammen mit den
Gewerkschaftsb&uuml;rokraten und den anarchistischen Phrasenhelden die
Erste Internationale zu Grunde.
<p>
Als die Oktoberrevolution sich an einer Front von 8000 Kilometern
gegen die vereinten Kr&auml;fte des Imperialismus verteidigte, folgten die
Arbeiter der ganzen Welt dem Verlauf des Kampfes mit solch hei&szlig;er
Sympathie, da&szlig; es mit gro&szlig;em Risiko verbunden war, &raquo;die abscheuliche
Barbarei&laquo; des Geiselngreifens vor ihrem Forum anzuprangern. Die
v&ouml;llige Entartung der Sowjetunion und der Sieg der Reaktion in einer
Reihe von L&auml;ndern mu&szlig;ten eintreffen, ehe die Moralisten aus ihren
Ritzen hervorkrochen ... um Stalin zu helfen. Denn wenn es wahr ist,
da&szlig; die Repressalien zum Schutz der Privilegien der neuen Aristokratie
den gleichen moralischen Wert besitzen wie die revolution&auml;ren
Ma&szlig;nahmen des Befreiungskampfes, dann ist Stalin vollkommen
gerechtfertigt, wenn ... ja wenn nicht die proletarische Revolution
selbst vollkommen gerichtet ist.
<p>
Dabei sind die Herren Moralisten, die Beispiele f&uuml;r Unmoral in der
Geschichte der russischen Revolution suchen, gleichzeitig gezwungen,
ihre Augen vor der Tatsache zu verschlie&szlig;en, da&szlig; auch die spanische
Revolution zum Geiselngreifen ihre Zuflucht nahm, wenigstens solange
sie eine echte Massenrevolution war. Wenn die Herren Ankl&auml;ger es nicht
wagen, die spanischen Arbeiter wegen ihrer &raquo;abscheulichen Barbarei&laquo;
anzugreifen, so nur, weil der Boden der Pyren&auml;enhalbinsel noch zu hei&szlig;
f&uuml;r sie ist. Es ist unvergleichlich bequemer, auf 1919 zur&uuml;ckzugehen.
Das ist bereits Geschichte: die alten Leute haben vergessen, und die
jungen haben noch nicht gelernt. Aus dem gleichen Grunde kehren
Philister verschiedener Schattierungen mit solcher Hartn&auml;ckigkeit zu
Kronstadt und Machno zur&uuml;ck: hier ist ein offener Abzug f&uuml;r
Moralausd&uuml;nstungen!
<p>
<h3>&raquo;Kaffernmoral&laquo;</h3>
<P>Man mu&szlig; den Moralisten schon darin beipflichten, da&szlig; die Geschichte
grausame Wege w&auml;hlt. Aber welche Konklusion f&uuml;r die praktische Arbeit
ist daraus zu ziehen? Leo Tolstoi empfahl, da&szlig; wir die
gesellschaftlichen Konventionen verachten und uns selbst
vervollkommnen sollten. Mahatma Ghandi r&auml;t uns, Ziegenmilch zu
trinken. Die &raquo;revolution&auml;ren&laquo; Moralisten des 'Neuen Weg' sind leider
von &auml;hnlichen Rezepten nicht weit entfernt. &raquo;Wir m&uuml;ssen loskommen von
jener Kaffernmoral&laquo;, predigen sie, &raquo;f&uuml;r die Unrecht nur ist, was der
Feind tut&laquo;. Ein ausgezeichneter Rat: &raquo;Wir m&uuml;ssen loskommen...&laquo; Tolstoi
empfahl au&szlig;erdem, da&szlig; wir von den S&uuml;nden des Fleisches loskommen
sollten. Nach der Statistik zu urteilen, scheint jedoch diese
Empfehlung nicht von Erfolg gekr&ouml;nt zu sein. Unsere zentristischen
Mannequins haben es fertig gebracht, sich zu einer Moral &uuml;ber den
Klassen im Rahmen der Klassengesellschaften zu erheben. Aber schon
seit fast 2000 Jahren steht geschrieben: &raquo;Liebet Eure Feinde&laquo;, &raquo;Biete
auch die andere Backe dar...&laquo;. Und doch ist selbst der heilige
r&ouml;mische Vater bis jetzt vom Ha&szlig; gegen seine Feinde noch nicht &raquo;losgekommen&laquo;. Wahrhaftig, Satan, der Feind der Menschheit, ist
m&auml;chtig!
<p>
Wer die Handlungen der Ausbeuter und der Ausgebeuteten mit
verschiedenen Kriterien mi&szlig;t, steht nach Ansicht dieser
bemitleidenswerten Mannequins auf dem Niveau der &raquo;Kaffernmoral&laquo;.
Zuallererst ziemt sich solch ver&auml;chtlicher Hinweis auf die Kaffern
wohl kaum f&uuml;r die Feder eines &raquo;Sozialisten&laquo;. Ist die Moral der Kaffern
wirklich so schlecht? H&ouml;ren wir, was die Encyclopaedia Britannica
dar&uuml;ber sagt: &raquo;ln ihren politischen und sozialen Beziehungen entfalten
sie viel Takt und gro&szlig;e Intelligenz; sie sind bemerkenswert tapfer,
kriegerisch und gastfreundlich und waren ehrlich und rechtschaffen,
bis sie durch Kontakt mit den Wei&szlig;en mi&szlig;trauisch, raches&uuml;chtig und
diebisch wurden und au&szlig;erdem die meisten europ&auml;ischen Laster
erwarben.&laquo; Man kommt unvermeidlich zu dem Schlu&szlig;, da&szlig; die wei&szlig;en
Missionare, die Prediger der ewigen Moral, an der Korrumpierung der
Kaffern Teil haben.
<p>
Wenn wir dem Kaffernsklaven erz&auml;hlten, wie sich die Arbeiter auf
einem Teil unseres Planeten erhoben und ihre Ausbeuter &uuml;berrumpelten,
w&uuml;rde ihm das sehr gefallen. Andererseits w&uuml;rde es ihn sehr bek&uuml;mmern
zu entdecken, da&szlig; es den Unterdr&uuml;ckern gelang, die Unterdr&uuml;ckten zu
hintergehen. Ein Kaffer, der nicht von wei&szlig;en Missionaren bis ins Mark
demoralisiert worden ist, wird niemals ein und dieselben abstrakten
Moralvorschriften auf Unterdr&uuml;cker und Unterdr&uuml;ckte anwenden. Doch
wird er unschwer begreifen, wenn man ihm erkl&auml;rt, da&szlig; es die Funktion
dieser abstrakten Vorschriften ist, die Unterdr&uuml;ckten an der Erhebung
gegen ihre Unterdr&uuml;cker zu hindern.
<p>
Welch lehrreiches Zusammentreffen: Um die Bolschewiki zu verleumden,
m&uuml;ssen die Missionare des &raquo;Neuen Weg&laquo; gleichzeitig die Kaffern
verleumden; &uuml;berdies folgt die Verleumdung in beiden F&auml;llen der
offiziellen b&uuml;rgerlichen Linie: gegen die Revolution&auml;re und gegen die
farbigen Rassen. Nein, wir ziehen die Kaffern allen Missionaren,
sowohl geistlichen wie weltlichen, vor!
<p>
Wir m&uuml;ssen jedoch das Bewu&szlig;tsein der Moralisten des Neuen Weg und
&auml;hnlicher Sackgassenpolitiker nicht &uuml;bersch&auml;tzen. Die Absichten dieser
Leute sind gar nicht so schlecht. Aber ihren Absichten zum Trotz
dienen sie als Hebel im Mechanismus der Reaktion. In einer Periode wie
der heutigen, wo die kleinb&uuml;rgerlichen Parteien, die sich an die
liberale Bourgeoisie oder deren Schatten (Volksfrontpolitik)
anklammern, das Proletariat paralysieren und dem Faschismus den Weg
bereiten (Spanien, Frankreich...), werden die Bolschewiken, d.h. die
revolution&auml;ren Marxisten, in den Augen der b&uuml;rgerlichen &ouml;ffentlichen
Meinung besonders verha&szlig;t. Fast der gesamte politische Druck unserer
Zeit geht von rechts nach links. Letzten Endes tr&auml;gt eine winzige
revolution&auml;re Minderheit das ganze Gewicht der Reaktion auf ihren
Schultern. Diese Minderheit hei&szlig;t Vierte Internationale. Voil&agrave;
l'ennemi! Das ist der Feind!
<p>
Im Mechanismus der Reaktion nimmt der Stalinismus viele f&uuml;hrende
Positionen ein. Alle Gruppen der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft,
einschlie&szlig;lich der Anarchisten, bedienen sich seiner im Kampf gegen
die proletarische Revolution. Gleichzeitig versuchen die
kleinb&uuml;rgerlichen Demokraten, das Odium f&uuml;r die Verbrechen ihrer
Moskauer Verb&uuml;ndeten wenigstens zu 50% auf die unvers&ouml;hnliche
revolution&auml;re Minderheit abzuw&auml;lzen. Hierin liegt der Sinn des neuen
Modesatzes: &raquo;Trotzkismus und Stalinismus sind ein und dasselbe.&laquo; Die
Gegner der Bolschewiken und der Kaffern helfen auf diese Weise der
Reaktion, die Partei der Revolution zu verleumden.
<p>
<h3>Der &raquo;amoralische&laquo; Lenin</h3>
<P>Die russischen &raquo;Sozialrevolution&auml;re&laquo; sind von jeher die moralischen
Individuen gewesen: Im Grunde waren es lauter Ethiker. Das hinderte
sie jedoch nicht daran, zur Zeit der Revolution die russischen Bauern
zu betr&uuml;gen. Im Pariser Organ Kerenskis, dieses wahrhaft ethischen
Sozialisten, der Stalins Vorl&auml;ufer in der Fabrikation falscher
Anklagen gegen die Bolschewiken war, schreibt ein anderer alter
Sozialrevolution&auml;r, Zenzinow: &raquo;Lenin lehrte bekanntlich, da&szlig; die
Kommunisten zur Erreichung der von ihnen gew&uuml;nschten Zwecke zu allen
m&ouml;glichen Listen und Kniffen und zur Verheimlichung der Wahrheit
Zuflucht nehmen k&ouml;nnten und bisweilen m&uuml;&szlig;ten...&laquo;. Daraus ergibt sich
die rituelle Schlu&szlig;folgerung: Der Stalinismus ist der nat&uuml;rliche
Spr&ouml;&szlig;ling des Leninismus.
<p>
Ungl&uuml;cklicherweise ist der ethische Ankl&auml;ger nicht einmal im Stand,
ehrlich zu zitieren. Lenin sagte: &raquo;Man mu&szlig; es verstehen ... zu allen
m&ouml;glichen Listen, Kniffen, illegalen Methoden, zur Verschweigung,
Verheimlichung der Wahrheit bereit zu sein, um nur in die
Gewerkschaften einzudringen, in ihnen zu bleiben und dort um jeden
Preis kommunistische Arbeit zu leisten.&laquo; Die Notwendigkeit f&uuml;r Listen
und Kniffe ergibt sich nach Lenins Erl&auml;uterung aus der Tatsache, da&szlig;
die reformistische B&uuml;rokratie die Arbeiter an das Kapital verr&auml;t, die
Revolution&auml;re hetzt und verfolgt und sogar die b&uuml;rgerliche Polizei
gegen sie in Anspruch nimmt. &raquo;Kniffe&laquo; und &raquo;Verheimlichung der
Wahrheit&laquo; sind in solchem Fall rechtm&auml;&szlig;ige Waffen der Notwehr gegen
die perfide reformistische B&uuml;rokratie.
<p>
Die Partei unseres Zenzinow leistete einst illegale Arbeit gegen den
Zarismus und sp&auml;ter - gegen die Bolschewiken. In beiden F&auml;llen griff
sie zu Listen, Kniffen, falschen P&auml;ssen und anderen Formen der &raquo;Verheimlichung der Wahrheit&laquo;. Alle diese Mittel wurden nicht nur als
ethisch, sondern auch als heroisch angesehen, weil sie den politischen
Zielen der Kleinbourgeoisie entsprachen. Aber die Situation &auml;ndert
sich sofort, sobald die proletarischen Revolution&auml;re gezwungen sind,
zu konspirativen Ma&szlig;nahmen gegen die kleinb&uuml;rgerliche Demokratie
&uuml;berzugehen. Wie wir sehen, hat der Schl&uuml;ssel zur Moral dieser Herren
Klassencharakter!
<p>
Der &raquo;amoralische&laquo; Lenin r&auml;t offen in der Presse, gegen verr&auml;terische
F&uuml;hrer milit&auml;rische List anzuwenden. Und der moralische Zenzinow
streicht b&ouml;swillig Anfang und Ende vom Zitat, um den Leser zu
betr&uuml;gen: der ethische Ankl&auml;ger erweist sich wie gew&ouml;hnlich als
kleiner Schwindler. Nicht umsonst liebte Lenin zu wiederholen: es ist
sehr schwer, einen gewissenhaften Gegner zu finden!
<p>
Ein Arbeiter, der vor dem Kapitalisten die &raquo;Wahrheit&laquo; &uuml;ber die Pl&auml;ne
der Streikenden nicht verbirgt, ist ein gew&ouml;hnlicher Verr&auml;ter, der
Verachtung und Boykott verdient. Der Soldat, der dem Feind die &raquo;Wahrheit&laquo; offenbart, wird als Spion verurteilt. Kerenski versuchte,
den Bolschewiken ankl&auml;gerisch zu unterschieben, sie h&auml;tten Ludendorffs
Generalstab die &raquo;Wahrheit&laquo; mitgeteilt. Es scheint, da&szlig; selbst die &raquo;heilige Wahrheit&laquo; kein Ziel an sich ist. &Uuml;ber ihr stehen
gebieterische Kriterien, die, wie die Analyse zeigt, Klassencharakter
tragen.
<p>
Ein Kampf auf Leben und Tod ist undenkbar ohne milit&auml;rische List,
d.h. ohne L&uuml;ge und Betrug. D&uuml;rfen denn die deutschen Arbeiter nicht
Hitlers Polizei betr&uuml;gen? Oder ist vielleicht die Haltung der
russischen Bolschewiken &raquo;unmoralisch&laquo;, wenn sie die G.P.U. t&auml;uschen?
Jeder fromme B&uuml;rger applaudiert der Geschicklichkeit der Polizei, wenn
es ihr durch Anwendung von List gelingt, einen gef&auml;hrlichen Verbrecher
zu fassen. Und im Kampf f&uuml;r den Sturz der imperialistischen Verbrecher
sollte die Anwendung von List verboten sein?
<p>
Norman Thomas spricht &uuml;ber &raquo;jene sonderbare kommunistische Amoral,
f&uuml;r die nur die Partei und deren Macht z&auml;hlen&laquo;. Dabei wirft Norman
Thomas die heutige Komintern, d.h. die Verschw&ouml;rung der
Kremlb&uuml;rokratie gegen die Arbeiterklasse, mit der bolschewistischen
Partei, die die Verschw&ouml;rung der fortgeschrittenen Arbeiter gegen die
Bourgeoisie verk&ouml;rperte, auf einen Haufen. Diese durch und durch
unehrliche Nebeneinanderstellung haben wir bereits oben gen&uuml;gend
entlarvt. Der Stalinismus versteckt sich nur hinter dem Kult der
Partei; in Wirklichkeit zertr&uuml;mmert er die Partei und tritt sie in den
Kot. Es stimmt jedoch, da&szlig; f&uuml;r einen Bolschewiken die Partei alles
bedeutet. Das &uuml;berrascht den Salonsozialisten Thomas, denn er verwirft
eine solche Beziehung zwischen Revolution&auml;r und Revolution, weil er
selbst nur ein B&uuml;rger mit einem sozialistischen &raquo;Ideal&laquo; ist. In den
Augen von Thomas und seinesgleichen ist die Partei nur ein
zweitrangiges Instrument f&uuml;r Wahlkombinationen und &auml;hnliche Zwecke,
nicht mehr. Sein pers&ouml;nliches Leben, seine Interessen, Bindungen und
Moralkriterien liegen au&szlig;erhalb der Partei. Mit feindseliger
Verwunderung blickt er auf den Bolschewiken herab, f&uuml;r den die Partei
eine Waffe ist zur revolution&auml;ren Umgestaltung der Gesellschaft,
einschlie&szlig;lich ihrer Moral. F&uuml;r einen revolution&auml;ren Marxisten kann es
zwischen der pers&ouml;nlichen Moral und den Interessen der Partei keinen
Widerspruch geben, da in seinem Bewu&szlig;tsein die Partei die h&ouml;chste
Aufgaben und Ziele der Menschheit verk&ouml;rpert. Es w&auml;re naiv,
anzunehmen, Thomas habe eine h&ouml;here Auffassung der Moral als die
Marxisten. Er hat nur eine niedrige Konzeption der Partei.
<p>
&raquo;Alles, was entsteht, ist wert, da&szlig; es zu Grunde geht&laquo;, sagt der
Dialektiker Goethe. Der Untergang der bolschewistischen Partei - eine
Episode in der Weltreaktion - schm&auml;lert jedoch nicht ihre
welthistorische Bedeutung. In der Periode ihres revolution&auml;ren
Aufstiegs, d.h. als sie wirklich die proletarische Avantgarde
repr&auml;sentierte, war sie die ehrlichste Partei in der Geschichte.
Nat&uuml;rlich t&auml;uschte sie den Klassenfeind, wo immer sie konnte; auf der
anderen Seite sagte sie den Arbeitern die Wahrheit, die ganze
Wahrheit, und nichts als die Wahrheit. Nur dank dem gewann sie das
Vertrauen der Arbeiter in einem Ma&szlig;e, wie nie zuvor eine andere Partei
in der Welt.
<p>
Die Kommis der herrschenden Klasse nennen die Organisatoren dieser
Partei &raquo;amoralisch&laquo;. In den Augen der bewu&szlig;ten Arbeiter tr&auml;gt dieser
Vorwurf den Charakter eines Kompliments. Er bedeutet: Lenin weigerte
sich, die Moralvorschriften anzuerkennen, die die Sklavenhalter f&uuml;r
ihre Sklaven aufgestellt haben, ohne sich selbst jemals danach zu
richten; er forderte das Proletariat auf, den Klassenkampf auch auf
die Sph&auml;re der Moral auszudehnen. Wer sich den vom Feinde
aufgestellten Vorschriften unterwirft, kann niemals diesen Feind
besiegen!
<p>
Lenins &raquo;Amoral&laquo;, d.h. seine Verwerfung einer Moral &uuml;ber den Klassen,
hinderte ihn nicht, sein ganzes Leben hindurch ein und demselben Ideal
treu zu bleiben, sein ganzes Sein der Sache der Unterdr&uuml;ckten zu
widmen, auf dem Gebiet der Ideen die gr&ouml;&szlig;te Gewissenhaftigkeit und auf
dem der Tat die gr&ouml;&szlig;te Furchtlosigkeit zu entfalten, sich dem &raquo;gew&ouml;hnlichen&laquo; Arbeiter, der schutzlosen Frau, dem Kinde gegen&uuml;ber
ohne die geringste Spur von &Uuml;berheblichkeit zu verhalten. Leuchtet es
nicht ein, da&szlig; &raquo;Amoral&laquo; im gegebenen Fall nur ein Synonym f&uuml;r eine
h&ouml;here menschliche Moral ist?
<p>
<h3>Eine lehrreiche Episode</h3>
<P>Hier ist es am Platze, eine Episode zu berichten, die trotz ihrer
bescheidenen Dimensionen den Unterschied zwischen ihrer Moral und der
unsrigen gar nicht so schlecht illustriert. Im Jahre 1935 entwickelte
ich in einem Brief an meine belgischen Freunde die Auffassung, da&szlig; der
Versuch einer jungen revolution&auml;ren Partei, &raquo;ihre eigenen&laquo;
Gewerkschaften zu gr&uuml;nden, Selbstmord gleichkommt. Man mu&szlig; die
Arbeiter da aufsuchen, wo sie sind. Aber dann mu&szlig; man durch seine
Beitr&auml;ge einen opportunistischen Apparat am Leben erhalten?
&raquo;Nat&uuml;rlich&laquo;, erwiderte ich, &raquo;um das Recht zu erwerben, die Reformisten
zu bek&auml;mpfen, mu&szlig; man ihnen zeitweilig einen Beitrag zahlen&laquo;. Aber die
Reformisten werden uns nicht erlauben, sie zu bek&auml;mpfen? &raquo;Das ist
richtig&laquo;, erwiderte ich, &raquo;der Kampf erfordert konspirative Ma&szlig;nahmen.
Die Reformisten sind die politische Polizei der Bourgeoisie innerhalb
der Arbeiterklasse. Wir m&uuml;ssen ohne ihre Erlaubnis und gegen ihr
Verbot handeln..&laquo;. Bei einer zuf&auml;lligen Haussuchung im Hause des
Genossen D., wenn ich nicht irre, im Zusammenhang mit der
Angelegenheit der Waffenlieferungen an die spanischen Arbeiter,
beschlagnahmte die belgische Polizei meinen Brief. Nach wenigen Tagen
wurde er ver&ouml;ffentlicht. Die Presse Vanderveldes, de Mans und Spaaks
schleuderte nat&uuml;rlich ihre Blitze gegen meinen &raquo;Machiavellismus&laquo; und &raquo;Jesuitismus&laquo;. Und wer sind diese Ankl&auml;ger? Vandervelde, Pr&auml;sident der
Zweiten Internationale im Laufe vieler Jahre, ist seit langem ein
zuverl&auml;ssiger Diener des belgischen Kapitals. De Man, der in einer
Reihe schwerer W&auml;lzer den Sozialismus mit einer idealistischen Moral
veredelte und der Religion den Hof machte, ergriff die erste beste
Gelegenheit, um die Arbeiter zu verraten und ein gew&ouml;hnlicher
b&uuml;rgerlicher Minister zu werden. Spaaks Fall ist noch reizender. Vor
anderthalb Jahren geh&ouml;rte dieser Herr zur linkssozialistischen
Opposition und besuchte mich in Frankreich, um mit mir die Methoden
des Kampfes gegen die B&uuml;rokratie Vanderveldes zu beraten. Ich vertrat
die gleichen Auffassungen, die sp&auml;ter mein Brief enthielt. Doch ein
Jahr nach seinem Besuch zog Spaak die Rosen den Dornen vor. Er verriet
seine Genossen von der Opposition und wurde einer der zynischsten
Minister des belgischen Kapitals. In den Gewerkschaften und in ihrer
eigenen Partei erstickten diese Herren jede kritische Stimme,
bestechen und korrumpieren systematisch die fortgeschrittenen Arbeiter
und schlie&szlig;en ebenso systematisch die widerspenstigen aus. Sie
unterscheiden sich von der G.P.U. nur dadurch, da&szlig; sie bisher noch
kein Blut vergossen haben - als gute Patrioten sparen sie das
Arbeiterblut f&uuml;r den kommenden imperialistischen Krieg auf. Es ist
klar: nur eine Ausgeburt des Teufels, ein moralisches Scheusal, ein &raquo;Kaffer&laquo;, ein Bolschewik kann den Arbeitern raten, im Kampf gegen
diese Herren die Regeln der Konspiration zu beobachten!
<p>
Vom Standpunkt des belgischen Gesetzes enthielt mein Brief nat&uuml;rlich
nichts Strafw&uuml;rdiges. Die &raquo;demokratische&laquo; Polizei hatte die Pflicht,
dem Adressaten den Brief mit einer Entschuldigung zur&uuml;ckzugeben. Die
sozialistische Partei hatte die Pflicht, gegen die Haussuchung zu
protestieren, die von der Sorge um die Interessen des Generals Franco
diktiert war. Aber die Herren Sozialisten scheuten sich nicht, sich
der Dienste der unkorrekten Polizei zu bedienen - sonst w&auml;re ihnen ja
schon eine gl&uuml;ckliche Gelegenheit entgangen, die &Uuml;berlegenheit ihrer
Moral &uuml;ber die Amoral der Bolschewiken ein weiteres Mal zur Schau zu
stellen. Jede Einzelheit in dieser Episode ist symbolisch. Die
belgischen Sozialdemokraten sch&uuml;tteten die K&uuml;bel ihrer Emp&ouml;rung gerade
dann &uuml;ber mich aus, als ihre norwegischen Gesinnungsgenossen meine
Frau und mich hinter Schlo&szlig; und Riegel sperrten, um unsere
Verteidigung gegen die Anklagen der G.P.U. zu verhindern. Die
norwegische Regierung wu&szlig;te sehr gut, da&szlig; die Moskauer Anklagen falsch
waren: so schrieb es die offizi&ouml;se sozialdemokratische Zeitung in den
ersten Tagen offen. Aber Moskau r&uuml;hrte die norwegischen Schiffsreeder
und Fischgro&szlig;h&auml;ndler an ihrer Brieftasche - und die Herren
Sozialdemokraten krochen sofort auf allen Vieren. Der F&uuml;hrer der
Partei, Martin Tranmael ist nicht nur eine Autorit&auml;t in Fragen der
Moral, sondern offenbar ein rechtschaffener Mensch: er trinkt nicht,
raucht nicht, genie&szlig;t kein Fleisch und badet im Winter in einem
Eisloch. Das hinderte ihn nicht, nachdem er uns auf Befehl der G.P.U.
hatte verhaften lassen, mich in den Spalten seiner Zeitung durch einen
norwegischen Agenten der G.P.U., einen gewissen Jakob Fries - einen
Kerl ohne Ehre und Gewissen - zu verleumden. Doch genug..
<p>
Die Moral dieser Herrschaften besteht aus konventionellen Rezepten
und Redensarten, hinter denen sie ihre Interessen, Appetite und &Auml;ngste
verstecken. Die Mehrzahl von ihnen ist aus Ehrgeiz oder Gewinnsucht zu
jeder Niedrigkeit, wie Verleumdung der &Uuml;berzeugung, Treulosigkeit und
Verrat, bereit. In der hohen Sph&auml;re pers&ouml;nlicher Interessen heiligt
der Zweck jedes Mittel. Eben deshalb erlangen sie einen besonderen
Moralkodex, dauerhaft und dazu elastisch wie ein guter Hosentr&auml;ger.
Sie verabscheuen jeden, der ihre Berufsgeheimnisse vor den Massen
entlarvt. In &raquo;friedlichen&laquo; Zeiten dr&uuml;cken sie - im Gassenton oder in &raquo;philosophischer&laquo; Sprache - ihren Ha&szlig; in Verleumdungen aus. In Zeiten
scharfer sozialer Konflikte - wie gegenw&auml;rtig in Spanien - ermorden
diese Moralisten Hand in Hand mit der G.P.U. die Revolution&auml;re. Um
sich vor sich selbst zu rechtfertigen, wiederholen sie: &raquo;Trotzkismus
und Stalinismus sind ein und dasselbe.&laquo;
<p>
<h3>Die dialektische Wechselbeziehung zwischen Ziel und Mittel</h3>
<P>Ein Mittel ist nur durch das mit ihm verfolgte Ziel zu
rechtfertigen. Aber das Ziel bedarf seinerseits der Rechtfertigung.
Vom marxistischen Standpunkt, der die historischen Interessen des
Proletariats zum Ausdruck bringt, ist das Ziel gerechtfertigt, wenn es
dazu f&uuml;hrt, die Macht des Menschen &uuml;ber die Natur zu vermehren und die
Macht des Menschen &uuml;ber den Menschen zu vernichten.
<p>
&raquo;Das bedeutet also, da&szlig; zur Erreichung dieses Ziels alles erlaubt
ist?&laquo; wird der Philister sarkastisch fragen - und er beweist damit,
da&szlig; er nichts begriffen hat. Erlaubt ist, so antworten wir, was
wirklich zur Befreiung der Menschheit f&uuml;hrt. Da dieses Ziel nur durch
Revolution erreicht werden kann, tr&auml;gt die Befreiungsmoral des
Proletariats notwendigerweise revolution&auml;ren Charakter. Sie tritt
nicht nur jedem religi&ouml;sen Dogma, sondern auch allen idealistischen
Fetischen, philosophischen Gendarmen der herrschenden Klasse
unvers&ouml;hnlich entgegen. Ihre Regeln leiten sich aus den
Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft ab, also in erster Linie aus dem
Klassenkampf, dem obersten aller Gesetze.
<p>
&raquo;Alles gut und sch&ouml;n&laquo;, wird der Moralist hartn&auml;ckig erwidern, &raquo;aber
bedeutet das nun, da&szlig; im Kampf gegen die Kapitalisten alle Mittel
erlaubt sind: L&uuml;ge, Schwindel, Verrat, Mord und so weiter?&laquo; Erlaubt
und obligatorisch sind jene Mittel, und nur jene Mittel, so antworten
wir, die das revolution&auml;re Proletariat einen, seine Herzen mit
unvers&ouml;hnlicher Feindschaft gegen die Unterdr&uuml;ckung erf&uuml;llen, die es
lehren, die offizielle Moral und ihre demokratischen Nachbeter zu
verachten, es mit dem Bewu&szlig;tsein seiner eigenen historischen Mission
erf&uuml;llen, seinen Mut und seinen Opfergeist im Kampf heben. Eben daraus
ergibt sich, da&szlig; nicht alle Mittel erlaubt sind. Wenn wir sagen, das
Ziel heiligt die Mittel, so ergibt sich f&uuml;r uns daraus die
Schlu&szlig;folgerung, da&szlig; das gro&szlig;e revolution&auml;re Ziel solche niedrigen
Mittel und Wege verwirft, die einen Teil des Proletariats gegen andere
Teile aufhetzen, oder die Arbeiter ohne ihr eigenes Zutun gl&uuml;cklich
machen wollen, oder das Selbstvertrauen der Massen und den Glauben an
ihre Organisation senken und durch den F&uuml;hrerkult ersetzen. In erster
Linie und absolut unvers&ouml;hnlich verwirft die revolution&auml;re Moral
Knechtseligkeit gegen&uuml;ber der Bourgeoisie und Hochmut gegen&uuml;ber den
Arbeitern, d.h. jene Eigenschaften, mit denen die kleinb&uuml;rgerlichen
Pedanten und Moralisten durch und durch getr&auml;nkt sind.
<p>
Diese Kriterien geben nat&uuml;rlich keine fix und fertige Antwort auf
die Frage, was in jedem einzelnen Fall erlaubt ist und was nicht.
Solche automatischen Antworten kann es auch gar nicht geben. Die
Probleme der revolution&auml;ren Moral sind mit den Problemen der
revolution&auml;ren Strategie und Taktik verbunden Die korrekte Antwort auf
diese Frage gibt die lebendige Erfahrung der Bewegung im Licht der
Theorie.
<p>
Der dialektische Materialist kennt keinen Dualismus zwischen Ziel
und Mittel. Das Ziel ergibt sich naturnotwendig aus dem historischen
Proze&szlig;. Die Mittel sind dem Ziel organisch untergeordnet. Das
unmittelbare Ziel wird zum Mittel f&uuml;r ein entfernteres Ziel. In seinem
Drama &raquo;Franz von Sickingen&laquo; legt Ferdinand Lassalle einem der Helden
folgende Worte in den Mund:
<blockquote>
&raquo;Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg.<br>
Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel,<br>
Da&szlig; eines sich stets &auml;ndert mit dem andern<br>
Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt.&laquo;
</blockquote>
<p>Lassalles Verse sind keineswegs vollkommen. Schlimmer noch ist die
Tatsache, da&szlig; Lassalle selbst in der praktischen Politik von oben
ausgedr&uuml;ckter Regel abwich - es gen&uuml;gt, daran zu erinnern, da&szlig; er sich
selbst auf geheime Abmachungen mit Bismarck einlie&szlig;! Aber die
dialektische Wechselbeziehung zwischen Mittel und Ziel ist in oben
zitierten S&auml;tzen ganz richtig zum Ausdruck gebracht. Man mu&szlig;
Weizensamen s&auml;en, um Weizen&auml;hren zu ernten.
<p>
Ist zum Beispiel vom Standpunkt der &raquo;reinen Moral&laquo; individueller
Terror erlaubt oder verboten? In dieser abstrakten Form existiert die
Frage f&uuml;r uns &uuml;berhaupt nicht. Die konservativen Schweizer B&uuml;rger
bezeugen noch heute dem Terroristen Wilhelm Tell ihr offizielles Lob.
Unsere Sympathien sind voll und ganz auf der Seite der irischen,
russischen, polnischen und indischen Nationalisten in ihrem Kampf
gegen nationale und politische Unterdr&uuml;ckung. Der ermordete Kirow, ein
roher Satrap, erweckt keinerlei Sympathie. Unsere Beziehung zum M&ouml;rder
bleibt nur deshalb neutral, weil wir die Motive, die ihn leiteten,
nicht kennen. Wenn bekannt werden w&uuml;rde, da&szlig; Nikolajew bewu&szlig;t f&uuml;r die
von Kirow begangene Sch&auml;ndung der Arbeiterrechte Vergeltung &uuml;bte,
w&auml;ren unsere Sympathien v&ouml;llig auf Seiten des M&ouml;rders. Jedoch ist
nicht die Frage der subjektiven Motive, sondern die der objektiven
Zweckm&auml;&szlig;igkeit f&uuml;r uns entscheidend. F&uuml;hrt das gegebene Mittel
wirklich zum Ziel? Was den individuellen Terror betrifft, bezeugen
sowohl Theorie wie Erfahrung, da&szlig; dies nicht der Fall ist. Dem
Terroristen sagen wir: es ist unm&ouml;glich, die Massen zu ersetzen, nur
in der Massenbewegung kannst du f&uuml;r deinen Heroismus einen
zweckm&auml;&szlig;igen Ausdruck finden. Unter den Bedingungen des B&uuml;rgerkriegs
h&ouml;rt jedoch die Ermordung individueller Unterdr&uuml;cker auf, ein Akt
individuellen Terrors zu sein. Nehmen wir einmal an, ein Revolution&auml;r
w&uuml;rde General Franco und seinen Stab in die Luft sprengen, so w&uuml;rde
dies selbst von Seiten der demokratischen Eunuchen wohl kaum
moralische Entr&uuml;stung hervorrufen. Unter den Bedingungen des
B&uuml;rgerkriegs w&auml;re ein solcher Akt politisch vollkommen zweckm&auml;&szlig;ig. So
erweisen sich selbst in der sch&auml;rfsten Frage - dem Mord des Menschen
durch den Menschen - die moralischen Absoluta als untauglich. Die
moralischen Wertungen ergeben sich zusammen mit den politischen aus
den inneren Notwendigkeiten des Kampfes.
<p>
Die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst
sein. Deshalb gibt es kein gr&ouml;&szlig;eres Verbrechen, als die Massen zu
t&auml;uschen, Niederlagen f&uuml;r Siege und Freunde f&uuml;r Feinde auszugeben,
Arbeiterf&uuml;hrer zu bestechen, Legenden zu fabrizieren, falsche Prozesse
zu montieren, in einem Wort: zu tun, was die Stalinisten tun. Diese
Mittel k&ouml;nnen nur einem Ziel dienen: die Herrschaft einer Clique zu
verl&auml;ngern, die von der Geschichte bereits verurteilt ist. Aber sie
k&ouml;nnen nicht dazu dienen, die Massen zu befreien. Deshalb f&uuml;hrt die
Vierte Internationale gegen Stalin Kampf auf Leben und Tod.
<p>
Die Massen sind nat&uuml;rlich keineswegs unfehlbar. Idealisierung der
Massen liegt uns fern. Wir haben sie unter verschiedenen Bedingungen,
in verschiedenen Epochen und au&szlig;erdem in den schwersten politischen
Ersch&uuml;tterungen gesehen. Wir haben ihre starken und schwachen Seiten
kennengelernt. Ihre starken Seiten: Entschlossenheit, Opfergeist,
Heroismus, haben immer in Zeiten revolution&auml;ren Aufschwungs ihren
klarsten Ausdruck gefunden. In dieser Periode standen die Bolschewiken
an der Spitze der Massen. Danach begann ein anderes Kapitel der
Geschichte, das die schwachen Seiten der Unterdr&uuml;ckten an die
Oberfl&auml;che sp&uuml;lte: Ungleichartigkeit, Mangel an Kultur, ein zu
beschr&auml;nkter Gesichtskreis. Die Massen erschlafften nach der Spannung,
wurden entt&auml;uscht, verloren ihr Selbstvertrauen - und machten der
neuen Aristokratie den Weg frei. In dieser Epoche fanden sich die
Bolschewiken (&raquo;Trotzkisten&laquo;) von den Massen isoliert. Wir haben
praktisch zwei solch gro&szlig;e historische Zyklen erlebt: 1897-1905, Jahre
der Flut; 1907-1913, Jahre der Ebbe; 1917-1923, die Periode eines in
der Geschichte beispiellosen Aufschwungs, schlie&szlig;lich eine neue
Periode der Reaktion, die heute noch nicht zu Ende ist. In diesen
gewaltigen Ereignissen lernten die &raquo;Trotzkisten&laquo; den Rhythmus der
Geschichte, d.h. die Dialektik des Klassenkampfes. Sie lernten auch,
und, wie es scheint, bis zu einem gewissen Grade mit Erfolg, wie sie
ihre subjektiven Pl&auml;ne und Programme diesem objektiven Rhythmus
unterzuordnen haben. Sie lernten, nicht an der Tatsache zu
verzweifeln, da&szlig; die Gesetze der Geschichte weder von ihrem
pers&ouml;nlichen Geschmack abh&auml;ngen, noch ihren Moralkriterien
untergeordnet sind. Sie lernten, ihre pers&ouml;nlichen W&uuml;nsche den
Gesetzen der Geschichte unterzuordnen. Sie lernten, sich auch von den
m&auml;chtigsten Feinden nicht schrecken zu lassen, wenn deren Macht im
Widerspruch zu den Gesetzen der historischen Entwicklung steht. Sie
verstehen es, gegen den Strom zu schwimmen in der tiefen Gewi&szlig;heit,
da&szlig; die neue historische Flut sie an das andere Ufer tragen wird.
Nicht alle werden dieses Ufer erreichen, viele werden ertrinken. Aber
an dieser Bewegung mit offenen Augen und angespanntem Willen
teilnehmen - nur das kann einem denkenden Wesen die h&ouml;chste moralische
Befriedigung gew&auml;hren.
<p>
Coyoac&aacute;n D.F., am 16. Februar 1938 Leo D. Trotzki
<p>
P.S. Ich schrieb diese Zeilen in jenen Tagen, als mein Sohn, ohne da&szlig;
ich davon wu&szlig;te, mit dem Tode rang. Seinem Angedenken widme ich diese
kleine Arbeit, die, so hoffe ich, seine Zustimmung gefunden h&auml;tte. Leo
Sedow war ein echter Revolution&auml;r und verachtete die Pharis&auml;er. L.T
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Verkn&uuml;pfte Dateien: <A href="http://www.mlwerke.de/css/format.css">&laquo;../css/format.css&raquo;</A><BR>
Quelle: die nicht mehr existierende Seite "Linksruck"Linksruck</A>
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