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2022-08-25 20:29:11 +02:00

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<TITLE>August Bebel - Die Frau und der Sozialismus - 6. Kapitel</TITLE>
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<P ALIGN="CENTER"><A HREF="beaa_104.htm">5 . Kapitel </A> | </FONT><A HREF="beaa_000.htm">Inhalt</A> | <A HREF="beaa_125.htm">7. Kapitel</A> </P>
<I><P ALIGN="CENTER">Sechstes Kapitel <BR>
</I><FONT SIZE=4>Das achtzehnte Jahrhundert <BR>
</FONT><I>1. Hofleben in Deutschland</P>
</I><B><P><A NAME="S114">|114|</A></B> Dem Beispiel Ludwigs XIV. von Frankreich folgend, entfaltete die gro&szlig;e Mehrzahl der in jener Zeit au&szlig;erordentlich zahlreichen deutschen F&uuml;rstenh&ouml;fe eine Verschwendung in allerlei Glanz und Flitter und namentlich durch ihre M&auml;tressenwirtschaft, die im umgekehrten Verh&auml;ltnis zur Gr&ouml;&szlig;e und Leistungsf&auml;higkeit der L&auml;nder und L&auml;ndchen stand. Die Geschichte der F&uuml;rstenh&ouml;fe des achtzehnten Jahrhunderts geh&ouml;rt zu den h&auml;&szlig;lichsten Kapiteln der Geschichte. Ein Potentat suchte den anderen an hohler Aufgeblasenheit, verr&uuml;ckter Verschwendungssucht und kostspieligen milit&auml;rischen Spielereien zu &uuml;bertreffen. Vor allem aber wurde in toller Weiberwirtschaft das Unglaublichste geleistet. Es ist schwer zu sagen, welchem von den vielen deutschen H&ouml;fen in dieser verschwenderischen, das &ouml;ffentliche Leben korrumpierenden Lebensweise die Palme geb&uuml;hrt. Heute war es dieser, morgen jener Hof, kein deutscher Staat blieb von diesem Treiben verschont. Der Adel machte es den F&uuml;rsten nach und in den Residenzst&auml;dten die B&uuml;rger wieder dem Adel. Hatte die Tochter einer b&uuml;rgerlichen Familie das Gl&uuml;ck, einem hohen Herrn am Hofe oder gar Serenissimus zu gefallen, so war dieselbe unter zwanzig F&auml;llen neunzehnmal von dieser Gnade aufs h&ouml;chste begl&uuml;ckt, und die Familie war bereit, sie zur adligen oder f&uuml;rstlichen M&auml;tresse herzugeben. Dasselbe war bei den meisten Adelsfamilien der Fall, wenn eine ihrer T&ouml;chter das Wohlgefallen des F&uuml;rsten fand, Charakterlosigkeit und Schamlosigkeit beherrschten weite Kreise. </P>
<P>Mit am schlimmsten stand es in den beiden deutschen Hauptst&auml;dten, in Wien und Berlin. Im deutschen Capua, in Wien, herrschte zwar einen gro&szlig;en Teil des Jahrhunderts die sittenstrenge Maria Theresia, aber sie war ohnm&auml;chtig gegen&uuml;ber dem Treiben eines reichen, in sinnlichen Gen&uuml;ssen versunkenen Adels und der ihm nacheifernden b&uuml;rgerlichen Kreise. Mit ihren Keuschheitskommissionen, die sie nie- <A NAME="S115"><B>|115|</A></B> dersetzte und mit Hilfe deren ein ausgedehntes Spioniersystem organisiert wurde, rief sie teils Erbitterung hervor, teils machte sie sich l&auml;cherlich damit. Der Erfolg war gleich Null. Im frivolen Wien machten in der zweiten H&auml;lfte des achtzehnten Jahrhunderts Spr&uuml;chlein die Runde wie jene: "Man mu&szlig; seinen N&auml;chsten lieben wie sich selbst, das hei&szlig;t, man mu&szlig; das Weib eines anderen so lieb haben wie sein eigenes." Oder: "Wenn die Frau rechts geht, darf der Mann links marschieren. Nimmt sie sich einen Aufw&auml;rter, so sucht er sich eine Freundin." Wie frivol man in jener Zeit &uuml;ber Ehe und Ehebr&uuml;che dachte, geht aus einem Briefe des Dichters E. Chr. v. Kleist hervor, den dieser 1751 an seinen Freund Gleim schrieb. Darin hie&szlig; es: "Sie wissen doch schon die Aventure des Markgrafen Heinrich. Er hat seine Gemahlin auf seine G&uuml;ter geschickt und will sich von ihr separieren, weil er den Prinzen von Holstein bei ihr im Bette getroffen hat ... Der Markgraf h&auml;tte wohl besser getan, wenn er den Handel verschwiegen h&auml;tte, statt da&szlig; er jetzt ganz Berlin und die halbe Welt von sich sprechen macht. &Uuml;berdem <I>soll man eine so nat&uuml;rliche Sache nicht so &uuml;belnehmen</I>, zumal wenn man selber nicht so glaubensfest ist wie der Markgraf. Der Ekel ist doch ganz unausbleiblich in der Ehe, <I>und alle M&auml;nner und Frauen sind durch ihre Vorstellungen von anderen liebensw&uuml;rdigen Personen nezessicret</I>, <I>untreu zu sein</I>. <I>Wie kann dies bestraft werden, wozu man gezwungen ist?</I>" &Uuml;ber die Zust&auml;nde in Berlin schrieb 1772 der englische Gesandte Lord Malmesbury: "Eine totale Sittenverderbnis beherrscht beide Geschlechter aller Klassen, wozu noch die D&uuml;rftigkeit kommt, die notwendigerweise teils durch die vom jetzigen K&ouml;nig ausgehende Besteuerung, teils durch die Liebe zum Luxus, die sie seinem Gro&szlig;vater abgelernt, herbeigef&uuml;hrt worden sind. Die M&auml;nner f&uuml;hren mit beschr&auml;nkten Mitteln ein ausschweifendes Leben, die Frauen aber sind Harpyien ohne alle Scham. Sie geben sich dem preis, der am besten bezahlt, Zartgef&uuml;hl und wahre Liebe sind ihnen unbekannte Dinge." </P>
<P>Mit am schlimmsten ging es in Berlin unter Friedrich Wilhelm II. zu, der von 1786 bis 1797 regierte. Er ging mit dem schlechtesten Beispiel seinem Volke voran. Sein Hofpfaffe Z&ouml;llner erniedrigte sich sogar dazu, ihm seine M&auml;tresse, Julie v. Vo&szlig;, als zweite Ehefrau anzutrauen. Und als diese bald nachher im ersten Wochenbett starb, ging abermals Z&ouml;llner darauf ein, ihn mit seiner zweiten M&auml;tresse, der Gr&auml;fin Sophie v. D&ouml;nhoff, zu verm&auml;hlen.</P>
<B><P><A NAME="S116">|116|</A></B> Das schlechte Beispiel, das Friedrich Wilhelm II. am Ende des Jahrhunderts gab, hatten ihm einige seiner Herren Vettern schon zu Anfang des Jahrhunderts vorgemacht. Ende Juli 1706 lie&szlig; sich der Herzog Eberhard Ludwig von W&uuml;rttemberg seine M&auml;tresse, die Gr&auml;venitz, die "Landverderberin", wie man sie noch heute in W&uuml;rttemberg nennt, als zweite Frau antrauen. Diese Ehe schlo&szlig; ein junger Geistlicher, M. Pf&auml;hler, der Pfarrer in M&uuml;hlen a. N. war. Und Eberhard Ludwigs leiblicher Vetter, der Herzog Leopold Eberhard zu M&ouml;mpelgard, trieb es noch &auml;rger, denn er besa&szlig; gleichzeitig drei Ehefrauen, von welchen obendrein zwei Schwertern waren. Von seinen dreizehn Kindern verm&auml;hlte er zwei miteinander. Das Verhalten dieser Landesv&auml;ter rief zwar gro&szlig;e Entr&uuml;stung bei ihren Untertanen hervor, aber dabei bewendete es. Nur bei dem Herzog von W&uuml;rttemberg gelang es kaiserlicher Intervention im Jahre 1708, die Ehe mit der Gr&auml;venitz r&uuml;ckg&auml;ngig zu machen. Aber diese ging bald darauf mit einem verkommenen Grafen v. W&uuml;rben eine Scheinehe ein und blieb nunmehr noch zwanzig Jahre lang die Geliebte des Herzogs und die "Landverderberin" f&uuml;r Schwaben. </P>
<I><P ALIGN="CENTER"><A NAME="Kap_6_2">2. Der Merkantilismus und die neue Ehegesetzgebung</A></P>
</I><P>Das Wachstum der F&uuml;rstenmacht seit dem sechzehnten Jahrhundert und der damit beginnenden &Auml;ra der gr&ouml;&szlig;eren Staatenbildungen hatte zur Gr&uuml;ndung der stehenden Heere gef&uuml;hrt, die nicht ohne erhebliche Steuerlasten unterhalten werden konnten, wozu noch das verschwenderische Leben an den meisten H&ouml;fen kam, das Unsummen erforderte. </P>
<P>Diese Anspr&uuml;che konnten nur durch eine zahlreiche und steuerf&auml;hige Bev&ouml;lkerung gedeckt werden, und so suchten die verschiedenen Regierungen, namentlich der gr&ouml;&szlig;eren Staaten, vom achtzehnten Jahrhundert ab, durch entsprechende Ma&szlig;regeln Bev&ouml;lkerungszahl und Steuerf&auml;higkeit nach M&ouml;glichkeit zu heben. </P>
<P>Der Weg dazu war gegeben durch die soziale und &ouml;konomische Umw&auml;lzung, die, wie erw&auml;hnt, die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas und die Entdeckung des Seewegs nach Ostindien hervorgerufen hatte und jede neue Erdumsegelung f&ouml;rderte. Diese Umw&auml;lzung ergriff zun&auml;chst Westeuropa, sp&auml;ter aber auch Deutschland. Die neuen Verkehrswege hatten neue Handelsbeziehungen von bisher un- <A NAME="S117"><B>|117|</A></B> bekannter und ungeahnter Ausdehnung geschaffen. Portugiesen, Spanier, Niederl&auml;nder, Engl&auml;nder suchten in erster Linie von dem Umschwung der Dinge zu profitieren. Aber auch Frankreich und schlie&szlig;lich auch Deutschland gewannen davon. Letzteres war durch die Religionskriege und seine politische Spaltung am meisten gesch&auml;digt worden und wirtschaftlich am weitesten zur&uuml;ckgeblieben. Die neuen Weltmarktsbed&uuml;rfnisse, hervorgerufen durch Er&ouml;ffnung immer neuer Absatzgebiete f&uuml;r europ&auml;ische Gewerbe- und Industrieerzeugnisse, revolutionierten nicht nur die handwerksm&auml;&szlig;ige Produktionsweise, sondern auch die Anschauungen, das F&uuml;hlen und Denken der europ&auml;ischen V&ouml;lker und ihrer Regierungen. </P>
<P>An Stelle der bisher ausschlie&szlig;lich handwerksm&auml;&szlig;igen Produktion, die nur f&uuml;r die t&auml;glichen Bed&uuml;rfnisse des Ortes und dessen n&auml;chste Umgebung arbeitete, trat die Manufaktur, das hei&szlig;t die Massenproduktion durch Anwendung einer gr&ouml;&szlig;eren Zahl von Arbeitern bei m&ouml;glichst entwickelter Arbeitsteilung. Der Kaufmann mit gr&ouml;&szlig;eren finanziellen Mitteln und weiterem Blicke wurde der Leiter dieser neuen Produktionsform, durch die das Handwerk zum Teil ersetzt, zum Teil verdr&auml;ngt, aber auch die z&uuml;nftlerische Organisation desselben zerst&ouml;rt wurde. Damit war eine Periode eingetreten, in der auch wieder die Frau ihre Kr&auml;fte in gewerblicher T&auml;tigkeit anwenden konnte. Der hausindustrielle oder fabrikm&auml;&szlig;ige Betrieb in der Leinenerzeugung, der Wollspinnerei und Weberei, der Wirkerei, der Tuchschererei, der Posamentenherstellung usw. er&ouml;ffnete ihr ein gro&szlig;es Fell ihrer T&auml;tigkeit. Gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts waren bereits an 100.000 Frauen und 80.000 Kinder in den Spinnereien, Webereien und Druckereien Englands und Schottlands besch&auml;ftigt, allerdings vielfach unter Arbeitsbedingungen, die in bezug auf Lohn und Dauer der Arbeitszeit als haarstr&auml;ubend bezeichnet werden m&uuml;ssen. &Auml;hnlich lagen die Verh&auml;ltnisse in Frankreich, wo um dieselbe Zeit ebenfalls Zehntausende von Frauen in zahlreichen Fabriken besch&auml;ftigt wurden. </P>
<P>Diese &ouml;konomische Entwicklung forderte aber mehr Menschen, und da diese in den Eroberungskriegen des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts in Europa und jenseits der Meere stark vermindert worden waren, mit Anfang des achtzehnten Jahrhunderts auch die Auswanderung nach &uuml;berseeischen Gebieten begann, so stellte sich f&uuml;r die vorgeschritteneren Regierungen das erh&ouml;hte Bed&uuml;rfnis heraus, die Eheschlie&szlig;ung und die Niederlassung zu erleichtern. </P>
<B><P><A NAME="S118">|118|</A></B> Das durch seine Weltmachtpolitik fr&uuml;hzeitig an Menschen ausgepowerte Spanien sah sich deshalb bereits 1623 gen&ouml;tigt, ein Gesetz zu erlassen, wonach alle Personen, die zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr ehelichten. auf eine Reihe Jahre von allen Abgaben und Steuern befreit wurden. Unbemittelten Personen wurde sogar aus &ouml;ffentlichen Kassen eine Mitgift gew&auml;hrt. Ferner wurde Eltern, die wenigstens sechs m&auml;nnliche eheliche Kinder am Leben hatten, volle Steuer- und Abgabenfreiheit zugesagt. Auch beg&uuml;nstigte Spanien die Einwanderung und die Kolonisation. </P>
<P>In Frankreich sah sich Ludwig XIV. gen&ouml;tigt, der Menschenverw&uuml;stung, die er durch seine Kriege herbeigef&uuml;hrt hatte, dadurch entgegenzuwirken, da&szlig; er allen Taillepflichtigen, und dazu geh&ouml;rte die sehr gro&szlig;e Mehrheit der Bev&ouml;lkerung, wenn sie vor dem 21. oder 20. Lebensjahr heirateten, auf vier bzw. f&uuml;nf Jahre Abgabefreiheit bewilligte. Volle Abgabenfreiheit wurde ferner allen Taillepflichtigen gew&auml;hrt, die zehn lebende Kinder hatten, von denen keines Priester, M&ouml;nch oder Nonne geworden war. Edelleute mit der gleichen Zahl Kinder, von denen keines geistlich geworden war, erhielten eine j&auml;hrliche Pension von 1.000 bis 2.000 Livres, und die der Taille nicht unterworfenen B&uuml;rger erhielten unter den gleichen Bedingungen die H&auml;lfte dieser Summe. Der Marschall Moritz von Sachsen riet sogar Ludwig XV. an, Eheschlie&szlig;ungen nur auf die Dauer von f&uuml;nf Jahren zuzulassen. </P>
<P>In Preu&szlig;en suchte man durch Verordnungen in den Jahren 1688, 1721, 1726, 1736 und entsprechende staatliche Ma&szlig;regeln die Einwanderung zu beg&uuml;nstigen. namentlich die der in Frankreich und &Ouml;sterreich wegen ihrer Religion Verfolgten. Die Bev&ouml;lkerungstheorie Friedrichs des Gro&szlig;en kommt drastisch in einem Briefe zum Ausdruck, den er am 26. August 1741 an Voltaire richtete, dem er schrieb: "Ich betrachte die Menschen als eine Herde Kirsche in dem Wildpark eines gro&szlig;en Herrn, die keine andere Aufgabe haben, als den Park zu p&ouml;blieren." Er hat allerdings durch seine Kriege die Notwendigkeit geschaffen, da&szlig; sein Wildpazk wieder p&ouml;bliert wurde. Auch beg&uuml;nstigte man in &Ouml;sterreich, W&uuml;rttemberg und Braunschweig die Einwanderung und erlie&szlig; in diesen Staaten wie in Preu&szlig;en Auswanderungsverbote. Ferner beseitigten im achtzehnten Jahrhundert England und Frankreich alle Eheschlie&szlig;ungs- und Niederlassungshindernisse - Beispiele, denen andere Staaten folgten. In den ersten drei <A NAME="S119"><B>|119|</A></B> Vierteln des achtzehnten Jahrhunderts betrachteten die National&ouml;konomen, wie die Regierungen, eine gro&szlig;e Bev&ouml;lkerungszahl als Ursache der h&ouml;chsten Gl&uuml;ckseligkeit der Staaten. Erst mit dem Ende des achtzehnten und dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts trat wieder ein Umschlag ein, hervorgerufen durch gro&szlig;e &ouml;konomische Krisen und revolution&auml;re und kriegerische Ereignisse, die in der ersten H&auml;lfte des neunzehnten Jahrhunderts sich fortsetzten, speziell im s&uuml;dlichen Deutschland und &Ouml;sterreich. Man erh&ouml;hte jetzt wieder das Alter, in dem eine Ehe geschlossen werden durfte, und verlangte f&uuml;r die Eheschlie&szlig;ung den Nachweis eines bestimmten Verm&ouml;gens oder eines gesicherten Einkommens und eine bestimmte Lebensstellung. Den Mittellosen wurde die Schlie&szlig;ung einer Ehe unm&ouml;glich gemacht, und man r&auml;umte namentlich den Gemeinden einen gro&szlig;en Einflu&szlig; auf Festsetzung der Aufnahme- und Eheschlie&szlig;ungsbedingungen ein. Man verbot sogar hier und da den Bauern die Errichtung sogenannter Tagewerksh&auml;user oder verordnete, wie in Bayern, das noch bis in die Jetztzeit eine r&uuml;ckst&auml;ndige Heimatsgesetzgebung besitzt, die Niederrei&szlig;ung der ohne kurf&uuml;rstlichen Konsens erbauten Tagewerksh&auml;user an. Nur in Preu&szlig;en und Sachsen blieb die Ehegesetzgebung vergleichsweise liberal. Die Folge dieser Ehebeschr&auml;nkungen war, da&szlig;, da die menschliche Natur sich nicht unterdr&uuml;cken l&auml;&szlig;t, allen Hemmnissen und Scherereien zum Trotz Konkubinatsverh&auml;ltnisse in Menge entstanden und die Zahl der unehelichen Kinder in manchen deutschen Kleinstaaten an die Zahl der ehelichen nahe heranreichte. Das waren die Wirkungen eines v&auml;terlichen Regiments, das sich auf seine Moral und sein Christentum etwas zugute tat. </P>
<I><P ALIGN="CENTER"><A NAME="Kap_6_3">3. Die Franz&ouml;sische Revolution und die Gro&szlig;industrie</A></P>
</I><P>Die verheiratete Frau des B&uuml;rgerstandes lebte in jener Zeit in strenger h&auml;uslicher Zur&uuml;ckgezogenheit; die Zahl ihrer Arbeiten und Verrichtungen war eine so gro&szlig;e, da&szlig; sie als gewissenhafte Hausfrau von fr&uuml;h bis sp&auml;t auf dem Posten sein mu&szlig;te, um ihren Pflichten zu gen&uuml;gen, und das war ihr nur mit Hilfe ihrer T&ouml;chter m&ouml;glich. Es waren nicht blo&szlig; die t&auml;glichen h&auml;uslichen Arbeiten zu verrichten, die auch noch heute die kleinb&uuml;rgerliche Hausfrau zu verrichten hat, sondern auch noch viele andere, von welchen die Frau der Gegenwart <A NAME="S120"><B>|120|</A></B> durch die moderne Entwicklung befreit worden ist. Sie mu&szlig;te spinnen, weben, bleichen, die W&auml;sche und die Kleider selber fertigen, Seife kochen, Lichter ziehen, Bier brauen, kurz, sie war das reine Aschenbr&ouml;del und ihre einzige Erholung der Kirchgang am Sonntag. Eheschlie&szlig;ungen kamen nur innerhalb desselben gesellschaftlichen Kreises vor, der strengste und l&auml;cherlichste Kastengeist beherrschte alle Verh&auml;ltnisse. Die T&ouml;chter wurden in dem gleichen Geiste erzogen und in strengster h&auml;uslicher Klausur gehalten; ihre geistige Ausbildung war unbedeutend, und ihr Gesichtskreis ging nicht &uuml;ber den Rahmen der engsten h&auml;uslichen Beziehungen hinaus. Dazu kam ein leeres und hohles Formenwesen, das Bildung und Geist ersetzte und das Leben der Frau zu einem wahren Tretm&uuml;hlengang machte. Der Geist der Reformation war in das &auml;rgste Zopftum ausgeartet, die nat&uuml;rlichsten Triebe im Menschen und seine Lebensfreudigkeit wurden unter einem Wust von "w&uuml;rdig" vorgetragenen, aber geistt&ouml;tenden Lebensregeln erstickt. Hohlheit und Beschr&auml;nktheit beherrschten das B&uuml;rgertum, und was hinter diesem stand, lebte unter dem bleiernen Drucke und unter den k&uuml;mmerlichsten Bedingungen. </P>
<P>Es kam die Franz&ouml;sische Revolution, die in Frankreich die alte staatliche und gesellschaftliche Ordnung hinwegfegte, aber auch einen Hauch ihres Geistes nach Deutschland sandte, dem auf die Dauer das Alte nicht mehr widerstehen konnte. Speziell die franz&ouml;sische Fremdherrschaft hatte f&uuml;r Deutschland die Wirkung einer Revolution; sie st&uuml;rzte das Alte, Abgelebte oder beschleunigte, wie in Preu&szlig;en, seinen Sturz. Und was auch immer in der Reaktionsperiode nach 1815 versucht wurde, um das Rad der Zeit wieder zur&uuml;ckzudrehen, das Neue war zu m&auml;chtig geworden und blieb schlie&szlig;lich Sieger. </P>
<P>Zunftprivilegien, pers&ouml;nliche Gebundenheit, Markt- und Bannrechte wanderten allm&auml;hlich in den vorgeschritteneren Staaten in die Rumpelkammer. Neue technische Verbesserungen und Erfindungen, vor allem die Erfindung und Verbesserung der Dampfmaschine und die daraus folgende weitere Verbilligung der Waren, sorgten f&uuml;r Massenbesch&auml;ftigung, speziell auch der Frauen. Die gro&szlig;e Industrie feierte ihre Geburt. Fabriken, Eisenbahnen und Dampfschiffe wurden geschaffen, der Bergbau, der H&uuml;ttenbetrieb, die Glas- und Porzellanmanufaktur, die Textilindustrie in ihren verschiedenen Zweigen, der Maschinenbau, die Werkzeugfabrikation, das Bauwesen usw. wuchsen empor; Universit&auml;ten und technische Hochschulen lieferten die <A NAME="S121"><B>|121|</A></B> geistigen Kr&auml;fte, die diese Entwicklung ben&ouml;tigte. Die neuaufkommende Klasse, das kapitalistische Gro&szlig;b&uuml;rgertum, die Bourgeoisie, unterst&uuml;tzt von allen, die dem Fortschritt huldigten, dr&auml;ngte auf Beseitigung der immer unhaltbarer gewordenen Zust&auml;nde. Was die Revolution von unten in den Bewegungsjahren von 1848 und 1849 ins Wanken gebracht, beseitigte die Revolution von oben des Jahres 1866. Es kam die politische Einheit nach dem Herzen der Bourgeoisie, der die Niederwerfung der noch vorhandenen wirtschaftlichen und sozialen Schranken folgte. Es kam die Gewerbefreiheit, die Freiz&uuml;gigkeit, die Aufhebung der Ehebeschr&auml;nkungen, die Niederlassungsfreiheit, kurz jene ganze Gesetzgebung, der der Kapitalismus zu seiner Entwicklung bedurfte. Neben dem Arbeiter war es speziell die Frau, die von dieser neuen Entwicklung profitierte, die ihr freiere Bahn schuf. </P>
<P>Schon vor der neuen Ordnung der Dinge durch das Jahr 1866 waren eine Anzahl Schranken in verschiedenen deutschen Staaten gefallen und hatten verzopfte Reaktion&auml;re veranla&szlig;t, den Untergang von Sitte und Moral zu prophezeien. So klagte bereits 1865 der Bischof von Mainz, Herr v. Ketteler. "da&szlig; die Niederrei&szlig;ung der vorhandenen Schranken der Eheschlie&szlig;ungen die Aufl&ouml;sung der Ehe bedeute, denn nunmehr sei es den Ehegenossen m&ouml;glich, nach Belieben auseinanderzulaufen", eine Klage, die ungewollt das Einverst&auml;ndnis enth&auml;lt, da&szlig; die moralischen Bande in der heutigen Ehe so schwache sind, da&szlig; nur der st&auml;rkste Zwang die Ehegenossen zusammenh&auml;lt. </P>
<P>Der Umstand nun, da&szlig; die gegen fr&uuml;her viel zahlreicher geschlossenen Ehen eine rasche Bev&ouml;lkerungszunahme bewirkten und das unter der neuen &Auml;ra sich riesenhaft entwickelnde Industriesystem viele fr&uuml;her nicht gekannte soziale &Uuml;belst&auml;nde schuf, rief &auml;hnlich wie in fr&uuml;heren Perioden wieder die Angst vor &Uuml;berv&ouml;lkerung hervor. Es wird sich zeigen, was diese Furcht vor &Uuml;berv&ouml;lkerung zu bedeuten hat; wir werden sie auf ihren wahren Wert zur&uuml;ckf&uuml;hren. </P></BODY>
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